Fanrea Band 3 - A. E. Eiserlo - E-Book

Fanrea Band 3 E-Book

A.E. Eiserlo

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Beschreibung

Emma und Ben stellen sich erneut dem Kampf gegen Xaria, die zwei ihrer Geschwister entführt. Doch die Krieger des Lichts sind nicht allein, treue Freunde stehen ihnen zur Seite. Der Weg führt in einen unbekannten Teil Fanreas, der die sechs Jugendlichen an ihre Grenzen bringt. Gleichzeitig verfolgen vier Fanreaner einen feigen Mörder und seinen zwielichtigen Gefährten. Die Jagd zwingt sie über reißende Flüsse und endet in einer dramatischen Seeschlacht. Magie und Spannung, Freundschaft und Liebe begleiten die Jäger – sind sie der Herausforderung gewachsen? Band drei der Fanrea-Serie: Ein Buch für junge Leser und junggebliebene Erwachsene!

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Seitenzahl: 857

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Inhaltsverzeichnis

Die Prophezeiung

Prolog

Vor Weihnachten

Drachen

Gedanken und Gefühle

Alltag

Befreiung

Veränderungen

Schneesturm

Aufeinandertreffen

Ausflug nach Fanrea

Die zwei ungleichen Brüder

Gefühlschaos

Eine blutige Tat

Herzschmerz

Xaria

Tod und Trauer

Auf dem Friedhof

Fanrea

Familienleben

Bei Angar, der Felsenstadt

Geheimnisse

Die Entführung

Geheimnisse werden gelüftet

Die Jagd beginnt

Wer ist der Mörder?

Endlich gefunden!

Spuren

Lüge oder Wahrheit?

Xaria und ihre Verfolger

Entscheidungen

Bei den Weudranan

Jäger und Gejagte

Berge und Dschungel

Verfolgung

Über und unter der Erde

Flugmanöver

Am Ufer des Rough River

Die Verfolger

Im Dschungel

Kanu gegen Floß

Wasserfälle und Stromschnellen

Ängste und Liebe

Tim und Amapola

Umkehrmagie

Im Lager der gestrandeten Kinder

Angriff

Unerwartete Hilfe

Das Böse trifft aufeinander

Fanrea – eine faszinierende Welt

Rettung

Moskitos

Feueratem und Meeresbrise

Verhandlung

Auf dem Meer

Flaute

Entfesselte Elemente

Kampf

Maira

Die Insel

Epilog

Was wurde aus …?

Charaktere

Begriffserklärungen

Zitate

Danksagung

Bereits erschienen:

Die Prophezeiung

Zwei sind verloren,

wer ist zur Rettung auserkoren?

Schwer ist der Weg wie nie,

denn verloren geht Magie.

Kehrt zu euch selbst zurück,

Stück für Stück.

Das Blut die Krone bedroht,

am Ende steht der Tod.

Hass vernebelt die Gedanken,

wird er wanken?

Der Diener zum Führer wird,

von dem, dessen Geist verwirrt.

Prolog

Die Morgensonne goss ihre wärmenden Strahlen über Fanrea, tauchte die Welt in rosiges Licht. Raschelnd fuhr Wind durch die Blätter. Nach dem nächtlichen Regen dampfte der Waldboden, schwemmte den Geruch nach feuchter Erde, Holz und Harz auf. Tropfen perlten von Blüten und Gräsern, während sich in den Pfützen der Himmel spiegelte.

Hoch oben im Baumwipfel, verborgen unter dichtem Blätterdach, schlief in einem riesenhaften Horst ein Junge. Seine Atemzüge gingen ebenso gleichmäßig wie ruhig. Die dunkelbraunen Haare fielen bis knapp über die Ohren. Er lag auf der Seite, die Hände unterm Kopf gefaltet. Ein dickes Fell bedeckte wärmend den nackten Körper.

Ein Habicht hockte auf dem Nestrand, beobachtete mit scharfem Blick die Umgebung, dann wieder den Schlafenden. Als dieser sich plötzlich regte, krächzte der Raubvogel aufgeregt.

Der Junge öffnete die Augen und blickte verwirrt umher. Ächzend setzte er sich auf, starrte schließlich verwundert den Habicht an. Es dauerte einige Sekunden, bis der jugendliche Mensch sich orientiert hatte. Zögernd streckte er die Arme aus, musterte neugierig die Hände, ballte diese zu Fäusten und öffnete sie. Zwei seiner Finger strichen über die Haut eines Unterarmes. Schließlich fasste er in den Nacken, um diesen zu massieren und bewegte dabei den Kopf hin und her.

Mit einem Ruck warf der Bursche das Fell von sich herunter und betrachtete den restlichen Körper, spannte und lockerte die Muskeln. Schließlich wackelte er belustigt mit den Zehen. Zufrieden wandte er den Blick zum Habicht, der still verharrte. »Hakir, schön, dich zu sehen!«

»Na endlich, Bram!«, krächzte der Greifvogel. »Zufrieden mit deinem Werk?« Die starren Augen fixierten den Freund, tasteten in dessen Innerem, um die Gefühle aufzufangen.

»Ich denke schon. Der Körper gefällt mir!« Irritiert stutzte Bram. »He, du Flattervieh, durchleuchte mich nicht so! Ich merke, was du tust!« Er fasste mit den Fingern an Stirn und Nase, fuhr die Konturen der Lippen nach und betastete das Kinn. »Wie sieht mein Gesicht aus?«

»Tja, weiß nicht. Ich glaube, nach menschlichen Maßstäben siehst du gut aus! Hübsch, würden Mädchen sagen. Du bist auf der Schwelle vom Jungen zum Mann und besitzt ausgeprägte Muskeln. Das Zeichen auf deiner Stirn ist gut gelungen. Jedes Mal, wenn ich es ansehe, werde ich dadurch an unsere Heimat erinnert.« Er wandte sich ab und schaute zum Horizont.

»So sollte es sein!« Bram strich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Zieh deine Sachen an, damit wir endlich vom Baum herunterkönnen! Du hast ewig geschlafen. Mir ist schon seit geraumer Zeit langweilig«, nörgelte der Habicht.

»Seit wann liege ich hier?«

»Keine Ahnung! Viele Tage und Nächte. Bei mir ging die Verwandlung schneller.«

»Du bist ja auch nur ein Vogel, Hakir.« Der Junge lächelte schalkhaft.

»Genau, nur ein Vogel! Genau das, was ich sein wollte!« Die gelben Augen mit den schwarzen Pupillen durchbohrten ihn, der gebogene Schnabel hackte blitzschnell nach dem Arm, doch ohne ihn zu berühren.

»Schon gut, ich wollte dich nur ein wenig ärgern.« Der Attackierte griff nach seiner Kleidung, die aus einer schwarzen Hose mit einem dunklen Oberteil bestand. Beides zog er über. »Ist immer ein ungewohntes Gefühl, in einem Körper zu sein.«

»Du hast es so gewollt! Vor allem – diesen Menschenkörper!« Hakirs Stimme klang verächtlich.

Der Junge zuckte mit den Schultern, fasste nach einer von ihm bereitgelegten, ledrigen Rüstung, die aus verschiedenen graubraunen Platten bestand. Sorgfältig legte er diese an und fragte wie beiläufig: »Weißt du, wo die anderen sind?«

»Nein! Wir sind allein. Sie sind noch überall verteilt, bisher habe ich niemanden von uns hier gesehen.«

»Wir werden sie finden, um unsere Kräfte zu vereinen. Ich bin froh, dass wir uns nicht mehr auf der Erde befinden, da hat es mir nicht gefallen. Fanrea ist schöner!« Über das Antlitz huschte ein nachdenklicher Zug. Mit Schwung warf Bram einen schwarzen Kapuzenumhang über. »Wie sehe ich damit aus?«

»Düster!«

Ein letztes Mal dehnte der junge Mensch die Muskeln. Tief sog er die würzige Luft ein und ließ sie durch die Lungen strömen. Dann sah er sich um und blickte über die Landschaft Fanreas. In der Ferne sah er hohe, schneeverhangene Berge, die im Morgendunst lagen. Vor ihm breitete sich der Wald wie ein Meer aus Blättern aus. »Es ist schön zu atmen, dazu die Morgensonne auf der Haut zu spüren.«

»Können wir jetzt endlich den Baum verlassen?« Der Habicht zischte genervt. »Ich habe genug auf dich gewartet!«

»Sei nicht so ungeduldig! Ich klettere ja schon herunter.«

»Klettern?«, krächzte der grau-braun Gefiederte. »Warum benutzt du nicht deine Magie? Was soll der Blödsinn?«

»Hakir, ich will lernen, ohne Magie auszukommen, wenn es sein muss. Ich bin nicht mehr der Magier von damals. Ich bin jetzt Bram, der Mensch!« Fest presste er die Kiefer aufeinander und die Augen nahmen einen kühlen Glanz an.

Vor Weihnachten

Eine dicke Schneedecke lag über dem Land. Beim Ausatmen bildeten sich weiße Wölkchen vor Bens Gesicht. Er joggte in gleichmäßigem Tempo und genoss die kühle Luft auf der Haut sowie die Stille, die ihn umhüllte. Nur das Knirschen seiner Schritte auf dem frisch gefallenen Schnee durchbrach das Schweigen der Welt. Eine bizarre, weiße Landschaft umgab den Jungen. Der Nebel der vergangenen Nacht hatte sich auf die Äste der Bäume gelegt, wo er mit ihnen zu ungewöhnlichen Eisskulpturen verschmolz.

Tief in Gedanken versunken ließ der Drachenreiter das vergangene Jahr Revue passieren und all die Dinge, die ihm widerfahren waren. Bald stand der Jahreswechsel an, und damit wurde es Zeit, Resümee zu ziehen. Alles in allem fühlte Ben Zufriedenheit in sich. Doch die Gedanken kreisten darum, ob er das Schicksal verändern konnte, indem er Entscheidungen traf. Oder stand alles von Geburt an fest, sodass er nur wie eine Marionette agierte? Ging er einen vorgezeichneten Weg, der einem übergeordneten Plan entsprach? Was wäre geschehen, wenn ihn die leiblichen Eltern nicht zur Adoption freigegeben hätten? Wäre er dann vielleicht so böse geworden wie sein verstorbener Bruder Richard? Der Drachenreiter bezweifelte, dass er jemals Antworten auf all diese Fragen erhielte.

Vor kurzem hatte er den fünfzehnten Geburtstag gefeiert. Ihm gefielen die Veränderungen des letzten Jahres, trotz der großen Gefahren, die damit einhergingen. Seit er in Fanrea zu einem Krieger des Lichts und Drachenreiter wurde, war er im Einklang mit sich selbst. Neue Freunde, denen er bedingungslos vertraute, bereicherten nun sein Leben. Das bedeutete Ben sehr viel!

So langsam konnte er nachvollziehen, was die Blumenelfe Amapola damals meinte, als sie sagte, Krankheit könnte auch ein Geschenk sein. Durch die ihn bedrohende Blindheit musste er die Reise nach Fanrea antreten und dort lernen, dass Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden. Krankheit als Hilfeschrei der Seele, um den Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass in dessen Leben etwas nicht stimmte. Bei ihm selbst war es die quälende Eifersucht auf seinen Bruder Mattes gewesen, die ihn für die Liebe der Eltern blind machte. Glücklicherweise gelang es ihm, diese negativen Gefühle erfolgreich zu bekämpfen.

Bens neue Sicht aufs Leben hatte sich weiterentwickelt, sodass seine Augen heilten. Was ihn selbst betraf, verstand er das mit der Krankheit und dem Geschenk. Aber woraus bestand das Geschenk für Kinder, die viel zu früh starben? Oder für hungernde Menschen in Kriegsgebieten? Amapola versuchte immer wieder, es ihm zu erklären, aber sein Verstand konnte das leider nicht begreifen.

Zielgerichtet lenkte Ben seine Schritte in den Wald, behielt das schnelle Tempo weiter bei. Erst bei der alten Eiche, dem Tor von Zeit und Raum, hielt er an. Tief atmete er ein und aus, während kleine Schweißtropfen sich auf Stirn sowie Oberlippe bildeten, die er gedankenverloren wegwischte. Dann sah er sich vorsichtig um, lauschte intensiv in jede Richtung. Niemand schien in der Nähe zu sein. Somit kniete der Drachenreiter nieder, griff in die Tasche des Sweatshirts und zog einen inzwischen etwas zerknitterten Briefumschlag heraus. Leise murmelte Ben ein paar Worte.

Die Eiche verdrehte sich knirschend, sodass die Rinde eine kleine Spalte freigab.

In diesen Schlitz steckte er den Brief, flüsterte dabei ein weiteres Mal. In Gedanken ging der Junge mit der Nachricht auf Wanderschaft in die andere Welt, die er so liebte. Vor allem an seinen Drachen dachte er mit großer Wehmut.

Knarzend drehte der Baum den Stamm in die Ausgangsposition zurück, sodass das Loch sich verschloss. Weg war der Brief!

»Trara, die Post ist da!*«, schmunzelte Ben und stand auf. Von Zeit zu Zeit hatte er in den letzten Wochen seinen Freunden in Fanrea Briefe geschrieben, die entweder von der Teichmeise Kiki oder Teck in Empfang genommen und verteilt wurden. Die zwei übernahmen den Postdienst. Manchmal erhielt der Krieger des Lichts auch einen Brief zurück, meistens von Glenn geschrieben, doch heute leider nicht.

Der Schnee knirschte, als der Junge sich umdrehte. Er klopfte Eiskristalle von den Knien und trabte leichtfüßig davon in Richtung Tante Esther. An ihrem Haus angekommen, benutzte er den Türklopfer in Form eines Drachenkopfes. Fips’ aufgeregtes Kläffen drang durch die winterliche Stille, kurz darauf öffnete Esther die Tür. Der Mischlingsrüde sprang an Ben hoch, freute sich, ihn zu sehen.

»Eh Alter, wo kommst du denn her?« Jidell, die Ratte, schoss um die Ecke und hechtete auf den Arm.

»Du bist ein Verrückter! Du musst mich mit Respekt behandeln, ich bin ein Krieger des Lichts!«

»Yolo, Krieger! Ein Pubertier bist du! Alles klar?«

»Sag mal, woher habt ihr eigentlich eure Ausdrücke?«

Quidell fiel von der Eingangslampe auf die Schulter des Neuankömmlings. »Wir sind Rumtreiber! Wir lieben Hinterhöfe, Kneipen, Muckibuden, aber vor allem Schulhöfe. Du glaubst nicht, was die Kids sich alles für Sprüche um die Ohren hauen! Außerdem finden wir dort in den Mülleimern was Leckeres zu essen.«

Jidell krabbelte an den blonden strubbeligen Haaren hoch. »Genau. Die Kids werfen oft ihre Schulbrote weg, weil die Mütter sie mit gesunden Sachen belegen, und wir fressen einfach alles. Sogar die mit Salat!«

Tante Esther schüttelte den Kopf. »Als würdet ihr bei mir verhungern! Ihr müsst doch keinen Müll essen!« Sie nahm den Drachenreiter in die Arme, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Schön, dich zu sehen, mein Junge! Hier sind alle schon wach und sitzen in der Küche. Trink einen Kakao oder Tee mit uns!«

»Gibt’s auch was zu essen? Ich habe riesigen Hunger vom Joggen.«

»Das hast du immer! Bist du jemals mit knurrendem Magen von hier nach Hause gegangen?«

Ben grinste. »Nee, noch nie!« Er folgte ihr in die Küche und freute sich, seine Freunde dort zu sehen: Henk, Leni, Samuel.

In gemütlicher Runde saßen die drei am Küchentisch, aßen selbstgebackenen Apfelkuchen zum Frühstück und tranken dazu dampfenden Kakao mit dick Schlagsahne obendrauf. Esther brach gern Regeln, sie pfiff darauf, was andere Leute zum Frühstück aßen.

Für einen kurzen Moment schmerzte der Anblick Sams. Die Erinnerung an den Kampf bei Angar und der damit verbundene Verlust des Bruders tat Ben noch manchmal weh. Doch einige Dinge ließen sich nicht ändern, die mussten hingenommen werden. Sein Blick suchte Nala. »Wo ist meine Prinzessin?«

Samuel zeigte nach oben. »Deine Herzensdame duscht.«

Die beiden Fanreaner Sam und Nala wohnten erst seit ein paar Tagen bei Esther, die Sehnsucht hatte sie zu ihren Freunden getrieben. Da Magor gerade im Alleingang unterwegs war, konnte er sie für eine Woche entbehren.

Leni fiel dem Neuankömmling um den Hals, Samuel knuffte ihn in die Seite und Henk stand gut gelaunt auf, um einen Kakao zu besorgen. Naserümpfend schaute Ben in die beiden Töpfe, die auf dem Ofen standen, und schnupperte. »Was ist denn das schon wieder für eine Matsche?«

Esther hob den Finger: »Matsche? Ich leg dich übers Knie! Das eine ist Ingwer* mit Zitronensaft und Wasser, ein wunderbares Wintergetränk. Ingwer hilft bei allen Symptomen einer Erkältung, stärkt zudem die Abwehrkräfte. Das andere ist Hirsebrei, sehr gesund, enthält viele Mineralstoffe, ebenso Spurenelemente. Die sind gut für Haare, Haut und Fingernägel …«

»Bitte, Mama, hör auf! Du verdirbst Ben noch ganz den Appetit!«

Ben grinste: »Genau, Leni hat recht! Ich trink lieber den Kakao von Henk und esse einen Kuchen mit fett Sahne.«

Die Rattenbrüder stürmten prügelnd in die Küche. Jidell grölte: »Wir wollen auch Kuchen mit Sahne!«

»Eh Alter, denk dran: Der Fresssack ist da! Jetzt müssen wir uns beeilen, sonst lässt der uns nix mehr übrig!«

Die Ratten sprangen auf Lenis Schoß, kräuselten dort abwartend die Nasen. Der Ofen verbreitete gemütliche Wärme. Seit Henk bei Esther wohnte, war es sogar möglich, einen Platz auf der Bank zu finden, ohne erst Bücher oder Kräuter beiseite räumen zu müssen.

Ben setzte sich mit seinem Kakao zwischen Leni und Sam, um sein Stück Kuchen dort zu essen.

Die beiden Nager stürzten gierig zu ihren Portionen und schmatzten vor Glück. Zwischendurch rülpste Jidell ebenso laut wie zufrieden.

Versonnen nuschelte Quidell: »Lecker!« Dann patschte er mit einer Pfote in den großen Sahnetopf, dass es spritzte, und schleckte anschließend die Pfote ab.

»Quidell, benimm dich!«, schimpfte Esther. Mit einem Tuch wischte sie Sahnekleckse vom Tisch.

Kauend fragte Ben: »Was steht an? Gibt’s was Neues?«

Den Ratten einen strengen Blick zuwerfend, nickte Esther. »Ich hab Post aus Frankreich bekommen – von Agatha. Sie erzählt vom Erntedankfest, die Weinernte ist super gelaufen. Sidney weilte auch dort. Er hat Magor ein riesiges, selbst gemaltes Bild geschenkt. Es gab die üblichen Diskussionen über den besten Wein, aber es war eine Mordsgaudi. Alle, die im Dorf oder auf dem Schloss wohnen, saßen zusammen am langen Tisch. Das Essen gestaltete sich natürlich wieder üppig und Magor strahlte vor blendender Laune«, berichtete Esther.

»Da wäre ich gern dabei gewesen, schmeckte bestimmt lecker«, murmelte Ben, während er ein zweites Stück Kuchen auf seinen Teller lud.

Gelangweilt schubsten sich die verfressenen Nager, lauerten auf mehr Kuchen. Leni gab ihnen einen leichten Klaps auf den Po. »Es reicht, mehr gibt es nicht! Oder wollt ihr fette, unbewegliche Monster werden?«

»Egal, Baby! Bei der Vollverpflegung hier müssen wir nicht mehr auf die Jagd. Wir dürfen träge sein«, stellte Quidell fest. Er warf Esther einen kecken Blick zu, bevor er mit Jidell von der Bank sprang. Sie kugelten pöbelnd übereinander.

Unbeirrt fuhr Esther fort: »Sids Bild muss wunderschön sein. Es stellt eine Tänzerin dar, die er in der Ballettschule kennengelernt hat. Kira ist ihr Name.«

»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte Ben. »Deinem Tonfall entnehme ich, dass mehr hinter dem Namen steckt.«

Esther schmunzelte: »Agatha glaubt, dass Sid rettungslos in Kira verliebt ist.«

»Sie denn auch in ihn?«

»Das wissen wir nicht so genau. Er selbst wohl auch nicht.«

»Wir müssen euch noch eine Neuigkeit mitteilen«, verkündete Henk.

»Esther ist schwanger!«, prustete Ben los.

Samuel lachte mit und feixte: »Nein, Henk ist schwanger!«

»Ihr seid albern«, rügte Esther schmunzelnd.

Henk legte einen Arm um Esther und schüttelte den Kopf: »Ein verrückter Haufen!«

Jetzt versuchte Esther es: »Seit vielen Jahren kaufe ich umliegendes Bauernland auf, sobald es angeboten wird. Jetzt, wo ich wieder eine richtige Familie habe, möchte ich meine Idee endlich umsetzen: ökologisches Obst und Gemüse anzubauen. Henk liebt es genauso wie ich, in der Erde herumzuwühlen. Wenn Sam möchte, kann er mitmachen. Es ist ein langgehegter Traum, große Mengen ohne Pestizideinsatz anzupflanzen, um diese zu verkaufen. Aber ich glaube, damit komme ich nicht gegen Magors Super-Spionage-Centrum an, oder etwa doch?«

Samuel schüttelte den Kopf. »Ertappt, Esther! Wenn ich schon endlich auf der Erde bin, dann will ich etwas erfinden, statt Möhren zu züchten. Bei Magor ist es für mich das reinste Paradies. Ich finde deine Idee trotzdem klasse, sie passt zu dir und Henk!«

Genüsslich leckte Ben seine Finger ab. »Gratuliere! Ihr zwei ergänzt euch prima!«

Leni zog eine Schnute. »Ich finde es doof, wenn Sam geht.«

»Kannst mich besuchen kommen«, schlug der vor.

»Das ist nicht das gleiche. Außerdem geht das viel zu selten, ich muss zur Schule, und die macht mir überhaupt keinen Spaß.«

»Leni, fang nicht wieder damit an!«, rügte Esther.

Samuel fixierte das Mädchen. »Was magst du denn nicht an der Schule?«

»Alles!«

»Alles? Wow, das ist echt viel!«

Esther mischte sich ein: »Sie findet außer Emma und Ben niemanden nett, das ewige Rumsitzen blöd. Außerdem öden Lernstoff und Hausaufgaben sie an.«

»Bleiben noch die Pausen«, warf Samuel ein.

Ben ergriff das Wort: »Da fühlt sie sich auch unwohl, weil sie nie in der Schule war. Sie hat weder gelernt, mit anderen Kindern zu spielen, noch, neue Freundschaften zu schließen. Ich kann das verstehen. Wir kennen es nicht anders, aber für Leni ist alles neu und beängstigend.«

Leni nickte. »So viele Menschen sind da, aber ich kenne nur Emma und Ben. Die anderen will ich gar nicht kennenlernen, weil sie dauernd dumme Fragen stellen, auf die ich keine Antworten hab. Was kann ich schon von meinem Leben erzählen? Außerdem muss ich viel zu viel lernen. Manches davon interessiert mich einfach nicht.«

»Das geht vielen so, Leni, nicht nur dir«, grinste Ben. »Da musst du einfach durch!«

In diesem Moment kam Nala in die Küche. Ihr langes schwarzes Haar glänzte noch nass und die Haut roch nach Vanille. Das dunkelhäutige Mädchen strahlte in die Runde. »Guten Morgen zusammen!«

Fasziniert beobachtete Ben ihre geschmeidigen Bewegungen, stellte erneut fest, wie hübsch sie aussah. Er zwinkerte ihr zu. »Wie eine Göttin kommst du herein. Du warst wie eine Göttin für mich und manchmal sahst du mich an und ich dachte: Mann oh Mann*.«

Kopfschüttelnd betrachtete Nala den Freund. »Au weia, was habt ihr dem in den Kakao getan?«

Als sie sich am Herd zu schaffen machte, um Ingwertee in einen Becher zu gießen, stand der Drachenreiter auf und trat hinter sie. Er legte die Arme um ihre Hüften und schmiegte sein Gesicht in das feuchte Haar. Mit dunkler Stimme flüsterte er ihr ins Ohr: »Glückliche Liebe wirkt wie ein Schönheitsmittel*. Es scheint: Ich bin dein Schönheitselixier.«

Kichernd ergriff Nala seine Hände. »Du Angeber!« Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um und küsste den verblüfften Drachenreiter auf den Mund.

»Du bist aber wild!«

»Wusstest du das noch nicht? Ja, ich bin wild!« Sie hob eine Hand und verdrehte sie leicht. Ein Fenster schlug auf, sodass kalte Luft hereinwehte.

Ben wurde von einer kleinen Windböe erfasst, die ihn nach hinten drückte. »He, was machst du? Ich setz dich gleich mit meiner Magie in Flammen!« Er hob beide Hände und rief winzige, züngelnde Flammen aus seinen Fingerspitzen, die hin und her tanzten. »Soll ich?«

»Nein, großer Magier, bitte nicht!«

»Ihr zwei da, nehmt mir nicht mein Haus auseinander!«, schimpfte Esther.

Samuel verdrehte die Augen. Er fing Lenis unglücklichen Blick auf, die noch über die Schule nachdachte. Ihr war nicht nach Lachen zumute. Tröstend legte er den Arm um sie. »Guck doch nicht so traurig, was ist los mit dir? Es gibt immer für alles eine Lösung!«

»Für mein Problem nicht«, murrte Leni. »Ich muss nun mal zur Schule gehen!«

»Dann nehme ich dich mit nach Frankreich«, schlug Samuel vor.

»Ganz bestimmt nicht!« Esther schnaubte entrüstet. »Ich habe nicht all die Jahre ohne Leni gelebt, um sie zu finden und gleich wieder zu verlieren.«

»Siehst du, es gibt keine Lösung!« Lenis Augen füllten sich mit Tränen, sie sprang auf und lief aus der Küche.

Betroffen schauten Henk und Esther einander an.

»Ich gehe zu ihr«, seufzte Esther.

Sam schüttelte den Kopf. »Nein, ich mach das! Ich glaube, du kannst ihr jetzt nicht helfen. Sie macht dich für ihren Kummer verantwortlich, weil du sie zur Schule schickst. Leni braucht jetzt einen Freund.« Er folgte Leni, aber die Tür von ihrem Zimmer war abgeschlossen. Also klopfte er. »Komm, lass mich rein!«

Mit verweinten Augen öffnete Leni und warf sich in Sams Arme. »Ich bin so anders als alle anderen! Kann ich nicht doch mit dir kommen?«

Einfühlsam trocknete Samuel die Tränen mit einem Taschentuch. »Du hast gehört, was Esther dazu sagt.«

Erneute Tränen flossen. »Mein Leben ist verpfuscht! Alles ist sinnlos, am besten wäre ich damals mit meinem Vater gestorben!«

»Leni! Sag so was nicht. Ich war tot und bin dankbar, dass ich wieder lebe! Auch wenn …« Samuel verstummte.

»Was? Was meinst du?«

»Auch für mich ist es schwierig. Erinnerst du dich, wie wir uns in Frankreich im Spiegel angestarrt haben? Manchmal mache ich das noch. Aber mehr als mein Aussehen beschäftigt mich, wie ich bin.«

»Warum? Wie bist du denn?«

»Ich finde Essen lecker, das ich früher nicht mochte. Ich bin vernarrt in Honig und bewege mich anders. Oder da sind Gedanken in meinem Kopf, die nicht zu mir gehören.«

»Hast du das schon mal jemandem erzählt?«

»Nein!« Traurig schlug Samuel die Augen nieder. »Ich trau mich nicht.«

Jetzt war es Leni, die tröstete. Liebevoll streichelte sie Sams Wange. »Du armer Kerl. Was sind das denn für Gedanken?«

»Plötzlich blitzen Bilder durch meinen Kopf, die ich nicht kenne: Drachen, eine Höhle, ein schwarzhaariger Mann mit Ohrringen, Kämpfe. Mein Kampfstil verändert sich. Nicht schlechter, aber eben anders. Wenn ich darauf achte, ist er wie immer, wenn ich nicht darüber nachdenke, bewege ich das Schwert eher wie Ben.«

»Wie Ben?« Mit großen Augen starrte Leni ihn an. »Na klar, er und Richard waren Brüder. Meinst du also er ist noch in dir?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe gegoogelt und über Transplantationen einiges gelesen. Es gab da zum Beispiel einen Mann, der nie Alkohol trank. Nach einer Herztransplantation mochte er Bier. Eine Frau liebte Hardrock und nach einer Lebertransplantation hörte sie auf einmal klassische Musik. Vielleicht erinnern sich nur meine Zellen, aber ich bin trotzdem ich.«

»Das ist mir auch bekannt. Hab ich irgendwo gelesen, äh, wo eigentlich? Scheint wieder Magor-Wissen zu sein. Jedenfalls ist es mir egal, wer du bist. Ich hab dich lieb, ob du nun Samuel oder Richard bist!« Trotzig schob Leni die Unterlippe vor, ihr eigener Kummer trat in den Hintergrund. »Willst du nicht doch mit jemanden darüber reden? Magor kann dir bestimmt helfen. Oder John?«

»Vielleicht rede ich mit John, wenn er endlich zurückkommt.« Samuel stand auf, trat zum Spiegel, der an der Wand hing, und starrte sich zum wiederholten Male an. Wer war er? Wer sah ihm im Spiegel entgegen?

Mit einem Lächeln auf den Lippen stellte sich Leni neben ihn und deutete auf sein Spiegelbild. »Denk positiv! Hätte noch schlimmer kommen können. Du hast wenigstens ein hübsches Gesicht und einen muskulösen Körper. Stell dir mal vor, du würdest in den Spiegel schauen und dich nicht mögen!«

»Mag ich mich denn?« Samuel seufzte.

»Dann mag ich dich für zwei.«

»Das ist süß von dir. Aber ich muss trotzdem mit mir klarkommen.«

Währenddessen wurde erneut der Drachenkopfklopfer an der Haustür betätigt. Emma traf ein.

Mit großem Hallo wurde sie begrüßt und von Esther mit Apfelkuchen samt Sahne versorgt, während Henk mit Fips einen Spaziergang durch den Wald machte.

Das Mädchen protestierte: »Esther, nicht so viel Sahne! Ich passe demnächst nicht mehr in mein Balletttrikot rein. Wo sind denn Leni und Sam?«

»Sie hat ihren üblichen Schulfrust. Sam tröstet sie«, kommentierte Ben und verdrehte die Augen.

»Sei nicht so herzlos! Ich kann meine Cousine verstehen.« Mit funkelndem Blick musterte Emma den Freund.

»Ich ja auch! Schon gut, du kleine Wildkatze, reg dich nicht so auf! Aber diese ewigen Szenen wegen der Schule finde ich nervig.« Ben zuckte mit den Schultern. »Hast du was von John gehört? Wann kommt er denn endlich?«

Missmutig runzelte sie die Stirn. »Hm! Weiß nicht.«

Esther legte eine Hand auf ihre Schulter. »Bestimmt bald! Du zweifelst nicht an seiner Liebe oder etwa doch?«

»Warum bleibt er dann so lang weg?« Niedergeschlagen senkte Emma den Blick. Zurzeit befand John sich in San Francisco, um von dort aus irgendwann seinen Onkel Telling Bear im Indianerreservat zu besuchen.

Ben grinste. »Hast du ihm geschrieben, dass er kommen soll, weil du es nicht mehr ohne ihn aushältst?«

»Natürlich nicht so direkt … Also, ich …« Das Mädchen verstummte.

»Du lernst es nie!«, mischte Nala sich ein. »Sag John endlich, was du für ihn empfindest! Klar und deutlich!«

»Hm!«

»Komm, wir gehen in mein Zimmer und quatschen ’ne Runde!«, schlug Nala vor.

Fragend hob Ben die Augenbrauen. »Oh, jetzt wird es interessant! Worüber redet ihr denn so?«

»Geht dich nichts an! Sei nicht so neugierig!«, kicherte Emma.

»Genau!«, stimmte das dunkelhäutige Mädchen zu.

Obwohl Ben brummig guckte, standen die beiden auf und schlenderten unbeeindruckt in Nalas Zimmer, das Esther hergerichtet hatte.

Die Fanreanerin strich ein paar seidig glänzende Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Wir haben noch kein einziges Mal allein miteinander geredet. Was hast du getrieben in den letzten Wochen? Hast du meinen Rat befolgt und bist mit anderen Jungen ausgegangen?«

Glucksend ließ Emma sich auf dem Bett nieder und nickte.

»Und? Wie war es?«

»Grottig! Total daneben!«

»Erzähl!«

»Mit einem bin ich ins Kino gegangen. Der wollte direkt an mir rumfummeln …«

»Weiß Ben davon?«

Emma schüttelte wild den Kopf, sodass ihre Locken hin und her flogen. »Nein! Er hätte bestimmt was gegen unser Experiment! Nichts erzählen!«

»Weiter!«

»Den Kinotypen habe ich dann sogar geküsst, aber er war so ein ekliger Feuchtküsser …«

»Och, nee!«

»Einen fand ich eigentlich nett. Der hat sich aber ’ne andere geschnappt und mich einfach abblitzen lassen.«

Nalas Augen funkelten belustigt. »Ups! Sind viele abers in deinen Sätzen.«

»Stimmt! Außerdem langweilen mich die Jungen, die in Frage kommen, fast alle irgendwie …«

»Sehr gut!«

»Wieso sehr gut?«

»Damit du endlich begreifst, was du an John hast! Weiter!«

»Mit einem war ich auf einer Geburtstagsparty. Der konnte nicht tanzen und hat sich volllaufen lassen, bis er alles vollgekotzt hat.«

Jetzt konnte Nala sich das Lachen nicht mehr verkneifen. »Super! Ist ja spitzenmäßig gelaufen!«

»Ja, ziemlich!« Die Freundin zog eine Schnute. »So viel zu: Tob dich mal aus!«

»Toll! Genauso, wie ich es mir ausgemalt habe. Wen willst du jetzt?«

»Natürlich John!« Emma zog eine Grimasse.

»Dann sag es ihm! Er kommt zurück, wenn du ihm deine Gefühle mitteilst. Aber nicht nur so ein Wischiwaschi-Drumherum-Emma-Gelaber. Klar?«

Drachen

Dem roten Drachen Red Fire war zu Ohren gekommen, dass die Höhle von Bernsteinauge leer stand. Schon immer begehrte er deren Schätze. Den Tod von ihr hatte der große Rote damals nicht mitbekommen, da er selbst so angeschlagen war, dass er Schutz in seiner Höhle suchen musste. Es dauerte eine Weile, bis die Wunden verheilten. Er lebte stets als absoluter Einzelgänger, der niemandem vertraute und die Gesellschaft anderer verabscheute. Deshalb erhielt er wenig Informationen von außerhalb. Allerdings Gerüchten zufolge, die er dem dummen Geschwätz vorbeifliegender Vögel entnehmen konnte, erlag Bernsteinauge den Verletzungen noch auf dem Kampfplatz. Somit gehörte ihre Höhle mit den Schätzen darin ihm, Red Fire, dem Sieger des Kampfes! Endlich sah seine Chance gekommen, sich diese unter den Nagel zu reißen.

Die gewaltigen Schwingen schlugen gleichmäßig auf und ab, während Wind über die empfindlichen Flügelhäute strich. Das Licht der Sonne fiel auf die schimmernden Schuppen und rief unzählige Schattierungen von Rot hervor. Tief atmete Red Fire die kühle Luft ein. Mit scharfen Augen die Umgebung musternd, nahm er jede noch so kleine Bewegung wahr. Der Hunger rumorte in den Eingeweiden. Seitdem der Drache die eigene Höhle in den Rough Mountains verlassen hatte, war kein Wild zu sehen. Zudem verspürte er das dringende Bedürfnis zu töten. Den Tod zu bringen, bereitete ihm Vergnügen. Der rote Gigant genoss es, wenn sich das Feuer im Inneren aufbaute, in der Kehle brannte, bis es schließlich herausschoss, um Zerstörung zu bringen. Wenn er die Krallen in die weiche Haut eines Opfers schlug, sodass Blut herausspritzte, hatte er das Gefühl, Herrscher über Leben und Tod zu sein.

Unter dem Drachen befand sich eine wilde Berglandschaft, die von einem reißenden Fluss zerschnitten wurde, an dessen Ufer kaum Vegetation wuchs. Es regte sich kein Tier, doch der Hunger wurde quälender.

Endlich erspähte der Drache Beute: einen Monolan, der sorglos am Fluss entlang trabte. Red Fire legte die Flügel an, schoss im pfeilschnellen Sturzflug hinab, mit dem Gefühl, eine sichere Mahlzeit vor Augen zu haben.

Im letzten Moment schien der Monolan den Schatten des Drachen zu bemerken, denn er rettete sein Leben mit einem waghalsigen Sprung in den tosenden Fluss. Unter Wasser verwandelte das Tier sich sofort in ein Walross, tauchte tief hinab bis zum Grund und fand dort ein Versteck unter Felsen. Es war Bogidahab, der für seine Familie jagte, während Wanda die Babys hütete. Nur knapp konnte er dem Tod entrinnen, aber noch bestand Gefahr. Bogidahab sah den mächtigen Schatten des Drachen, der über die Wasseroberfläche huschte. Das dunkle Fell des Walrosses verschmolz mit den Felsen, deshalb hoffte er inständig, von oben nicht gesehen zu werden. Regungslos verharrte er, denn jede kleinste Bewegung wurde von den scharfen Drachenaugen registriert.

Da Red Fire nicht wusste, wie tief das Wasser an dieser Stelle war, unterließ er es, Bogidahab hinterher zu tauchen. Vor Jahren zog der Drache sich in einem flachen Flussbett eine tiefe Verletzung zu. Seither verhielt er sich vorsichtig an solchen Stellen. Verärgert schwenkte er ab, seine Laune sank auf den Tiefpunkt. Der rote Riese musste etwas zu Fressen finden. Als er den Blick schweifen ließ, stellte er enttäuscht fest, dass sich ansonsten nichts unter ihm bewegte, so als ob alle Lebewesen vor ihm geflüchtet wären. Er empfing nicht einmal eine Schwingung von Leben.

Der Drache beschloss, zunächst die Schatzhöhle aufzusuchen, um dort die Bestände zu prüfen. Schon sah er sich in einem Meer aus Gold und Diamanten baden. Er liebte es, wenn das Licht in den Diamanten brach, darin funkelnd schimmerte und das Gold leise klimperte, wenn es bewegt wurde. Nach dem Bad in den Kostbarkeiten würde er im nahen See Lorells fangen. Dort, wo auch Bernsteinauge gern gejagt hatte. Besser fette Fische als gar nichts im Bauch.

Endlich geriet die Höhle in Red Fires Blickfeld. Aber was tat sich dort? Zwei Drachen schwenkten um den Berg herum, befanden sich seitwärts im Anflug. Sie schienen nicht so gewaltig wie er selbst, sondern jünger zu sein. Mit den beiden konnte er es leicht aufnehmen. Sie nahmen doch wohl nicht die Höhle von Bernsteinauge in Anspruch? Was für eine Unverschämtheit – fremde Drachen in seinem Revier! In seiner Höhle! Mit seinen Schätzen!

In diesem Moment steuerten Nijano und Soraya, das verliebte Drachenpaar, die Höhle von Bernsteinauge an. Es wohnte seit kurzem dort. Sogleich bemerkten sie den roten Giganten.

»Da kommt ein roter Drache! Er wirkt nicht gerade freundlich«, stellte Soraya besorgt fest.

Aus zusammengekniffenen Augen musterte der Grünschwarze den Fremdling, während in seinem Herzen grenzenlose Wut entflammte. Besaß nicht der Drache rote Schuppen, der seine Mutter getötet hatte? Wenn das der Mörder war, würde der Jungdrache ihn zerfetzen. Jetzt! Sofort!

Als Soraya über die Schulter schaute, sah sie Nijanos Mienenspiel und erschrak. »Was ist los mit dir? Du willst ihn doch nicht etwa angreifen?«

»Das könnte Red Fire sein. Der hat meine Mutter umgebracht!«

»Was, wenn er das nicht ist? Du hast nicht etwa vor …«

»Soraya, das ist meine Sache!«

»Nein, ist es nicht!«

»Das mit meiner Mutter geht dich nichts an!« Voller Zorn schnaubte der Grünschwarze.

»Ich habe auch was zu sagen!«

»In dem Fall nicht!«

Die beiden landeten vor der Höhle. Unverwandt starrte Nijano in Red Fires Richtung. Zornig peitschte der Jungdrache mit dem Schwanz hin und her, schnaufte dabei laut. »In diesem speziellen Fall hast du nichts zu sagen! Sie war meine Mutter!«

»Aber wer flickt nachher deine Knochen zusammen? Nicht sie, sondern ich! Meinst du, ich habe Lust, dein Blut von den Bergen zu kratzen?«

»Ach so, du gehst direkt davon aus, dass ich verliere? Du traust mir ja nicht viel zu!« Drohend schaute Nijano Soraya an.

Verunsichert trat sie zwei Schritte zurück und lenkte ein: »Doch, schon. Aber sogar deine Mutter wurde von diesem aggressiven Kerl besiegt. Du bist viel jünger als er, somit bist du …«

»Ein Loser? Schwächer, schlapper, wehrlos?« Er fauchte. Wütend schleuderte er einen Feuerstoß in Sorayas Richtung und stürzte sich wortlos in die Tiefe, um dem Gegner entgegenzufliegen.

In diesem Moment wurde Nijano von jemandem gerammt, kam ins Trudeln und fiel.

*

Einsam glitt der schwarze Drache Songragan über die zerklüftete Bergwelt seiner Heimat, in der Nähe der Felsenstadt Angar. Die schwarzen Schwingen glänzten im Licht wie erstarrte Lava. Kalt strich die Luft darüber – kalt war auch das Herz. Dem mächtigen Schwarzen fehlte Richard, sein Reiter, mit dem er früher fast täglich als Team zusammen geflogen war. Sie liebten es, gemeinsam zu kämpfen, zu töten oder Abenteuer zu erleben. Jetzt fühlte der Drache sich verlassen. Ihm wurde zunehmend bewusst, wie sehr er Richard ins Herz geschlossen hatte. Wie aufregend und entspannend zugleich die miteinander verbrachte Zeit sich anfühlte. Aber nun blieb Richard weg. Für immer! Der Tod raubte das, was man liebte. Songragans Herz schmerzte, und er stellte wieder einmal verwundert fest, dass überhaupt eines in ihm schlug, das so viel spürte.

Um sich abzulenken streifte er seit Tagen umher, in der Hoffnung, einem Drachen zu begegnen, den er zum Kampf herausfordern konnte. So, wie früher mit Richard! Wenn der schwarze Gigant Rivalen tötete, war es ein bisschen so, als lebte sein Reiter noch bei ihm. Endlich entdeckte der Drache am Horizont einen sich schnell bewegenden Punkt von gewaltiger Größe. Das Tempo erhöhend, nahm der Schwarze die Verfolgung auf. Als das Ziel näherkam, sah er die Annahme bestätigt.

Der fremde Drache bemerkte den Angreifer viel zu früh und änderte die Flugrichtung, schien ein bestimmtes Ziel in den Bergen anzusteuern.

Allerdings holte Songragan rasch auf, schrie dem Flüchtigen hinterher: »Feigling, warum haust du vor mir ab? Komm, stell dich einem Kampf!«

Blitzartig absolvierte der Fliehende ein Wendemanöver, schlug in hohem Tempo die gewaltigen Flügel auf und ab. Er steuerte nun direkt auf den Angreifer zu, schien ihn ungebremst rammen zu wollen.

Das gefiel dem Schwarzen! Er vollführte einen Salto nach oben, kurz bevor er mit dem Fremdling zusammenstieß, sodass jenem nach Vollendung der Rolle der dornenbewehrte Schwanz gegen den weichen Bauch donnerte.

Der Überrumpelte brüllte vor Schmerz auf und ging in einen Sturzflug über, um aus der Reichweite des Schwarzen zu kommen.

Der nahm direkt die Verfolgung auf, raste hinterher und biss in den Nacken des Fremdlings. Dieses Mal vollführte der ein waghalsiges Manöver, indem er versuchte, den Angreifer mit einer Schraube wegzuschleudern. Als dies nicht gelang, setzte der Drache alles auf eine Karte. Mehrfach drehte er sich um die eigene Achse, sodass der schwarze Riese tatsächlich von ihm ablassen musste.

Das schürte die Wut in Songragan noch mehr. In seinen nächsten Angriff legte er all die gefühlte Trauer über Richards Tod hinein, stürzte auf den Rücken des Fremdlings, riss ihm die lederne Haut in Fetzen. Dessen Schmerzensschreie hallten über die Bergwelt. Die messerscharfen Zähne des Schwarzen bohrten sich in den blutenden Nacken, pressten unerbittlich zu, bis das Genick brach. Mit einem Brüllen ließ der Schwarze vom Gegner ab, beobachtete, wie der besiegte Drachen zu Boden trudelte und dort zerschellte.

Aber das absolute Triumphgefühl blieb aus. Richard fehlte, um den Sieg mit ihm zu teilen und zu prahlen. Die Leere, die der Reiter hinterließ, konnte durch nichts gefüllt werden. Es blieben nur Sehnsucht und Schmerz. Wenn selbst der Tod Songragan nicht mehr befriedigte, was sollte er dann noch anstellen, um den Kummer loszuwerden? Aus lauter Verzweiflung stieß der schwarze Riese einen lauten Schrei aus, der von den Bergen als Echo zurückgeworfen wurde.

Vielleicht sollte er wenigstens Soraya zurückholen? Der mächtige Schwarze spielte ernsthaft mit dem Gedanken, über die Gonorawüste zu fliegen, um die attraktive Drachin anzuflirten und zu überreden, zurück mit ihm nach Angar zu kommen. Es würde bestimmt nicht schwer werden, seinem schwächlichen Sohn die kesse Lady abspenstig zu machen. An so einem Milchbubi konnte eine richtige Drachin nichts finden!

Außerdem ärgerte es den Schwarzen, dass Bernsteinauge es hinbekommen hatte, die mörderische Wüste zu überqueren, ebenso Nijano, Soraya und der Weiberhaufen. Er selbst versuchte es noch nicht einmal, deshalb befürchtete er, dass die Drachinnen seiner Herde glaubten, ihm fehlte der Mut. Das durfte er nicht auf sich sitzen lassen. Für ihn wäre der Flug über die Wüste ein Leichtes!

Die Entscheidung war gefallen: Songragan wollte allen beweisen, dass es ihm ebenfalls gelang. Er würde die Gonorawüste überfliegen!

*

Nijano kämpfte ums Gleichgewicht, versuchte, den Fall zu stoppen. Mit einem Salto bekam er den Kopf wieder nach oben, gleichzeitig stabilisierte er mit ein paar kräftigen Flügelschlägen den Körper. Diese Manöver hatte er unermüdlich geübt. Erst jetzt erkannte Nijano, von wem er gerammt worden war: Jaspis, die Mutter von Soraya! Au weia – das bedeutete Ärger!

»Wie gehst du mit meiner Tochter um? Wie benimmst du dich? Du hast kein Recht, sie anzuschreien!«, brüllte Jaspis ihn an.

Die beiden flogen lauernd umeinander.

»Aufhören!«, brüllte Rosenquarz, Sorayas Tante. Doch sie wurde ignoriert.

Nijano schnaubte. »Wir kommen allein klar! Deine Tochter braucht dich nicht als Aufpasserin, Jaspis! Viel zu oft mischst du dich ein, das passt mir schon lang nicht mehr. Endlich habe ich es dir mal gesagt! So, jetzt muss ich los, um den Mörder meiner Mutter zu töten!« Er drehte ab und flog erneut dem roten Giganten entgegen.

Der bemerkte die Neuankömmlinge und vertagte den Angriff. Mit vier Drachen gleichzeitig wollte selbst Red Fire es nicht aufnehmen, sondern lieber dafür sorgen, dass er etwas zu essen bekam. Er änderte die Richtung und verschwand schließlich aus Nijanos Blickfeld hinter einem Berggipfel.

Enttäuscht kehrte der Jungdrache zurück zur Höhle, um auf dem dortigen Absatz zu landen. Drei grimmige Drachinnen starrten ihm entgegen.

»Wie sprichst du mit meiner Mutter?«, fuhr Soraya ihn an.

»Du hast einen unverschämten Ton mir gegenüber!«, schimpfte Jaspis.

Rosenquarz globalisierte wieder einmal: »Alle Drachenmänner spinnen und wollen uns Drachinnen beherrschen.«

»Ich habe euch drei ebenso satt wie euer Genörgel!« Genervt wendete Nijano und flog zur Höhle über dem See, die ebenfalls Bernsteinauge gehörte. Er musste jetzt allein sein. Durch Sorayas verkrampfte Verwandtschaft wäre seine Geduld bald am Ende, sodass er nachher Dinge sagte, die er später bestimmt bereute. Seit Jaspis mit ihrer zweiten Tochter Samira und der eigenen Schwester Rosenquarz in der Nähe lebte, prägten Diskussionen oder Bevormundung das Leben.

Gedanken und Gefühle

Tief atmete Emma die kalte Luft ein, während sie den winterlich kahlen Garten ihres Hauses betrachtete. Einsam wirkte er, zudem wie versunken in einen tiefen Schlaf. Im Kopf des Mädchens schwirrte die Melodie von Ed Sheeran herum und es summte ein paar Takte von Thinking out loud. Plötzlich befand es sich gedanklich am Strand in Frankreich im letzten Sommer, tanzend mit John, barfuß im Sand. Wie von selbst bewegte sich der graziöse Körper, der mit Tanzschritten über die Terrasse schwebte.

Völlig verblüfft beobachtete eine Ratte das Mädchen – Bosrak! Wie hypnotisiert beobachtete er, was die Kriegerin dort trieb. Vor lauter Verwunderung kroch der Nager näher, das anmutige Mädchen nicht aus den Augen verlierend. Tanzte sie etwa? Einfach so? Draußen und allein?

Plötzlich brach Emma ab, fluchte und stapfte in Richtung Haus. Sie wirkte sehr zornig.

Der Gestaltwandler wartete, bis sie nicht mehr zu sehen war. Er konnte ihre Wut bis zu seinem Versteck spüren. Kurz spielte er mit dem Gedanken, ihr ins Haus zu folgen, denn irgendeine Ritze als Durchlass gäbe es bestimmt. Aber was sollte das bringen? Nichts! Bosrak schoss davon, rannte in Richtung Wald.

Die Erinnerungen an John hatten der Tänzerin die Laune gründlich verdorben. Im eigenen Zimmer sitzend, las die Hüterin der Bücher wieder und wieder die alten E-Mails von John. Diese waren ein Gemisch aus Liebesbrief und Reisebericht, die sie fast alle auswendig kannte. Von Frankreich aus ging die Reise zusammen mit Samuel nach Italien, um dort als Zitronenpflücker zu arbeiten. Die nächste Station befand sich in Spanien, wo die Jungen bei einem Pferdezüchter eine Bleibe fanden. Der Inhaber zeigte so große Begeisterung von ihnen, dass er sie am liebsten fest eingestellt hätte, aber es zog die Freunde weiter nach Portugal. Eine Weile kamen die beiden auf einer Korkplantage unter, danach fuhren sie mit Fischern aufs Meer hinaus. Wahllos pickte Emma eine E-Mail heraus: jene, die John in Portugal geschrieben hatte, während seiner Zeit als Fischer.

Meine süße Emma,

der heutige Tag auf dem Meer war ein großer Erfolg. Unsere Netze sind fast geplatzt, so voll waren sie. Auf dem Weg zurück in den Hafen begleitete uns eine Delfinschule. Es sah unglaublich elegant aus, wie die schönen Geschöpfe neben unserem Boot durch die schäumende Gischt glitten. Du wärst begeistert gewesen – du hast ein wunderschönes Krafttier!

Wie immer hätte ich dich gern währenddessen in meinen Armen gehalten und die Delfine mit dir gemeinsam beobachtet. Du fehlst mir sehr! Ich vermisse dein Lachen, die Küsse, den Geruch deiner Haut, ja sogar den trotzigen Gesichtsausdruck, wenn du sauer bist!

Ich muss jetzt los, die Fischer haben uns heute Abend zum Sardinenessen eingeladen. Wir grillen am Strand, Samuel wartet schon draußen auf mich. Wie hat deine Mathearbeit geklappt?

Meine Gedanken sind bei dir,

dein John

PS. Ich denke viel an Soraya. Geht Ben das mit seinem Drachen genauso? Manchmal schmerzt es geradezu!

Emma seufzte. »Ich kann mit dem Schwert kämpfen, aber bei Gefühlen krieg ich nichts gebacken! Wie losermäßig ist das denn?«

Weihnachten und Bens Geburtstagsfeier hatte sie ohne John verbracht. Zu dessen eigenem Geburtstag im Januar waren sie ebenfalls nicht zusammen gewesen. Seine Strategie ging auf: Durch die räumliche Trennung wurde dem störrischen Mädchen klar, dass es viel für ihn empfand und bereit für eine feste Bindung schien. Das Herz sprach eine eigene Sprache, auf John wollte Emma nicht verzichten! Ungeduldig hoffte sie auf seine Rückkehr, mit jedem Tag der Trennung fiel ihr das Warten schwerer. Sie dachte an den Rat von Nala, John zu sagen, dass sie ihn liebte. Warum nur fiel es so schwer auszusprechen, was das Gefühl vorgab? Die mutige Kriegerin litt darunter, dass die Worte nicht flossen, wenn sie das Herz öffnen wollte. Der Mund fühlte sich dann wie zugenäht an, der Magen verkrampfte, der Atem stockte. Weshalb kam das Wort Liebe nicht über ihre Lippen? Hing das mit den Verlustgefühlen zusammen? Leider wusste Emma nicht, wie sie das Verhalten ändern konnte. John legte ihr seine Liebe zu Füßen, sprach offen über Gefühle – sie dagegen blieb ein Stockfisch. Es war zum Heulen!

Der Blick fiel auf die Bücher, die verstreut auf dem Boden lagen. Einige handelten von alternativen Heilmethoden. In den letzten Wochen hatte sie viel über das Thema Heilen gelesen, auch Esthers Buch. Es war wichtig, ein größeres Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Fanreaner Krankheit bekämpften und den Körper betrachteten. Immer mehr verstand das Erdenmädchen, welche große Bedeutung die Einheit von Körper, Geist und Seele besaß. Alles hing zusammen! Wer die Verbindung sah, konnte anders an den Heilprozess herangehen.

Das Buch Zweiherz* von Antje Babendererde, das sie gerade las, handelte allerdings von einem anderen Thema. Emma wollte mehr über Indianer wissen, besser verstehen, wie sie dachten und wodurch sie geprägt wurden. In ihr wuchs das starke Bedürfnis, John und seinen Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen näher zu sein. Einige Romane, bei denen die Handlung in den heutigen Indianerreservaten spielte, hatte sie schon verschlungen und tauchte in eine Welt ein, die ihr bis dahin völlig fremd war. Die Gräueltaten der Weißen gegenüber den Indianern in der Vergangenheit wurden ihr bewusst, sie schämte sich für das, was damals passierte. Als Emma las, wie viel Unrecht auch heute noch den Indianern widerfuhr, wuchs die Empörung und das Kämpferherz meldete sich. Am liebsten wäre sie zum Weißen Haus gestürmt, um den Verantwortlichen gewaltig die Meinung zu sagen.

Durch die Geschichten begann das Mädchen, John besser zu verstehen. Seine Worte über Armut, Hoffnungslosigkeit und Alkoholprobleme blieben nicht weiter leere Worthülsen, sondern füllten sich mit Schicksalen von Menschen. Durch die Bücher rückten die Probleme in den Reservaten näher an die Kriegerin des Lichts heran. Sie begriff, was ihr Freund empfand, wenn er an seine Kindheit dachte.

Nachdenklich griff das Mädchen nach Zweiherz, begleitete Kaye auf dem Weg durch die Prärie und bangte um Will, wenn er gegen den zwielichtigen Kojoten kämpfte. Den restlichen Tag wollte Emma mit Lesen verbringen, sie verspürte keine Lust, mit jemandem zu reden.

*

Im Indianerreservat Pine Ridge sprang John von einem klapprigen Transporter und bedankte sich bei den beiden jungen Indianern, die ihn hier netterweise absetzten. Mit lautem Hupen und Gejohle antworteten sie. John kam aus San Francisco, der Stadt, in der er eine Weile als Junge mit seinen Eltern gelebt hatte.

Bevor er in die USA flog, trennte er sich in Lissabon von Samuel, der zu Magor zurückkehren wollte. Somit gelangte John allein ans Ziel seiner Reise – Telling Bear. Zwei Autos parkten vor der Hütte des Onkels. Einen Moment lang nahm der junge Lakota sich Zeit, um in Ruhe das verschneite Blockhaus zu betrachten und stellte fest, dass es einen neuen Anbau gab. Sonst entdeckte der Heimkehrer kaum Veränderungen. Der alte Schaukelstuhl mit dem Bisonfell stand noch auf der Veranda, sogar das Mobile, das er als Kind für den Onkel gebastelt hatte, schwang bedächtig klappernd im Wind.

Ein alter, halbblinder Hund trottete neugierig um die Ecke und fletschte die Zähne. John kniete nieder, streckte die Hände aus und sagte leise: »Hey, Ringo. Ich bin’s! Schnupper mal an mir! Erkennst du mich wieder?«

Beim Klang der Stimme stellte der schwarze Hund die Ohren auf, humpelte langsam näher und roch an den Fingern. Die Anspannung verschwand aus dem struppigen Körper, erfreutes Schwanzwedeln setzte ein. Schließlich versuchte der Hund, dem ehemaligen Spielkameraden übers Gesicht zu lecken.

»Komm her, alter Knabe!« Lächelnd kraulte der Lakota den in die Jahre gekommenen Freund. Er erinnerte ihn an vergangene Zeiten. Erst nach einer Weile öffnete John mit klopfendem Herzen die Tür, die nur angelehnt war, und trat mit zögernden Schritten ein. Welche Gefühle und Gedanken tobten in seinem Inneren? Liebe, Sehnsucht, Zuhause, Geborgenheit, Familie, Freundschaft. Aber auch Schmerz, Abschied, Trauer, Außenseiter.

Eine fröhliche Mädchenstimme rief: »Steve? Bist du das?«

Der Lakota nahm Geklapper von Geschirr wahr, während der Duft von Kürbiseintopf ihm entgegenschlug. Es roch verführerisch. John bekam Hunger. Er machte ein paar Schritte, bog um einen Schrank herum und stand direkt in der Küche. »Nein, ich bin nicht Steve!«, erwiderte er.

Ein junges Mädchen hantierte am Spülbecken, summte leise ein Lied.

Telling Bear saß am Küchentisch und las. Er trug ein kariertes Wollhemd zur Jeans. Sein langes graues Haar war wie früher zu einem Zopf gebunden.

Die Köpfe der beiden flogen herum, überrascht wirkende Augen fixierten den Neuankömmling.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein Onkel ihn erkannte und erfreut rief: »John! Du bist es tatsächlich! Ich wusste, dass du bald kommen würdest!« Schnell stand er auf und schloss den Neffen glücklich in seine Arme, drückte ihn fest und ließ eine Weile nicht los.

Der junge Lakota spürte, dass Telling Bear trotz seines fortgeschrittenen Alters noch über große Kraft verfügte. »Mensch, du siehst aus, als wärst du keinen Tag älter geworden!«, stellte John fest.

Telling Bear grinste. »Jetzt schmeichelst du mir aber! Du bist allerdings kräftig gewachsen, bist ein junger Mann!«

Das Mädchen kam langsam näher und musterte fassungslos den Besucher. »John?« Ihre dunklen, leicht schräg stehenden Augen hielten seinen Blick gefangen.

Da erst löste John sich aus der Umarmung des Onkels und betrachtete eingehend die Indianerin: Das schwarze Haar lag locker über den Schultern und umrahmte ein hübsches Gesicht. Sie trug Jeans mit einem engen Pullover, der ihre schlanke Figur betonte. »Annie! Meine kleine Freundin White Bird, die vor vielen Jahren als Kind so gern in den Pfützen herumsprang?«

»Ja, das bin ich!«, rief sie und flog ihm stürmisch entgegen. Sie umarmte ihn so fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.

Diese heftige Begrüßung überraschte John, damit hatte er nicht gerechnet. Der Duft von frisch gewaschenem Haar stieg in seine Nase: Pfirsichgeruch. Wie früher!

Der Onkel beobachtete die beiden schmunzelnd, setzte sich hin und forderte die zwei auf, dasselbe zu tun.

Nur zögernd ließ Annie den Freund los und bestürmte ihn sogleich mit Fragen: »Wo warst du die ganze Zeit? Wie lang bleibst du? Wie geht es dir?« Ihre Stimme klang aufgeregt.

»Mein Herz ist voller Freude, dich zu sehen. Gut siehst du aus, Junge!«, bemerkte Telling Bear.

»Stimmt!«, bestätigte Annie und kaute nervös auf der Lippe. »Obwohl du deine Haare kurz trägst.«

John räusperte sich und gab das Kompliment an Annie zurück: »Du siehst jedenfalls umwerfend aus. Gar nicht mehr das kleine Mädchen, das mit mir bei deiner Tante die leckeren Kuchen klaute.«

Annie grinste: »Du hast sie geklaut! Ich hab nur Schmiere gestanden.«

Die Erinnerung löste die Anspannung bei Annie. Binnen Sekunden kehrte die alte Vertrautheit zurück, sodass beide einander verschwörerisch anlächelten.

»Wieso trägst du deine Haare kurz?«, hakte Annie nach.

»Sie sind schon nachgewachsen, sie waren richtig kurz. Ich wollte es mal ausprobieren.« Den wahren Grund verschwieg er und stellte erstaunt fest, dass er Annie nichts von Emma erzählen mochte.

Mit einer zärtlichen Geste fuhr die Indianerin ihm durch das Haar: »Lang gefällt es mir besser. Dann siehst du mehr wie ein Lakota aus. Aber nun erzähl mal! Wo hast du dich so lange Zeit herumgetrieben?«

Mit einem fragenden Blick schaute John zum Onkel, dessen Augen noch immer vor Glück leuchteten, weil sein Neffe ihn endlich besuchte. Liebevoll betrachtete der das wettergegerbte Gesicht des Mannes, der ihm den Vater ersetzt hatte und in den schwersten Stunden seines Lebens für ihn dagewesen war.

»Annie weiß, wo du jetzt lebst und was damals passiert ist«, erklärte Telling Bear. »Du kannst bei der Wahrheit bleiben!«

»Womit soll ich beginnen?«

»Na, mit dem Anfang«, schlug Annie vor. »Ich mache uns einen Tee dazu.«

Alltag

Nala kehrte nach ihrem Kurzurlaub mit Samuel nach Frankreich zurück, da beide wieder ihren Aufgaben nachkommen mussten: Nala als Zauberlehrling, Sam als Entwickler. Nach dem Ende der Weihnachtsferien umfing der Schulalltag Leni, Ben und Emma erneut mit festem Griff.

Als es an der Haustür klingelte, brach bei ihr die übliche Hektik aus. Gestern hatte sie bis spätabends gelesen und war danach zu müde gewesen, um die Schultasche zu packen. Das musste sie nun nachholen. Während das Mädchen Hefte mitsamt Ordnern in die Tasche warf, hörte es, dass Ben unten im Flur mit Marlene flachste, die er dadurch zum Lachen brachte. Endlich stürmte Emma, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach unten. Auf der vorletzten Stufe stolperte sie und fiel.

In letzter Sekunde fing der Freund sie mit seinen starken Armen auf. »Wow, Baby! Ich wusste ja, dass du es nicht erwarten kannst, mich zu sehen, aber so stürmisch musst du auch nicht sein!«, grinste er.

Sie kicherte. »Du bist eben mein Held!«

Erleichtert atmete Marlene auf und schimpfte los: »Das war knapp! Mensch Kind, du hast deine Tasche bestimmt nicht früh genug gepackt! Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen …?«

»Mama, nerv nicht! Ich weiß das alles, aber …«

»… das Buch war mal wieder so spannend«, ergänzte Ben und ließ das Mädchen los. »Komm, wir sind spät dran!«

»Wie jeden Morgen«, murmelte Marlene, verdrehte die Augen und öffnete die Tür. »Hier, deine Brote. Viel Spaß in der Schule!«

»Guter Witz, Mama. Bis nachher!«

»Ciao, Marlene.«

Die beiden Freunde eilten zur Schule. Mit einem Seitenblick zu Ben fragte Emma: »Hunger? Salami, Schinken oder Gesundheitsbrot?«

»Schinken!«

Sie griff in die Tüte, um das gewünschte Brot herauszuholen.

Ben schnappte danach und biss glücklich hinein. Mit vollem Mund nuschelte er: »Mmhh, lecker! Du hast es gut, deine Mutter macht dir immer so leckere Brote. Meine kriegt nicht mal das hin! Meistens vergisst sie die Butter oder streicht Leberwurst unter die Marmelade.«

»Na ja, dafür schimpft meine dauernd mit mir.«

»Du machst ja auch nur Mist!«

Emma knuffte ihn in die Seite. »Laberkopp! Ich hab die Vokabeln noch nicht drauf. Frag mich mal ab, sonst verkack ich gleich den Test!«

»Okay. Was heißt denn …?«

Jemand kam von hinten, haute dem Jungen mit Wucht auf die Schulter und lachte hämisch. Es war Paul, der auf dem Fahrrad saß und jetzt heftig in die Pedale trat, um die Flucht anzutreten. In der ersten Sekunde wollte Ben hinterhersprinten, denn es kitzelte ihn in den Fingern, die Feuermagie zu rufen.

Doch die Kriegerin legte ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte: »Nicht!«

»Mist, ich würde ihm am liebsten eine verpassen! Ihn mit Feuer vom Rad schleudern! Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen!«

»Kannst du wohl, weil du da drüberstehst. Du weißt, dass du ihn fertigmachen könntest. Das muss dir genügen, Drachenreiter!«

Gereizt zog der Freund den Arm weg. »Ich würde ihn zu gern so richtig vermöbeln!«

»Ist klar. Geht aber nicht!«

»Wozu habe ich dann die Macht, das alles zu können?«

Das Mädchen funkelte ihn an. »Bestimmt nicht, um blöde Jungen zu verprügeln!«

»Hm! Aber um mich zu wehren.«

»Er hat dich nicht richtig angegriffen. Macht bedeutet, dass du Verantwortung für deine Taten trägst.«

Der Drachenreiter schnitt eine Grimasse. »Du redest genauso klug daher wie Zamorius, der Zauberer!«

»Mensch!« Emma seufzte. »Deine Elementemagie hast du nicht bekommen, um machomäßigen Mist zu machen. Du sollst damit Hilflose und Schwache retten, nicht Paul eins auswischen. Echt kindisches Verhalten!«

»Wow! Jetzt bist du aber sauer, Bücherwurm! Ich soll also Mutter Theresa spielen? Er fängt ständig mit dem Pöbeln an!«

»Ihr Jungen seid manchmal so was von idiotisch! Dieses doofe Prügeln! Nutz deine Kraft sinnvoll!«

Ben grinste. »Ist ja gut, ich tu dem Kerl nichts. Aber reizvoll bleibt der Gedanke trotzdem: gegrillter Paul!«

*

Nachmittags ging Emmas Freund zum Karatetraining. Auf dem Weg zur Turnhalle lungerte Paul an einer der Dönerbuden herum. Als er Ben sah, schnitt er diesem eine Fratze. Der ignorierte es und murmelte stattdessen wie ein Mantra vor sich hin: »Wahre Stärke beweist nur derjenige körperlich Kräftige, der seine Kraft nicht missbraucht, und wirklich stark ist nur derjenige Mächtige, der seine Macht nicht missbraucht.*«

Doch Ben war noch keine zehn Meter mit dem Rad weitergefahren, da traf ihn ein kleiner Stein am Kopf. Blitzschnell drehte der Junge sich um und sah, wie Paul eine Steinschleuder in der Jacke verschwinden ließ, während er unauffällig wegschaute. Hitze brodelte im Bauch des Drachenreiters, der allerdings an Emmas Worte dachte und sich bemühte, über die Atmung ruhiger zu werden. Er hatte es endgültig satt, von diesem Kerl drangsaliert zu werden. Es kostete unendliche Beherrschung, nicht auf ihn loszustürmen. Aber es musste noch eine andere Lösung geben als eine Prügelei. Mit zusammengepresstem Kiefer sowie geballten Fäusten atmete Ben ein letztes Mal tief ein und aus, dann stellte er sein Rad ab. Betont langsam schlenderte er auf Paul zu, der ihm frech entgegengrinste. »Hi Paul, ich weiß, dass du das warst! Hast mein Mitgefühl! Du kriegst so wenig Aufmerksamkeit, dass du immer das Arschgesicht spielen musst. Vielleicht bist du gar kein so übler Typ?«

»Hä? Wie bist du denn drauf? Hast wohl Schiss vor mir?«

»Glaub mir, ich könnte dich binnen Sekunden flachlegen! Aber ich will es nicht. Was hältst du davon, wenn wir uns gegenseitig einfach in Ruhe lassen?«

»Du hast ’nen Knall! Tickst nicht mehr ganz richtig da oben!« Paul tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn.

»Nein, ich meine das ernst. Warum sollen wir uns prügeln?«

»Weil’s Spaß macht!« Kaum sprach Paul die Worte aus, schoss seine Hand vor und zielte auf Bens Kinn.

Der hatte das jedoch geahnt und hielt blitzartig die Faust des Angreifers fest. »Mensch, du bist echt ein Idiot! Hast keine Freunde, das ist dein Problem!«

Mürrisch schüttelte Paul die Hand ab. So etwas wie Unsicherheit flackerte in seinem Blick auf.

Ben gab noch nicht auf. »Wenn du so weitermachst, kriegst du niemals Freunde! Alle haben nur Angst vor dir.«

»Kann dir scheißegal sein!« Aggressiv hielt Paul eine Faust hoch.

Bevor der Junge weiteren Mist machen konnte, schlug Ben vor: »Wir könnten mal zusammen ins Kino gehen? Ich erklär dir dann, wie man Freunde kriegt.«

Pauls Kinnlade klappte nach unten. Er starrte den Jungen an. »Äh … Wie? Du und ich? Ins Kino?«

»Genau! Du darfst den Film aussuchen. Überleg es dir!«

»Du verarschst mich, eh?«

»Nein! Hast du Lust dazu?«

»Bei dir piept’s wohl!« Paul zeigte Ben einen Vogel.

Der gab trotzdem noch nicht auf. »Du findest nie Freunde, wenn du weiter so ätzend bleibst! Ich möchte Freunde haben, die mich mögen und gern mit mir zusammen sind. Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Die nicht aus Angst nett zu mir sind. Du etwa nicht?«

»Ähm, schon!«

»Verändere dich!«

»Hä?«

»Pass auf, Paul! Ich hab nicht ewig Zeit. Ich erklär dir das mal in Ruhe. Sag mir Bescheid, welchen Film du sehen willst und wann. Muss jetzt los, komme sonst zu spät zum Karate.« Ben drehte sich um und stellte verblüfft fest, dass er das gut hinbekommen hatte. Auch wenn er null Bock auf einen Kinobesuch mit diesem dämlichen Typen verspürte, war er dennoch zufrieden mit sich selbst. Er schien tatsächlich ein Krieger des Lichts zu sein!

*

Später kam Emma zu Ben. Am nächsten Tag stand eine Deutscharbeit auf dem Programm und dafür trafen sie sich zum Lernen.

Als der Freund vom Vorfall mit Paul erzählte, fiel Emma ihm freudig um den Hals. »Du bist super! Das war toll von dir! Ich bin richtig stolz auf dich! Die aus Fanrea wären es auch! Du hast verstanden, dass du deine Macht nicht ausnutzen darfst.«

Selbstgefällig grinste Ben. »Ich bin klasse, ich weiß! Deshalb müssen wir jetzt auch nicht lernen, oder?«

»Oh doch!« Sie schob ein Gedicht rüber. »Komm, fang an!«

Der Junge fluchte: »So ein Mist! Prometheus! In Fanrea müsste ich jetzt nicht über Goethe nachdenken! Da würde ich mit Glenn Fische fangen oder mit Nijano über die Berge fliegen.«

»Wir sind aber nicht in Fanrea, sondern auf der Erde. Du meckerst schon wie Leni. Los, was sagt dir der Name Prometheus?«

»Das war dieser Typ aus der griechischen Sagenwelt. Der, der die Menschen aus Ton geformt hat und ihnen das Feuer brachte. Zur Strafe wurde er von Zeus an einen Felsen gekettet. Jeden Tag aufs Neue hackt ihm ein Adler die Leber aus dem Körper, die dann wieder nachwächst.«

Emma verzog das Gesicht. »Bäh! Ja, genau! Müsste dir eigentlich gefallen, das Gedicht. Ist schön brutal. Weiter! Welche Reimform?«

»Äh, hm!« Ben starrte auf den Text. »Ähm?«

»Genau! Keine! Das Gedicht ist reimlos. Verszahl und Metrum?«

»Öhm! Keine Ahnung, was du von mir willst.«

Das Mädchen lachte. »Mensch, Krieger, lass dich nicht so verunsichern. Ungleiche Verszahl und kein regelmäßiges Metrum.«

»Na, dann ist ja alles geklärt! Können wir uns jetzt den angenehmen Dingen des Lebens zuwenden?« Ben lehnte sich zurück und streckte die langen Beine aus.

»Zum Beispiel?«

»Essen!«

In dem Moment schlich Mattes ins Zimmer, der versuchte, seinen Bruder und Emma zu erschrecken. Das gelang ihm allerdings nicht, da deren Sinne seit Fanrea geschärft waren. Beleidigt zog Mattes eine Schnute und brummte: »Ich hab Hunger! Mama hat nur so einen matschigen Auflauf dagelassen, den will ich nicht. Papa musste zu einer Kuh, die Koliken hat.«

Triumphierend schaute Ben zur Freundin. »Sag ich doch: Essen! Wir müssen uns jetzt um Mattes kümmern. Sollen wir uns Pfannkuchen machen?«

»Au ja!«, freute sich Mattes.

»Nee, erst noch Goethe!«, protestierte das Mädchen.

Aber die Jungen rannten schon aus dem Zimmer und ignorierten den Einwand.

*