Familiengeheimnisse und Tabus - Dorothee Döring - E-Book

Familiengeheimnisse und Tabus E-Book

Dorothee Döring

4,8

  • Herausgeber: mvg
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2008
Beschreibung

Lebenslügen und Familiengeheimnisse entstehen meist, um die eigenen Kinder oder den Partner vor der Wahrheit zu schützen. Wie systemische Familienaufstellungen aber zeigen, prägen sie über Generationen hinweg die familiären Beziehungen. In diesem Ratgeber erfahren Sie über authentische Fallbeispiele, wie nachhaltig Tabus in einer Familie wirken, wie sie das Leben aller beeinträchtigen, wie es aber auch möglich ist, sie als einen Teil des eigenen Lebens zu akzeptieren und zu überwinden. Dorothee Döring will in ihrem Buch dazu ermutigen, auch zu den nicht so gelungenen Anteilen des Lebens zu stehen, Verständnis für sich selbst zu entwickeln und sich mit den belastenden Ereignissen des Lebens zu versöhnen. Dadurch kann innerer Druck abgebaut und Freiheit und Unabhängigkeit gewonnen werden: Der Versöhnungsprozess setzt neue Energien frei und erlaubt es, sich neu zu positionieren und in Harmonie mit sich und anderen stressfrei zu leben.

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Seitenzahl: 244

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Dorothee Döring

Familiengeheimnisse und Tabus

»Jeder Mensch ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.«

MARK TWAIN

Dorothee Döring

Familiengeheimnisse und Tabus

Wie Sie sich Ihrer Vergangenheit stellen können

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:[email protected]

Nachdruck 2013 © 2009 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH Nymphenburger Straße 86 D-80636 München Tel.: 089 651285-0 Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Coverdesign Uhlig, Augsburg Umschlagabbildung: iStock Satz: Sandra Wilhelmer, Landsberg am Lech Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN Print 978-3-86882-324-0 ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-084-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unterwww.mvg-verlag.de Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.muenchner-verlagsgruppe.de

Inhalt

VorbemerkungWas sind Familiengeheimnisse und Tabus?Illusionen, Lebenslügen, Familiengeheimnisse und TabusFamiliengeheimnisse und Tabus in Märchen und im Alten TestamentFamiliengeheimnisse und Tabus in unserer ZeitSozialer AbstiegGefühlsmissbrauchDie verheimlichte Herkunft eines KindesTabuisierte Erkrankungen in der FamilieDrogensucht in der FamilieGewalt in der FamilieKriminalität in der FamilieSexuelle Normabweichung in der FamilieKriegs- und ideologiebedingte FamiliengeheimnisseDie geheim gehaltene ErbschaftDie Befreiung von der Last eines FamiliengeheimnissesDie Belastung durch ein FamiliengeheimnisAkzeptanz oder BefreiungDie Befreiung von einem FamiliengeheimnisAnhangQuellen Literaturempfehlungen Adressen

Vorbemerkung

In fast jeder Familie gibt es etwas, worüber nicht gesprochen wird oder werden darf: untergeschobene Kinder, heimliche Affären oder verdrängte Kriegserlebnisse. Wenn Schuld und Scham empfunden werden, breitet sich Schweigen in der Familie aus.

Manchmal ist es ein einzelnes Familienmitglied, das ein Geheimnis vor den anderen bewahrt, in anderen Fällen wird von der Familie vor einem bestimmten Mitglied etwas verschwiegen. In jedem Fall wird darauf geachtet, dass die Umwelt nichts davon erfährt.

Im ersten Teil des Buches suche ich das Wesen von Familiengeheimnissen und Tabus näher zu fassen und ich zeige Ihnen anhand einiger Beispiele aus dem Schatz der Märchen, aber auch aus der Bibel, dass es diese schon immer gegeben hat.

Im zweiten, dem Hauptteil des Buches, beschreibe ich ganz konkret die Familiengeheimnisse und Tabus, die es in unserer Zeit am häufigsten gibt.

In einem abschließenden dritten Teil versuche ich ausführlich darzulegen, warum Familiengeheimnisse so belastend auf den Einzelnen wie auf die Familie wirken und erkläre, warum man in bestimmten Fällen trotzdem mit ihnen leben muss. In vielen Fällen ist es aber besser, sich von ihrer Last zu befreien – wann und auf welche Weise, erläutere ich ebenfalls in diesem Teil.

Was sind Familiengeheimnisse und Tabus?

Illusionen, Lebenslügen, Familiengeheimnisse und Tabus

Wir Menschen neigen dazu, uns gelegentlich Illusionen über die Umwelt, die Menschen, die Umstände und nicht zuletzt über uns selbst hinzugeben. Schmerzhaft ist es dann, wenn diese Wunschbilder mit der Realität konfrontiert werden. Und aus genau diesem Grund neigen viele Menschen dazu, diese Konfrontation zu vermeiden. Andererseits ist es auf Dauer anstrengend, mit dem Widerspruch von Wahrem und Unwahrem zu leben. Um dieser Spannung auszuweichen oder sie wenigstens zu mindern, gibt es drei, meist kombinierte, Verhaltensmuster:

Vergessen, verschweigen, lügen.

Wenn jemand während eines länger andauernden Lebensabschnittes wissentlich und absichtlich eine Unwahrheit als Wahrheit bezeichnet, obwohl er das Gegenteil kennt oder kennen müsste, sprechen wir von einer Lebenslüge.

Lebenslügen dienen dazu, etwas Unangenehmes, Negatives sich oder anderen nicht eingestehen zu müssen oder zu verschleiern. Sie erfüllen eine wichtige Funktion im Leben derer, die sich ihrer bedienen. Deshalb ist es auch konsequent, dass diese an ihnen festhalten. Lebenslügen erzeugen eine Scheinrealität, in der nichts hinterfragt werden darf, weil die Aufdeckung der Wahrheit zu Erschütterungen führen könnte. Lebenslügen werden nach dem Prinzip konstruiert: »Es kann nicht sein, was nicht sein darf.«

Wir wissen es vielleicht sogar aus eigener Erfahrung: Oft macht man sich selbst etwas vor, weil man die Wahrheit nicht ertragen kann und je mehr man sich Dinge schönredet, desto mehr glaubt man an sie. Irgendwann werden Lebenslügen zu einer festen Überzeugung, auf die man womöglich sein gesamtes Leben aufbaut.

Um Lebenslügen auf die Spur zu kommen, müssen wir ergründen, warum wir die Wahrheit verbiegen und uns und anderen etwas vorlügen.

Familien sind oft ein idealer Nährboden für Lebenslügen: Ob untergeschobene Kinder, heimliche Affären, psychische Krankheiten oder verdrängte Kriegserlebnisse – oft wissen selbst die engsten Familienangehörigen nichts von den dunklen Geheimnissen der nächsten Verwandten. Lebenslügen werden so zu Bausteinen für Familiengeheimnisse.

Familiäre Schatten gibt es wohl in jeder Familie. Oft wird etwas verheimlicht in der Absicht, andere Familienangehörige nicht mit einem Wissen zu belasten, das ihr Leben beeinträchtigen könnte. Aus Sorge vor Abwertung oder Bloßstellung verheimlichen Eltern ihren Kindern beispielsweise den Selbstmord eines nahen Angehörigen, ein uneheliches Geschwister oder ihre wahre Herkunft. Und Kinder versuchen, ihre Eltern zu schonen, indem sie nicht fragen und schweigen.

Aber der Preis, der für die Aufrechterhaltung eines solchen Familiengeheimnisses gezahlt werden muss, ist hoch, denn damit wird meist verhindert, dass junge Menschen zu ihrem eigenen, selbstbestimmten Leben finden. Manch unerklärliche Neigung zu größter Opferbereitschaft, zu Depression oder Gewalt – oder sich für alles Mögliche schuldig zu fühlen – wurzeln nicht selten in einer geahnten, aber nicht bekannten Familiengeschichte.

Familiengeheimnisse können ganz allgemein danach unterschieden werden, vor wem die Wahrheit verborgen gehalten wird:

Innerfamiliäre Geheimnisse sind Fakten, die einem oder mehreren Familienmitgliedern verschwiegen werden, beispielsweise die wahre Herkunft eines Kindes.

Außerfamiliäre Geheimnisse betreffen Umstände, die gegenüber der Umwelt peinlich verborgen werden, beispielsweise Gewaltanwendung gegenüber der Ehefrau oder die plötzlich und unerwartet eingetretene Arbeitslosigkeit des Ehemannes.

Besonders schwerwiegende Umstände wie beispielsweise die Verstrickung der Eltern in das Naziregime suchen manche vor den eigenen Kindern wie auch vor der Umwelt zu verheimlichen. Sie möchten etwas vor der Umwelt geheim halten, was von der Gesellschaft verurteilt wird oder von dem sie glauben, dass es zu gesellschaftlicher Ausgrenzung, zu Ächtung oder/und zum Verlust des Ansehens führen würde.

Wenn ein Familienmitglied gegen feststehende Regeln oder Normen der Gesellschaft verstößt, wird das als Familienschande angesehen. Man schämt sich dafür. (Interessant ist: Das Wort »Schande« hat die gleiche Herkunft wie das Wort »Scham«!)

Die moralischen Maßstäbe einer Gesellschaft ändern sich im Laufe der Zeit und damit auch die Objekte außerfamiliärer Geheimnisse. So war beispielsweise ein uneheliches Kind noch im 19. Jahrhundert ein Grund für den Selbstmord der Mutter, sie ging ins Wasser! Bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts war die Ehescheidung verpönt. Heutzutage hat man dafür meist nur noch ein Achselzucken übrig. Bis 1994 war Homosexualität ein Straftatbestand (§ 175 StGB). In unseren Tagen stehen Schwule und Lesben zu ihrer Andersartigkeit und werden im Allgemeinen nicht mehr diskriminiert. So bekannte der Oberbürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, öffentlich: »Ich bin schwul und das ist gut so!« Schwule und Lesben dürfen inzwischen sogar ihre Partnerschaft notariell eintragen lassen – Jahrzehnte vorher undenkbar.

Die Anpassung der moralischen Maßstäbe einer Gesellschaft im Laufe der Zeit zeigt sich jedoch nicht nur im Wegfall, sondern auch in der Aufstellung neuer Normen. So ist beispielsweise seit dem Jahr 2000 Eltern körperliche Gewalt in der Kindererziehung, oft »Züchtigung« genannt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war, verboten (§ 1631, Abs. 2, S. 2 BGB)[1] und es besteht darüber auch in der Öffentlichkeit Konsens.

Wenn Schuld und Scham empfunden werden, breitet sich oft das große Schweigen in Familien aus. Das Geheimnis wird tabuisiert, es wird mit einem Tabu belegt: Die fragliche Tatsache darf weder benannt, noch darf darüber gesprochen werden. Doch das Verdunkeln und Verschweigen hat Konsequenzen. Geheimnisse können Familien spalten, Nähe und Vertrautheit verhindern und über mehrere Generationen hinweg wirken. Während sich manche Menschen ihr Leben lang nicht aus den Verstrickungen der Familienlügen lösen, können andere irgendwann die Widersprüche nicht mehr ertragen. Sie wehren sich und sprechen Familiengeheimnisse laut aus, oft im Rahmen einer Therapie. Dort erfahren sie die befreiende Kraft der Offenbarung und des Sprechens.

Christiane, 37: »Ich wuchs als Adoptivkind bei einem Paar auf, dessen Ehe vom Alkoholmissbrauch des Mannes und dem Leiden der Frau an ihrer Kinderlosigkeit überschattet wurde und ständige Spannungen verursachte. Niemals aber wurde offen darüber gesprochen. Nach außen vermittelte meine Familie Normalität. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass bei uns zu Hause das nackte Chaos herrschte.«

Steigt ein Familienmitglied aus und bricht sein Schweigen, bricht in der Familie eine Welt zusammen. Das Benennen und Aufdecken eines Familiengeheimnisses wird als Verrat gegenüber der Familie empfunden. Wer Familiengeheimnisse lüftet, verletzt die Solidarität der Familie und wird als »Nestbeschmutzer« ausgegrenzt.

Um ein Tabu aufrechtzuerhalten, bedarf es repressiver Maßnahmen. So wird beispielsweise gedroht: »Wenn du nicht schweigst, gehörst du nicht mehr zu uns« oder: »Wenn du anderen davon erzählst, verlieren wir unsere Existenz.« Noch schlimmere Drohungen: »Wenn du jemandem von unserem Geheimnis erzählst, bringe ich mich um.«

Johanna, 55: »Ich hatte in meiner Familie eine Außenseiterstellung inne, fühlte mich nicht wirklich zugehörig. Das hatte natürlich auch Folgen, beispielsweise dass ich bei bestimmten Dingen nicht dichthielt, die nach außen verdunkelt werden sollten. Ich sah bei bestimmten Dingen die Notwendigkeit, ohne Not zu lügen, überhaupt nicht ein. Ich erinnere mich noch daran, dass ich in meiner naiven Art der Verwandtschaft erzählte, dass meine Schwester sitzengeblieben war. Dass das ein Familiengeheimnis sein könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Obwohl das, objektiv betrachtet, eine harmlose Sache war, waren die Folgen entsetzlich. Ich wurde mit Nichtbeachtung gestraft. Niemand sprach mehr mit mir. Das verstärkte in mir das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören.«

Nicht selten wird einem Familienmitglied, das sich nicht an das »Schweigegebot der Familie« hält, die eigene Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit abgesprochen und es muss mit Bestrafung rechnen.

Die Erfahrung zeigt, welches Klima in einer Gesellschaft wie auch in der einzelnen Familie die Aufstellung von Tabus fördert: Der Nährboden für Familiengeheimnisse und Tabus sind Intoleranz, religiöser und politischer Fanatismus, Unaufgeklärtheit und mangelndes Selbstwertgefühl.

Familiengeheimnisse und Tabus in Märchen und im Alten Testament

Familiengeheimnisse und Tabus in Märchen

Die meisten, die als Kinder Grimm’sche Märchen hörten, erinnern sich sicherlich noch an das Märchen vom »Marienkind«[2].

Ein armer Holzhacker, der seine Tochter nicht ernähren kann, begegnet der Jungfrau Maria, die das Kind mitnimmt und im Himmel gut versorgt. Als das Mädchen 14 Jahre alt ist, macht die Jungfrau Maria eine Reise und übergibt dem Marienkind mit 13 Schlüsseln die Verantwortung für den Himmel. 12 Türen darf das Mädchen öffnen, aber die 13. Tür ist ihm streng verboten, und genau die zu öffnen, kann es nicht widerstehen. Es öffnet die Tür trotz des Verbotes, schaute die Herrlichkeit Gottes und kann es nicht lassen, diesen Glanz zu berühren. Ihr Finger wird golden und lässt sich nicht mehr reinwaschen.

Die Jungfrau Maria bemerkt nach ihrer Rückkehr den Verstoß. Das Mädchen leugnete hartnäckig sein Vergehen, wurde aus seinem himmlischen Paradies vertrieben und musste in die harte Realität des Erdenalltags zurück. Außerdem wird es mit dem Bann der Stummheit belegt, der so lange andauern soll, bis es seine Ungehorsamkeit eingesteht. Es lebt von nun an mitten im Wald unter wilden Tieren. Schließlich wird es von einem Königssohn gefunden, der so entzückt von ihm ist, dass er sich mit dem Mädchen vermählt, obwohl es stumm ist. Die drei Kinder, die sie gebärt, nimmt ihr die Jungfrau Maria wieder weg, weil sie weiterhin hartnäckig ihr Vergehen leugnet. So kommt das Gerücht auf, dass die Mutter ihre Kinder gefressen habe, und deshalb soll sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Als das Feuer brennt, überkommt die Mutter Reue, und sie gesteht ihr Vergehen, die verbotene 13. Tür geöffnet zu haben. Sie wird gerettet, der Regen löscht die Flammen und als Lohn des Himmels bekommt sie sowohl ihre Sprache wie auch ihre Kinder wieder zurück.

So weit das Märchen. War dieses hartnäckige Leugnen des Marienkindes mit den fürchterlichen Folgen sinnlos gewesen oder beinhaltete der dadurch bedingte Leidensweg eine notwendige Persönlichkeitsentwicklung?

Hätte sich das Marienkind an die Auflage der Jungfrau Maria gehalten, wäre es »gehorsam« gewesen, wäre es ihm zwar weiterhin himmlisch gegangen und es hätte paradiesisch weitergelebt, aber hätte es auch die Chance gehabt, zu einer erwachsenen Frau heranzureifen, die eigene Entscheidungen trifft und auch die Verantwortung für die Konsequenzen übernimmt? Hätte es seine Gefühle kennenlernen können? Vielleicht ist der Tabubruch des Marienkindes ein Bekenntnis zu eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen und zeigt, dass Menschen in Situationen kommen können, in denen sie Grenzen überwinden müssen, um sich selbst weiterentwickeln zu können. Zu sich selbst stehen zu lernen, heißt nicht immer, gehorsam zu sein, sondern auch das zu tun, was man selbst für richtig hält, und dafür dann auch die Konsequenzen zu tragen.

Das Tabu in Form von verschlossenen Zimmern und Räumen, die unter keinen Umständen geöffnet werden dürfen, kommt in den Märchen auffallend häufig vor. Wer hätte aber gedacht, dass diese Tabus da sind, um gebrochen zu werden? Ingrid Riedel, Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Konstanz, Dozentin und Lehranalytikerin an den C. G. Jung-Instituten in Zürich und in Stuttgart, schreibt in ihrem Buch Tabu im Märchen. Die Rache der eingesperrten Natur[3], dass der Tabubruch im Märchen unter strengste Strafe gestellt ist. Gleichzeitig sei der Tabubruch nicht nur unabdingbarer Schritt auf dem Weg der Selbstwerdung, sondern er helfe, kollektiv Verdrängtes aus der Versenkung zu befreien und in die Gesellschaft zu reintegrieren.

In vielen Märchen hat ein Mensch einen Schlüssel zum »verbotenen Zimmer«, beispielsweise in »Herzog Blaubarts Burg« oder in »Der Teufel und des Fischers Töchter«. Damit unterliegen die Hauptfiguren der Versuchung, das Verbot zu übertreten.

Das Mädchen im Märchen »Marienkind« soll möglicherweise auf seinem Entwicklungsweg die letzten großen Geheimnisse erfahren, auch wenn es dabei gegen strenge Auflagen verstößt. Es geht um einen entscheidenden Entwicklungsschritt. Dass es den Schlüssel zum verbotenen Zimmer anvertraut bekommt, ist vielleicht nicht primär eine Prüfung, ob es das Verbot befolgen kann, sondern vielleicht eher eine Herausforderung, ob es sich traut, auch die letzte Wahrheit zu erkunden. Typisch ist, dass in Märchen dies meist im Alter von 14 Jahren geschieht und damit in einem Alter, in dem früher die Mädchen nicht nur biologisch, sondern auch gesellschaftlich zur Frau wurden. Es ist die Zeit der Initiation.

Im Märchen »Marienkind« ist der Verweis aus dem Paradies der Beginn einer neuen Lebensphase als junge Frau, deren Entwicklung erst nach dem Bestehen einiger harter Prüfungen abgeschlossen ist.

Märchen zeigen uns, dass Tabus da sind, um gebrochen zu werden. Die unübliche, direkte Erwähnung eines Tabus erzeugt eine wirksame Spannung in der Zuhörerschaft. Mit dem Tabubruch werden auch Ängste durchbrochen, gleichzeitig wird der Tabugegenstand entmystifiziert. Schon Kinder erfahren über Märchen, dass die Heldinnen und Helden, wenn sie Verbote übertreten, zwar lebensgefährlich bedroht sind, aber am Ende siegreich überleben.

In Grimms Märchen »Allerleirauh«[4] wird das Tabuthema Inzest behandelt.

Kurz vor ihrem Tod bittet die Königin ihren Mann darum, nur dann erneut zu heiraten, wenn die Frau so wunderschön sei wie sie selbst und wie sie goldene Haare habe. Der König ist verzweifelt, denn er findet im ganzen Königreich keine Frau, die diese Voraussetzung erfüllt, bis ihm auffällt, dass seine Tochter ihrer verstorbenen Mutter unglaublich ähnlich ist und auch goldene Haare hat. Er beschließt, gegen alle Widerstände des Hofes, seine Tochter zu heiraten. Doch der drohende Tabubruch Inzest erschreckt die Tochter. Sie flieht und lebt in ein Tierfell gehüllt im Wald. Von Jägern wird sie unerkannt aufgegriffen und in die Küche des benachbarten Schlosses verbannt, wo sie die Dienste einer Magd verrichten muss. Auf einem Ball des Königs erkennt der Königssohn des benachbarten Königreiches die wahre Identität des Mädchens und heiratet sie.

Das Märchen zeigt, dass Allerleirauh sich durch das Inzest-begehren ihres Vaters so sehr bedroht sieht, dass ihr zur Vermeidung eines solchen Übergriffs nur die Flucht bleibt. Sie erlebt einen totalen sozialen Abstieg (sie verrichtet Magddienste), ist also ganz unten und taucht dabei vor zu ihren tiefen, unbewussten Schichten. Am Ende aber wird alles gut, der Königssohn entdeckt ihre wahre Identität und beide werden ein glückliches Paar.

Familiengeheimnisse und Tabus im Alten Testament

Auch in der Bibel sind Familiengeheimnisse und Tabus überliefert. Die bekannte Geschichte von Kain und Abel[5] beinhaltet das Tabu des Brudermordes. Sie erzählt vom Geschwisterkonflikt und von der Ungerechtigkeit der Welt, vom Neid der Menschen, die benachteiligt sind oder sich nur benachteiligt fühlen.

Kain und Abel sind zwei Brüder, die in unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnissen leben: Kain, der angesehene Ackerbauer; Abel, ein umherziehender Hirte. Abel steht im Schatten des großen Bruders.

Beide brachten dem Herrn ein Opfer dar. Doch »… der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.«

Die Geschichte gibt keine Auskunft darüber, warum Gott die beiden Brüder so ungleich behandelt. Und obwohl Kain, der Erstgeborene, doppelt so viel erben wird wie Abel, schmerzt ihn diese Zurücksetzung durch Gott und er wird neidisch auf seinen Bruder. Er fragt sich: Warum wird das Opfer meines Bruders von Gott gnädig angenommen und meines nicht? Warum schafft er, was ich nicht schaffe? Warum hat er das Glück, das ich nicht habe? Warum ist Gott ihm gnädig und mir nicht?

Kain fühlt sich zurückgesetzt und reagiert wütend. Er, der Starke, der Erstgeborene, der wirtschaftlich Bevorzugte, ist plötzlich benachteiligt. Der Bevorzugte ist plötzlich schwach und wird zurückgewiesen und wie alle Starken reagiert er besonders empfindlich auf Misserfolge.

Aber wie hätte Kain reagieren sollen? Hätte er alles ertragen und sich bescheiden sollen oder protestieren, sich auflehnen, sich wehren?

Kain wählt den zweiten Weg: Er erschlägt seinen Bruder Abel. Wie es dazu kommt, wird nur mit ganz wenigen Sätzen erzählt. Trotzdem ist das Motiv klar: Eifersucht. Obwohl die Tat zunächst wie eine Handlung im Affekt aussieht, ist sie in Wahrheit ein detailgenau geplantes Verbrechen: Kain lockt Abel gezielt an einen Ort, wo er ihn ohne Zeugen umbringen kann.

Nach dem Verschwinden Abels wird Kain von Gott nach seinem Bruder gefragt. Kain versucht, seine Tat geheim zu halten und antwortet: »Ich weiß nicht, soll ich meines Bruders Hüter sein?« Gott entgegnete ihm: »Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.«

Gott sagt Kain seinen begangenen Mord auf den Kopf zu und verflucht ihn: »Verflucht seiest du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hin-fort seinen Ertrag nicht geben.«

Beim Brudermord Kains übernimmt Gott selbst das Richteramt. Als Schöpfer allen Lebens ist er durch den Mord direkt betroffen, denn das Leben, das er Abel geschenkt hatte, wurde durch Kain mutwillig ausgelöscht.

Aber selbst in dem Gottesurteil der Strafe für Kain erweist sich Gott als Anwalt des Lebens – indem er diesem sein Leben lässt und ihn durch ein besonderes Zeichen (Kainsmal) vor der Tötung durch die Gemeinschaft bewahrt.

Aber auch die Josefsgeschichte[6] offenbart dunkle Familiengeheimnisse: Sie ist eine Familiengeschichte voll Neid, Streit, aber auch Versöhnung. Josef, zweitjüngster Sohn Jakobs, erregt wegen der Bevorzugung durch den Vater den Hass seiner Brüder, weil er eine Sonderstellung genießt: Er bekommt von seinem Vater besonders schöne Kleidung, während die anderen auf dem Feld hart arbeiten müssen. Diese Ungleichbehandlung führt dazu, dass die Brüder eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder werden und ihn hassen. Das Verhältnis der Geschwister untereinander ist gestört.

Eines Tages verkaufen die Brüder Josef als Sklaven an eine Karawane, um ihn loszuwerden. Dem Vater erzählen die Brüder, Josef sei durch ein wildes Tier umgekommen. Jakob ist untröstlich über den Tod seines Lieblingssohnes. Das gemeinsame Geheimnis um das Verschwinden Josefs macht die Brüder zu Komplizen.

Diese Familiengeschichte um Eifersucht und Ungerechtigkeit nimmt aber eine positive Wende. Josef, inzwischen ein einflussreicher Mann in Ägypten, offenbart sich seinen Brüdern als ihr verkaufter Bruder! Er, der die Gemeinheit seiner Brüder erleiden musste, macht den ersten Schritt auf seine Brüder zu, vergibt ihnen und versöhnt sich mit ihnen, bevor Vater Jakob stirbt.

Die Josefsgeschichte lehrt uns, dass Konflikte, Streit, Enttäuschungen und auch Familiengeheimnisse in den angesehensten Familien vorkommen. (Zur Erinnerung: Jakob war der Sohn Abrahams!) Die Josefsgeschichte zeigt uns aber darüber hinaus, dass trotz aller Lügen und Ausgrenzung am Ende alles gut werden kann, wenn man es schafft, einander zu vergeben und achtsam miteinander umzugehen.

Familiengeheimnisse und Tabus in unserer Zeit

Sozialer Abstieg

Obwohl Arbeitslosigkeit heutzutage jeden treffen kann, auch den hoch qualifizierten Akademiker, also nicht notwendig von der Leistungsbereitschaft und dem Können des Einzelnen abhängt, haftet ihr ein Makel an. Menschen im Ruhestand hören besonders gern von ihren Ex-Kollegen Sätze wie: »Ja, ich wollte auch in den vorzeitigen Ruhestand, aber – welche Ungerechtigkeit – man hat mich nicht gelassen!« (weil ich so wichtig für das Unternehmen bin!)

Gebraucht zu werden, ist ein Gütezeichen. Ein arbeitswilliger und arbeitsfähiger Mann, knapp über 50, empfindet die Tatsache, nicht mehr gebraucht zu werden, als einen sozialen Abstieg. Um diesen aufzufangen, gibt es eine ganze Reihe guter Strategien: Hobbys, Reisen, Ehrenämter, soziales Engagement usw.[7]

Keine gute Strategie ist es, Arbeitslosigkeit und Ruhestand der Umwelt verheimlichen zu wollen. So verheimlichte ein arbeitslos gewordener Familienvater sogar seiner Familie diese Tatsache, indem er morgens wie gewohnt mit seiner Aktentasche aus dem Haus ging und abends zurückkehrte.

Das Ansehen des Einzelnen in unserer Gesellschaft hängt von einer Reihe üblicher Bewertungsmaßstäbe ab. Beispiele dafür sind: der ausgeübte Beruf, herausragende Leistungen z. B im Sport oder in der Forschung, die im Beruf erreichte Hierarchiestufe, das Engagement für das Gemeinwesen. Es gibt ein allgemeines Verständnis darüber, welchen Rang man dem Einzelnen auf der Skala des jeweiligen Bewertungsmaßstabes gibt oder geben würde.

Ein besonders populärer Bewertungsmaßstab ist das Geld, das jemand verdient. Er korreliert auch mit einigen der bereits genannten Gradmesser. So wird jemand, der die Karriereleiter als Angestellter oder Beamter erklimmt, auch mehr Einkommen erzielen, andererseits verdient jemand nicht deshalb mehr, weil er sich sozial oder politisch für die Gemeinschaft einsetzt, als jemand, der das nicht tut. So verdient der Bundespräsident, der bezüglich des Engagements für das Gemeinwesen die höchste Anerkennung genießt, wesentlich weniger als der Vorstandsvorsitzende eines DAX-Unternehmens.

Obwohl also Geld nicht der einzige und manchmal auch der falsche Maßstab für die Positionierung des Einzelnen in der Gesellschaft ist, scheint er dennoch geeignet zu sein, das Phänomen »sozialer Abstieg« zu beschreiben. Von sozialem Abstieg spricht man demnach dann, wenn durch eine Verknappung des verfügbaren realen Einkommens der Lebensstandard deutlich eingeschränkt werden muss.

Hierzu zwei Beispiele:

In einem meiner Seminare begegnete ich einer verwitweten Frau, deren Mann Wirtschaftsprüfer gewesen war und seiner Frau Wohlstand und hohes gesellschaftliches Ansehen geboten hatte. Er hinterließ seiner Witwe die Wirtschaftsprüferpraxis, die sie verkaufte, ein Mehrfamilienhaus, Wertpapiere und eine Lebensversicherung. Leider wollte oder konnte sie nicht erkennen, dass sie, die stets »auf großem Fuß« gelebt hatte, sich nun einschränken musste. So war bereits nach wenigen Jahren das gesamte Barvermögen aufgebraucht und die Frau nicht mehr in der Lage, ihr Haus zu halten. Nach dem Verkauf des Hauses zog sie in eine kleine Mietwohnung. Aufwendige Feste und Einladungen waren nun nicht mehr möglich. Mit der Zeit änderte sich auch ihr Freundes- und Bekanntenkreis. Da sie nicht mehr Gattin des Wirtschaftsprüfers war, wurde sie bald auch nicht mehr in die entsprechenden gesellschaftlichen Kreise eingeladen.

Ein solcher sozialer Abstieg ist bitter und deshalb wird möglichst lange versucht, ihn vor anderen zu verbergen und zu leugnen. Vor ihrer Familie rechtfertigte die Witwe den Umzug in eine kleine Mietwohnung damit, die Arbeit mit dem großen Haus sei ihr auf Dauer zu viel geworden.

Dieses Beispiel zeigt, dass die Witwe für ihren sozialen Abstieg zumindest mitverantwortlich war, was für den folgenden Fall nicht zutrifft:

Eine Dame klagte mir ihr Leid, das sie ansonsten streng unter Verschluss hielt:

Ihr Mann war jahrzehntelang als Fliesenleger in einem mittelständischen Familienunternehmen beschäftigt gewesen. In dieser Ehe galt die früher übliche Rollenverteilung: Der Mann verdiente das Geld für die Familie, die Frau führte den Haushalt und erzog die Kinder. Als ihr Mann in den Ruhestand trat, ging es dem Paar auch noch recht gut, weil er immer sehr gut verdient hatte. Dann starb der Mann und die Frau musste mit 60 Prozent der Rente ihres Mannes auskommen, das waren ca. 720 Euro. Das führte dazu, dass sie ihr Häuschen nicht mehr halten konnte und in eine kleine Mietwohnung umziehen musste. Sie litt unter dem sozialen Abstieg, denn das Häuschen war ihr ganzer Stolz gewesen. Aber sie verlor auch ihre Nachbarschaft und ihre Freunde, denn sie konnte nicht mehr »mithalten«. Alle Aktivitäten, die sie früher gemeinsam mit Freunden unternommen hatte, wie Kegeln oder Essen gehen, fielen nun aus. Weil ihr vorheriges Umfeld nichts von ihrem sozialen Abstieg mitbekommen sollte, zog sie sich wegen angeblich gesundheitlicher Probleme immer mehr zurück und landete schließlich in Einsamkeit und Depression.

Ein besonders deutlicher sozialer Abstieg liegt vor, wenn das monatliche Einkommen über einen längeren Zeitraum, trotz Reduzierung des Lebensstandards, nicht ausreicht, die Lebenshaltungskosten einschließlich fälliger Raten und Rechnungen zu bezahlen. Dann spricht man von (privater) Überschuldung. Dafür, dass manche Menschen in Überschuldung geraten, gibt es eine Reihe von Gründen:

Die Möglichkeit, auf Kredit zu kaufen, ist für viele Menschen ein verlockendes Angebot. Dinge zu kaufen und sie erst später zu bezahlen, verführt Menschen dazu, einen Lebensstil zu führen, den sie sich eigentlich gar nicht leisten können. Eines Tages verlieren sie den Überblick über ihre Zahlungsverpflichtungen: Mahnungen häufen sich. Die Hausbank kündigt den Dispokredit und zieht die Kreditkarte ein. Die Kündigung der Wohnung droht. Der Gerichtsvollzieher steht vor der Tür.

Darüber hinaus können kritische Lebensereignisse oder Schicksalsschläge dazu führen, dass die monatlichen Einnahmen die monatlichen Ausgaben nicht mehr ausgleichen. Typisch für kritische Lebensereignisse ist, dass sie ungewollt, ungeplant und unerwartet eintreten wie beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung und Scheidung, eigene Krankheit oder Tod des Familienernährers. Diese Ereignisse gehen vielfach einher mit Depressionen, Antriebsverlust, Orientierungslosigkeit und Verlust der Lebensperspektive. Zumeist ist es eine Verstrickung von mehreren Faktoren und individuellen Problemen, die schließlich in die Überschuldung führen können.

Unsere Erfahrungen im Elternhaus prägen uns oft ein Leben lang[8], und die meisten dieser Prägungen sind uns wahrscheinlich nicht bewusst. So kann es sein, dass wir beispielsweise beim Umgang mit Geld und Zahlungsverpflichtungen so handeln, wie wir es gelernt beziehungsweise von klein auf erfahren haben. Wer negative Erfahrungen im Umgang mit Geld im Elternhaus gemacht hat – beispielsweise wenn die Eltern oft verschuldet waren – und nicht die Möglichkeiten hatte, schon als Kind den Umgang mit Geld zu erlernen und zu üben, läuft Gefahr, später selbst Schulden zu machen.

Ein weiterer Grund für Überschuldung liegt in der mangelnden Disziplin mancher Menschen. Sie können nicht abwarten und halten es nicht durch, Geld anzusparen, bevor sie sich einen Konsumwunsch erfüllen.

Überschuldung löst Existenzängste aus – Angst vor Gläubigern, Angst vor dem Verlust der Wohnung, Angst vor Stigmatisierung als Versager. Angst macht viele Menschen handlungsunfähig und einige sogar krank.

Finanziell am Ende zu sein und sich das einzugestehen, gleicht einer Kapitulation, die die Persönlichkeit eines Betroffenen und sein Familienleben erheblich erschüttert. Der Schaden geht weit über die Finanzen hinaus. Und weil das als Niederlage und Desaster erlebt wird, versucht man, die Situation möglichst lange geheim zu halten.

In den meisten Fällen der Zahlungsunfähigkeit führt erst starker Leidensdruck dazu, die eigene Schamschwelle zu überwinden, sich zu offenbaren und sich kompetenten Rat zu holen. Bis dahin versuchen die meisten Betroffenen, sich ihre Situation, die ja immer auch Ausdruck persönlichen Versagens ist, schönzureden und vor anderen zu verbergen. Die meisten ziehen sich von anderen Menschen zurück (oft auch von der Familie), weil ja niemand etwas davon merken soll, dass einem das Wasser bis zum Hals steht. Es ist die Angst, der Umwelt den sozialen Abstieg einzugestehen.

Auf Dauer gibt es nur einen wirksamen Weg aus der Finanzsackgasse heraus: sich wie ein Unternehmen offiziell für zahlungsunfähig zu erklären und den steinigen Weg der sogenannten Privatinsolvenz zu gehen. Wer das tut, hat eine echte Chance, unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen nach sechs Jahren – der sogenannten Wohlverhaltensperiode – schuldenfrei zu sein.[9]

Voraussetzung dafür sind eiserne Disziplin, Durchhaltewillen und die richtigen Berater. Allerdings gibt es auch eine psychologische Hemmschwelle: Die Möglichkeit, bereits bei drohender Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag zu stellen, wird bisher kaum genutzt. Offenbar wollen die Schuldner häufig die Krise nicht anerkennen und hoffen, unter Verkennung der Realitäten, aus eigener Kraft einen Ausweg zu finden. Ich vermute, hier spielt der Makel des Scheiterns eine große Rolle, denn wem Misserfolg anhaftet, der wird gemieden, als habe er eine ansteckende Krankheit. Aus Angst, als Versager dazustehen, werden Fehler daher verschwiegen oder vertuscht. Dieses Stigma des Insolvenzverfahrens ist ein Problem, und um das zu überwinden, brauchen wir eine »neue Kultur der zweiten Chance«.

Gerade in Zeiten tief greifender Veränderungen ist es wichtiger denn je, Scheitern als Chance anzusehen und ein wirtschaftliches Scheitern nicht als »bürgerlichen Tod« zu begreifen, sondern als eine Chance für einen wirtschaftlichen Neubeginn. Voraussetzung dafür ist, dass der Gescheiterte nicht mehr den Stempel des Versagers aufgedrückt bekommt.

In der Fernsehsendung des WDR Der große Finanzcheck werden Menschen in Deutschland besucht, die in eine Schuldenfalle getappt sind. Durch Missmanagement, Angst und falsche Vorgehensweise vergrößern sich die Schulden dabei immer mehr. Die Sendung zeigt, wie man durch kompetente Beratung auch verfahrene finanzielle Situationen wieder in den Griff bekommen kann. Ein Finanzcoach besucht Betroffene und hilft ihnen dabei, »Kassensturz« zu machen, um auszuloten, welche