Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik - Ellinor Skagegård - E-Book

Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik E-Book

Ellinor Skagegård

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Beschreibung

Die Geschwister Fanny und Felix Mendelssohn wachsen im Preußen des neunzehnten Jahrhunderts in einer jüdischen Familie auf. Sie sind musikalische Wunderkinder und einander tief verbunden.
Doch als Fanny vierzehn Jahre alt wird, muss sie den für sie vorbestimmten Weg einschlagen: Sie soll sich auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereiten, während ihr Bruder weiter Musik machen darf.
Er wird zum berühmtesten Komponisten Europas, Fanny spielt nur noch im Privaten. Felix bleibt ihr stärkster Verbündeter, und so komponiert Fanny über 500 Musikstücke – und kämpft für die Anerkennung als gleichwertige Musikerin.

Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik ist die faszinierende Geschichte einer Frau, die für ihre Leidenschaft kämpft und versucht, die Grenzen, in denen sie als Frau und Jüdin lebt, zu überwinden.

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Titel

Ellinor Skagegård

Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik

Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer

Insel Verlag

Widmung

Für Belle

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Vorwort

Prolog

I

. Finger, die Bach-Fugen spielen

II

. Die ersten Kompositionen

III

. Einmal Jude, immer Jude

IV

. Musik als Zierde

V

. Fanny und Felix – eine Wegkreuzung

VI

. Jugendliche Zweifel

VII

. Der doppelte Kontrapunkt

VIII

. Leipziger Straße 3

IX

. Verlobung und Matthäuspassion

X

. Felix in der großen Welt, Fanny in der kleinen

XI

. Hausfrau – und Musikerin

XII

. Trennung

XIII

. Felix sagt nein

XIV

. Fanny und Clara

XV

. Eine andere Möglichkeit zu leben

XVI

. Fanny entscheidet sich

XVII

. Schwester und Bruder

Epilog: Bergeslust

Musikalisches Glossar

Danksagung

Quellenverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Vorwort

Über die Familie Mendelssohn ist schon sehr viel geforscht und geschrieben worden, vor allem über den bekanntesten Sohn der Familie, Felix. Aber auch seine ältere Schwester hat seit den 1980er Jahren viele Musikwissenschaftlerinnen fasziniert.

Mein Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit, ich möchte lebendig und auf leicht zugängliche Art die Geschichte einer genialen Musikerin erzählen, der man aufgrund von Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und ethnischer Herkunft einen Platz in der Öffentlichkeit verweigert hat. Es ist die Geschichte über den Menschen Fanny und die sehr besondere Verbindung zu ihrem Bruder Felix. Zudem hoffe ich, einen Zugang zu der Musik schaffen zu können, die in der Welt der Geschwister einen so großen Raum eingenommen hat.

Die beiden großen Biografien über Fanny waren sehr wichtiges Ausgangsmaterial für mich, und hier besonders Fanny Hensel – The Other Mendelssohn von R. Larry Todd und Die verkannte Schwester – Die späte Entdeckung der Komponistin Fanny Mendelssohn Bartholdy von Françoise Tillard. Aber vor allem haben mir die 279 Briefe, die Fanny an ihren Bruder geschrieben hat, als primäre Quellen für dieses Buch gedient.

Fannys Sohn, Sebastian Hensel, hat der Mendelssohn-Forschung mit seinem zweibändigen Werk Die Familie Mendelssohn 1729 bis 1847 die wichtigste Grundlage geliefert. Er hat die Briefe zusammengestellt, kommentiert und so die Familiengeschichte erzählt. Natürlich war er ein Sohn seiner Zeit und als solcher war es sein Bestreben, das Leben einer kulturell bedeutsamen, hervorragend integrierten Familie zu erzählen, man muss deshalb so manche seiner Deutungen kritisch betrachten.

Ich habe mir bei meiner Arbeit gewisse literarische Freiheiten genommen. Ich weiß natürlich nicht, was ein Mensch, der vor zweihundert Jahren lebte, wirklich gedacht und gefühlt hat oder wie die Wellen sich an einem bestimmten Tag bewegt haben. In solchen Fällen habe ich mich, soweit das möglich war, an Hinweise gehalten, die ich in Briefen, Tagebüchern, Porträts und anderen Fakten über die Familie Mendelssohn gefunden habe.

Nachdem ich mich lange mit der Primär- und Sekundärliteratur und natürlich auch der Musik beschäftigt habe, ist Fannys Person und Stimme hervorgetreten. Dieses Buch ist meine Interpretation ihres Lebens und Werks, so wie es vielleicht ausgesehen hat.

Prolog

Berlin, September 1847

Der Notenständer ist leer. Der Klavierdeckel ist geschlossen, eine Staubschicht bedeckt die braune glänzende Fläche. Die Septembersonne zeichnet friedliche Streifen auf den Holzboden, aber der Tisch mit dem Kruzifix liegt im Schatten. Von den grün gestrichenen Wänden schauen Mitglieder der Familie Mendelssohn herab, mit großen, ausdrucksvollen Augen, die vielleicht mehr den Maler als sie selbst charakterisieren.

Über vier Monate sind seit dem schrecklichen Tag vergangen. Jemand, vielleicht Rebecka oder Wilhelm, hat aufgeräumt, aber niemand hat seither einen Fuß in Fannys Zimmer gesetzt. Als Felix über die Schwelle tritt, durchzuckt es ihn. Auf einmal wird ihm schwarz vor Augen und er muss sich an dem hellen Holztisch niederlassen. Als er nach einer Weile die Augen wieder öffnet, fällt sein Blick auf eine aufgeschlagene Ausgabe der Allgemeinen musikalischen Zeitung.

Er beugt sich über den Tisch, blickt auf die Zeitungsseite und findet, was er sucht: »Mendelssohns Ausdrucksweise ist höchst präzis, er sagt lieber zu wenig als zu viel, er baut stets auf einen Gedanken und rundet das Ganze auf leicht verständliche Weise. Die Lieder der Frau F. Hensel sind komplizierter; der Phantasie ist hier freiere Bewegung gestattet, die Form breiter angelegt, nicht selten durch einen antithetischen Mittelsatz größere Mannigfaltigkeit erzielt.«

Die Zeilen legen sich schwer auf seine Brust. Warum ist er nicht öfter zu Besuch gekommen, hat ihre Nähe gesucht? Das hätte ihm gutgetan, aber noch mehr ihr, das weiß Felix. Und vor allem, warum hat er sie nicht öfter ermuntert und sie bei ihrer Musik unterstützt? Wie oft hat sie ihm aus der Patsche geholfen, hat alles beiseitegelegt, um ihm beizustehen, und sei es auch nur, um ihm eine Partitur zu schicken, die er brauchte? Im Nachhinein ist es ihm unbegreiflich, aber nun ist es zu spät.

Bei ihrer letzten Begegnung, im Februar, war sie so glücklich. Das konnte er sich kaum als sein Verdienst anrechnen. Mit Dankbarkeit und einem Gefühl der Schuld dachte er an ihren Mann. Ihr waren die beiden Männer gleich lieb, aber Wilhelm ließ Fanny nie im Stich, im Unterschied zu ihm selbst.

Auf dem Tisch liegt außerdem ein ordentlicher Stapel Papier, Felix hebt ihn hoch und legt ihn vor sich. Er will wenigstens jetzt tun, was er kann, um ihr ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Entschieden, aber ohne Begeisterung geht er die Partituren durch, Seite für Seite, Takt für Takt. Bei einem neu geschriebenen romantischen Klaviertrio in d-Moll in vier Sätzen hält er sich besonders lange auf. Er hat selbst ein Trio in der gleichen Tonart komponiert, und als er Fannys Trio studiert, meint er, ihre Stimme zu hören. Als würde sie durch die Musik auf seine Komposition antworten, genau wie sie es noch vor kurzem getan hat.

Der erste Satz, Allegro molto vivace, ist fantastisch, mit seinem gewagten Thema und einer Klavierstimme, die so hervorragend mit den Streichern verschmilzt. Der zweite Satz, Andante espressivo, ist zurückhaltender, sie kehrt zur kontrapunktischen Technik zurück, die sie beide geformt hat. Als er zum dritten Satz kommt, brennen seine Augen. Es ist kein Scherzo wie in seinem Trio, sondern ein schlichtes und einfaches Lied ohne Worte.

Als er fertig ist, steht er auf und nimmt einige ausgesuchte Partituren mit. Er bleibt noch einen Moment in der Tür stehen, dann schließt er sie hinter sich. Die Erholung, die sein Aufenthalt in der Schweiz ihm gebracht hat, ist dahin. Felix fühlt sich durch und durch grau, als hätte man ihm seine Jugend genommen. Die Zeilen, die er Wilhelm kurz nach Fannys Tod geschrieben hat, kommen ihm mehr als wahr vor: »Das ganze Irdische sieht uns anders aus, und wir wollen versuchen zu lernen und einzuschränken, aber bis wir's gelernt haben, ist wohl auch unser Leben vergangen.«

Zum allerletzten Mal verlässt er das Haus Leipziger Straße 3. Keine zwei Monate später wird auch Felix im Grab liegen, neben seiner Schwester – Fannys Musik muss noch weitere 150 Jahre warten, bis sie die Welt erreicht.

I. Finger, die Bach-Fugen spielen

»Seit meinem vierten Jahr begann die Musik die erste meiner jugendlichen Beschäftigungen zu werden. So frühe mit der holden Muse bekannt, die meine Seele zu reinen Harmonien stimmte, gewann ich sie, und wie mir es wohl deuchte, sie mich wieder lieb.«

Ludwig van Beethoven

Fanny weiß, dass er in der Tür steht und sie durch halb geschlossene Augen betrachtet. Die braunen Locken tanzen um sein Gesicht. Ungeduldig tritt er von einem Fuß auf den anderen, wartet, bis sie endlich aufhört zu üben.

Aber noch ist es nicht so weit. Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Nachmittag spielt sie das erste Präludium aus Johann Sebastian Bachs Das Wohltemperierte Klavier. Weiche Arpeggios über einen C-Dur-Akkord. Technisch ist es ein leichtes Stück, aber umso schwieriger, das richtige Gefühl zu erzeugen, und Mittel- und Ringfinger machen nicht ganz, was sie will.

Ihr Vater hat Geburtstag, und sie will ihn am Abend überraschen und alle vierundzwanzig Stücke auswendig spielen. Sie hat Monate geübt. Abraham ist kein Mann des überschwänglichen Lobs, aber wenn sich der barsche Mund zu einem kleinen stolzen Lächeln verzieht, ist das aller Mühen wert.

Wohlmeinende Verwandte sind der Ansicht, das Vorhaben sei eine zu große Herausforderung für ein so junges Mädchen. Aber Fanny ist nicht wie andere Dreizehnjährige. Wenn ihre gleichaltrigen Freundinnen von Kleidern und Jungen plappern, fühlt sie sich ausgeschlossen. Abgesehen von der Gesellschaft ihrer Geschwister, fühlt sie sich am wohlsten, wenn sie mit Erwachsenen zusammen ist, wo ihre Ernsthaftigkeit und ihre etwas barsche Art akzeptiert werden. Trotz ihrer großen, seelenvollen Augen, die viele Betrachter faszinieren, ist sie die am wenigsten anziehende der vier Geschwister. Aber, gesteht ihr eine ihrer Cousinen diplomatisch zu, sie wird sich schon noch entwickeln und mit der Zeit attraktiv werden, denn sie ist sehr intelligent.

Im Zimmer nebenan sitzt Lea und liest. Fanny weiß, die Mutter schaut ins aufgeschlagene Buch auf dem Schoß, ihre Konzentration ist jedoch mindestens zur Hälfte auf das Klavierspiel von jenseits der Wand gerichtet. Ist es zu lange still, kommt bald ein strenges: »Fanny, was machst du?« Lea selbst hat Bachs Präludien unendlich oft gespielt und kennt jeden Ton. Aber bald ist der lange Arbeitstag vorbei und Fanny darf eine Weile mit Felix zusammen sein, bevor es Zeit für den großen Auftritt ist. Sie weiß, er wartet ungeduldig darauf, dass sie sich umdreht und ihm all ihre Aufmerksamkeit widmet. Er ist es gewohnt, sie von ihr und von allen anderen zu bekommen.

Ihr kleines Lamm, ihr Hamlet.

Am Abend zuvor haben sie sich mit einem neuen Spiel vergnügt. Sie hat den ersten Teil eines Klavierstücks komponiert, ihn dann Felix gegeben, der hat weitergeschrieben und ihr zurückgegeben, und immer so weiter. Daraus wurde eine Montage, in der jedes Teil neu und einzigartig ist und doch in das große Muster passt. Felix' Strophen sind melodiös und leicht, Fannys etwas freier und leidenschaftlicher. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, als würden sie zwar die gleiche Sprache sprechen, jedoch mit unterschiedlichen Wörtern und Betonungen.

Später werden sie dieses Musikspiel zu einem ganz neuen musikalischen Stil entwickeln, den Liedern ohne Worte, einer Serie von kurzen, lyrischen Klavierstücken, eng verwandt mit Schumanns Noveletten. Diese Lieder ohne Worte werden Felix Mendelssohn sehr berühmt machen, er wird zu einem der einflussreichsten Komponisten in Europa.

Aber all das liegt noch in einer fernen Zukunft. Fanny bewegt die Finger mit einem kurzen Ritardando über den abschließenden Triller. Sie entspannt die Schultern und atmet aus, ihre Wangen sind rosig nach der Anstrengung. Noch bevor sie sich umdrehen kann, kommt Felix und setzt sich neben sie ans Klavier. Schwester und Bruder spielen zusammen.

*

An dem Tag, als Fanny Mendelssohn geboren wird, am 14. November 1805, erreichen die französischen Truppen Wien. Der Friede von Amiens, der das Ende der langen Revolutionskriege besiegeln sollte, war nicht mehr als eine Atempause. Napoleon hatte sich zum Kaiser von Frankreich ausgerufen und kontrolliert nun die Niederlande, die Schweiz und Teile von Italien. Bald wird er sich auch den deutschen Fürstentümern zuwenden.

Abraham Mendelssohn hatte schon einige Jahre zuvor gespürt, wie die Stimmung in Berlin härter wurde. Er verlässt das in seinen Augen staubige und unterdrückte Provinzkaff und begibt sich geradewegs in das Maul des Feindes – in das offene und liberale Paris. Er schwört, nie wieder nach Hause zurückzukehren, und nimmt eine Arbeit als Assistent bei der Foulds Bank in der Rue Bergère an.

Der junge Jude mit den lockigen Haaren, einem entschlossenen Zug um den Mund und einem auffordernden Blick hinter den runden Brillengläsern musste, als sein Vater Moses Mendelssohn starb, mit zehn Jahren von der Schule abgehen. Aber als Sohn eines der größten Philosophen der Aufklärung, bekannt als »der deutsche Sokrates«, stand er auf einem festen Grund. Sein Vater hatte ihn ein neugieriges Interesse für seine Umwelt gelehrt.

»Je préfererais manger du pain sec à Paris!«, ich bevorzuge trocken Brot in Paris, sagt Abraham selbstsicher, als seine Schwester Henriette sich Sorgen um seine Zukunft macht. Sie fürchtet, er könnte in Paris, weit weg von Familie und Kontakten, nur für andere arbeiten müssen und nie etwas eigenes aufbauen. »Du pain sec ist freilich nicht zu verachten […]aber es könnte auf die Länge […] du pain amer – bitteres Brot werden«, antwortet sie dem kleinen Bruder.

Juden war es lange Zeit verboten, sich in Berlin niederzulassen. Aber als der österreichische Kaiser Leopold I. um 1670 alle Juden aus Wien und dem südlichen Österreich auswies, wandten sich viele an den preußischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg und baten um Gnade. Dieser akzeptierte – nicht aus Wohlwollen, sondern aus ökonomischen Gründen – die fünfzig reichsten Juden aus Wien. Für 2000 Taler pro Kopf, eine Summe, die heute 80 ‌000 Euro entspricht, wurden sie zu sogenannten »Schutzjuden«.

Sie mussten bestimmte Industrien verwalten und sich einer ganzen Reihe von Restriktionen unterwerfen. Außerdem mussten sie hohe Gebühren bei Lebensereignissen wie Heirat oder Geburt zahlen. Der Hof war in vielerlei Hinsicht von der ökonomischen Unterstützung durch die Schutzjuden abhängig, die reichsten Juden standen ihrem Fürsten oft sehr nahe.

Unter der Regierungszeit von Friedrich dem Großen, 1740 bis 1786, bekamen einige sehr reiche Juden zusätzliche Privilegien und fast die gleichen Rechte wie andere Deutsche. Für die Mehrheit der Juden jedoch verschärften sich die Restriktionen und das Leben verschlechterte sich, mit dem Ergebnis, dass die Kluft innerhalb der jüdischen Gruppen größer wurde. Trotz des harten Lebens wuchs die jüdische Bevölkerung, nicht zuletzt aufgrund der Eroberungen des Königs. Zehntausende Juden kamen allein durch die drei sogenannten schlesischen Kriege (1740 bis 1763) unter preußische Herrschaft.

Die Überredungsversuche der Schwester konnten Abraham also nicht nach Berlin locken. Aber während eines kurzen Besuchs in seiner Heimatstadt verliebt er sich in Daniel Itzigs Enkelin, Lea Salomon. Daniel Itzig war 1761 einer der wenigen Juden in Berlin, die »generelle Privilegien« zugesprochen bekamen, also die gleichen Rechte wie andere Bürger besaß. Etwas später wurde er sogar Staatsbürger, der Grund war natürlich, dass er einer der reichsten Männer Preußens war. Als Abraham Lea kennenlernt, verkörpert die Familie Itzig weit mehr als ökonomisches Kapital. Man legt großen Wert auf Kultur und Bildung, und das galt nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen.

Schon früh nimmt Leas Mutter Bella Klavierstunden bei dem Bach-Schüler Johann Philipp Kirnberger. Einige ihrer Schwestern führen gut besuchte intellektuelle Salons, ein aus Paris übernommenes Phänomen, das in Berlin gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkam, Gastgeberinnen waren meist gebildete Jüdinnen.

Auch Lea hat eine gründliche Ausbildung genossen. Sie spricht und schreibt französisch, englisch und italienisch und kann Homer im Original lesen. Als junge Frau ist sie am liebsten in der Sommerresidenz ihres Großvaters, wo sie über ein kleines Zimmer mit Klavier, Bücherregalen und Schreibtisch verfügt. »Hier entwickelte sich mein Gefühl, hier entfaltete sich zuerst der jugendlich Sinn […] mit erhöhter Empfindung las ich hier meine Dichter […]selbst die schwachen Töne, die meine ungeübten Finger hervorlocken, wähne ich hier melodischer und reiner«, schreibt sie in einem Brief.

Und so wird sie später von einem Freund der Familie beschrieben: »Lea war nicht schön, aber reizend durch ihr sprechendes schwarzes Auge, durch ihren Sylphidenwuchs, durch ihr zartes, bescheidenes Benehmen und ihre geistvolle Unterhaltung voll heller Verstandesblitze und treffendem, aber immer schonend geäußertem Witz.«

Im Unterschied zu Abraham, der nur ein begeisterter Musikhörer ist, spielt sie Klavier, und genau wie ihre Mutter am liebsten Bach. Die Musik wird das stärkste Band zwischen ihr und ihrer Tochter Fanny sein.

In einer der ergiebigsten Quellen über die Familie Mendelssohn, vor allem über Fanny, in den Memoiren ihres Sohns Sebastian Hensel, bekommt Lea eine eher untergeordnete Rolle zugeschrieben, was die Erziehung der Kinder angeht, Abraham hat größeres Gewicht. Diese Memoiren, meint die Musikhistorikerin Marion Wilson Kimber, sind parteiisch zu nennen, denn die Familie lebte nach den herrschenden Normen und Geschlechteridealen. Wenn man Leas Ausbildung bedenkt, ihr Heranwachsen umgeben von intellektuellen Frauen, ihre eigene Musikalität und die Tatsache, dass sie am Leben ihrer Kinder immer sehr aktiv teilgenommen hat, dann hätte sie erheblich mehr Platz verdient. Es ist Lea zu verdanken, dass Fanny ihre Musikalität in weit höherem Maße ausleben konnte, als es für Frauen des Bürgertums üblich war.

*

Als Jungvermählte wäre Abraham es am liebsten gewesen, wenn seine Frau mit ihm nach Paris gezogen wäre, aber davon wollte deren Familie nichts wissen, das Paar bleibt in Berlin. Ihre Ehe mit einem einfachen Assistenten wurde gar nicht gern gesehen – auch wenn der ein Sohn des berühmten Moses Mendelssohn war.

Aber die Sorge ist unbegründet. Zusammen mit seinem Bruder Joseph betreibt Abraham jetzt in Berlin eine Bank. Die Geschäfte laufen sehr gut, und die Brüder eröffnen bald eine Filiale in der freien Stadt Hamburg, wohin Abraham und Lea 1804 umziehen.

Sie kommen in ein belebtes und lautes Hafendelta, hunderte von Schiffen bewegen sich über die Elbe nach Europa und Amerika. Mit seinen 130 ‌000 Einwohnern ist Hamburg Europas zweitgrößte Hafenstadt – ein idealer Ort für einen Geschäftsmann am Beginn seiner Karriere – und noch herrscht hier Frieden. Zehn Jahre zuvor hatten die Regierenden in Hamburg außerdem beschlossen, ein neues »Judenreglement« einzuführen, und als Folge davon konnte man in dieser Stadt als Jude erheblich besser leben als in Preußen. Man musste zum Beispiel keine anderen Steuern bezahlen als die übrigen Einwohner. Aber Synagogen waren verboten, Juden durften ihre Religion nur privat ausüben, eine Bestimmung, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen bleibt.

Viele Juden, die in Hamburg arbeiten, entscheiden sich deshalb dafür, drei Kilometer außerhalb der Stadt zu wohnen, im von Dänen kontrollierten Altona, wo es eine Synagoge gibt. Abrahams Mutter, Fromet, lebt dort, aber dennoch lässt die Familie Mendelssohn sich in Hamburg nieder.

Eine eigenartige Entscheidung für eine religiöse Familie, jedoch vernünftig für eine säkulare, meint der Musikprofessor und Autor Jeffrey S. Sposato, der auch betont, dies sage etwas über Abrahams Einstellung zu seinem jüdischen Erbe aus. Man wisse wenig über die frühen Jahre von Fanny und Felix, sie wurden laut Sposato nicht in den jüdischen Registern geführt, ein Zeichen dafür, dass die Familie nicht am jüdischen Leben teilnahm.

Abraham und Lea ziehen in ein großes dreistöckiges Haus, das sie sich mit seinem Bruder Josef Mendelssohn und dessen Familie teilen. Und in diesem Haus in der Großen Michaelisstraße 14 kommt das erste Kind der Familie zur Welt. Nach einer langen und schweren Entbindung kann eine erschöpfte Lea Mendelssohn zufrieden konstatieren, ihre neugeborene Tochter »habe Bach'sche Fugenfinger!«. Das Mädchen bekommt den Namen Fanny.

Im gleichen Haus wird auch Fannys jüngerer Bruder Felix geboren. Später wird die schwedische Sopranistin Jenny Lind über der Tür eine Marmortafel anbringen lassen, zur Erinnerung an Felix Mendelssohn, mit dem sie zusammenarbeitete und, wie behauptet wird, auch eine Liebesaffäre hatte. Die Marmortafel hing dort bis zu ihrer Demontage durch die Nationalsozialisten 1936, »die damit versuchten, den Namen Mendelssohn aus der deutschen Kultur zu tilgen«, wie R. Larry Todd schreibt.

Zwei Jahre nachdem die Familie nach Hamburg gekommen ist, wird die Stadt, ebenso wie Preußen, von den Truppen Napoleons besetzt. Eine Blockade gegen jeglichen internationalen Handel wird eingeführt, was katastrophale Folgen für das Handelszentrum hat. Von vielen Juden werden die Franzosen jedoch willkommen geheißen; mit ihnen kommt die Emanzipation, die Freiheit.

II. Die ersten Kompositionen

»Die ganze Erziehung der Frauen muss daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen.«

Jean-Jacques Rousseau

Das kleine Mädchen sitzt an dem großen Klavier, ihre Beine baumeln vom Hocker. Die Haare sind hoch auf dem Kopf zu einem Dutt frisiert, sie trägt ein helles Seidenkleid mit einer Schleife auf der Brust. Der Blick wechselt ernsthaft zwischen den Tasten und den Noten hin und her. Neben ihr folgt die Mutter aufmerksam den kleinen Fingern der Tochter, die suchend Bachs Menuett in G spielen (jetzt Christian Petzold zugeschrieben).

Fanny ist vier Jahre alt, sie hat gerade lesen und schreiben gelernt, ihr kleiner Bruder Felix liegt im Nebenzimmer in seiner Wiege und schläft. In ein paar Jahren wird er genau wie seine Schwester von ihrer Mutter Lea Klavierunterricht bekommen, und sie wird feststellen, dass sie nicht nur ein, sondern zwei außergewöhnlich begabte Kinder hat.

Schon kurz nachdem Felix in diese Welt gekommen ist, werden die Geschwister miteinander verglichen. »Morgen wird mein Söhnchen ein Vierteljahr; es ist ein nettes Bürschchen, und verspricht hübscher als Fanny zu werden«, schreibt die Mutter in einem Brief an einen Freund. Fanny hat große ausdrucksvolle Augen, gewiss, aber sie hat auch die Andeutung eines Buckels, ein unerwünschtes Erbe ihres Großvaters Moses.

Die beiden jüngeren Geschwister, Rebecka und Paul, sind auch talentiert, aber sie reichen bei weitem nicht an Fanny und Felix heran, und sie werden auch nicht in gleicher Weise gefördert. Sie müssen sich früh daran gewöhnen, im Schatten ihrer herausragenden Geschwister zu stehen.

Die Familie Mendelssohn sollte nur wenige Jahre in Hamburg leben. Im Juni 1811 passiert nämlich etwas, das ihre Zukunft verändern wird. Abraham und Josef bekommen Schwierigkeiten mit den französischen Behörden, die Kinder sind noch sehr klein – Fanny sechs Jahre, Felix fast drei und Rebecka nur ein paar Monate –, da müssen sie die Stadt verlassen. Fannys Sohn, Sebastian Hensel, hat es später so beschrieben, »sie mussten heimlich bei Nacht und Nebel in Verkleidungen die Stadt verlassen. Sie wandten sich nach Berlin«.

Weitere Einzelheiten zu diesem dramatischen Geschehen sind nicht in Erfahrung zu bringen, aber es gab natürlich Anlass zu Spekulationen. Hamburg hatte sich durch die Handelsblockade zu einem perfekten Zentrum für Schmuggel entwickelt – Import von Zucker, Kaffee, Kakao und Baumwolle aus Südeuropa nach England. Hatte Abraham etwas mit diesen Schmuggelgeschäften zu tun? Es gibt Quellen, die das behaupten.

Sicher ist jedoch, er kehrte als vermögender Mann nach Berlin zurück, dazu noch mit einem neuen Status – durch seine Ehe mit Lea ist er in Berlin jetzt ein »privilegierter Jude«, er darf eine Wohnung besitzen und sich niederlassen, wo er will. Die Familie zieht in ein Haus am Gendarmenmarkt im Zentrum der Stadt, nur ein paar Straßen entfernt von der Bank der Mendelssohns in der Jägerstraße.

Die Zeit war gekommen, den Namen Mendelssohn in anderer Weise bekannt zu machen, nicht nur als Nachkommen des Philosophen Moses Mendelssohn, sondern für neue Tätigkeiten. Ein paar Jahre später wird Abraham demütig, aber zufrieden feststellen: Früher war er als Sohn seines Vaters bekannt. Jetzt kennt man ihn als Vater seines Sohnes.

Aber auch die sechsjährige Fanny tut ihr Bestes, um ihre Eltern stolz zu machen: Sie wechselt nun Briefe mit ihren Verwandten und lässt sie an ihren aufmerksamen und genauen Beobachtungen teilhaben.

*

Die Französische Revolution, die mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 begann; Napoleons Machtübernahme in Frankreich; die nachfolgenden Kriege und der Fall des römisch-deutschen Reiches haben eine radikale Veränderung der sozialen Hierarchie bewirkt. Das Bürgertum wächst, daraus folgt ein höherer Lebensstandard.

Lange waren professionelle Musiker an den Hof gebunden, aber auch an die Kirche. Nicht selten wurden die Kenntnisse vom Vater an den Sohn weitergegeben, wie im Fall des Musikergeschlechts Bach. Berufsmusiker hatten jedoch einen niedrigen sozialen Status, für Mitglieder bürgerlicher Familien, wie die Mendelssohns es waren, kam das also nicht in Betracht.

Menschen aus angesehenen Familien konnten Musik spielen, und das sehr gut, sogar innovativ, aber sie taten es aus Liebhaberei und wurden dafür nicht bezahlt. Ein Beispiel war Leas Tante Sara Levy, die öffentlich als Pianistin auftrat.

Die Rolle der Musik in der europäischen Gesellschaft veränderte sich, als große Musikkonservatorien gegründet wurden, zum Beispiel das Konservatorium in Paris 1795, das wiederum inspiriert war von bereits bestehenden Konservatorien in Neapel. Diese Schulen spielen auch eine wichtige Rolle für das professionelle Musizieren von Frauen, weil einige von ihnen weibliche Studenten aufnahmen.

Paris, Wien und London waren die lebendigen Zentren der Musik und der Kultur, aber auch in Preußen entwickelt sich ein Ausbildungssystem. Beispielsweise gründet Karl Friedrich Zelter, der später Fanny und Felix unterrichtet, Musikschulen in Königsberg, Breslau und Berlin. Einige Jahre später, 1843, wird Felix das Konservatorium in Leipzig gründen.

Die Musikkultur ist also nicht mehr ausschließlich an die Aristokratie gebunden, sie wird immer abhängiger von der wachsenden Gruppe vermögender Bürger. In den Jahrzehnten nach den napoleonischen Kriegen (1792 bis 1805), politisch eine relativ ruhige Zeit, blüht das Musikleben in Europa auf. Neue Institutionen entstehen, Konzerte, das Verlegen von Musik, Musikkritik, die Produktion und der Verkauf von Instrumenten nehmen zu.

Ausübende Musiker werden nicht nur zahlreicher, sie müssen auch neue Wege finden, um sich zu versorgen. Eine wichtige Einnahmequelle ist der private Musikunterricht in den reichen Familien, wo man Wert auf eine musikalische Ausbildung und die richtigen Kontakte der Kinder legt. Musiklehrer ist einer der wenigen Berufe, die auch Frauen ausüben können.

Im Jahr 1816, als Fanny elf und Felix sieben Jahre alt waren, reisten sie zusammen mit ihrem Vater nach Paris, um bei der berühmten Pianistin und Komponistin Marie Bigot Unterricht zu nehmen. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen, war jedoch schon während ihrer Kindheit in Wien eine herausragende Persönlichkeit im dortigen Kulturleben geworden. Als sie einmal ein Stück von Haydn in Anwesenheit des Komponisten spielte, soll er ausgerufen haben: »Oh, mein liebes Mädchen, das bin nicht ich, der diese Musik machte, Sie selbst haben sie komponiert.« Er signierte ihre Partitur mit den Worten »Am 20. Februar 1805 ist Joseph Haydn glücklich gewesen«. Auch auf Beethoven machte sie großen Eindruck, sie sollte eine sehr entschiedene Vermittlerin seiner Musik in der französischen Hauptstadt werden. Aber mit der Einladung zu einer gemeinsamen Wagenfahrt ging der Meister zu weit, er musste sich umgehend bei der verheirateten Marie entschuldigen, um einen Skandal zu vermeiden.

Als Marie Bigots Mann in Kriegsgefangenschaft geriet und sie von Wien nach Paris umziehen musste, war sie allein für die Versorgung von zwei Kindern verantwortlich, sie trat daher nicht mehr auf. Die Konzerte lohnten sich nicht, der Unterricht bot eine bessere Einkommensquelle. Bei ihr kommen Fanny und Felix zum ersten Mal in Kontakt mit Beethovens Klaviersonaten. Bach haben die beiden Geschwister mit der Muttermilch aufgenommen, und Marie freut sich über deren Begeisterung, als sie ihnen Beethovens komplexe und bahnbrechende Kompositionen nahebringt.

Marie Bigot stirbt mit 34 Jahren, erschöpft und an Tuberkulose leidend. Die Familie Mendelssohn bleibt bis zu ihrem Tod mit ihr in Kontakt, Abraham schreibt ihr ab und zu und bittet sie um Rat, welche Klavierübungen für seine Tochter geeignet wären. Aber nicht alle sind beeindruckt, dass eine Frau mit der Musik ihren Lebensunterhalt verdient. Abrahams Schwester Henriette schreibt nach Bigots Tod: »Sie war eine Frau von echter Geistesbildung und seltenen Fähigkeiten, und leider nur zu großer Festigkeit des Willens. Denn ihre sehr anstrengende, sehr mühsame Lebensweise, die sie mit solcher Beharrlichkeit trieb, haben ihr Dasein wohl verkürzt.«

*

Nach der Rückkehr der Familie Mendelssohn aus Paris beginnt die allgemeine Ausbildung der Kinder. Lea weckt ihre Tochter für die täglichen Lektionen schon um 5:00 Uhr früh. Fanny verkriecht sich in die warmen Kissen. Es ist noch ganz dunkel, bis auf den Schein der Öllampe. Aber sie steht bald auf, stellt die Füße auf den eiskalten Boden und geht zitternd in den Salon, im Kamin knistert ein Feuer.

In Berlin wird der Komponist und Pianist Ludwig Berger ihr Klavierlehrer, und bei Karl Heyse, dem Vater des Dichters und Nobelpreisträgers Paul Heyse, studiert sie Naturwissenschaften und Sprache. Aus den Texten der Lieder zu schließen, die Fanny als junges Mädchen schreibt, lernt sie Französisch, Italienisch und Englisch. Professor Rösel von der Akademie der Künste unterrichtet die Kinder in Landschaftsmalerei, Felix erweist sich als Naturbegabung. Später wird er sich mit dem Malen entspannen, wenn ihm die Forderungen seiner Umgebung zu viel werden. Griechisch macht ihm nicht so viel Spaß wie der sprachlich begabten Rebecka, die ihm dabei hilft. Die Schwestern müssen natürlich auch lernen, wie man einen Haushalt führt, näht und stickt.

Die Ausbildung der Mädchen ist zu jener Zeit auch in den bürgerlichen Familien eine Frage des Geldes. Töchter, die aufgrund der ökonomischen Verhältnisse nicht damit rechnen können, zu heiraten, oder verwitwet waren wie zum Beispiel Marie Bigot, müssen einer Arbeit nachgehen. Wohlhabende Frauen von Stand mit guten Aussichten auf eine Heirat können sich bis zu einem gewissen Grad auf die Entwicklung von bestimmten Fähigkeiten fokussieren. »Höhere Töchter« nennt man diese jungen Frauen aus der besseren Gesellschaft. Deren Ziel im Leben ist es, gute Hausfrauen zu werden, ihre Erziehung ist einzig auf dieses Ziel ausgerichtet, ganz im Sinne von Jean-Jacques Rousseaus einflussreichen Ideen in seinem Buch Émile oder Über die Erziehung.

Das wünschenswerte Ergebnis ist eine Frau, die ihren Mann ergänzen kann. Ihre musische Bildung soll ihn davor bewahren, sich zu langweilen, aber sie darf ihn auch nicht intellektuell herausfordern. Sogar der aufgeklärte Moses Mendelssohn schrieb kurz vor ihrer Heirat an seine Verlobte: »Mäßige Lectüre kleidet dem Frauenzimmer, aber keine Gelehrsamkeit. Ein Mädchen, das sich die Augen rot gelesen, verdient ausgelacht zu werden.« Mädchen werden also bis zur Konfirmation in bestimmten Fächern unterwiesen, um sich dann auf den Heiratsmarkt vorzubereiten.

*

Wenn also nur von Felix und dem jüngsten Sohn Paul erwartet wird, ein Universitätsstudium aufzunehmen, ist es doch selbstverständlich, dass auch die Schwestern unterrichtet werden, in Fächern wie Konversation, Sprachen, Ethik, Religion, Musik und Kunst – alles Fächer, die ihren Wert als zukünftige Ehefrauen steigern. Dass auch Fächer wie Griechisch und Geographie dazugehören, ist nicht üblich und sagt daher etwas über die liberalen Erziehungsideale der Eltern aus.

Vielleicht wird Abraham von der gebildeten Lea überredet, Fanny an den Musikstunden von Felix teilnehmen zu lassen. Und auf dem Gebiet der Musik zeichnen sich Fanny und Felix wirklich aus. Die Gerüchte über das junge Geschwisterpaar verbreiten sich, und in der besseren Gesellschaft Berlins sind sie ein heißes Gesprächsthema. Bei einem Abendessen, bei dem der Philosoph Hegel unter den Gästen ist, spielen sie Duette, »welche dieselben mit unglaublicher Fertigkeit, Präcision und Kunstgewissheit ausführten«, wie ein anwesender Gast feststellte. Oder wie Dorothea Schlegel, ihre eigensinnige, geschiedene Tante und das schwarze Schaf der Familie, es in einem Brief ausdrückt: »Felix spielte mit einer Genialität und Fanny mit einer Virtuosität, dass einem völlig der Verstand dabei stillsteht.«

Lea konstatiert zufrieden, dass die beiden Geschwister sehr stolz aufeinander sind. Sebastian Hensel, Fannys Sohn, fügte viele Jahre später hinzu: »Die innige, neidlose Freundschaft der beiden Geschwister – sie sind wirklich eins für das andere eitel und stolz, sagte ihre Mutter einmal.«

Letzteres ist jedoch nicht ganz wahr. Fanny war bisher immer einen Schritt vor ihrem Bruder gewesen, und zu Felix' Verdruss werden sie oft miteinander verglichen. »Sein Clavierspiel fand ich von erstaunlicher Fertigkeit und musikalischer Sicherheit, aber es stand dem seiner älteren Schwester Fanny jetzt noch nach«, erinnert sich später ihr Freund und Musikerkollege Eduard Devrient.

Fanny ist eine ebenso kampfeslustige wie schwer zu schlagende Rivalin. Viele Jahre später erzählt Felix, wie sehr er unter den Wettbewerben der Jugend gelitten hat: »Es ist mir absolut unmöglich, irgend etwas unter dem Druck eines Wettbewerbs hervorzubringen. Ich kann es einfach nicht, auch wenn ich mich dazu zwingen wollte, und wenn ich als Kind mit meiner Schwester und Mitschülerin in Konkurrenz treten musste, dann waren die Ergebnisse wahre Wunder an Dummheit – sie waren nicht ein Zehntel dessen wert, was ich sonst leistete.«

Ausgenommen von diesem Schönheitsfleck auf ihrer Beziehung liebt und bewundert Felix seine Schwester. Wenn sie über Steifheit in den Fingern klagt, komponiert er Klavierübungen für sie, und er bringt sie zum Lachen, wenn er den alten Beethoven imitiert. Fanny ist die Einzige, die ungehindert in seinen Noten blättern darf, und wenn er eine neue Komposition darbietet, kann er auf ihre strenge und ehrliche Reaktion hoffen. Aber schon bevor sie ein Wort sagt, weiß Felix, ob die Musik der kritischen Zuhörerin gefallen hat oder nicht. Die kleine Linie zwischen den dunklen Augenbrauen verrät sie.

1818, als Felix neun Jahre alt ist, hat er seinen ersten öffentlichen Auftritt bei einem Konzert, zusammen mit dem Hornvirtuosen Heinrich Gugel, was in einer Notiz in einem Musikjournal in Leipzig gemeldet wird. Das Gerücht des Wunderkinds verbreitet sich.

Dieses Phänomen ist auf den europäischen Bühnen nichts Ungewöhnliches. Ein klassisches Beispiel ist natürlich Wolfgang Amadeus Mozart, der schon als Sechsjähriger in Wien aufgetreten ist und bewundert wurde. Als das musikalische Leben sich entwickelt und man beginnt, für die Allgemeinheit Konzerte gegen Eintritt zu geben, ist es besonders lukrativ, dem Publikum eine junge Naturbegabung zu präsentieren.

Das Epitheton Wunderkind stimmt jedoch nicht immer mit der Wirklichkeit überein, und es kommt durchaus vor, dass der Bühnenvater – denn hinter den gedrillten Kindern steht oft ein solcher – ein paar Jahre vom Alter des Kindes abzieht, um so den Sohn oder die Tochter besonders einzigartig zu machen. Dazu lassen sich jedoch Abraham oder Lea nicht herab, und sie verdienen auch kein Geld mit ihren Kindern.

Die Begeisterung für junge Talente umfasst auch kleine Mädchen – bis zum heiratsfähigen Alter von etwa 14 Jahren gesteht man ihnen eine gewisse künstlerische Freiheit zu –, aber ein Debüt wie bei Felix kommt für Fanny nicht in Frage. Und das, obwohl zu jener Zeit ihre Fähigkeiten besonders herausragend sind. Das Vorspiel zu Abrahams Geburtstag ist einer ihrer ersten großen Auftritte, und sie imponiert damit Freunden und der Familie. Sie ist eine hervorragende Pianistin, sie übt unermüdlich, sie glaubt, dass ihre Leistungen wichtig sind für ihre Nächsten und für ihre eigene Zukunft. Die Anforderungen an die Tochter waren ebenso groß wie an den Sohn, was vielleicht bei Fanny eine Illusion geschaffen hat. Sie glaubt womöglich, dass sie auch in Zukunft gleich behandelt werden.

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Im Jahr 1819 bekommen die Geschwister Mendelssohn einen neuen Musiklehrer. Karl Friedrich Zelter hat einen finsteren Gesichtsausdruck und glatt nach hinten gekämmte graue Haare. Die zeitgenössische Schauspielerin Karoline Bauer beschreibt ihn als »borstig wie eine Schuhbürste«, und Lea Mendelssohn findet, er sei »kein empfindsamer Mensch«.

Nach Zelters Vision soll die preußische Musik mehr als