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"Pulps sind in aller Munde. Pulps, das sind spezielle Zeitschriften in einem speziellen Format, die im 19. und 20. Jahrhundert in den USA erschienen. Unzählige waren es: Kriminal- und Abenteuergeschichten, Liebesgeschichten und natürlich Phantastik, egal ob Horror, SF oder Fantasy. Die Titelbilder waren meist schrill, das Papier billig und die Geschichten geradeaus, mal innovativ, mal einfach nur unterhaltsam. Hier eine erlesene Auswahl. Ein besonderer Fund in einer Pyramide sorgt für ein böses Erwachen. Die Saga vom verlorenen Schiff, auf dem nur ein Papagei lebt. Ein Exzentriker lässt sein Traumhaus bauen, ein Haus, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Ein Mann trifft eine Entscheidung, und schon wird sie Realität. Ein Zugunfall zwingt zwei Frauen der gehobenen Gesellschaft, eine Entscheidung zu treffen. Ein Geist kommt mit Zahnschmerzen zu einem Zahnarzt, der ihm helfen soll. Eine Ahnenforschung, die zum Fluch wird. Ein Magazin, das fast vierzig Jahre Phantastikgeschichte geschrieben hat."
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Seitenzahl: 286
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Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)FANTASTIC PULP 1
In dieser Reihe bisher erschienen
01 Geisterstunden vor Halloween von Stefan Melneczuk
02 Drachen! Drachen! von Frank G. Gerigk & Petra Hartmann (Hrsg.) 03 Hunger von David Grashoff & Pascal Kamp (Hrsg.)
04 Schattenland von Stefan Melneczuk
05 Der Struwwelpeter-Code von Markus K. Korb06 Bio Punk‘d von Andreas Zwengel
07 Xenophobia von Markus K. Korb08 Nachtprotokolle von Anke Laufer09 Reiche Ernte von Matthias Bauer
10 Das Tor von Matthias Bauer
11 Fantastic Pulp 1 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)
Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)
Fantastic Pulp 1
Phantastische Geschichten
Matthias Käther, geb. 1972 in Neubrandenburg, ist Rundfunkmoderator, Hörspiel- und Featureautor und widmet sich beruflich vor allem der klassischen Musik und alter phantastischer Literatur. Für Oliver Rohrbecks Berliner Live-Hörspielreihe Lauscherlounge verfasste er u. a. Bearbeitungen von Puschkins Horror-Novelle Pique Dame und eine eigene Version von Jack the Ripper. Für den RBB und Deutschlandfunk entstanden diverse Features zu Phantastik-Themen, u. a. zu Weltuntergangsvisionen der Jahrhundertwende, Alchemie, Alpträumen und Ann Radcliffe. Er schreibt regelmäßig Kolumnen für die Internetseite Zauberspiegel.
Michael Schmidt wurde 1970 in Koblenz geboren. Er veröffentlichte bisher über 80 Kurzgeschichten, die sich zumeist mit der dunklen Seite der Menschen beschäftigt.
Als Herausgeber zeichnete er schon für diverse Anthologien verantwortlich. Zwielicht gewann dabei mehrmals den Vincent Preis.
Seine Sammlungen Teutonic Horror und Silbermond sind bei Create Space Publishing erschienen. Sein Blog befindet sich auf www.defms.de.
Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannLektorat: Julia Annina JorgesTitelbild: Jörg Neidhardt Umschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-610-1Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
Liebe Freunde des gepflegten Grauens,
Pulps sind in aller Munde. Pulps, das sind spezielle Zeitschriften, in einem speziellen Format, die im 19. und 20. Jahrhundert in den USA erschienen. Unzählige waren es. Kriminal- und Abenteuergeschichten, Liebesgeschichten und natürlich Phantastik, egal ob Horror, SF oder Fantasy. Die Titelbilder waren meist schrill, das Papier billig und die Geschichten geraderaus, mal innovativ, mal einfach nur unterhaltsam.
Dieser Schatz an lesenswerter Literatur wurde teilweise gehoben. Wer kennt nicht die Geschichten von H.P. Lovecraft, Robert E. Howard oder E.E. Smith. Auch die Namen der zugehörigen Magazine sind den meisten ein Begriff: Weird Tales, Analog oder Amazing Stories. Der Geschichte von letzterem widmet sich Matthias Käther in einem ausführlichen Artikel im zweiten Teil des Buches und damit folgt Fantastic Pulps der Tradition des Magazins Zwielicht, in dem ein Teil der Beiträge dieses Buch ursprünglich erschienen sind. Die Geschichten selbst sind wahre Perlen. Die meisten der hier vertretenen Autoren sind entweder nur Insidern der Phantastik bekannt oder es weiß kaum jemand, dass sie solche Geschichten verfassen, wie sie sich hier vorfinden.
Wir haben für den Auftaktband einen Zeitrahmen von 1869 bis 1951 gewählt und die verschiedensten Themen ausgesucht. Ob Mumien und Pflanzenhorror, die unheimliche Seite der Seefahrt, die Erschwernisse eines Zahnarztbesuches oder Besonderheiten beim Besuch einer Geisterbahn, den Leser erwartet Abwechslung.
Mal ist es gruselig, mal skurril, mal lustig. Aber niemals langweilig und oft auch überraschend.
So wünschen wir Ihnen eine gruselige Lektüre und hoffen, dass wir mit Fantastic Pulps den Auftakt einer langen Serie an Büchern mit tollen Geschichten gestartet haben.
Mit phantastischen Grüßen
Die alten US-amerikanischen Phantastik-Pulps, oder, wie sie im Original gerne genannt werden, die „Speculative Fiction Magazines“, haben in der englischsprachigen Welt seit der Jahrtausendwende wieder enorm an Bedeutung gewonnen und sind gerade wieder dabei, sich einen neuen Platz in der englischsprachigen Popkultur zu erobern. Dabei machten sie nur ein winzigen Prozentsatz der klassischen Pulp-Fiction-Produktion aus. Wenn man die Zahl von ca. 3000 Magazinnummern zwischen 1923 und 1960 annimmt, ist das schon hoch gegriffen – ich habe in dieser Schätzung auch die Gore-Pulps und Torture-Porns der Dreißigerjahre wie Terror Tales oder Horror Stories mit einbezogen, ebenso die kleineren Digest-Formate, die streng genommen nicht mehr zur Familie der großformatigen Pulps gehören, wie Galaxy oder Fantastic.
Natürlich würde ein Leben nicht ausreichen, all diese 3000 dickleibigen Hefte (keines unter 100 doppelspaltigen Seiten) zu lesen – doch gemessen an den zehntausenden Western-, Lovestory- und Abenteuer-Heften nehmen sie einen verschwindend kleinen Teil ein. Zum Vergleich: Allein das Magazin Adventure brachte es auf mehr als 800 Nummern.
Dennoch wage ich zu behaupten, dass der Kern des Erbes der Pulp-Fiction-Kultur, die Essenz, in diesen fantastischen Geschichten steckt.
Ein großer Teil der Science-Fiction- und Gruselliteratur jener Ära bewegt, amüsiert und packt uns noch heute – egal, ob man als Science-Fiction-Fan die Werke von Asimov, Bradbury oder Heinlein bewundert, sich von H.P. Lovecrafts Alten Göttern ängstigen oder von Robert E. Howards Fantasy-Welten verführen lässt. Und natürlich ist da noch mehr zu entdecken – von vielen großartigen Geschichten ist bis heute noch nicht einmal der Ruf zu uns nach Deutschland gedrungen, geschweige denn eine Übersetzung.
Die Wurzeln der Phantastik-Pulp-Kultur liegen im 19. Jahrhundert – zum Teil in den großen, thematisch weitausgreifenden und reich illustrierten britischen Story-Magazinen wie The Strand und Pearson‘s Magazine, den Stammblättern von Arthur Conan Doyle und H.G. Wells. Aber nicht nur. Auch die Amerikaner selbst haben eine weit zurückliegende Tradition unheimlicher und utopischer Literatur.
Da ist natürlich Edgar Allan Poe, quasi der Ur-Vater, aber auch der hierzulande völlig unbekannte SF-Pionier aus San Francisco, Robert Duncan Milne (1844-99). Auch einzelne große Autoren der amerikanischen Literatur haben wichtige Marksteine hinterlassen und damit den Weg zur klassischen phantastischen Pulp-Fiktion-Geschichte geebnet. Zu ihnen zählt Louisa May Alcott (1832-1888.) Offiziell schrieb sie gefeierte Bestseller wie Little Women (1868), ein Roman, der insgesamt achtmal verfilmt wurde, zuletzt 2019 mit Emma Watson in einer der Hauptrollen. Doch Frau Alcott hatte auch eine dunkle Seite und schrieb unter Pseudonym nebenher Schauerliteratur. Manches davon wurde erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht, wie Gothic-Faust-Adaption A Long Fatal Love Case (1866/1995). Die folgende kleine Ikone unter den amerikanischen Schauergeschichten Lost in A Pyramyd, or The Mummy‘s Curse erschien in der Januarausgabe 1869 des Magazins New World. Sie gilt als erste Erzählung, die gleich zwei typische Pulp-Fiction-Topoi in die amerikanische Literatur einführt: den Mumien-Horror und die „Böse Pflanze“.
„Und was ist das hier?“, fragte Evelyn, eine beschlagene alte Golddose öffnend und ihren Inhalt neugierig betrachtend.
„Samen von irgendeiner unbekannten ägyptischen Pflanze“, antwortete Forsyth, wobei ein Schatten über sein dunkles Gesicht huschte, als er auf die scharlachroten Körner hinabsah, die ihm auf einer weißen Hand entgegengehalten wurden.
„Wo hast du die her?“, fragte das Mädchen.
„Das ist eine seltsame Geschichte, die dich nur beunruhigen wird, wenn ich sie dir erzähle“, meinte Forsyth mit einem abwesenden Ausdruck, der die Neugier der jungen Frau nur noch mehr anstachelte.
„Bitte, erzähle. Ich mag seltsame Geschichten, sie beunruhigen mich nie. Komm schon, deine Geschichten sind immer so spannend!“, rief sie und blickte ihn mit solch einer verführerischen Mischung aus Flehen und Befehlen an, dass Widerstand zwecklos war.
„Du wirst es bereuen! Und ich wahrscheinlich auch. Ich warne dich schon jetzt – denn dem Besitzer dieser mysteriösen Samenkörner wurde Unglück vorhergesagt!“, drohte Forsyth lächelnd, obwohl er gleichzeitig die Stirn runzelte und das strahlende Geschöpf vor ihm mit einem liebevollen und doch mahnenden Blick betrachtete.
„Erzähle schon! Ich habe keine Angst vor diesen hübschen winzigen Dingern hier!“, gab sie zurück und nickte gebieterisch.
„Dein Wunsch ist mir Befehl. Lass mich kurz die Fakten rekapitulieren, und dann fange ich an“, murmelte Forsyth, auf und ab gehend mit dem in sich gekehrten Blick eines Menschen, der im Buch der Vergangenheit blättert.
Evelyn beobachtete ihn einen Moment lang, um dann zu ihrer Arbeit zurückzukehren oder, genauer gesagt, zu ihrem Spiel. Die Beschäftigung schien sehr passend für dies lebhafte kleine Geschöpf, halb Kind, halb Frau.
„Als ich in Ägypten war“, begann Forsyth, „beschloss ich eines Tages, mit meinem einheimischen Führer und Professor Niles die Cheops-Pyramide zu erforschen. Niles hat eine Schwäche für Antiquitäten aller Art, und so vergaß er Zeit, Gefahr und Erschöpfung bei seinen Erkundungen in den Gängen des Bauwerks. Wir kraxelten die engen Passagen rauf und runter, halb erstickt von Staub und schlechter Luft, lasen Inschriften an den Wänden, stolperten über zerborstene Sarkophage oder fanden uns Angesicht zu Angesicht mit seltsam verschrumpelten leblosen Wesen wieder, die koboldhaft in den alten Regalen hockten, wo die Toten für alle Ewigkeit verstaut wurden. Nach einigen Stunden war ich verzweifelt müde und bettelte den Professor an, wir mögen zurückkehren.
Doch der war davon besessen, gewisse Orte genauer zu untersuchen, und konnte einfach nicht genug bekommen. Wir hatten nur den einen Führer, und so war ich gezwungen, ihn zu begleiten; doch als Jumal sah, wie müde ich war, schlug er vor, dass wir uns in einem der breiteren Gänge ausruhten, während er hinausging, um einen anderen Führer für Niles zu besorgen.
Wir stimmten zu, und beteuernd, dass wir vollkommen sicher wären, solange wir uns nicht vom Fleck rührten, verließ er uns, nicht ohne rasche Rückkehr zu versprechen. Der Professor setzte sich, um sich Notizen zu seinen Forschungen zu machen, und ich streckte mich auf dem weichen Sand des Ganges aus und war sofort eingeschlafen.
Ich erwachte mit jener unbeschreiblichen Anspannung, die uns instinktiv vor drohender Gefahr warnt. Ich sprang auf – und fand mich selbst verlassen vor. Eine Fackel brannte noch schwach – dort, wo Jumal sie hingesteckt hatte –, doch Niles und das andere Licht waren verschwunden. Ein schreckliches Gefühl von Einsamkeit schien mich einen Moment lang zu erdrücken, dann riss ich mich zusammen und blickte mich aufmerksam um. Ein Stückchen Papier war an meinen Hut geheftet, den ich neben mich gelegt hatte, und auf dem Zettel stand, in der Handschrift des Professors:
„Ich bin losgezogen, um mein Gedächtnis an bestimmten Orten noch einmal aufzufrischen. Folge mir nicht, bis Jumal kommt. Ich kann meinen Weg zu dir zurückfinden. Ich habe Hinweise hinterlassen. Schlaf gut, und träum was Schönes von den Pharaonen. N. N.“
Ich lachte zunächst über den alten Enthusiasten. Dann fühlte ich mich beunruhigt. Dann ruhelos. Schließlich beschloss ich, ihm zu folgen, denn ich entdeckte eine dicke Schnur, befestigt an einem herabgefallenen Stein, und wusste, dass dies der Hinweis war, den er erwähnt hatte. Ich hinterließ eine Zeile für Jumal, nahm die Fackel und wandte mich zum Gehen, immer der Schnur an den Wegbiegungen folgend. Oft rief ich, erhielt aber keine Antwort und rannte weiter, an jeder Ecke hoffend, ich würde den alten Mann dabei erblicken, wie er über irgendeiner verstaubten uralten Antiquität grübelte. Plötzlich endete die Schnur, und meine Fackel senkend sah ich, dass die Fußspuren dennoch weiterführten.
Unvorsichtiger Trottel, er wird sich verlaufen, so viel ist sicher!, dachte ich, nun wirklich alarmiert.
Als ich innehielt, erreichte ein ferner Ruf mein Ohr. Ich antwortete, wartete, schrie erneut, und ein noch leiseres Echo kam zu mir zurück.
Niles entfernte sich offenbar immer weiter von mir, irregeführt durch den Widerhall in diesen engen Passagen. Ich durfte keine Zeit verlieren. Völlig selbstvergessen stieß ich meine Fackel in den tiefen Sand, damit sie als Zeichen für die Rückkehr dienen konnte, und rannte den Pfad vor mir geradewegs hinunter, dabei herumbrüllend wie ein Wahnsinniger. Natürlich hatte ich nicht vor, das Licht aus den Augen zu verlieren, doch in meinem Eifer, Niles zu finden, irrte ich von der Hauptpassage ab und hastete weiter, geleitet von seiner Stimme. Bald beglückte das Licht seiner Fackel meine Augen, und der herzliche Griff seiner zitternden Hände bewies mir, welche Qualen er gelitten hatte.
„Lass uns von diesem grässlichen Ort verschwinden“, ächzte er, sich große Schweißtropfen von der Stirn wischend.
„Komm, wir sind nicht sehr weit weg vom Ausgangspunkt … Wir können ihn schnell erreichen – und dann sind wir sicher!“, gab ich zurück, doch noch während ich das sagte, überlief mich ein kalter Schauder, denn vor uns lag nun ein vollkommen unbekanntes Labyrinth von engen Gängen.
Ich versuchte mich an solchen Hinweisen zu orientieren, die mir während des raschen Herlaufens flüchtig im Gedächtnis geblieben waren, und folgte den Fußspuren im Sand, bis ich glaubte, nahe bei meiner zurückgelassenen Fackel zu sein. Trotzdem sahen wir auch nicht das schwächste Glimmen, und als ich mich niederkniete, um die Spuren näher zu untersuchen, entdeckte ich zu meiner Bestürzung, dass ich fremden Schritten gefolgt war, denn unter den tiefen Abdrücken von Stiefelabsätzen befanden sich auch welche von bloßen Füßen. Jumals konnten es aber nicht sein, denn der trug Sandalen.
Ich erhob mich und konfrontierte Niles mit den Tatsachen in einem einzigen verzweifelten Wort: „Verloren!“ Ich wies auf den verräterischen Sand und dann auf unser fast erloschenes einziges Licht.
Ich dachte, der alte Mann würde von Verzweiflung überwältigt werden, doch zu meiner Überraschung blieb er ganz ruhig. Er dachte einen Moment nach und sagte dann gelassen:
„Hier sind andere Leute vor uns gewesen. Lass uns den Fußspuren folgen, höchstwahrscheinlich führen sie uns in die Hauptgänge zurück, wo es nicht sehr schwer sein dürfte, gefunden zu werden.“
Und so gingen wir tapfer los. Alles ging gut, bis ein Fehltritt den Professor plötzlich zu Boden schleuderte! Beim Sturz erlosch um ein Haar unsere Fackel, ein schreckliches Dilemma! Ich hatte alle Hoffnung verloren, als ich mich neben meinen armen Begleiter setzte, der völlig erschöpft dalag, verzehrt von Müdigkeit, Reue und Schmerzen. Ich wusste, dass ich ihn niemals verlassen könnte und würde.
„Paul“, sagte er plötzlich. „Wenn du nicht weitergehen willst – es gibt noch eine letzte Möglichkeit, die uns offenbleibt. Ich erinnere mich gehört zu haben, dass eine Gruppe, die sich wie wir verlaufen hatte, dadurch rettete, indem sie ein Feuer anzündete. Rauch trägt weiter als Schall oder Licht, und der Führer konnte den ungewöhnlichen Qualm sofort richtig interpretieren. Er folgte ihm und rettete die Gruppe. Mach ein Feuer und vertraue auf Jumal.“
„Ein Feuer ohne Holz?“, setzte ich an, doch er zeigte auf ein Regal neben mir, das mir im Dämmerlicht entgangen war, und ich erblickte einen schmalen hölzernen Mumiensarg. Ich verstand Niles sofort, denn diese trockenen Kisten, die hier in der Pyramide zu Hunderten verstreut lagen, wurden nicht selten als Feuerholz benutzt. Ich langte hinauf und zog sie herunter in dem Glauben, sie sei leer, doch als sie auf dem Boden aufschlug, zerbarst sie, und heraus quoll eine Mumie. Obwohl ich an solche Situationen gewöhnt war, erschrak ich ein wenig, denn in unserer gefährlichen Situation lagen meine Nerven blank. Ich legte das braune insektenpuppenhafte Ding beiseite und zertrümmerte den Sarg. Dann entzündete ich die Splitter mit meiner Fackel – und schon zog eine leichte Rauchwolke die drei Gänge hinauf, die von der Kammer abzweigten, in der wir uns niedergelassen hatten.
Während ich mit dem Feuer beschäftigt war, hatte Niles beim Anblick der Mumie Schmerz und Gefahr vergessen und zog sie näher zu sich heran. Er untersuchte sie mit dem Interesse eines Mannes, dessen Leidenschaft für sein Steckenpferd selbst in Todesgefahr unangefochten blieb.
„Komm und hilf mir, sie auszupacken! Ich habe immer davon geträumt, als erster Mensch die kuriosen Dinge in Augenschein zu nehmen, die in die Bandagen einer Mumie eingewickelt wurden! Übrigens ist es eine Frau – wir könnten hier etwas Seltenes und Wertvolles vorfinden!“ So sprechend, begann er die äußeren Hüllen abzuwickeln, von denen ein eigenartiger aromatischer Duft aufstieg.
Ich gehorchte nur widerstrebend, denn für mich hatten die Gebeine dieser unbekannten Frau etwas Heiliges. Aber um uns die Zeit zu verkürzen und meinen armen Freund zu zerstreuen, ging ich ihm zur Hand und fragte mich bei der Arbeit, ob dieses schwärzliche, ekelhafte Ding wohl je ein attraktives und sanftäugiges ägyptisches Mädchen gewesen war.
Aus den faserigen Falten der Bandagen fielen diverse Brocken eingetrockneter Öle und Gewürze, die uns mit ihrem starken Duft fast die Sinne raubten, außerdem einige antike Münzen und sogar ein paar sonderbare Juwelen, die Niles begierig untersuchte.
Endlich waren alle Bandagen abgewickelt, und vor uns lag ein kleiner runder Kopf, an dem immer noch große geflochtene Strähnen von dem hingen, was einst ein prachtvoller Haarschopf gewesen sein musste. Die verschrumpelten Hände waren über der Brust gefaltet, und unter ihnen eingeklemmt steckte diese goldene Dose.“
„Ah!“, schrie Evelyn und ließ das Ding mit einem Schauder aus ihrer rosigen Handfläche gleiten.
„Aber, aber – geh nicht so leichtfertig mit dem Schatz dieser armen alten Mumie um! Ich habe mir nie verziehen, sie gestohlen und die Frau verbrannt zu haben.“ Forsyth seufzte und zeichnete energisch weiter an seiner Skizze, als ob die Erinnerung an diese Erfahrung seiner Hand Energie verlieh.
„Sie verbrannt? Oh Paul, was meinst du damit?“, fragte das Mädchen, wobei sie sich mit erregtem Gesicht aufsetzte.
„Ich erzählʼs dir ja! Während wir mit Madame Mumie beschäftigt waren, brannte unser Feuer fast vollständig herunter, denn der trockene Sargkasten wurde von ihm aufgezehrt wie Zunder. Ein schwaches, weit entferntes Geräusch ließ unsere Herzen höherschlagen, und Niles rief: „Mehr Holz aufs Feuer! Jumal ist uns auf der Spur, lass die Rauchfahne nicht abreißen, oder wir sind für immer verloren!“
„Da ist kein Holz mehr! Der Sarg war sehr klein, und das warʼs!“, gab ich zurück, und während ich noch sprach, riss ich mir die Kleider vom Leib, die leicht brennbar waren, und stapelte sie über der Glut auf.
Niles tat dasselbe, doch das leichte Gewebe war schnell aufgezehrt und produzierte kaum Rauch. „Verbrenn das!“, befahl der Professor und zeigte auf die Mumie.
Ich zögerte einen Moment. Wieder hörten wir das schwache Echo eines Horns. Mein Leben war mir teuer. Wenn uns ein paar trockene Knochen retten konnten … Ich gehorchte ihm ohne Kommentar.
Eine trübe Flamme loderte hoch. Schwere Rauchschwaden wallten auf vom brennenden Leichnam Kadaver und rollten durch die niedrigen Gänge – sie schienen uns ersticken zu wollen in ihrem übelriechenden Gewölk. Meine Sinne flackerten unstet, Lichter tanzten vor meinen Augen, seltsame Wesen schienen den Gang zu bevölkern, und bevor ich Niles noch fragen konnte, warum er röchelte und so bleich aussah, verlor ich das Bewusstsein.“
Evelyn tat einen langen Atemzug und legte die duftenden Samenkörner beiseite, als ob ihr Wohlgeruch sie erdrückte.
Forsyths braun gebranntes Gesicht glühte vor Erregung, während er seine vergangenen Abenteuer Revue passieren ließ, und seine Augen glitzerten, als er mit einem kurzen Auflachen hinzufügte: „Das ist alles – Jumal fand uns und holte uns heraus –, und wir beide schworen, nie wieder in unserem Leben eine Pyramide zu betreten.“
„Aber diese Dose – wieso hast du sie behalten?“, fragte Evelyn und betrachtete sie verstohlen, wie sie da im Sonnenlicht glänzte.
„Oh, ich hab sie als Souvenir mitgebracht. Niles behielt die anderen Sachen.“
„Aber du hast gesagt, dass den Besitzern dieser scharlachroten Samenkörner Unglück vorhergesagt wurde“, beharrte die junge Frau, deren Fantasie von der Geschichte entzündet war und die den Verdacht hegte, dass Forsyth ihr nicht alles erzählt hatte.
„Unter dem, was Niles erbeutete, fand er auch einen Pergamentfetzen, den er entzifferte, und diese Übersetzung besagt, dass die Mumie, die wir da so ungalant verbrannt haben, einst eine berühmte Magierin war und sie jeden verfluchte, der ihre Totenruhe stören würde. Natürlich glaube ich nicht, dass das irgendwas mit dem Fluch zu tun hat – aber Niles hat sich nicht von unserer Expedition erholt. Er sagt, er ist nie wirklich über den schlimmen Sturz und die ausgestandenen Ängste da unten hinweggekommen – und das mag so sein … Manchmal frage ich mich … ob ich auch etwas von diesem Fluch abbekommen habe. Ich gebe zu, ich habe eine abergläubische Ader, und die Mumie verfolgt mich bis in meine Träume …“
Ein langes Schweigen folgte diesen Worten. Paul pinselte mechanisch vor sich hin, und Evelyn lag da, ihn mit nachdenklichem Gesicht betrachtend. Doch düstere Gedanken waren ihrem Wesen so fremd wie dunkle Schatten dem strahlenden Mittagslicht, und bald lachte sie wieder ihr aufmunterndes Lachen. Sie griff erneut nach der Dose und fragte:
„Warum pflanzen wir die Samen nicht ein und schauen, was für eine seltsame Pflanze dabei herauskommt?“
„Ich glaube nicht, dass dabei überhaupt etwas herauskommt, nachdem die Samen jahrhundertelang in einer Mumienhand lagen“, antwortete er ernst.
„Lass es mich doch ausprobieren und sie pflanzen! Du weißt doch, es gab Weizenkörner, die sprossen und wuchsen, nachdem sie aus einem Mumiensarg genommen wurden. Warum sollten es diese hübschen Samen nicht auch tun? Ich würde sie zu gern wachsen sehen. Darf ich, Paul?“
„Nein, ich würde dieses Experiment lieber unversucht lassen. Ich habe ein komisches Gefühl bei der Sache. Ich werde mit dem Zeug nicht herumpfuschen oder zulassen, dass irgendjemand, den ich liebe, damit herumpfuscht. Sie könnten ein schreckliches Gift enthalten oder irgendeine andere bösartige Eigenschaft besitzen. Diese Zauberin hat sie hoch geschätzt, sonst hätte sie die Dinger nicht noch in ihrem Sarg umklammert gehalten.“
„Ach, du bist hoffnungslos abergläubisch, das ist ja lächerlich. Sei nicht so knauserig, gib mir ein Samenkorn, bloß um zu sehen, ob es wächst. Schau, ich werde auch dafür bezahlen!“ Und Evelyn, die nun neben ihm stand, küsste ihn auf seine Stirn, und das mit Schwung und Enthusiasmus.
Doch Forsyth gab nicht nach. Er lächelte und erwiderte ihre Umarmung mit der Wärme, die einem Liebhaber gebührt, schleuderte dann aber die Samen ins Feuer und gab ihr die leere Dose.
„Mein Liebling“, sagte er zärtlich. „Ich werde sie mit Diamanten füllen – oder Bonbons. Was immer du willst – aber ich lasse dich nicht mit Zauberflüchen herumspielen. Du kennst selbst genug magische Künste, also vergiss die hübschen Samen. Schau lieber, was für eine schöne Haremsdame ich hier aus dir gemacht habe!“
Evelyn zog missmutig die Brauen zusammen, lächelte dann aber. Bald darauf spazierten die beiden Liebenden im Frühlingssonnenschein und berauschten sich an ihren eitlen Hoffnungen, die ungetrübt waren von ahnender Furcht.
„Ich habe eine kleine Überraschung für dich, meine Liebe“, sagte Forsyth, als er Evelyn drei Monate später am Morgen ihres Hochzeitstages begrüßte.
„Und ich habe eine für dich“, antwortete sie schmunzelnd.
„Wie blass du aussiehst, und wie dünn du geworden bist! Dieses ganze Braut-Brimborium ist zu viel für dich, Evelyn“, meinte er mit zärtlicher Sorge, als er die bleiche Fahlheit ihres Gesichts erblickte, und er legte ihre abgezehrte kleine Hand in die seine.
„Ich bin so erschöpft!“, seufzte sie und lehnte ihren Kopf müde an die Brust ihres Bräutigams. „Weder Schlaf, Nahrung oder frische Luft ändern etwas daran, und ein seltsamer Nebel scheint meine Sinne manchmal zu trüben. Mama meint, das ist die Hitze, aber ich schaudere sogar in der Sonne, während mich nachts das Fieber verbrennt. Paul, ich bin so froh, dass du mich von hier wegbringst – in ein ruhiges, glückliches Leben mit dir. Nur fürchte ich, dass wir nicht viel Zeit miteinander haben …“
„Meine überspannte kleine Frau! Du bist übermüdet und nervös von all diesen Hochzeitssorgen. Ein paar Wochen Erholung auf dem Land werden uns schon die alte blühende Evi zurückbringen. – Bist du nicht neugierig auf meine Überraschung?“, fragte er, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Der dumpfe Ausdruck in den Augen des Mädchens wich einem interessierten Blick, doch das Zuhören musste ihr schwerfallen, denn sie schien all ihre Energie aufzubieten, um den Worten ihres Liebhabers folgen zu können.
„Du erinnerst dich doch an den Tag, als wir uns im alten kleinen Zimmer gekabbelt haben?“
„Ja.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Und dass du diese komischen roten Samen pflanzen wolltest, die ich der Mumie gestohlen habe?“
„Ich erinnere mich.“ Ihre Augen blitzten auf mit plötzlichem Feuer.
„Tja, ich habe sie verbrannt, so dachte ich wenigstens, und gab dir die Dose. Aber als ich später zurückkam, um mein Bild abzudecken, fand ich einen der Samen auf dem Teppich. Und eine plötzliche Lust, deiner Laune nachzugeben, brachte mich dazu, ihn Niles zu senden und ihn zu bitten, ihn einzupflanzen und den Fortschritt zu beobachten. Heute habe ich zum ersten Mal wieder etwas von ihm gehört, und er schreibt, dass die Saat wunderbar aufgegangen ist. Die Pflanze hat Knospen getrieben, und er hat vor, falls sie bis dahin blühen sollte, sie zu einem Treffen mit berühmten Wissenschaftlern mitzunehmen. Danach will er mir ihren Namen mitteilen – und auch die Pflanze selbst hierhersenden. Seiner Beschreibung nach muss es ein äußerst kurioses Gewächs sein. Ich kann es kaum erwarten, das Ding zu sehen.“
„Du musst nicht warten, ich kann dir die Pflanze jetzt gleich in voller Blüte zeigen!“ Und Evelyn winkte ihm mit einem maliziösen Lächeln – das erste nach sehr langer Zeit.
Äußerst verblüfft folgte Forsyth ihr in ihr kleines Boudoir, und dort, im hellen Sonnenschein, stand die fremdartige Pflanze.
Trotz ihrer Üppigkeit wirkten die grellgrünen Blätter fast schlank an ihren dünnen purpurnen Stängeln, und aus ihrer Mitte erhob sich eine geisterhaft weiße Blüte, geformt wie der Kopf einer Kobra, mit scharlachroten Staubfäden wie eine gespaltene Zunge. Auf den Blütenblättern glitzerten seltsame Flecken wie Tau.
„Eine unheimliche Pflanze! Hat sie irgendeinen Duft?“, fragte Forsyth, sich über sie beugend, um sie näher zu begutachten, und vergaß in seiner Faszination völlig zu fragen, wie sie hierherkam.
„Keinen, und das enttäuscht mich. Ich mag Parfüms“, antwortete das Mädchen und liebkoste die grünen Blätter, die unter ihrer Berührung erbebten, während die purpurnen Fäden noch intensiver aufleuchteten.
„Nun red schon“, mahnte Forsyth, nachdem sie so einige Minuten stumm dagestanden hatten.
„Ich war vor dir im Raum und sicherte mir einen der Samen – es waren zwei auf den Teppich gefallen. Ich pflanzte ihn ein, unter Glas und in der besten Erde, die ich finden konnte, wartete gespannt und war erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der das Ding wuchs, nachdem es an die Oberfläche gekommen war. Ich habe es niemandem erzählt, denn ich wollte dich überraschen. Aber die Knospe hat ewig gebraucht, um zu erblühen, und so musste ich warten. Es ist ein gutes Omen, dass die Blüte gerade heute aufgegangen ist. Und da sie fast ganz weiß ist, werde ich sie zur Hochzeit tragen. Ich habe sie lieben gelernt, nachdem ich sie so lange gepflegt habe.“
„Ich würde sie an deiner Stelle nicht tragen! Sie sieht seltsam bösartig aus – trotz ihrer unschuldigen Farbe. Diese Otternzunge und dieser unnatürliche Tau! Warte, bis Niles uns sagt, woran wir sind, dann hätschel sie meinetwegen, wenn sie harmlos ist. Vielleicht schätzte meine Zauberin sie so, weil sie irgendeine symbolische Schönheit darstellte. Diese alten Ägypter hatten jede Menge solcher Schrullen. Das war übrigens ziemlich schlau von dir, mich derart zu überlisten. Aber ich verzeihe dir, denn in ein paar Stunden werde ich diese unberechenbare Hand für immer in die Bande der Ehe schlagen! – Wie kalt es hier ist! Komm heraus in den Garten und tanke ein bisschen Wärme für heute Abend, Liebste. Vielleicht bekommst du auch noch etwas Farbe.“
Doch als die Nacht kam, konnte niemand Evelyn vorwerfen, blass zu sein, denn sie glühte wie eine Granatapfelblüte. Ihre Augen sprühten Feuer, ihre Lippen waren scharlachrot, und ihre alte Lebhaftigkeit schien zurückgekehrt zu sein. Eine herrlichere Braut war nie unter einem bauschigen Schleier errötet, und als ihr Bräutigam sie sah, erschrak er heftig über diese fast unirdische Schönheit – das bleiche, träge Geschöpf von heute Morgen hatte sich in eine strahlende Frau verwandelt.
Sie wurden getraut, und wenn Liebe, viele gute Wünsche und reichliche Geschenke ein Paar glücklich machen konnten – dann war dies hier wahrhaft gesegnet. Doch eben in dem rauschhaften Moment, der Evelyn zu der Seinen machte, spürte Forsyth, wie eiseskalt die kleine Hand war, die er hielt, wie fiebrig das tiefe Rot der Wange glühte, als er sie küsste, und welch ein seltsames Feuer in den Augen brannte, die ihn so wehmütig ansahen.
Die lächelnde Braut, wunderschön wie eine Fee, spielte den von ihr erwarteten Part gut gelaunt den ganzen festlichen Abend lang, und als endlich Licht, Leben und Farbe aus ihr zu weichen begannen, hielten die liebenden Augen, die sie aufmerksam beobachteten, dies für eine Folge der natürlichen Müdigkeit zu später Stunde.
Nachdem der letzte Gast gegangen war, drückte ein Diener Forsyth einen Brief mit der Aufschrift EILT! in die Hand. Er riss ihn auf und las diese Zeilen von einem Freund des Professors:
Geehrter Sir,
der arme Niles starb vor zwei Tagen plötzlich im Scientific Club, und seine letzten Worte waren: „Sag Paul, er soll sich vor dem Mumienfluch hüten! Die fatale Blüte hat mich getötet!“
Die Umstände seines Todes waren äußerst eigenartig. Ich füge sie seiner Botschaft hinzu. Vor einigen Monaten erzählte er uns, dass er eine unbekannte Pflanze beobachtete, und als er jetzt herkam, brachte er sie mit, um sie uns zu zeigen. Andere interessante Themen beanspruchten uns bis spät in die Nacht, und so war die Pflanze vergessen. Er trug sie im Knopfloch – eine seltsam weiße, schlangenköpfig geformte Blüte mit glitzernden Flecken, die sich im Laufe des Abends langsam in ein funkelndes Scharlachrot verwandelten, bis die Blütenblätter aussahen, als wären sie mit Blut bespritzt. Wir beobachteten, dass die anfängliche Blässe und Abgeschlagenheit, mit der der Professor zu uns stieß, bald einer ungewöhnlichen Lebhaftigkeit wich, ja er befand sich bald in einer unnatürlich aufgekratzten Stimmung. Fast am Ende des Treffens, mitten in einer angeregten Diskussion, stürzte er plötzlich zu Boden, wie vom Schlag getroffen. Er wurde bewusstlos nach Hause gebracht, und nach einem kurzen klarsichtigen Intervall, in dem er mir die Botschaft ausrichtete, die ich oben an Sie weitergeleitet habe, starb er unter großen Qualen, von Mumien, Pyramiden, Schlangen und einem fatalen Fluch fantasierend, den er angeblich auf sich gezogen hätte.
Nach seinem Tod erschienen seltsame grellrote Flecken auf seiner Haut, die denen auf der Blüte erschreckend ähnlich sahen, und seine Leiche verschrumpelte wie ein verwelkendes Blatt.
Auf meine Weisung hin wurde die mysteriöse Blüte sorgfältig examiniert, und unsere größte Autorität auf diesem Gebiet erklärte sie zu einer der tödlichsten Giftpflanzen Ägyptens, eine Sorte, die oft im Arsenal antiker Magierinnen zu finden war. Die Pflanze absorbiert die Lebenskraft desjenigen, der sie aufzieht. Wenn die Blüte länger als zwei oder drei Stunden am Körper getragen wird, verursacht sie Wahnsinn oder Tod.
Das Papier entfiel Forsyths Hand, er las nicht weiter. Er stürzte in das Zimmer, in dem er seine junge Braut zurückgelassen hatte. Anscheinend völlig erschöpft, hatte sie sich auf ein Sofa geworfen und lag dort bewegungslos, ihr Gesicht halb verdeckt durch die Falten ihres zarten Brautschleiers.
„Evelyn, Liebste! Wach auf und antworte mir! Hast du diese seltsame Blüte heute getragen?“, flüsterte Forsyth, den Schleier hinwegziehend.
Eine Antwort war nicht nötig. Denn dort, geisterhaft an ihrem Busen aufleuchtend, stak die bösartige Blüte. Ihre weißen Blätter waren besprenkelt mit roten Flecken, grell wie die Tropfen frisch vergossenen Bluts.
Doch der unglückliche Bräutigam sah kaum hin, denn es war Evelyns leerer Gesichtsausdruck, der seinen entsetzten Blick fesselte. Ausgemergelt und fahl, wie von einem unheimlichen Leiden verzehrt, lag das vor einer Stunde noch so liebenswerte Antlitz vor ihm: gealtert und verbraucht durch die teuflische Aura der Pflanze, die ihr Leben aufgesaugt hatte. Kein Erkennen in ihren Blicken, kein Wort auf ihren Lippen, keine Bewegung einer Hand deutete darauf hin, dass sie ihn wahrnahm. Nur der flatternde Puls und ihre weit aufgerissenen Augen zeugten davon, dass sie noch lebte.
Die arme junge Ehefrau! Die abergläubische Furcht ihres Mannes, die sie verlacht hatte, stellte sich als berechtigt heraus. Der Fluch, jahrelang schlummernd, hatte sich zuletzt erfüllt. Ihre eigene Hand hatte sie für immer vernichtet. Ein totengleiches Leben war ihr Schicksal; und für viele Jahr schottete Forsyth sich ab von der Welt, um mit rührender Hingabe ein bleiches Gespenst zu pflegen, das ihm nie danken konnte für eine Liebe, die sogar ein solches Schicksal überdauerte.
Originaltitel: Lost in A Pyramyd, or The Mummy’s Curse
New World, Januar 1869
Matthias Käther © 2020
Lissabon zählt zu den schönsten Städten der Welt. Vielleicht auch deswegen, weil sie, zumindest in der Feriensaison, eine atemberaubend hohe Anzahl von Sonnentagen hat. Wenig kommt für mich dem Genuss gleich, im Jardim Botto Machado zu sitzen und auf den Tejo zu schauen, der an dieser Stelle kurz vor dem Atlantik die Breite des Mississippi hat. Und dort zu lesen.
Doch das Lissabon an dunklen Tagen ist gespenstisch. Wenn es regnet, erinnert die Stadt an das Lovecraftsche Innsmouth – die gewundenen engen Gassen der Alfama wirken bedrohlich, und die sonst so freundlichen fetten Katzen blicken feindselig und raubtierhaft aus finsteren Flureingängen. Ein Brodem von Fisch, Verwesung und ranzigem Benzin liegt in der Luft.
So ein Tag war es, als ich beim vorjährigen Besuch Ship of Silence von Wetjen las. Es war meine Gruselgeschichte des Jahres 2018, und ich gebe zu: möglich, dass der düstere Tag zum Schauder beigetragen hat. Doch als ich sie dann in Berlin übersetzte, war der Eindruck noch genauso stark.
Dabei ist sie nur indirekt eine Entdeckung von mir, weil sie aus einer neuen Anthologie stammt, die Mike Ashley für den verdienstvollen Verlag der British Library herausgegeben hat.
Mit ihrer neuen Serie Tales of the Weird ist der British Library ein kleiner Sensationserfolg gelungen. 2016 kam man dort auf die Idee, die Schätze britischer phantastischer Literatur zu heben und in Taschenbuchform herauszugeben. Lost in a Pyramid war ein Volltreffer – 12 Horror-Storys um Mumien, Gräber und Flüche zwischen 1869 und 1910, darunter Klassiker wie Conan Doyles Lot No. 249, aber auch viele Raritäten wie The Dead Hand von Hester White. Bald sollten weitere Bände folgen, und inzwischen ist das Programm der Horror-Klassiker-Reihe für 2019 beachtlich aufgestockt worden – fast im Monatsrhythmus erscheinen neue Bände.
Herausragend sind darunter die thematischen Anthologien von Mike Ashley, u. a. eine mit alten See-Horror-Geschichten (From the Depths, 2018) und eine mit schaurigen Eisenbahn-Storys (The Platform Edge, 2019).
The Ship of Silence habe ich aus From the Depths (Aus der Tiefe) entnommen. Die Geschichte, offensichtlich angeregt durch den authentischen Fall des Geisterschiffs Marie Celeste, stand ursprünglich im Blue Book Magazine von 1932, einem außergewöhnlichen All-Story-Pulp (was heißt, dass es hier keine Festlegung auf Genres gab). Blue Book war überreich, ja fast schon comichaft illustriert, oft mehrfarbig, und damit etwas ganz Besonderes. Fast auf jeder Seite fand sich ein Bild. Leider besitze ich die Ausgabe weder als Scan noch haptisch; es wäre zu schön gewesen, zu dieser Story stimmungsreiche Illustrationen beisteuern zu können.
Das Heft ist extrem selten – Ashley wird sich des leichter zugänglichen Nachdrucks bedient haben, der im Avon Fantasy Reader Nr. 13 von 1950 erschien. Entdeckt und herausgegeben hat die Erzählung dort David A. Wollheim, also der Verleger mit der Fantasy-Supernase, der Tolkien populär machte.