Familie ist (k)ein Ponyhof - Angelika Hesse - E-Book

Familie ist (k)ein Ponyhof E-Book

Angelika Hesse

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Beschreibung

Die 39-jährige Heidi Heiermann hat Affären mit Promis wie Brad Pitt, Johnny Depp und Til Schweiger – in ihrer Fantasie. In der Realität halten ihre zwei Töchter und der Haushalt sie auf Trab. Zwischen Kindergeburtstag und dem verzweifelten Versuch, ihre Freunde nicht zu vernachlässigen, bleibt deshalb kaum Zeit für romantische Momente. Kein Wunder, dass ihr Mann viel zu lange und viel zu hart arbeitet. Oder gibt es dafür vielleicht noch einen anderen Grund? Und welche Rolle spielt seine neue attraktive rothaarige Kollegin dabei? Mit viel Witz und einem gehörigen Schuss Ironie erzählt Angelika Hesse aus dem chaotischen Alltag einer Vollzeitmutter. Dieser Sammelband enthält »Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich« und »Aus Liebe verzettelt«. Die Geschichten über die Familie Heiermann jetzt endlich in einem E-Book!

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Die Autorin Angelika Hesse, geboren 1971, lebt mit ihrer Familie am Niederrhein. Seit sie denken kann, schreibt sie Geschichten. Diese waren anfänglich noch bebildert, wurden dann im Laufe der Jahre immer länger und länger und füllten schließlich ganze Schnellhefter. Nach der Schule absolvierte sie eine solide kaufmännische Ausbildung, arbeitete in der Buchhaltung, im Einkauf und viele Jahre als Personalberaterin. Dann kam die Lust am Schreiben mit voller Wucht zurück und sie tat, was sie tun muss ...schreiben. Ihr erster Jugendroman Grüne Schnüre mit Apfelgeschmack erschien 2011 als eBook, 2012 folgte Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich, ein humorvoller Frauenroman im Kolumnenstil. Und da ihr die Protagonistin Heidi und die Personen um sie herum solchen Spaß machten, schrieb sie weiter über sie.

Das Buch Die 39-jährige Heidi Heiermann hat Affären mit Promis wie Brad Pitt, Johnny Depp und Til Schweiger – in ihrer Fantasie. In der Realität halten ihre zwei Töchter und der Haushalt sie auf Trab. Zwischen Kindergeburtstag und dem verzweifelten Versuch, ihre Freunde nicht zu vernachlässigen, bleibt deshalb kaum Zeit für romantische Momente. Kein Wunder, dass ihr Mann viel zu lange und viel zu hart arbeitet. Oder gibt es dafür vielleicht noch einen anderen Grund? Und welche Rolle spielt seine neue attraktive rothaarige Kollegin dabei?  

Angelika Hesse

Familie ist (k)ein Ponyhof

Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich & Aus Liebe verzettelt

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   © Originalausgabe Angelika Hesse   Sonderausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin März 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016   Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat/© Marsha Glauch, Krefeld Foto Andreas Gabalier: © Andreas Gabalier/Adlman Promotion GmbH. Die Autorin dankt Andreas Gabalier für die Erlaubnis, sein Foto zu verwenden.   Weitere Abbildungen: © fotolia.com Im Detail: Frau mit Brille ©Lara Nachtigall/fotolia.com; Klebezettel ©kharlamova_lv/fotolia.com; Schild für Rautenbock © mapoli-photo/fotolia.com; Postkarte aus den USA ©Avantgarde/fotolia.com; Zettel für Beipackzetter © eyeQ/fotolia.com; Briefumschlag © mstanley13/fotolia.com; Flyerhintergrund © svariophoto/fotolia.com   ISBN 978-3-95818-091-8   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Angelika Hesse

Meine Familie, der tägliche Wahnsinn

Die Gedanken sind frei

»Mama, Mama. Du musst aufstehen! Ich habe Hunger«, schreit meine zweijährige Lena ihren Weckruf am Samstagmorgen laut in mein Ohr und zupft dabei unermüdlich an der Decke.

»Papa steht heute auf. Mama muss mal ausschlafen und hat Kopfschmerzen«, stöhne ich.

»Nein, nicht der Papa. Du musst kommen, Mama«, quakt sie weiter und Sara, ihre fünfjährige Schwester, die nun ebenfalls ihren Kopf zur Tür reinsteckt, schmeißt noch ein paar Tropfen Hysterie in die Pfanne. »Ich habe so schrecklichen Hunger. Mama, bitte. Ich bin schon ganz lange wach.«

Sie gewinnen immer, alle drei. Mein Kopf kann keine weitere Quengelei ertragen und benötigt dringend Aspirin und Flüssigkeit. Mit neidischem Blick auf meinen schnarchenden Mann Bernd, dessen Unterbewusstsein nur auf Autoalarmsysteme und auf »Es gibt Frühstück!«-Rufe programmiert ist, schlüpfe ich in meine Klamotten, schnappe meine Brille und melde mich zur Frühschicht.

»Ich will warmen Kakao und ein Schokoladen-Toast, aber ohne Butter!«, kommandiert Sara.

»Auch warmen Kakao!«, jammert Lena.

»Clouseau hat Hunger!«, kräht Sara und der Kater gibt zustimmend ein »Miau« von sich. Es ist schon bedauernswert, dass es die gute alte Sendung Dalli Dalli mit Hänschen Rosenthal nicht mehr gibt. Ich wäre eine prima Kandidatin. Trotz Dröhnkopfes bewege ich mich flink zwischen Mikrowelle, Toaster, Kühlschrank, Anrichte und Vorratsschrank, versuche mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und zaubere im Nullkommanix die Erstmahlzeit auf Tisch und Futternapf. Herr Rosenthal würde jetzt in die Luft springen und ein »Das war spitze!« rufen, während die rote Sirene sich wie irre drehen würde.

Alle sind versorgt und ich mache mich auf die Suche nach Kopfschmerztabletten. In dem feinsäuberlich sortierten Arzneischränkchen steht die Großpackung Aspirin. War klar – leer. Bernd findet Einkaufszettel überflüssig, sind leere Packungen doch praktische Gedächtnisstützen, und so zeitsparend. Notgedrungen vergreife ich mich an dem übelschmeckenden Paracetamolsaft der Kinder und schüttele mich angeekelt, als der künstlich süß-bittere Saft meinen Magen passiert. Immer noch besser als eine doppelte Portion Kinderzäpfchen. Zum Nachspülen gibt es einen Mix aus einem Glas 100 % Orangensaft mit einer Messerspitze Vitamin-C-Pulver, einem Beutel Frauenvitamingranulat mit viel Folsäure und fünfundzwanzig Tropfen meiner lebensnotwendigen, nervenausgleichenden, pflanzlichen Beruhigungstropfen. Ohne dieses Potpourri überstehe ich keinen Tag.

Der Kühlschrankcheck zeigt, dass ich um einen kleinen Samstageinkauf nicht herumkomme.

»Anziehen, waschen, wir gehen schnell zu Krügers einkaufen«, treibe ich die Kinder an.

»Aber nur, wenn ich mir da was aussuchen darf.«

Sara hat das herrschende Prinzip in unserer Familie schon früh durchschaut. Keine Leistung ohne Gegenleistung.

Ich kontere. »Okay, eine Kleinigkeit. Aber nur, wenn du das stinkige Ding zu Hause lässt und dich vernünftig anziehst.«

»Meinen Umhang? Nie. Der muss mit. Ich bin doch sonst kein Vampir.«

»Ich habe noch eine ganze Kiste deiner alten Kinderbücher auf dem Speicher. Soll ich die mal für Sara mitbringen? Kann sie doch später alle noch lesen«, sagte meine Mutter vor ein paar Wochen. Am nächsten Tag stand der verstaubte Karton in unserem Wohnzimmer. Zwischen Hanni und Nanni, Band 1-12, Lissy im Internat und den Dolly-Büchern entdeckte Sara die ersten zwei Bände vom kleinen Vampir. Das Buchcover erweckte sofort ihr Interesse und ich versprach, ihr noch am gleichen Abend vorzulesen. Die Internatsbücher lagerte ich im Keller und werde sie bei der nächsten Leerung der blauen Tonne entsorgen. Nicht auszudenken, wenn Sara in ein paar Jahren dieser Schund in die Hände fällt. Der zehnjährige Nachbarsjunge von nebenan geht auf ein Elite-Internat in Schleswig-Holstein, spricht inzwischen zwei Fremdsprachen. Bernd, davon schwer beeindruckt, erkundigte sich letztens auffallend genau über das Schulsystem dort. Mit Enid Blyton im Rücken hätte er bei Sara leichtes Spiel. Meine Tochter wäre nicht die erste, die der heilen Welt von Lindenhof verfallen würde. Das musste mit allen Mitteln verhindert werden. Da waren Vampire das kleinere Übel. Anton, der Menschenjunge in der Geschichte, bekommt eines Tages Besuch vom kleinen Vampir Rüdiger. Mit einem geliehenen Vampirumhang kann Anton fliegen und erlebt mit Rüdiger viele schaurige Abenteuer. Sara lag mir so lange in den Ohren, bis ich ihr aus schwarzem Stoff einen zerfetzten Umhang bastelte. Den sprüht sie regelmäßig mit ihrem Disney-Kinderparfüm ein, bis man sie aus dreißig Metern Entfernung riechen kann. Ohne das schwarze Ding geht sie kaum noch aus dem Haus.

»Aber wehe du sprühst ihn neu ein«, verlange ich deshalb.

»Der muss aber nach Mufti Eleganti riechen«, erwidert sie trotzig.

»Du sprühst ihn nicht ein. Lena kriegt wieder ihre Hustenanfälle und ich auch.«

»Doch.«

»Nein.«

»Doch.«

»Ich habe Nein gesagt und basta.«

»Dann komm ich nicht mit.«

»Dann bleibst du eben hier und nur Lena darf sich etwas aussuchen.«

»Ja, Sara, ich darf mir dann was aussuchen«, nickt Lena und schaut oberlehrerhaft. Das reizt Sara endgültig.

»Hau ab, du Baby. Du bist eine blöde Schwester«, keift sie und gibt Lena einen Schubs. Die heult sofort los, schaut mich mit großen Kulleraugen an und weckt den Im-Zweifel-immer-für-den-Kleineren-Instinkt.

»Sara«, maßregele ich.

»Immer bin ich die Schuldige. Du bist so ungerecht«, jault Sara und stampft die Treppe hinauf. Als ich das bekannte Zischen höre, nehme ich zwei Stufen gleichzeitig und baue mich in ihrem Zimmer auf, vertreibe handwedelnd den beißenden, widerlichen Kinderparfümduft. »Ich hatte gesagt, du sprühst ihn nicht ein«, huste ich.

Sara grinst rotzig. Ich reiße ihr den dämlichen Umhang aus der Hand und werfe ihn, für sie unerreichbar, mit Schwung auf den Kleiderschrank. Manchmal muss man auch mal seine Macht demonstrieren.

»So, und da bleibt er und wir gehen einkaufen.«

Affig hüpft Sara am Schrank auf und ab, gibt angestrengte Laute von sich und wird von Sprung zu Sprung wütender. Schließlich gibt sie auf, wirft sich theatralisch auf ihr Bett und kreischt: »Du bist eine böse Stiefmutter!«, während sie mit den Fäusten auf die Matratze einhämmert.

Wie kann sie es wagen, mich mit Schneewittchens, Cinderellas oder Hänsel und Gretels Stiefmutter zu vergleichen? Schließlich habe ich ihr bisher weder einen vergifteten Apfel gegeben, noch musste sie Erbsen und Linsen in der Asche auflesen und noch nie, ich schwöre, habe ich sie im Wald ausgesetzt. Im Gegenteil, sie wird von mir gekämmt, gefüttert, bekommt jeden Abend ein Schlaflied vorgesungen und ich koche mindestens einmal in der Woche ihr Lieblingsgericht: Fischstäbchen mit Kartoffelpüree. Ob zwischen uns eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung besteht, weil ich sie nicht gestillt habe? Als Sara auf die Welt kam, bat ich die nette Hebamme direkt um die kleinen Pillen, die dafür sorgten, dass meine in der Schwangerschaft schon auf dreifaches Volumen angeschwollenen Brüste ihre Milchproduktion gar nicht erst aufnahmen. Der Östrogenüberschuss hatte aus sportlichen 75c-Körbchen zwei von Adern durchzogene Monsterbälle gemacht. Ich hatte genug von der Körperfülle, der juckenden Kopfhaut, den Pickeln, der geröteten Epidermis um Mund und Nase, den nicht mehr vorhandenen Knöcheln und der zum Zerreißen gespannten Haut, die ich täglich mit dicken Schichten Öl einbalsamieren musste. Wenn ich so unter der Dusche stand, meine Füße nur noch erahnen konnte, die Monsterbälle auf meinem Bauch ruhend, wünschte ich mir meinen alten Körper zurück und konnte mir nicht vorstellen, dass sich nach der Geburt jemand so mir nichts, dir nichts, an mir bedienen würde. Ich bemitleidete meine Zimmernachbarin Ines, die über ihren Milcheinschuss stöhnte und deren kleiner Hosenscheißer Marvin sich so einfach weigerte, das kostbare Mutterelixier zu sich zu nehmen. Schwester Olga, eine große und kräftige Frau, mit Leib und Seele ihrer Berufung folgend, hatte sich dieser Probleme angenommen. Sie sorgte dafür, dass die Babys auf ihrer Station bekamen, was sie brauchten. Mit ihren riesigen Schaufelhänden drückte und knetete sie Ines’ Brüste, stülpte kleine Silikonhütchen auf ihre geschundenen Brustwarzen und steckte unermüdlich dem kleinen Marvin die Warze in den Mund, der immer wieder den Kopf wegdrehte und so einfach nicht trinken wollte. Verzweiflung machte sich bei Ines breit, die wegen ihres Dammrisses schon gehandicapt genug war. Wenn sie da so schmerzverzerrt auf ihrem Gummiring rumrutschte, sich kaum bewegen konnte und versuchte ihr Kind zu ernähren, hatte ich fast schon ein schlechtes Gewissen. Saß ich doch ganz locker mit Kind und Flasche da und niemand fummelte ungefragt an meinen Brüsten. Schwester Olga versuchte alle Tricks, um Marvin zum Trinken an der Brust zu überreden. Und dann rollte sie eines Tages mit einem großen, furchteinflößenden Gerät herein – eine elektrische Milchpumpe, die üble Geräusche von sich gab. Ich habe Ines damals aufmunternd zugelächelt, mich schnell weggedreht und überlegt, ob Amnesty International da nicht die Richtigen wären.

Die Flaschennahrung haftete wie ein Makel an mir. Mitleidige Blicke wurden auf mein Kind geworfen, wenn ich ihm den Gummisauger mit der minderwertigen Industriemilch in den Mund steckte.

»Hat es nicht geklappt?«, wurde ich in meinem PEKIP-Kurs gefragt. »Nö, ich wollte nicht«, gab ich provozierend zur Antwort, und nein, ich hatte mein Nabelschnurblut auch nicht zu Globuli verarbeiten lassen. Die Nachgeburt landete in der Kliniktonne und ich wollte sie mir nicht mal anschauen. Meine Kinder werden niemals musikalische Genies werden, denn keiner der beiden bekam die kleine Nachtmusik von Wolfang Amadeus Mozart auf der Spieluhr durch die Bauchdecke vorgespielt.

Es dauert zehn Minuten, bis sich Sara endlich beruhigt. Flaschenkinder sind generell unruhiger, unzufriedener und haben eine höhere Allergieneigung. Ich bin also selber schuld, wenn meine Kinder eine nervöse Störung haben. Nach langem Hin und Her verzichtet sie schließlich auf ihren Umhang, nimmt mir das Versprechen ab, dass sie sich »aber auf jeden Fall das aussuchen kann, was sie will«, und erwähnt beim Zähneputzen fünf- bis sechsmal, wie nackt und hilflos sie sich fühlt. Dabei spuckt und schäumt es aus ihrem Mund. Die Zahnpastaspritzer lassen sich nicht restlos von meinem roten T-Shirt abrubbeln und so ich werfe eine Strickjacke über, um die Schokoladenspur direkt mit zu verdecken. Wann werde ich endlich begreifen, dass Lena ihren Kopf nicht zwecks Austausches von Zärtlichkeiten an meiner Schulter reibt, sondern, um mich schlicht und ergreifend als größte Serviette der Welt zu missbrauchen?!

Krüger, der Laden in unserer Nähe, feierte erst vor ein paar Tagen seine Neueröffnung. Bernd war mehrere Wochen durch seine Unternehmensberatung in der Hauptzentrale eingesetzt und hat dort diese ganzen wichtigen Konzepte entwickelt. Fast zwei Wochen dauerten allein Umbau und Renovierung. »Der Laden braucht dringend ein neues Make-up, muss von vorne bis hinten neu durchorganisiert werden«, erklärte Bernd. Ich ließ bei den Müttern in der Umgebung natürlich nicht unerwähnt, welche wichtige Rolle ausgerechnet mein Mann in unserem Stammsupermarkt spielte. Krüger ist so was wie das Akropolis der Lindenstraße, das Schiller der Schillerstraße oder das Peach Pit der Beverly-Hills-Clique, Dreh- und Angelpunkt in unserer Gegend. Direkt um die Ecke liegen der Kindergarten, die Turnhalle des Sportvereins und die Grundschule. Jeden Montag laufe ich während Saras Kinderturngruppe mit Steffi und Claudia in dem kleinen Bäckerei-Café bei Krügers ein.

»Habt ihr schon mitbekommen? Krüger wird umgebaut. Wir müssen wohl oder übel woanders Kaffeetrinken gehen«, teilte Claudia vor ein paar Wochen mit. Ich zuckte gleichgültig die Schultern. »Ich weiß, Bernd meint, der Markt wird in ein paar Wochen nicht mehr wiederzuerkennen sein«, verriet ich geheimnisvoll.

Tief beeindruckt stehe ich nun vor dem Gebäude. Die neue Fassade erstrahlt in einem leuchtenden Zitronengelb. Eine riesige Leuchtreklame mit dem Krüger-Slogan hängt über dem Eingang: »Krüger, Ihr Familienmarkt – Frische immer frisch auf Ihrem Tisch!« Stolz betrete ich den Eingangsbereich, kann förmlich spüren, wie die Leute innehalten, auf mich deuten und flüstern. »Ist das nicht die Frau von dem Berater, der den Krügermarkt so auf Vordermann gebracht hat? Ich sag ja immer, hinter jedem erfolgreichen Mann steckt eine starke Frau, die ihm den Rücken freihält. Wie sie das so schafft, mit den Kindern und dem Haushalt. Und wie gut sie bei dem ganzen Stress noch aussieht. Die kann doch maximal Anfang dreißig sein.« Selbstverständlich findet das alles hinter meinem Rücken statt und ich tue so, als wäre ich nur eine ganz normale Hausfrau, die lediglich ein paar Äpfel und Fleisch fürs Mittagessen kauft.

Alle Kinder-Einkaufswagen sind unterwegs. Lena bekommt einen Wutanfall. Ich versuche sie zu beruhigen und mit einem Rosinenstütchen vom Bäcker zu bestechen.

»Komm, Lenchen, Mama kauft dir ein Brötchen.«

»Guck mal, Mama, da kommt gerade das Auto zurück«, bemerkt Sara in diesem Moment.

Ich gerate in Panik. Hastig schubse ich die Kinder Richtung Bäcker. Warum hat Bernd das Ding nicht abschaffen lassen? Es ist zu spät, Lena hat das Monstrum bereits entdeckt. Mit einem Schlag sind ihre Tränen versiegt, sie rennt auf den riesigen, gelben Auto-Einkaufswagen-Zwitter zu. Bevor noch die Mutter den widerspenstig kreischenden Jungen aus dem Wagen zerren kann, quetscht sie sich an ihm vorbei und sitzt schon hinter dem Lenkrad. Freudestrahlend winkt sie mir zu.

»Mama, komm.«

Was ist nun schlimmer? Ein hysterisch heulendes Kind oder eine ganze Runde im Supermarkt mit dem sperrigen Superkonstrukt, was für gewöhnlich nicht nur den Hass der Leute auf sich zieht, sondern auch noch den Einsatz aller körperlichen Kräfte erfordert? Für beides fehlt mir heute die Energie und der Punkt geht erneut an die Kinder. Schwerfällig bahne ich mir mit dem Auto einen Weg durch den vollen Obst- und Gemüsebereich und sehe über die genervten Blicke hinweg. »Darf ich mal?«, »Entschuldigung«, »oh tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen«. Ich lasse den Wagen an der Seite stehen, reiße eine Tüte von der Rolle und packe sechs Golden Delicious, im Angebot für 2,49 Euro das Kilo, ein. Prompt zerfetzen die Äpfel das dünne Plastik und plumpsen auf den Boden.

»Sara, hilf mal und heb die Äpfel auf«, bitte ich meine Große, die als Antwort nur ein »Nö« von sich gibt und Lena weiter im Wagen ärgert.

»Lena muss mich auch mal reinlassen.«

»Lass Lena und hilf mir bitte aufheben.«

»Nö, warum denn? Du hast die Äpfel doch selber runtergeschmissen. Dann musst du die auch selber aufheben.«

Mein Kopf ist zu müde für ein weiteres pädagogisches Exempel und so krauche ich allein auf dem Boden herum. Unauffällig lege ich die angetitschten Äpfel wieder in die Kiste und suche neue Exemplare aus, reiße zwei neue Tüten vom Spender und stülpe sie übereinander. Das hält die kleinen Scheißerchen jedoch nicht davon ab, erneut durch die Tüten zu schießen. Lena und Sara kämpfen währenddessen lautstark weiter. Die Frau, durch deren Beine gerade meine Äpfel unter die Frischetheke purzeln, schüttelt fassungslos den Kopf.

»Mama, Mama«, brüllt Lena.

Ich bewaffne mich mit einer ganzen Tütenbatterie, teile die Äpfel paarweise auf und wickele sicherheitshalber mehrere dieser hauchdünnen Tüten pro Apfelbeutel drum. Ich wiege alles ab, fische einen Öko-Brokkoli aus der Kiste, packe Sara am Schlafittchen und spreche ein Machtwort. Lena strahlt, Sara heult, Mama versucht, die gelbe Bestie auszuparken.

Die Schlange an der Wursttheke ist lang, zu lang für Dröhnkopf und zwei Kampfbestien. Sara und Lena brechen beim Anblick der Wursttheke in laute Jubelschreie aus und fordern lautstark ihr »Scheibchen Wurst«. Da gehe ich jetzt gar nicht drauf ein. Ich habe heute keine Lust, angematschte Schinkenfleischwurstreste aufzuessen. Abgepacktes Gulasch tut es ausnahmsweise auch. Mit sturem Blick steuere ich meinen Panzer am Süßigkeiten- und Keksgang vorbei, ersticke »Oh, Mama, kann ich …«-Rufe mit simplen »Nein« im Keim und fahre so zügig, dass Lena keine Möglichkeit bleibt, aus dem Wagen auszusteigen und in eine andere Richtung zu laufen. Sara versucht mit mir Schritt zu halten, läuft dann zu den Zeitungen vor und wedelt kurz darauf mit einer Bibi-und-Tina-Zeitung vor meiner Nase herum.

»Du hast es versprochen«, kommt sie mir zuvor. »Da ist ein ganz toller Spiegel dran.«

»Schatz, ich kauf dir einen viel schöneren im Drogeriemarkt. Der ist doch nicht mal echt. Das ist Plastik, was man mit einer billigen Spiegelfolie beklebt hat. Schau mal, die Zeitschrift kostet 3,50 Euro und du guckst sie dir doch sowieso nur kurz an und schmeißt sie dann in die Schublade. Weißt du, was du dir für 3,50 Euro alles kaufen könntest?«

»Du hast es versprochen!«

Es ist nicht einfach, rechnerisches Vorschulwissen in praktische Beispiele zu verwursten, doch ich gebe nicht auf. »Wenn wir woanders einen Spiegel kaufen, der dann auch noch viel schöner ist als das Plastikding hier, hast du noch Geld übrig und könntest es sparen.«

»Ich will aber nicht sparen. Ich will den Bibi-und-Tina-Spiegel«, sagt sie trotzig.

Lena schmeißt derweil wortlos eine Benjamin-Blümchen-Zeitung mit einer doofen Trillerpfeife als Verkaufsargument in den Einkaufskorb und steigt wieder hinters Steuer.

»Gut, aber mehr gibt es nicht«, lenke ich ein.

Der Kassenbereich ist nicht wiederzuerkennen. Ich bin einen Moment geblendet. Grelle Deckenstrahler erleuchten die Kassenplätze wie eine Theaterbühne. Drei riesige, bunte Verkaufsflächen mit einer Süßigkeiten-Ausstellung, die Charlies Schokoladenfabrik Konkurrenz machen könnte, postieren direkt davor. Wenn die Schlange, so wie heute an einem Samstag, voll ist, stehen die Kinder genau auf Augenhöhe zwischen dem ganzen Süßigkeitenklimbim. Der Fliegenfänger funktioniert. Sofort stürzen sich meine Insekten auf die Lockangebote, halten rosa Traubenzuckerbonbons in Katzenspenderform hoch, präsentieren ihr liebstes »Bitte«-Gesicht und rütteln wild an Dornröschen, Tinkerbell und Cars-Überraschungseiern. Was soll der Scheiß? Ist das hier Disneyland oder ein Supermarkt?

Ob man den Kassiererinnen eine Gehaltszulage für ihr Face-Striptease zahlt? Man sieht bei dem Licht jede Pore und schlecht aufgelegtes Make-up. Frau Billermann – die Gute arbeitet, seit ich denken kann, bei Krügers – wird der Kopf so ungünstig ausgeleuchtet, dass man durch ihre feinen Haare auf die Kopfhaut gucken kann. Sie schaut plötzlich hoch und lächelt mir tapfer zu. Ich fühle mich ertappt, erröte und erlaube den Kindern schnell zwei Päckchen Tic Tac. Akribisch postiere ich die fünf Sahnebecher wie kleine Zinnsoldaten hintereinander auf das Transportband, richte meine anderen Artikel so aus, dass der Barcode nach oben zeigt. Frau Billermann soll so wenig Mühe wie möglich mit mir haben. Dabei drücke ich meine Wade mit aller Gewalt gegen die Tür des Monstertrucks, damit Lena die Tür nicht aufbekommt und den ohnehin schon sehr engen Raum zwischen den Kassen noch zusätzlich blockiert. Ich überhöre ihren Protest und schnauze Sara an, dass sie die Finger von den Weintrauben der nächsten Kundin lassen soll, die mir schon mehrere giftige Blicke zugeworfen hat. Der Versuch, an den Brokkoli ganz unten im Korb zu gelangen, stellt sich als echte Herausforderung heraus. Der Einkaufskorb des Monstertrucks ist so tief, dass man entweder eine Armlänge von mindestens 1,50 m oder Inspektor-Gadget-Arme besitzen muss. Ich zeige mein ganzes Repertoire an Gelenkigkeit – schließlich war ich als Kind im Turnverein – und hänge mich über den Korb. Lena nutzt unverzüglich die Chance, schlägt die Tür ihres Autos mit Schwung auf und versperrt der Kundin an der Nebenkasse den Gang. Ich drücke sie unsanft zurück in die Fahrerkabine. Frau Billermann schwingt den neuen Scanner wie Lucky Luke die Waffe und braucht trotz geleisteter Vorarbeit mindestens die dreifache Zeit einer Aldi-Kassiererin. Zwischendurch kräht sie über die zwei Kassen hinweg zu ihrer Kollegin.

»Frau Trost, haste auch schon so Rückenschmerzen? Der Stuhl bringt mich um.«

»Da wurde wieder auf unsere Kosten gespart«, ruft Frau Trost über eine Großpackung Toilettenpapier zurück.

Wenn Frau Trost und Frau Billermann wüssten, dass genau vor ihrer Nase ein Engel steht, der sich ihrer Sorgen und Wünsche annimmt.

Nachdem ich meine Einkäufe in die faltbare Einkaufstasche verstaut habe und das Monster endlich los bin, stelle ich mich in die Schlange der Stehbäckerei. Die Kinder kleben mit den Nasen an der Auslage und lecken sich ausgehungert die Lippen. Meine Kraft ist aufgebraucht, ich erlaube Nussecke und Schokocroissant, nehme ein geschnittenes Paderborner und einen Kaffee.

»Passen Sie auf, der Becher ist sehr heiß.«

Vorsichtig schiebt die Verkäuferin den Kaffeebecher über die Glastheke. Gierig lange ich zu, verbrenne mir an dem Becher die Finger und lasse ihn fast fallen. Die heiße Brühe schwappt über meine Hose und tropft auf den Boden.

»Ich habe ja gesagt, er ist sehr heiß.«

Mit spitzen Fingern transportiere ich den braunen, geriffelten Plastikbecher zu einem der neuen Stehtische, wische dann mit einem Taschentuch die kleine Pfütze auf dem Boden weg. Ich werde Bernd zu Hause auf die nicht ergonomischen Kassenstühle aufmerksam machen und ihm vorschlagen, Porzellantassen im Stehcafé zu benutzen, damit man sich nicht die Finger verbrennt. Bernd kann sich glücklich schätzen. Ich verkörpere Mysteryshopper und Ehefrau in einer Person. Sara und Lena verputzen ihr Schokogebäck und sind für eine Minute still.

Im Auto geht der Kampf um den pinken Kindersitz los. Es war mein Fehler, Lena im letzten Monat einen neuen Autositz im schönsten Rosa-pink-Design zu kaufen. In Sara flammte sofort geschwisterlicher Neid auf. Seitdem herrscht kalter Krieg, sobald sich die Autotür öffnet. Sara, fast einen Kopf größer als Lena, drängt sich blitzschnell ins Autoinnere und pflanzt sich triumphierend auf den begehrten Sitz. Lena, unerschrocken und mit phänomenalen Kräften für eine Zweijährige ausgestattet, schiebt und drückt Sara vom Thron, gibt dabei angestrengte und keifende Laute von sich. Sara wehrt sich, boxt zurück und verpasst Lena einen Rippenstoß. Die winselt laut auf, schlägt wild um sich und beißt herzhaft in Saras Arm.

»Mama. Die hat mich gebissen«, jault Sara. Ich zerre Lena aus dem Auto und trage sie zur anderen Autoseite, wo ich sie unter Protest in Saras alten, blauen Autositz schnalle und schnell die Tür zuschmeiße. Lena lässt sich wie ein nasser Sack durch den Sicherheitsgurt nach unten gleiten, strampelt mit den Füßen und beschimpft ihre große Schwester, die immer noch über die schmerzhafte Bisswunde heult. Ich schmeiße den Motor an und feuere alle Drohungen ab, die mir einfallen. »Ihr geht gleich zu Fuß nach Hause!«, »mit euch gehe ich nie wieder einkaufen!« und die gute alte Fernsehverbotswaffe, die ich von »heute« über »die ganze Woche« bis hin zu »nie wieder« steigere. Die Kinder streiten davon unbeeindruckt weiter. Die Wirkung der Paracetamolration sinkt linear zu meinem Stressfaktor.

»Ich will jetzt nichts mehr hören«, schreie ich aus vollem Halse. Ich weiß, ich sollte meine Stimme nicht erheben, das ist pädagogisch kontraproduktiv. Doch endlich lassen sie voneinander ab. Es ist für einen Moment Ruhe im Karton.

Auf dem Weg zur Apotheke sortiere ich mich auf die Linksabbiegerspur ein. Ich hasse diese Ampel, hier muss man immer ewig warten. Die müsste die Stadt mal dringend austauschen, von den schlechten Straßenbelägen mal abgesehen. Neben mir springt zum zweiten Mal die Geradeausampel auf Grün. Heute funktioniert mal wieder gar nichts. Hinter mir hupt ein SLK mit Duisburger Kennzeichen. Was will der Typ? Sieht er nicht, dass rot ist? Ich fuchtele mit den Händen und versuche per Zeichensprache darüber zu informieren, dass ich nicht gewillt bin, einfach bei Rot loszufahren und die Sicherheit meiner Kinder zu gefährden. Er fuchtelt zurück und deutet immer wieder an, dass ich losfahren soll. Der kann mich mal, soll er doch vorbeifahren, wenn er seinen Führerschein riskieren will.

»Mama? Warum fahren wir nicht weiter?«, nörgelt Sara von hinten.

»Weil es immer noch rot ist, Schätzchen«, erkläre ich gereizt.

»Ich kann auch nichts dafür, dass diese Scheißampel rot ist, du Vollidiot. Fahr doch vorbei, wenn du meinst, du müsstest drüberfahren«, meckere ich, als es erneut hinter mit hupt. Der graumelierte, gepflegte Herr im schwarzen Anzug steigt aus und nähert sich langsam meinem Wagen. Von dem lasse ich mich nicht einschüchtern. Gönnerhaft betätige ich den automatischen Fensterheber und komme ihm zuvor. »Die Ampel braucht immer ein wenig länger, wissen Sie. Ich wohne hier in der Gegend. Vom Hupen wird es auch nicht schneller grün. Wir sind ja nicht in Italien.«

Der Herr im Anzug zeigt sich unbeeindruckt und erwidert kühl: »Wie wäre es, wenn Sie mal bis zum Kontaktstreifen vorfahren würden? Dann müssen wir hier auch nicht die Nacht verbringen.«

Auf diese Klugscheißerei fällt mir nichts mehr ein. Dennoch, ich tue dem Kerl den Gefallen und fahre vor. Nicht, weil er es gesagt hat, sondern lediglich, um ihm zu beweisen, dass das auch nichts bringt. Die Ampel schaltet sofort auf Grün, ich erröte und drücke schnell das Gaspedal durch.

Bernd hat sich inzwischen aus dem Bett gepellt und liebevoll den Frühstückstisch gedeckt. Die große, blaue Frischhaltedose mit der Wurst steht einladend neben dem Zuckervorratstopf, dem Serviettenspender und der vollen Packung Milch. Um keinen Stilbruch zu begehen, verzichte ich auf den Brotkorb, schiebe die Malsachen der Kinder beiseite und lege die Brötchentüte dazu. Dann tausche ich die großen Essteller gegen Frühstücksteller, was von Bernd nur mit einem Kopfschütteln kommentiert wird. »So ein Blödsinn. Teller ist Teller.«

Gierig gieße ich mir endlich meinen zweiten, wohlverdienten Kaffee ein, setze mich und lege eine Serviette unter die Tasse. Wer braucht schon Unterteller? Ein Haushaltsgegenstand, der sowieso total überbewertet wird.

»Schatz, wo ist die Marmelade?«, fragt er, prophylaktisch sozusagen. Bloß keine Zeit verschwenden. Wie üblich fliege ich durch die Küche und angele mit gezieltem Griff das Glas aus dem Vorratsschrank. Noch ehe ich ihm es hoheitsvoll überreichen kann, verzieht er das Gesicht. »Hoffentlich hast du nicht wieder welche mit Stücken gekauft.«

Natürlich weiß ich, dass Bernd niemals Marmelade mit Stücken isst. Auch verabscheut er Aprikosen-, Maracuja- oder Waldbeere. Er isst nur Erdbeer- oder Himbeermarmelade, ohne Fruchtstücke. Da ich bisher noch keine Erdbeermarmelade ohne Fruchtstücke gefunden habe, kaufe ich seit Jahren nur noch Himbeermarmelade. Dabei würde ich so gerne mal wieder die Sorte des Jahres ausprobieren: Erdbeer-Vanille, Rhabarber-Holunderblüte, Himbeer-Physalis, Veilchen-Heidelbeere – schon allein die ideenreichen, gaumenschmeichelnden Namen auf den Etiketten lachen mich beim Einkaufen an. Aber da ich höchstens alle zwei Wochen mein Quarkbrötchen mit Marmelade esse, verzichte ich Bernd zuliebe auf den Luxuskauf und lebe meine Sortenprobiersucht am Tee aus. Meine Teeschublade gibt sie alle her: Guten-Morgen-Tee, Schöne-Nacht-Tee, Flirt-Tee, Gute-Laune-Tee, Pure-Lust-Tee, Kleine-Sünde-Tee, Harmonietee, Balancetee, Nerven-Beruhigungstee, Magen-Darm-Tee, Blasen- und Nierentee – ich habe für jede Stimmung und jedes Wehwehchen das passende Kräutertütchen.

»Warst du eigentlich bei Krügers?«, fragt er, während er das Marmeladenglas inspiziert und für gut befindet. Als ich nicke, grinst er breit. »Und? Was sagst du? Ist der neugestaltete Kassenbereich nicht super?«

»Ja, der ist toll geworden. Die Beleuchtung ist klasse«, sage ich eifrig nickend. Es ist wichtig, ab und an ein wenig Balsam auf die Unternehmerseele zu pinseln. Gute Stimmung hebt das Selbstvertrauen und die Tatkraft, was sich später auf die Provision und den Jahresendbonus auswirkt.

»Ja, super, nicht? Durch die neuen Spots fallen die Impulszonen an den Kassen noch besser auf. In dem Laden haben wir vielleicht aufgeräumt. Unser Cost-cutting kann sich sehen lassen«, schwärmt er weiter. »Wir haben zig Lieferanten umgestellt. Schon allein durch den Einsatz der neuen Obsttüten und den Kaffeebechern am Stehcafé werden wir die Rentabilität sensationell steigern können.«

»Kann es sein, dass die Obsttüten dünner geworden sind?«, forsche ich nach.

Bernd zuckt die Achseln. »Kann sein, sind ja schließlich auch erheblich günstiger. Was meinst du, wie viele von den Dingern geklaut werden. Die Tüten werden als Einkaufsbeutel genommen oder die Leute machen sich die Taschen voll und benutzen sie später für ihre Hundehaufen oder als Gefrierbeutel. Der Verbrauch ist so phänomenal hoch, dass die Einsparung in diesem Bereich gravierend sein wird.«

Ich werde nachher unauffällig die Obsttüten in die gelbe Tonne stopfen und sollten die bei Krüger merken, dass der Pro-Kunden-Obsttütenverbrauch drastisch in die Höhe gegangen ist, wird Bernd mit seiner Firma längst beim nächsten Kunden cost-cutten. Wenn Krüger unseren Lebensunterhalt mit Obsttüten bezahlt, ist das nur recht und billig.

»Und die Kaffeebecher? Die sind auch dünner, oder? Du, ich habe mir heute Morgen echt die Finger verbrannt.«

»Das ist uns auch schon aufgefallen«, nickt Bernd zustimmend. »Das geht natürlich nicht«, murmelt er mit vollem Mund.

»Ich finde, aus richtigen Tassen trinkt sich der Kaffee sowieso viel besser«, steige ich ein. Gibt es eine bessere Gelegenheit, als die Verbesserungsvorschläge beim gemeinsamen, entspannten Frühstück durchzugehen?

»Wieso Tassen? Bist du verrückt? Wer soll die spülen? Das Personal soll Umsatz machen und sich nicht um das dreckige Geschirr kümmern. Nee, nee, da haben wir bereits eine andere Lösung gefunden. Wir haben dem Marktleiter angewiesen, die Temperatur der Kaffeemaschine heruntersetzen zu lassen. Der Mietservice-Fritze meint, das geht.«

Bernd lamentiert über Abschlussberichte und Zahlen und ich verwerfe mein Vorhaben. Was habe ich im Endeffekt mit Frau Billermann zu tun? Wirklich freundlich ist die nicht. Letzten Monat hat sie einfach einen viel zu hoch angesetzten Phantasiepreis für meine Strohhalme manuell in die Kasse getippt, weil der Scanner den Barcode nicht akzeptierte. Zu faul aufzustehen und den realen Preis zu checken, aber über Rückenschmerzen klagen. Ich habe sie natürlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Strohhalme im Angebot für 1,99 Euro sind und keine 2,79 Euro kosten. »Wirklich?«, meinte sie pikiert und hätte mir die Dinger sicher gerne durch die Nase gezogen.

Später versuche ich, meine Kopfschmerzen in den Griff zu kriegen. Erschöpft lege ich mich lang und schließe die Augen. Die Kinder toben und knallen die Türen in der oberen Etage, Bernd ist eine Runde joggen. Wenn ich Glück habe, kriege ich zwanzig Minuten Dämmerschlaf hin. Während Lena mit dem Bobbycar die obere Etage unsicher macht und Sara sie mit lautem »Tuff tuff tuff, die Eisenbahn« anfeuert, geht mein Atem regelmäßig und tief und ich schlafe tatsächlich ein.

Der Fremde küsst mich zart und gleichzeitig fordernd. Ich stöhne auf und gebe mich ganz diesem prickelnden Gefühl hin. Seine blonden Locken kitzeln mein Gesicht. Ich biege meinen Hals nach hinten und genieße es, wie er mit der Zunge eine Linie auf meinem Hals malt. Gleichzeitig umfasst er meine Brüste und presst sich hart an mich. Meine Fingernägel krallen sich in den sehnigen, muskulösen Rücken. Gierig reiße ich ihm sein T-Shirt vom Leib, um dann ganz langsam und genussvoll über die muskulöse, glatte Brust zu streichen.

Der penetrante Geruch von fauler, nichtsnutziger Mutter zieht durch die Räume und erreicht die Kinder viel zu schnell. Irgendetwas rüttelt an mir. Ich bekomme die trägen Augenlider einfach nicht hoch und verweile noch kurz in meinem Traum, verschließe mich der Außenwelt, so lange es geht, und streiche ein letztes Mal über seinen beeindruckenden Musculus pectoralis major. Fast schäme ich mich, muss dann aber an ein altes Volkslied auf Lenas Kinderlieder-CD von Nena, denken: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen mit Pulver und Blei: Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei.

Und wenn Nena das schon singt, muss ich mir wegen ein paar harmloser, schlüpfriger Phantasien keinen Kopf machen. Um ehrlich zu sein, habe ich schon mit halb Hollywood und der gesamten männlichen deutschen Promi-A-Liga geschlafen. Mal rekele ich mich als Sklavin unter einem schweißnassen Achilles (Brad Pitt hatte einfach einen fantastischen Körper in Troja), dann lasse ich mir von Doktor Ross im OP-Saal das Krankenhaushemdchen hochschieben, und selbst mit Captain Jack Sparrow habe ich es schon am Strand einer einsamen Insel getrieben. Den Vogel schoss allerdings vor ein paar Nächten Til Schweiger ab. So erotisch hat mir noch keiner kleine Schweinereien ins Ohr genuschelt. Til löste damit meine Lieblingsphantasie des ekstatisch geigenden David Garretts ab, der, nackig auf dem Sofa hockend, Vivaldis Sommer nur für mich zum Besten gibt.

»Mama!«, ruft Sara laut, damit ich endlich reagiere.

»Mama«, flüstert Lena deutlich zärtlicher in mein Ohr und fummelt an meiner Kette. Dann legt sie ihren Kopf auf meine Brust und sabbert mir in den Ausschnitt.

»Mama, schläfst du?«, forscht Sara nach.

Ich gebe keine Antwort.

»Was macht die Mama?«, fragt Lena.

»Ich glaube, sie ist tot«, kommentiert Sara trocken. Lena versucht meine Lider mit ihren Fingern zu öffnen.

»Nein, ich lebe noch«, murmele ich müde, rappele mich ergeben auf und lande endgültig zurück in der Wirklichkeit.

»Schade. Wenn du tot wärst, könnte ich dich in deiner Gruft besuchen kommen.« Sara ist über mein Nichtableben enttäuscht.

»Dafür müsste mich erst mal ein Vampir beißen, sonst verwese ich.«

Seit Sara Vampire mag, hat der Tod in ihren Augen merklich an Sympathie gewonnen. Man muss lediglich vorher einem hochgewachsenen, gutaussehenden Untoten seinen Hals hinhalten, damit er seine spitzen Hauer hineinschlagen kann.

Gegen Louis de Pointe du Lac oder Edward Cullen hätte nicht mal ich etwas einzuwenden. Wenigstens die Begeisterung für diesen Typ teilt meine Nichte Sina mit mir. Die letzte Familienfeier war nur erträglich, weil ich mich mit Sina in ein Fachgespräch über den neusten Twilight-Teil vertiefen konnte.

»Also weißt du, Heidi, findest du es passend, in deinem Alter noch diesen Teeniequatsch anzuschauen?«, stichelte ihre Mutter, meine verhasste Schwägerin Petra, und lachte in ihrer grellen, unsympathischen Tonart. Ich warf einen Blick auf ihre Perlenohrringe und die weiße Spießerbluse und fand, sie hatte keine Antwort verdient. Ich versuche generell, so wenig wie möglich mit ihr zu reden. Eine Mutter, die ihre Kinder ausschließlich glutenfrei ernährt und den Knigge für die Bibel hält, kann man nicht ernst nehmen.

Alle paar Wochen bin ich fällig. Dann ruft Petra an und wir sind allein. Nur sie und ich. Ohrmuschel an Ohrmuschel. Unsere Gesprächspausen und die an den Haaren herbeigezogenen Höflichkeiten sind einfach nur anstrengend. Dreimal hatte ich ihren Anruf diese Woche ignoriert, es lebe die Nummernübertragung! Gestern war Sara schneller. »Es ist Tante Peeeeeeeeeeeetraaaaa, Mama.«

Ich verdrehte die Augen und versuchte ein Lächeln aufzusetzen und meine Stimme durchs Telefon freundlich klingen zu lassen. Das habe ich mal in einem Callcenter-Powertraining im Büro gelernt.

»Hallo, Petra. Wie schön, dass du mal anrufst. Geht es dir gut?«

»Ganz gut soweit. Ich habe zigmal versucht, dich zu erreichen. Hast du meine Nachrichten auf dem AB nicht abgehört?«

»Du hast angerufen? Wirklich? Die T-Net-Box … du weißt doch, wie das Ding nervt. Ich rufe da nie zurück. Aber es ist mir gar nicht aufgefallen, dass du angerufen hast. Ich hätte doch sonst zurückgerufen«, log ich. »Wie geht es denn so? Was macht meine Lieblingsnichte Sina?«

»Sina ist in letzter Zeit etwas schwierig. Ein Kind durch die Pubertät zu bekommen, ist wohl die größte Herausforderung für eine Mutter, weißt du. Sina war immer ein liebes Kind, aber jetzt?! Ach, das steht dir ja alles noch bevor. Da kannst du dich ja warm anziehen, wo deine Sara jetzt schon so schwierig ist«, textete sie mich sofort zu und ließ sich über Sinas Pickel und ihr schlechtes Benehmen aus. Ich schnappte meinen Swiffer, klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und wischte im Wohnzimmer während ihres Monologes Staub vom Fernseher und den Kommoden, gab zwischendurch als Alibi ein paar »Aha!«- und »Wirklich?«-Laute von mir. So war das Telefonat nicht ganz unnütz.

»Warum ich anrufe. Hast du nächste Woche Freitag schon etwas vor?«

»Äh, Freitag?«, stammelte ich und kramte in meinem Gehirn nach einer glaubwürdigen Ausrede. So unvorbereitet erwischt, ließ mich meine Spontanität meistens in Stich. Das wusste das Biest!

»Freitag? Nächsten Freitag, meinst du? Ja, also Freitag …« Suchend schaute ich in meinen Familienkalender, doch am besagten Freitag stand lediglich »blaue Tonne rausstellen«.

»Freitag, hm. Da war doch was. Ach ja, nächsten Freitag. Da geht es nicht wegen der blauen Tonne«, stammelte ich.

»Hä?«

»Ja, also. Ja, die blauen Tonnen …« Denk nach Heidi! »Die malen wir am Freitag im Kindergarten an«, sagte ich triumphierend und beglückwünschte mich innerlich zu diesem Geistesblitz.

»Wieso?«

»Die stehen als Sammelbehälter für die Sandsachen im Kindergarten und wir wollen die in einer Aktion ein bisschen verschönern, mit Blumen anmalen und so.« Eine grandiose Idee, die ich glatt einen Tag später im Kindergarten vorschlug und die somit nur halb gelogen war.

»Schade, ich dachte, du hast Lust, mit Sara ins Café Gabelsilber nach Meerbusch zu kommen. Frau von Weihershausen gibt dort ihren neuen Kurs Essmanieren und Softskills für Kinder ab fünf. Damit kann man ja nicht früh genug anfangen. Ich organisiere das Event.«

Ja, sehr schade, ist es doch von elementarer Wichtigkeit, dass Kinder lernen, wie viele Zentimeter der Teller vom Tischrand stehen darf und wie man möglichst vornehm sein Glas mit Kindersekt hebt. Mir würde es schon reichen, wenn Sara ihren Kakao nur noch zweimal die Woche umschmeißen würde und länger als zwei Minuten am Tisch sitzen bleiben könnte.

»Wirklich schade. Aber wir können nicht und Sara benimmt sich eigentlich ganz gut beim Essen.«

»Findest du?«, fragte sie gedehnt und spielte damit hundertprozentig auf das letzte Familienessen beim Italiener an, als Sara ihren Teller Spaghetti Bolognese versehentlich vom Tisch gefegt hatte. Puterrot war ich auf dem Restaurantboden rumgekrochen, hatte versucht, die Sauerei wegzuwischen und dabei meinen weißen Rock versaut.

»Schau mal, Lena. Das ist aber ganz, ganz böse von der Sara. Jetzt muss die Mama das alles wegwischen«, hatte Petra sehr, sehr laut zu meiner Kleinen gesagt und damit die Aufmerksamkeit des halben Restaurants auf mich gezogen. Für eine Klugscheißerei ist sie immer gut. Auf die Idee, ihren fetten Arsch zu bewegen und mir zu helfen, war sie nicht gekommen. Der Lieblingsspruch meiner Mutter, »Jeder bekommt was er verdient«, traf sie jedoch fünf Minuten später, als Sina nach Verzehr ihrer Pizza laut rülpste und alle Kinder am Tisch in lautes Gelächter ausbrachen und nicht mehr zu beruhigen waren.

»Nun ja, aber ich rufe nicht nur deswegen an. Was wünscht sich Sara denn zum Geburtstag? Vielleicht ein Vorschulspiel? Einen LÜK-Kasten?«

»Sie wünscht sich eine Monster-High-Puppe. Die Draculaura.«

Petra schnappte durch den Hörer nach Luft. »Das ist ja furchtbar. Die sind pädagogisch ja nun wirklich nicht vertretbar für dieses Alter. Die würde ich nicht mal Sina kaufen«, kritisierte sie und teilte mir mit, dass ihr schon eine sinnvollere Alternative einfallen würde. Wofür hatte sie eigentlich angerufen, wenn sie es, wie immer, besser wusste?

»Wirklich angsteinflößend, deine Tochter. Diese Neigung würde ich mal im Auge behalten«, sagte sie und erwähnte nebenbei, dass über ihrem Augenarzt ein neuer Kinderpsychologe seine Praxis aufgemacht hätte, eine Koryphäe.

»Gruselig, gruselig«, murmelte sie noch ein paarmal, bevor sie auflegte.

Gruselig ist eigentlich nur die Tatsache, dass ich mit ihr verwandt bin. Aber Familie kann mich sich ja leider nicht aussuchen.

Ein Apfel am Tag und der Onkel Doktor bleibt, wo er mag

Der Montagmorgen gehört abgeschafft. Der Kommissar ist unterwegs und ich schließe eilig die Haustür.

»Gehen wir jetzt?« Meine Tochter Sara zupft an meiner Jacke. »Momentchen noch. Meinst du, die Schuhe sind nicht zu kalt?«, halte ich sie hin und beobachte durch den Spion, ob mein verhasster Nachbar endlich wieder in sein Loch zurückgekrochen ist. Wie erwartet, steht er kopfschüttelnd vor meinem Wagen und schaut zum Haus herüber. Ich bücke mich entsetzt, obwohl er von der Entfernung nicht sehen kann, dass ich am Guckloch klebe. Ja, ich bekenne mich schuldig. Mein Auto parkt wieder einmal zehn Zentimeter seiner Ausfahrt zu. Dabei würde seine rote, japanische Knutschkugel locker zweimal durchpassen. Außerdem fährt der Kommissar meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit und braucht die hässliche rote Karre nicht. Natürlich fährt er niemals ohne Helm.

»Frau Heiermann, Sie müssten aber schon Vorbild für Ihre Kinder sein, gell?«, textete er mich letztens zu, als ich mit Sara und Lena Richtung Spielplatz unterwegs war. Ich riss die Augen auf und tat ganz ahnungslos. Redete der mit mir?

»Bitte was?«, fragte ich süffisant.

Er klopfte auf seinen Helm und flüsterte leise. »Helm.« So, als würde er etwas Verbotenes sagen.

»Ja, ja«, winkte ich ab. »Den habe ich verlegt.«

Selbstverständlich tragen meine Mädels ihre Fahrradhelme. Der empfindliche Kinderkopf gehört geschützt. Aber nach zwanzig Minuten Hardcore-Föhnen werde ich einen Teufel tun und alles wieder platt drücken. Endlich schwingt er sich auf sein Fahrrad. Ich warte noch eine halbe Sicherheitsminute, dann trete ich vor die Tür. Um ihn zu ärgern, stelle ich unsere gelbe Abfalltonne auf den Gehweg, obwohl sie erst übermorgen abgeholt wird. Das mache ich öfters, um die Nachbarschaft zu verwirren. In kürzester Zeit zieht die ganze Straße nach, ein Dominoeffekt. Die gelbe Tonnenkolonne blockiert dem Kommissar seinen Fahrradweg – und das ganze zwei Tage lang. Er ärgert sich immer fürchterlich darüber.

Saras katholischer Kindergarten befindet sich in der besten Wohngegend der Stadt. »Ein echtes Privileg, dass wir einen Platz bekommen haben«, jubelte mein Mann Bernd, als wir den Brief von St. Elisabeth erhielten, in dem unsere Sara feierlich aufgenommen wurde. Man bedankte sich gleichzeitig zwischen den Zeilen für die großzügige, materielle Spende.

»Sieh es als Investition für die Zukunft an. Hier gehen die Kinder von vielen wichtigen Leuten hin. Bind bloß nicht jedem auf die Nase, dass du aus der Kirche ausgetreten bist«, bläute er mir ein. Ich hätte Sara damals lieber in dem netten Kindergarten direkt um die Ecke angemeldet. Eine Elterninitiative, mit jungen Erzieherinnen und eigenem Kleintierzoo. Aber Bernd bestand auf St. Elisabeth, und so versuche ich seit zwei Jahren meine Unchristlichkeit zu vertuschen und integriere mich, so gut ich kann.

Einige Mütter stehen quatschend vor den Kindergarderoben und blockieren den Weg.

»Guten Morgen«, flöte ich wohlerzogen und quetsche mich in die letzte Lücke, damit ich Sara unter Verrenkungen in dem engen Gang die Schuhe ausziehen kann. Lena positioniere ich auf der Bank und lausche mit halbem Ohr der Diskussion.

»Küsschen, Paulchen. Die Mami ist jetzt weg.« Eifrig schiebt Frau Steffens den fünfjährigen Paul in den Gruppenraum. »Ich muss schnell nach Hause meinen Mann ablösen. Meine Kleine hat schon wieder Fieber. Ob das noch eine Impfreaktion auf die Windpockenimpfung von vorletzter Woche ist?«

»Du lässt sie gegen Windpocken impfen? Das schwächt doch so das Immunsystem. Luisa habe ich nur gegen das Nötigste impfen lassen. Hast du es schon mit Belladonna versucht? Greif bloß nicht sofort zu chemischen Fiebermitteln.«

»Am Marktplatz hat der neue Kinderarzt aufgemacht. Der soll sehr gut sein. Geh doch mal da hin. Dr. Piper taugt doch nichts.«

»Nicht, dass es Pfeiffersches Drüsenfieber ist. Das hat der Kleine meiner Cousine letztens gehabt. Hat Wochen gedauert, bis das diagnostiziert wurde.«

»Oder es ist ein Magen-Darm-Infekt. Geht im Moment ja wieder um. Was meinst du, Heidi?«

Erwartungsvoll richten sich vier Mutteraugenpaare auf mich.

»Magen-Darm, bestimmt Magen-Darm«, stimme ich zu und winke Sara noch ein letztes Mal zu, bevor ich entfliehe.

Meine Mutter wohnt seit dem Tod meines Vaters vor fünf Jahren allein in dem kleinen Häuschen. Im kanariengelben Bademantel und mit ihrer Lieblingsspruch-Tasse – »Gepriesen sei, der einst entdeckt, den Zauber, der im Kaffee steckt« – in der Hand öffnet sie die Tür. Meine Mutter sammelt Kaffeetassen und Sprichwörter.

»Ach, guten Morgen, mein Kind. Komm rein. Magst du einen Kaffee?«

»Nee, lass mal. Ich will direkt los. Ich muss ein paar Sachen erledigen. Lieb, dass du Lena schon wieder nimmst. Jetzt musst du wegen uns wieder so früh aufstehen.«

»Morgenstund hat Gold im Mund«, lacht sie. »Ich mache das doch gerne. Nicht, Lenchen? Die Omma freut sich doch, wenn ihr kleines Schätzchen kommt.«

Lena marschiert zielstrebig in die Küche, öffnet routiniert den Küchenschrank und wird sofort fündig. Sie angelt eine Packung Schokoladenkekse aus dem Schrank und tapst Richtung Wohnzimmer. Dort lässt sie sich auf dem alten Biedermeier-Sofa nieder, zeigt auf den Fernseher und kommandiert: »Oma, komm.«

Meine Mutter lacht verlegen. »Lenchen, wo hast du denn die Kekse her? Du weißt doch, dass die Mama erst möchte, dass du dein Obst isst. Sonst gibt es bei der Omma nichts. Und Fernsehen schauen wir doch auch nur, wenn die Sesamstraße läuft.«

»Schon klar, Mama.«

»Ehrlich, Heidi, ich habe keine Ahnung, woher sie immer weiß, wo die leckeren Sachen versteckt sind.«

»Von versteckt kann ja keine Rede sein. Du hortest den Kram ja so passend kindergerecht in den unteren Schränken.«

Ich reiße Lena die Packung aus der Hand und hole die Tupperdose mit den Apfelvierteln aus der Tasche.

»Das kannst du essen.«

Lena heult und Oma läuft tröstend zu ihr. »Lenchen, schau mal. Wenn du dein Äpfelchen nicht isst, wirst du krank, und dann musst du zum Onkel Doktor. Ein Apfel am Tag, und der Onkel Doktor bleibt, wo er mag.«

»Habe ich noch einen Bruder, von dem ich nichts weiß?«

»Was meinst du, Heidi?«

Mein Bruder Jörg ist Informatiker, und auch sonst haben wir keine Ärzte in der Familie.

»Unser Kinderarzt heißt Doktor Eisenleber und wir sind nicht mit ihm verwandt, zumindest weiß ich nichts davon.«

»Ach so«, lacht sie. »Das sagt man doch nur so.«

Ich packe Lenas Rucksack mit den Wechselsachen und dem Schmusetuch in den Flur und höre, wie meine Mutter Lena beruhigend etwas zuflüstert. Seit ein paar Jahren hört meine Mutter nicht mehr so gut, vergisst aber, dass meine Ohren noch ganz in Ordnung sind.

»Du gibst ihr keine Kekse, sobald ich raus bin«, ordne ich drohend an.

»Nein, natürlich nicht«, meint sie ganz entrüstet.

»Ich bin doch nicht blöd, ich habe doch gehört, was du ihr zugeflüstert hast.«

»Was meinst du? Ich habe nur gesagt, dass wir gleich mit der Puppe spielen, statt den Fernseher anzumachen und Kekse zu essen. Nicht Lenchen?«

Ich resigniere. Natürlich weiß ich, dass Lena gleich das Rundum-Sorglos-Programm buchen wird. Meine Mutter wird mit Lena auf dem Arm am Wohnzimmerfenster stehen, die Gardine zur Seite schieben und mir zum Abschied winken. Wenn mein Wagen dann um die Ecke gebogen ist, wird sie Lena auf den Boden setzen und sagen: »Jetzt ist die Mami weg. Und was möchte mein Lenchen denn jetzt gerne machen?«

Lenchen wird auf die Schokoladenkekse zeigen und sich wieder vor den Fernseher begeben. Ich sehe genau, mit was meine Mutter das Kind vollstopft. Von Lenas Shirt kann man lesen wie von einer Landkarte. Da kann meine Mutter die Flecken mit dem Schwamm noch so gut wegreiben. Die Restspuren der Schokolade, der Kekse und des Eis sind immer noch erkennbar. Ich könnte die Kekse einfach mitnehmen, lege sie dann aber doch auf einen der hohen Schränke und schiebe sie weit nach hinten, so dass auch meine Mutter die Packung nicht sofort entdecken wird.

»Ich bin spätestens um halb zwölf wieder da.« Dann verabschiede ich mich und freue mich auf zwei Stunden kinderlose Zeit. Im Auto entferne ich Conni kommt in die Schule aus dem CD-Player und krame nach einer vernünftigen Alternative. Zwischen Krokohits für Kids, Rolfs Kinderfrühling, Rolfs Sommerfest und 1, 2, 3 im Sauseschritt mit Detlev Jöcker taucht immer wieder Saras zweitbeste Freundin nach Rüdiger auf: Conni lernt Radfahren, Conni fährt Ski, Conni und das neue Baby und, Saras neustes Highlight, Conni und das tanzende Pony für Kinder ab sechs. Das Schulkind Conni hat ihre alberne, rote Schleife gegen ein rotes Haargummi eingetauscht, trägt dafür aber immer noch den gleichen roten Ringelpulli. Wem wollen die das eigentlich verkaufen? Selbst H&M hat jedes Jahr eine neue Kollektion und kein Mensch kauft seinem Kind einen Pullover in direkt fünf Größen. Wenn ich die Kinder nicht irgendwann von dem Trip runter bringe, wird mich diese Quarkstimme noch bis zum Abitur der Kinder quälen. Nach Kindergarten- und Grundschulconni gibt es neuerdings die vorpubertäre Conni, für Kinder ab zehn. Ich frage mich, was danach kommt, vielleicht Conni raucht oder Conni und das erste Mal oder Conni nimmt Drogen?

Endlich finde ich eine Musik-CD, die BRAVO Hits 2005, nicht gerade das Neuste, aber besser als Jimmy Breuer auf Einslive. Ich drehe auf volle Lautstärke, um meinen Hausfrauenmantel abzustreifen. Tokio Hotel singt Durch den Monsun. Ich stehe irgendwie auf Bill Kaulitz. So seltsam ist das gar nicht, wenn man bedenkt, dass ich mit zwölf unsterblich in Boy George verliebt war. Der lief ja nicht immer mit diesem Doppelkinn und Glatze rum. Früher sah der auch ganz lecker aus und ich stand immer schon auf den androgynen Typ. Exzessiv klebten damals alle Boy-George-Fotos, die ich kriegen konnte, über meiner Teddybär-Tapete. Ich fand, dass seine mystisch blickenden, blauen Augen das Schönste waren, was es auf Erden gäbe. Wenn freitags der Zeitungsjunge klingelte, um meinem Bruder seine abonnierte BRAVO zuzustellen, winselte ich um Culture-Club-Artikel. Mein Bruder folterte mich, indem er mich tagelang betteln und kleine Gefälligkeiten ausführen ließ, damit ich mir die ersehnte Autogrammkarte verdiente. Dann behauptete der höhnisch, Boy George wäre doch sowieso schwul. Ich war tief getroffen. Niemals, redete ich mir ein. Boy George wurde irgendwann von George Michael abgelöst. Was sehr praktisch war, musste ich doch in den Schulheften und meinem beigen Lederschlampermäppchen lediglich das »Boy« von »I love Boy George« überkrickeln. Der andere George hatte sein Coming-out Gott sei Dank erst viel später, als ich bereits über die nötige Reife verfügte, diese Ohrfeige zu verkraften.

Ein bisschen eigennützig war es schon, als ich meiner Nichte Sina letztes Weihnachten die Karten für das Tokio-Hotel-Konzert in der Köpi-Arena schenkte.

»Ich fahr dich auch hin und komm als Begleitperson mit rein, ist doch klar. Du bist ja erst dreizehn.«

»Ähm, Tante Heidi. Ich steh doch gar nicht auf Tokio Hotel.«

»Nicht? Wieso? Alle Mädchen in deinem Alter stehen auf Tokio Hotel.«

»Nicht wirklich. Dieser Bill ist doch total schwul.«

Und so kam es, dass ich die Karten schweren Herzens bei eBay versteigerte und mich stattdessen zwischen hysterischen Mädchen in der Lanxess Arena bei der Lightversion eines Popstars, Justin Bieber, wiederfand. Justin Bieber, die optische Reinkarnation von Heintje mit Mittelscheitel, kann nicht mal schön singen. Aber woher soll das Kind auch seinen guten Geschmack haben? Man muss sich nur meine spießige Schwägerin Petra anschauen, dann weiß man Bescheid.

Im Parkhaus kurve ich Parkdeck um Parkdeck nach oben, bis ich einen freien Platz in Ausgangnähe entdecke. »Parkdeck 3, G501«, versuche ich mir bewusst einzuprägen. Ich möchte nicht riskieren, dass ich zu spät zum Kindergarten komme, nur weil mein Orientierungssinn mir wieder einen Streich spielt. Warum markiert man Parkhäuser nicht kundenfreundlicher? Ein paar bunte Bilder an der Wand sollten ausreichen, um sich zurechtzufinden. Stattdessen nur grauer Beton, verwinkelte Gänge und eine Etage gleicht der nächsten.

Am Halloween-Sonderstand decke ich mich mit Deko für Saras Geburtstagsparty ein. Sie wird sechs, wünscht sich eine echte Gruselparty und kann den ersehnten Tag kaum noch erwarten. Geburtstag zu haben ist etwas ganz Besonderes. Das sagt Connis Tante Frieda auch jeden Abend. Seit August zieht Sara sich mindestens dreimal am Tag Conni feiert Geburtstag auf CD rein. Obendrauf muss ich die Geschichte jeden Abend vorlesen. Wenn der große Tag dann vorbei ist, kann ich mich darauf einstellen, die anschließenden zweieinhalb Monate mit Conni feiert Weihnachten gefoltert zu werden.

Mit einer Riesentüte künstlicher Spinnweben, Plastikspinnen, schwarzer Kakerlaken, einem Gummiskelett, einem Totenkopfkerzenständer und einer schaurigen Monstergummimaske ziehe ich weiter Richtung Basement. In der Parfümabteilung sprühe ich ein bisschen hier, schnuppere ein bisschen da und bleibe beeindruckt vor einem großen Plakat in der Unterwäscheabteilung stehen. Ein überdimensionaler, schlanker Modelunterkörper preist ein pinkes Zauberhöschen an. Eine Sensation, die Taille, Hüfte und Po verschmälert und uns Frauen dabei auch noch sexy und appetitlich aussehen lassen soll. Ich zögere. Den Kauf einer Hüfthose schiebe ich seit zwei Jahren auf. Zu tief würde der Stachel sitzen, wenn ich mir eingestehen müsste, dass ich an diesem Punkt angelangt bin. Bisher ummantelten die taillenhohen Mikrofaser-Panties meine Problemzone noch einigermaßen. An besonderen Tagen, an denen es heißt, konkurrenzfähig zu sein, reichen die nicht mehr aus. Ich erinnere mich schmerzhaft an Bernds diesjährigen Firmen-Osterbrunch mit Partnern. Ich stand morgens heulend in meinem einzigen, für diesen Anlass passenden Kleid. Ein schwarzes Etuikleid, das früher einmal die Vorzüge meiner weiblichen Rundungen hervorgehoben hatte. Nun betonte es meine Bauchproblemzone. Angewidert betrachtete ich mich in unserem Schlafzimmerspiegelschrank von der Seite.

»Ich sehe aus wie schwanger«, schrie ich hysterisch. Und ich möchte verdammt noch mal nie wieder schwanger aussehen. Seit Lenas Geburt meide ich Blusen oder Tunikas im Empire-Stil, die auch nur ansatzweise nach Umstandsoberteil aussehen. Denn eigentlich sehe ich immer ein bisschen trächtig aus. Das liegt natürlich hauptsächlich an meinem ausgeprägten Hohlkreuz und einen verschwindenden Teil an dem holländischen Vla-Pudding, den ich mir vorzugsweise abends auf dem Sofa reinhaue.

»Jetzt zieh halt irgendwas an«, rief Bernd entnervt und klopfte hektisch auf seine Armbanduhr. Ein Alternativ-Outfit gab es auf die Schnelle nicht. Hätte ich das verfluchte Kleid schon abends probeweise übergeworfen, hätte ich mit ein paar sanften Abführmitteln die Plauze in den Griff kriegen können. Aber so war es zu spät, Frühstück und eine halbe Flasche Wasser blubberten fröhlich vor sich hin. Ich lief den ganzen Tag mit eingezogenem Bauch herum, aß und trank so wenig wie möglich, um meinem Bauch nicht noch mehr auszudehnen. Gegen vier Uhr nachmittags schob ich solchen Kohldampf, dass ich Hungerhalluzinationen bekam und das Osterlamm »Iss mich doch!« mähen hörte.

»Ich trage eine Miederhose, die sogar über die Oberschenkel geht. Aber erzähl es nicht weiter«, verriet mir Karin, die Frau von Bernds Chef, als ich über ihren flachen Bauch in dem Sommerkleid staunte und fragte, ob sie abgenommen hätte. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn, doch sie hielt die Ritterrüstung mit Anstand und Würde aus.

Manchmal muss Frau Opfer bringen. Ich schnappe mir also die pinke Wunderwaffe und marschiere in die Umkleidekabine. Dort quetsche und zerre ich an dem guten Stöffchen, bis es da sitzt, wo es soll. Mann, ist das eng und starr. Das Spiegelbild zeigt so gar nicht, was ich eben auf dem Plakat bewundert habe. Okay, der Bauch ist definitiv flacher, der Darm küsst ja auch die Niere. Aber alles, was nicht in die Eingeweide gedrückt werden kann, quillt heraus. Wie ein Hefeteig, der aus der Kuchenform herausquillt. Mit der sinnlichen Silhouette auf dem Plakat hat das nicht viel gemeinsam. Ich kaufe das Teil trotzdem. Nicht im sexy Pink, sondern im dezenten Schwarz. Schwarz macht bekanntlich schlank, und wer sieht mich schon ausgezogen. Der Spruch meiner Mutter – »Heidi, zieh anständige Unterwäsche an. Wenn dir mal was passiert!« – prallt heute noch an mir ab. Wen interessiert meine Unterwäsche, wenn ich unters Auto komme? Außerdem gehe ich davon aus, dass das Krankenhauspersonal diskret genug wäre und nicht in der Krankenakte erwähnt, wie ich mich dünner mogele. Natürlich hätte ich mir jetzt lieber einen seidigen Hauch von Nichts in Rot gegönnt, doch mit der Zeit lernt man, praktisch und sparsam zu denken. Wenn ich mich eine halbe Kleidergröße schlanker schummele, kann das ein oder andere Ausrangiert-wegen-Verfettung-Stück vor der Altkleidersammlung gerettet werden.

Der ungeplante Einkauf kostet mich zwanzig Minuten. Ich hetze zum Optiker und marschiere geradewegs in den kleinen Optikerladen, von dem ich seit Jahren meine Kontaktlinsen beziehe.

Herr Hunold, der Inhaber, begrüßt mich freundlich: »Wie kann ich Ihnen heute helfen?«

»Ich habe in der letzten Zeit ständig Probleme mit meinen Kontaktlinsen. Meine Augen sind so trocken«, klage ich mein Leid.

Er rückt seine fassungslose Brille zurecht und schaut mich prüfend an. »Hm. Sie haben ja schon Linsen für sehr trockene Augen, da muss ich mal schauen, was wir da noch machen können. Im Laufe des Lebens reduziert sich die Tränenflüssigkeit. Das Problem kennen wir. Folgen Sie mir doch bitte in die Kabine, dann guck ich mir das mal genauer an.«

Artig folge ich Herrn Hunold die kleine Wendeltreppe nach oben.

»Na, dann wollen wir mal sehen«, meint er, nachdem ich mich in dem weichen, beigen Lederstuhl niedergelassen habe.

Herr Hunold setzt sich auf den kleinen Drehstuhl vor mich und schaut mir mit seinem Gerät in die Augen. Er nickt zustimmend. »Ja, die sind wirklich sehr gerötet.« Dann kramt er minutenlang in seinem großen Schrank und drückt mir schließlich eine Probepackung Linsen in die Hand, die ich, selbstverständlich kostenfrei, ausprobieren soll.

»Vielleicht geht es mit denen ja besser«, versucht er mich wenig überzeugend zu ermutigen. »Es wäre vielleicht sinnvoll, wenn Sie Brille und Kontaktlinsen abwechselnd tragen würden. Ich habe viele Kunden, die mit zunehmendem Alter von Linsen wieder komplett auf Brille umsteigen. Zu besonderen Anlässen können Sie ja immer noch Linsen tragen.«

Ich bin geschockt. Ich soll mit Brille rumlaufen? Ich habe noch nie mit vier Augen das Haus verlassen, besitze lediglich eine uralte Brille, die ich nur vorm Fernseher und im absoluten Notfall anziehe. Als Jugendliche lief ich jahrelang ohne Sehhilfe herum. Alles eine Frage der Gewöhnung und Orientierung. Wenn mich jemand vom Weiten grüßte, habe ich einfach zurückgegrüßt, ob ich gemeint war oder nicht. Und in der Schule hatte ich ja Linda. Sie schrieb die Sachen von der Tafel ab, die ich anschließend von ihrem Heft abpinnte. Erst mit zwanzig habe ich Kontaktlinsen für mich entdeckt. Sollte diese Ära jetzt vorbei sein? Und das alles nur wegen ein paar Körperflüssigkeiten, die nicht mehr so flossen, wie sie sollten?

Lustlos schaue ich mich im Laden um und probiere halbherzig ein Brillengestell, das ich mir nach zwei Sekunden angebiedert von der Nase reiße.

»Ich persönlich trage ja viel lieber Brillen. Es gibt so tolle Modelle, und Brillen können wunderbare modische Accessoires sein«, versucht Herr Hunolds junge Optikerfachfrau mit weiblicher Überzeugungskraft zu punkten.

»Versuchen Sie die mal.«

Sie greift nach einem schmalen Stahlgestell und hält es mir aufmunternd zu. Zögernd komme ich ihrer Bitte nach und ziehe in meinem Spiegelbild eine Fratze.

»Die ist toll, betont Ihr schmales Gesicht. Ganz toll. Sie haben ein perfektes Brillengesicht«, bricht sie in Begeisterungsrufe aus.

»Finden Sie? Ich weiß nicht«, bocke ich und nehme sie gleich wieder runter.