Fast Leben - Dirk Westphal - E-Book

Fast Leben E-Book

Dirk Westphal

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Beschreibung

Manches lässt sich nie erklären, und wir bleiben staunend und rätselnd zurück, so wie bei dieser Geschichte. Der Roman handelt von Robert Windhorst, einem jungen Mann, der in Hongkong unter traumatischen Bedingungen aufwächst. Sein Vater ist ein alkoholkranker Schläger, der nur Gewalt als Mittel der Erziehung kennt, weil auch er im Dritten Reich nur Gewalt durch seinen Vater kennengelernt hat. Robert, der diesem Strudel nicht entkommen kann, entwickelt im Laufe der Zeit eine starke soziale Phobie. Mit zunehmendem Alter verstärkt sich diese und nimmt soziopathische Züge an. Er trinkt immer mehr, gerät in einen verhängnisvollen Sog aus Drogen, Sex und Gewalt. Windhorst will dem entkommen und findet zu einem Mittel, um der Gegenwart zu entfliehen: zu einer ganz eigenen Art des Dinge-Hinweg-Träumens. Er konstruiert Ersatzwelten, zu denen er Zuflucht nimmt und die ihm ein Nest geben, in einer Welt, die er als komplett lebensfeindlich empfindet und die es auch ist. Als Robert eines Tages von einer Reise zurückkehrt, findet er seinen Vater im Krankenhaus vor. Er wird ihn nie wiedersehen, so wie andere Menschen, deren Wege er kreuzt. Der Leser wird in ein unheimliches Leben entführt. Robert gerät in immer zweifelhaftere Kreise. Zudem verstärkt sich sein altes Kindheitsproblem, keinen Kontakt zu finden. Dies alles schildert der Autor vor dem großen Panorama Berlins und seiner Hauptstadtwerdung nach dem Mauerfall.

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Homo ludens horribilis.

Es gibt die Dinge, die wir nie verstehen werden. Die sich jeder Deutung entziehen und unheimlich sind. So ist es auch bei Robert Windhorst, der Hauptfigur dieses Romans. Er wächst in Hongkong in privilegierten Verhältnissen auf. Unter normalen Umständen wäre sein Leben vorbestimmt gewesen, angefüllt mit Wohlstand und Bildung. Doch es kam ganz anders. Die Zeit seiner Kindheit und Jugend unter einem tyrannischen Vater lässt Robert Windhorst zu einem extremen Einzelgänger werden. Er flüchtet sich immer stärker in Ersatzwelten aus Träumen, Drogen und Sex in den großen Partymetropolen dieser Welt. Reisen nach Ibiza, Istanbul, New York und Marrakesch werden zu seinem Mittel der Flucht. Robert Windhorst besucht schillernde Fashion Shows, Vernissagen und Partys, er sieht Stars an sich vorbeiziehen, doch Kontakt findet er nie. Und so nimmt das Schicksal, das ihn in immer verrücktere Traumwelten zieht, seinen Lauf. Und er rächt sich.

Für Jörg, meinen Bruder

Dirk Westphal

Fast Leben

Roman

Impressum:

© 2014 Dirk Westphal

2. Auflage

Coverfoto © Andrey Bortnikov; Fotografie 123rf.com

Lektorat u. Satz: Angelika Fleckenstein, spotsrock.de

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-7624-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Hollywoodstars, Supermodels, Sterneköche, Couturiers, Filmpremieren, Vernissagen und wilde Partys. Hier eine neue Kollektion, ein Buch, ein Deal, ein bisschen Haute Couture und Prêt-àporter, dort zum Champagnerempfang beim Gallery Weekend – stets lockte ein Event. Am Schlossplatz die Kunst, im Flughafen Tempelhof die Mode. Durch die Hangars flirrte Hip-Hop und House, Hostessen in High Heels, Blue, Red, Pink, always sexy. In einem U-Bahnstollen inszenierte Karl Lagerfeld das schwarze Kleine von Chanel, und die Künstler Julian Schnabel und Jonathan Meese lockten mit sich selbst. Und immer in Cinemascopeformat. Auch die Sammler kamen. Sie dekorierten die Prunkkammern der Berliner Republik. Ihr Nullmeridian war Berlin-Mitte, in NoTo, North of Torstraße. Sie alle prosteten einander zu. Zum Beat der Hauptstadtwerdung, und Berlin war Deutschlands Lustmacherfabrik. Die Sirenen von Mitte stießen ihre Lockrufe in die Nacht, und die Mischung war stets hochprozentig. Nicht jeder überlebte das. Manch anderer gerade so.

Gegenwart. Eine Bar in Berlin-Mitte, dem hippsten Bezirk der Hauptstadt. Am Tresen sitzt ein Mann, circa Mitte 40. Es ist eine Bar, in die man geht, um jemanden kennenzulernen. Aber noch ist sie nur spärlich gefüllt, es ist vor 24 Uhr, keine Zeit für Berliner Nachtschwärmer. Auf den Ledercouches entlang der Wände lümmeln sich ein paar Sushi essende und chillende Pärchen. Ein Plasmascreen zeigt die triumphale Wiederwahl Barack Obamas und seine Rede danach: „The best is yet to come.“ Der Mann an der Bar lacht, dann sinkt sein Kopf nach vorn, er wäre beinahe eingenickt. Voller Zorn brüllt der Mann: „The WORST is yet to come.“ Vor ihm steht ein leeres Whiskyglas. Ein paar Gäste in der Bar nehmen verängstigt Abstand ein. Mit einem leichten Kopfnicken bedeutet der Barkeeper dem bulligen Reinlasser Acht zu geben auf den Mann, der in diesem Moment ein weiteres Whiskyglas leert. Er ist an diesem Abend von Vernissage zu Vernissage gelaufen und hat sich vor wenigen Minuten auf der Toilette der Bar mehrere Lines Koks gelegt. Das Herz des Mannes hämmert in einem harten, brutalen Takt, hochgepuscht von der Droge, er atmet schwer. Eigentlich sollte ihn all das ängstigen. Doch der Mann weilt in Gedanken ganz woanders, tief in der Vergangenheit. Als Kind wollte ich nur staunen und spielen, stattdessen gab es so vieles zum Fürchten, denkt er, und ihm ist, als sei dies so seit anfangsloser Zeit. Und Robert, so heißt der Mann, erinnert sich. Daran, wie das Grauen über ihn und in sein Leben kam.

Im Jahr des Drachen

Vergangenheit, 60er Jahre, Hongkong. „La-la-la-Lalalalala…“, trällerte Robert Windhorst. Der sechsjährige Junge – dunkelblonde Augen, braune Haare und eine für sein Alter normale Figur – stand vor einem großen Panoramafenster im 32. Stockwerk eines mondänen Appartementhochhauses an der Queen Road im Zentrum der britischen Kronkolonie. Er trug einen hellen Leinenanzug. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass aus solchen Jungs später etwas werden würde. Anders als aus den armen Chinesen, deren Häuser sich hinter den Wolkenkratzern an die Hügel der Stadt schmiegten. Von denen viele in engen, von Armseligkeit geprägten Gassen schufteten, ohne je in einem der prachtvollen Häuser wie die Windhorsts leben zu dürfen.

„So ein Anzug ist wie ein Versprechen auf eine goldene Zukunft, denn er steht für Bildung und deinen Stand. Du wirst eine bevorzugte Schule besuchen und Karriere machen“, hatte seine Mutter ihm nicht nur einmal gesagt. Robert Windhorst hatte es nicht wirklich verstanden, aber er fand, es klang außerordentlich gut.

Die Wohnung seiner Eltern, die beide nicht zu Hause waren, bot einen überragenden Blick auf das Treiben in der Metropole. Robert war allein mit seinem Au-pair. Weischo, eine überschlanke und dezent geschminkte Frau Mitte 20, war mit dem Abwasch beschäftigt.

„Weischooo, haben wir noch Erdnussbutter?“, rief Robert in Richtung der Küche, aus der leises Klimpern von Tellern sowie gedämpfte Musik zu hören war. Aus dem Radio, das auf der Anrichte der riesigen Wohnküche stand, dudelten Bob-Dylan-Songs.

„Einen Moment, Robert. Ich mache dir gleich ein Brot …“ Wenig später brachte sie ihm zwei Erdnussbutterstullen.

Verträumt betrachtete der Junge die an- und ablegenden Fähren, Passagierschiffe, Dschunken und Lastkähne im Victoria Harbour. Über die Queen Road tief unter ihm bewegte sich eine Prozession Hunderter Chinesen, die eine riesige Drachenfigur aus Pappmaschee mit sich schleppten.

Von den Geräuschen außerhalb des Appartementhauses war nichts zu hören. Die Laute wurden von dem Brummen der Klimaanlage übertönt, die wegen der tropisch-schwülen Luft auf Volllast fuhr. Während Robert an der Panoramafront entlangschritt, glitt seine Hand über das Fensterglas. Die kleinen Finger hinterließen auf der Scheibe feine Schlieren von der Erdnussbutter. Fasziniert verfolgte er, wie ein Flugzeug in einer verwegenen Linkskurve über die Häuserdächer einschwebte und zur Landung auf dem nahen Kai-Tak-Airport ansetzte. Da hörte er plötzlich das Au-pair etwas rufen. Es klang wie: „Bang-baa-baiiiii.“ Weischo hatte irgendetwas in dem kleinen Monitor neben der Gegensprechanlage gesehen, das ihr nicht gefiel. Dennoch drückte sie den Türsummer, der den Eingang 32 Etagen tiefer freigab.

Robert hatte nicht zu dem Bildschirm geguckt. Er verließ sich ganz auf das Au-pair, das ihn und seine Schwester, sie war noch im Internat, betreute.

Zehn Minuten später stand Roberts Vater, Friedrich Windhorst, in der Eingangstür des Appartements. Friedrich, der ein gut aussehender Mann von sportlicher Statur war, vertrat eine große deutsche Bank. Er hatte, das erkannte Robert sofort, Alkohol getrunken, viel Alkohol. Friedrichs Gesicht war stark gerötet, sein Blick war glasig, die Augen starr und empfindungslos nach vorne gerichtet. Auf dem Revers seines hellen Leinen-Sakkos prangte ein lang gezogener Fleck.

Schleppenden Schrittes kam Friedrich heran. Wie hypnotisiert starrte er auf die feinen Schlieren von Erdnussbutter an der Panoramascheibe. Stumm zeichnete er die Spuren mit seinen eigenen Fingern nach, dabei lief er an dem Fenster auf exakt demselben Wege entlang wie sein Sohn wenige Minuten zuvor. Als er am Ende der Erdnussspur angelangt war, die dort nur noch aus der Nähe zu erkennen war, hielt Friedrich inne. In seinem Blick lag eine schier grenzenlose Aggression. Immer wieder bleckte er sich mit der Zunge über seine Lippen.

Ganz langsam lief der Junge nun rückwärts.

„Tut mir leid, Vater. Ich werd‘ es auch nie wieder tun, ich verspreche es dir.“ Robert sagte nie ‚Papa‘, sondern nur ‚Vater‘.

„Du musst nichts versprechen, nein, das musst du nicht, Bengelchen“, sagte Friedrich, dann riss er seine Aktentasche hoch und warf sie mit aller Kraft, zu der er in seinem Zustand fähig war, in Roberts Richtung. Aber die Tasche verfehlte ihn. Der Junge hatte sich geistesgegenwärtig rechtzeitig hinter einem Barcelona-Sessel in Deckung gebracht. Die Tasche prallte stattdessen gegen eine Stehlampe, die mit einem lauten Scheppern umfiel. Der Lampenschirm aus teurem Porzellan zerbarst in zahlreiche Bruchstücke. Ungläubig starrte Friedrich auf die Scherben.

„Das hast du zu verschulden, du Nichtsnutz. Duuu …“, schrie Friedrich. Er rannte auf Roberts Unterschlupf zu und packte den Jungen. Er schlug zu, und um Robert herum wurde es dunkel.

Waschen, waschen, ja Vater, ich bin dreckig und mache alles dreckig, bitte nicht mehr …, kein Schmerz, bloß das nicht, ich will auch alles tun. Und ich verrate nichts.

„Schong-wang-hoo, bao… Schong-wang-hoo, baooo..!!!“ Das Kreischen des Au-pairs hatte Friedrich in seiner Raserei gestoppt. Er schien kurz zu überlegen, schaute raubtiergleich zu ihrer Haushaltshilfe, dann zu Robert, der mit verdrehtem Oberkörper auf dem Boden lag und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden wälzte. „Du hast es so gewollt, du … musstest mich ja herausfordern“, brüllte Friedrich, der nun breitbeinig über Robert stand. Minutenlang verharrte er in dieser Position, schnaufend wie ein Büffel. Seine schwarzen Haare, die sonst immer akkurat nach hinten gegelt waren, hingen nun wie ein überlanger Pony vor seinen Augen. Speichel tropfte aus seinem Mund auf Robert herab, der sich bemühte, möglichst still dazuliegen. Es half. Friedrich hatte das Interesse verloren. Er strich sich die Haare nach hinten und richtete sich dabei auf. Sein Blick streifte kurz das Au-pair, das daraufhin verängstigt wegschaute. Friedrich zeigte auf die junge Frau: „Du … du!“ Dann ging er zum Schlafzimmer. Mit einem Krachen fiel die Tür hinter ihm zu.

Friedrich hielt inne. Da war doch noch was, ein kleiner Vorrat, den er jetzt dringend brauchte. Zielstrebig ging Friedrich auf den Schlafzimmerschrank zu. Hektisch zog er ein Podest heran, das er brauchte, um an die oberen Fächer heranzukommen. Er stieg hinauf, schob einen Stapel seiner khakifarbenen Hemden beiseite, dann hatte er gefunden, wonach er suchte. Eine Flasche mit 15-jährigem Jack Daniel’s. Zitternd setzte er sie an und trank sie fast halb leer. Dann versank er in grüblerischen dunklen Gedanken.

Wenn das Bübchen mir noch mal dumm kommt, kann es was erleben. Der Balg, seine dumme Schwester und diese Pute von Frau, die ich im umnebelten Zustand geheiratet habe, nehmen mir meine Freiheit. Das lasse ich nicht zu. Ihr werdet eine Überraschung erleben, wenn ihr mir meine Freiheit nehmen wollt, dann …

Als Roberts Mutter Renée nach Hause kam, fiel ihr das Au-pair weinend in die Arme. Stockend schilderte sie, was vorgefallen war. Renée wirkte fahrig, an ihrem Hals und auf ihrem Dekolleté, sie trug stets elegante Kleider, die ihre sportliche Figur betonten, hatten sich rote Flecken gebildet. Fassungslos betrachtete sie die Prellungen und Schürfwunden ihres Sohnes. An ihren Schläfen traten nun die Venen hervor. Nach Minuten des Schweigens verlor sie die Beherrschung, sie lief zum Schlafzimmer, rüttelte an der Tür wie eine Furie und schrie, so laut sie konnte. „Was hast du getan, was hast du nur getan? Ich bringe dich um, wenn du meinem Sohn noch einmal wehtust.“ Dann verfiel sie in ein haltloses Schluchzen.

Robert betrübte es, seine „Supa-Mama“ weinen zu sehen. Sie war für ihn die schönste Frau der Welt. Französinnen, das hatte er gehört, galten ohnehin als schön, und wenn dem so war, dann war seine Mutter auch die schönste Französin. Er wusste, wie er sie aus seinen trübseligen Gedanken locken konnte. „Mama, darf ich dich noch schöner machen?“

„Ach du“, Renée lächelte und wischte die Tränen weg, Robert nutzte es.

„Ich zupfe dir deine Augenbrauen, okay? So bekommst du die sooo schön geschwungen wie bei dieser Gina Lola …, äh, oder die Französin, die fast so schön ist wie du, Brigitte, äh …“ Robert guckte verdrießlich, er konnte sich einfach keine Nachnamen merken.

Der Lärm und die Streitigkeiten bei den Windhorsts blieben anderen nicht verborgen. Paul Kowalsky, „Retired Officer“ eines britischen Highlander-Batallions der Royal Army, der mit seiner Geliebten das Appartement neben Friedrichs Familie bewohnte, hatte sich gerade einen Kaffee zubereitet, als er merkwürdige Geräusche aus der Klimaanlage hörte. Sie war alt und übertrug alle möglichen Laute aus dem Haus, fast wie ein Verstärker. Kowalsky hatte sich deshalb schon mehrfach bei der Hausverwaltung beschwert, aber sie hatte nichts unternommen. Die Geräusche erinnerten den Ex-Soldaten an das entfernte Klatschen eines schweren Gegenstandes, und er meinte, auch Schreie gehört zu haben, eine hohe Stimme, die eines Kindes. Nach etwa einer Viertelstunde war der Lärm verklungen. Es war nicht das erste Mal, dass er Ähnliches aus der Nachbarwohnung gehört hatte.

Kowalsky, dessen Vater aus Polen stammte und in der polnischen Exilarmee gegen Hitler gekämpft hatte, ging mit seiner Kaffeetasse ins Schlafzimmer. Er sah sich selbst als neugierigen Menschen und nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen, später. Jetzt musste er sich erst mal um seine Freundin Bai-Li kümmern. Sie lag auf dem Bett und lächelte ihn verführerisch an. Es würde schön sein, das wusste er.

Mit einer leichten Migräne erwachte Kowalsky am nächsten Tag, es war schon früher Vormittag. Er bereitete sich ein Frühstück zu, Bai-Li schlief noch, dann zog er sich an. Kowalsky tat immer noch so, als trüge er eine Uniform, stets mit Binder, frisch gebügeltem Hemd und Jackett, ein Soldat im Ruhestand. Noch ein prüfender Blick in den Spiegel, er wollte nicht unordentlich vor seiner Nachbarin stehen, dann verließ er seine Wohnung und klingelte nebenan. Es dauerte Minuten, bis jemand öffnete. Renée stand mit verweinten Augen vor ihm. Im Hintergrund erblickte Kowalsky das Aupair, das verängstigt zur Tür geschaut hatte. Sie schien erleichtert, ihn zu sehen, das sah er mit einem Blick. In seiner Armeezeit war er als Aufklärer tätig gewesen, er wusste Situationen einzuschätzen.

„Was ist passiert?“ Mehr als dieser Frage bedurfte es nicht. Renée warf ihre Arme um seine Schultern und weinte sich aus. Sie erzählte ihm alles und sparte nicht mit Details. Er wünschte, sie hätte es. Kowalsky schlug ihr vor, Friedrich mit ein paar pensionierten Armee-Freunden „anständige“ Umgangsformen beizubringen. Aber Renée lehnte ab, sie hatte Angst.

„Paul, ich weiß nicht, wozu er imstande ist, wenn wir danach wieder mit ihm allein sind. Es ist lieb, dass du an uns denkst, aber das würde in die Katastrophe führen. Das spüre ich …“

„Dann rede wenigstens mit seinen Vorgesetzten oder verständige die Polizei, zeige ihn an. So geht es jedenfalls nicht weiter.“

„Ja, sicher … Danke noch mal, Paul. Ich muss mich hinlegen, entschuldige, ich komme kaum zum Schlafen, weißt du …“

Als Renée auf dem Bett lag, weinte sie bitterlich. Sie hatte mit der Couch im Wohnzimmer Vorliebgenommen, um Friedrich nicht zu sehen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Eigentlich müsste ich heute ausziehen, nur wohin soll ich flüchten und womit? Meine Eltern würden mich für eine Versagerin halten: „Seht her, sie hat es nicht geschafft, sie konnte ihre Ehe nicht bewahren.“ Und wie konnte ich überhaupt diesen Trinker heiraten?

Während sie darüber nachdachte und doch zu keinem Entschluss fand, dachte Robert in seinem Bett darüber nach, warum Renée Mister Kowalsky in letzter Zeit oft mit dem Vornamen anredete, auch hatte er bemerkt, dass ihre Blicke füreinander inniger geworden waren, Blicke wie sie sich doch nur Erwachsene zuwarfen.

Renée wusste nichts von Roberts Gedanken, sie mochte Paul Kowalsky, aber mehr als Freunde würden sie nicht werden, es war einfach nicht der rechte Zeitpunkt dafür, und schließlich hatte er eine Freundin. Konzentrier dich!

Sie hatte einen Vorsatz gefasst: Sie würde mit Friedrichs Chefs reden. Sie zermarterte sich den Kopf. Wie kann ich die Kinder nur vor weiterem Schaden bewahren? Aus dem Liegen heraus verfolgte sie, wie die Sonne hinter dem Gebäude der Bank of China unterging, dann schlief sie ein.

Kowalsky ging zu seiner Wohnung zurück. Das Gespräch hatte einen mulmigen Eindruck bei ihm hinterlassen. Die Situation bei den Windhorsts schien sich zuzuspitzen, davon war er überzeugt. Er nahm sich vor, ein Auge auf die Vorgänge in der Wohnung nebenan zu haben, er mochte Renée und ihre Kinder. Er hatte zu Weihnachten ein paarmal für sie den Weihnachtsmann gemimt. Auf das Klingeln einer kleinen Glocke hin, die Renée von ihrem Vater geerbt hatte und mit der auch dieser zur Bescherung gebeten hatte, war Kowalsky mit Geschenken unter den Armen vor Renées Kinder getreten. Er hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte in dieser Familie, vor allem mit dem Vater, der eigentümlich fern wirkte.

Eine Sendung im Radio unterbrach Kowalsky in seinen Gedanken. Ein aufgeregt klingender Nachrichtensprecher meldete, dass England Geheimgespräche mit China über die Rückführung der britischen Kronkolonie an das kommunistische Land führen wolle. Zwar dementierte London, aber Kowalsky traute dem nicht. Der Ex-Soldat schüttelte den Kopf und das zu meinen Lebzeiten!, dann nahm er sich einen O-Saft aus dem Kühlschrank und ging zu Bai-Li. Dieses süße Muttermal unterhalb ihrer linken Schulter musste nur mit ein paar Küssen eingedeckt werden und schon würde sie sich maunzend umdrehen und…

„Na, meine Kleine …“ Er küsste sie leidenschaftlich, sie drehte sich zu ihm.

„Wo warst du denn?“ Bai-Li lächelte ihn an.

„Ich habe nur, ähm, bei unserer Nachbarin … gefragt, ob etwas nicht stimmt. Ich meinte, ihren Jungen schreien gehört zu haben. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Schlaf noch ein bisschen, meine Süße, oder wollen wir …?“ Er streichelte ihre Wange.

In Gegenwart von Bai Li sprach Paul Kowalsky nur von „der Nachbarin“, wenn es um Renée ging. Für ihn war klar, dass er noch öfter vorbeischauen musste, bis Renée schließlich einwilligte, etwas zu unternehmen. Sie sprach mit dem Abteilungschef der Bank für das Südostasiengeschäft. Der Manager war oft bei ihnen zu Hause zum Essen gewesen, und der Mann mochte sie. Er hatte ihr sogar einmal bei einem Essen angedeutet, dass er bereitstünde zu helfen, falls Friedrich gänzlich den Halt im Leben verlöre, aber noch hielt Renée zu ihrem Mann. Deshalb ging sie auch nicht auf die Avancen des Bankers ein, sie sparte jedoch nicht mit Details aus ihrem Eheleben. Eigentlich hätte es dessen kaum bedurft, denn Friedrich fiel nun immer öfter aus, was genug über seinen Zustand erzählte.

Irgendein bedeutendes Geschäft musste in Friedrichs Abwesenheit fehlgeschlagen sein, erzählte Renée Jahre später. Jedenfalls wurde Friedrich und mit ihm seine Familie wenige Wochen nach dem Vorfall nach London versetzt, in eine untergeordnete Dienststelle.

Sie wohnten nun in einem Townhouse in Hampstead, eine gutbürgerliche Gegend, von der Robert später nicht mehr viel wusste, als dass dort viele putzig anmutende Häuser standen, und dass sie an einer Straße wohnten, die von einem halben Dutzend roter Telefonzellen gesäumt wurde. Irgendwie meinte er auch, sich an den Weg zur U-Bahn zu erinnern, mit der er ein paarmal zusammen mit Renée in die City gefahren war, aber darin war er sich nicht mehr so sicher. Woran er sich aber genau erinnerte, war, dass Friedrich auch dort seinen Vorlieben und Süchten nachgab. Er besuchte regelmäßig Clubs und Pubs in Londons Amüsierviertel Soho oder in Camden und blieb am Morgen darauf seinem Job weiterhin oft fern, oder er kam zu spät zu seinem Arbeitsplatz, meist in einem desolaten Zustand. Ein halbes Jahr später war es deshalb auch aus mit dem Job in London. Sie zogen um nach Hamburg. Roberts Vater war erneut degradiert worden.

99er-Oktan

1969, im Wohnhaus von Roberts Eltern in Hamburg-Eppendorf. Tief in der Nacht.

Robert saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Etwas Großes stand bevor, das ahnte er. Zunächst zeigte das Fernsehbild nur Schlieren und Grieskornmuster. Dann gewann das Bild an Schärfe. Graugesichtige Männer deuteten auf ebenso graue Monitore, sie sprachen über den „Planetenraum“ – und meinten das Weltall. Es war die umständliche Sprache der deutschen Raketeningenieure, die einst in Peenemünde für Hitler arbeiteten und nun in Alabama und Texas Triebwerke und aerodynamische Studien konzipierten und damit Amerikas Hoffnungen in Technik packten, um die Ersten zu sein beim Überschreiten der „new frontiers“ im All. Und die grauen Männer lauschten in die Lautsprecherknöpfe hinein, die sie im Ohr trugen, und kommentierten Bilder auf flimmernden Monitoren und verstummten plötzlich. Ein Mann in einem weißen drallen Anzug war nun im Fernsehen zu sehen. Er hüpfte von einer Leiter auf eine grau gepuderte Kraterlandschaft hinunter. Ein Sprung wie in Zeitlupe, befreit von aller Erdenschwere.

„It’s one small step for men, but a giant leap for mankind.“ Der Mann war Neil Armstrong, der erste Mensch auf dem Mond.

Verwundert verfolgte Robert, wie die Astronauten eine Fahne ausklappten, die zu flattern schien, obwohl die graugesichtigen Ansager doch gesagt hatten, auf dem Mond gebe es keinen Wind. Überhaupt stimmte einiges ganz und gar nicht. Warum hüpften die Ballonmänner, und selbst ihr kleiner Jeep, der über eine drollige Antenne verfügte, hob bei jedem Buckel, den er überquerte, ab. Fast so, als wolle er allein zurück zur Erde sausen. Befreit von aller Schwerkraft. Sollte er seinen Vater fragen? Robert entschied sich dagegen. Schließlich kannte er seinen Vater, und heute war überhaupt nicht der Tag, ihn zu stören. Das erkannte Robert ganz klar. Und auch das: Was immer er auch täte, es wäre aus Friedrichs Sicht immer eine Störung.

Robert blickte während der Liveübertragung vom Mond immer wieder zur Seite. Friedrich saß nur wenige Meter entfernt in einem Fernsehsessel, den man in die verschiedensten Positionen bringen konnte. Friedrichs Beine ruhten auf einem ausklappbaren Polster, die Kopfstütze war stark zurückgelehnt, sein Gesicht war von Robert fort gewandt. Auf dem Tisch vor Friedrich stand fast ein Dutzend leerer Bierflaschen, neben seinen Füßen lagen zwei Flachmänner mit Wodka sowie eine Weinflasche – es war sein Treibstoff in jedem Sinne, höchste Klopfzahl, sein 99er-Oktan.

„Die Jungs können’s“, lallte Friedrich. Er hatte in dieser Nacht sehr viel getrunken und Probleme, überhaupt noch das Fernsehbild zu erkennen. Ein Mediziner hätte gesagt, der Visor des Mannes sei eingeschränkt, aber es gab viel mehr bei Friedrich Windhorst, das eingeschränkt war. Er schlurfte jetzt zu dem Fernseher, schaltete das Gerät aus und legte eine Schallplatte mit düsteren russischen Gesängen auf.

Ängstlich schaute Robert zu Friedrich. Die russischen Choräle, die nun durch das Wohnzimmer schallten, verdüsterten für gewöhnlich Friedrichs Stimmung um weitere gefährliche Quäntelchen des Zorns, das wusste Robert. „Unser Vater ist ein Idiot“, hörte Robert seine fünf Jahre ältere Schwester Pheline flüstern. Feli, wie ihr Kosename lautete, saß neben ihm. Robert zupfte leicht am Ärmel ihres Pyjamas, um ihr zu bedeuten, dass es nun besser war, ein strategisches Absetzmanöver anzutreten. Aber er hatte die Rechnung ohne seinen Vater gemacht. Mit einem schnellen Griff, den sie Friedrich nicht zugetraut hatten, griff der zu einem Latschen und schmiss ihn mit voller Wucht in ihre Richtung. Weder fluchte er dabei, noch sagte er etwas. Robert rannte mit Pheline aus dem Zimmer.

Als die beiden Kinder unter Roberts Bett lagen – es war ein schweres Bett, unter das sie sich stets flüchteten, wenn Friedrich tobte – betrachtete Robert seine Schwester eingehend. Kleine Tropfen Schweiß hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Langsam kullerten sie an ihren Schläfen herab.

„Ist ja gut, ich bin ja bei dir, Feli“, sagte Robert, während er mit einer Hand den Rücken seiner Schwester umklammerte und sie mit der anderen streichelte. Er fand, dass sie sich beunruhigend heiß anfühlte, wie jemand, der fieberte.

„Meinst du wirklich, alles wird gut?“

Feli zitterte nun, was Robert noch wütender auf seinen Vater machte. Denn das Mädchen war ein Geschenk. Sie hatte eine hohe Stirn und sah aus Roberts Sicht verdammt clever aus. Irgendwie hätte sie gut in ein Märchen gepasst, die kindliche Kaiserin, die über ein Märchenland herrschte. Mit Elfen und Zaubern und natürlich auch mit ihm, an ihrer Seite, neben dem Thron. Seine Aufgabe wäre es gewesen, einen zu ihr passenden Jüngling auszuwählen. Aber natürlich wäre diese Suche nie abgeschlossen worden. Denn niemand verdiente seine Schwester, so schön und klug sie war. An ihre Stirn, dachte Robert, während er Feli leicht im Nacken kraulte, hätte gut ein Diadem gepasst. Die Kindkaiserin und das Diadem, Robert dachte, dies wäre ein Supertitel für ein Kinderbuch. Vielleicht sollte er doch kein Maler oder Forschungsreisender werden, sondern Buchautor, später, wenn die Situation besser wäre, als sie war. Renée hatte einmal gesagt, das Leben sei ein Raum der Möglichkeiten. So richtig hatte Robert den Sinn ihrer Worte nicht verstanden, aber aus der Betonung schlussfolgern können, dass sie Großes bedeuteten und richtig und wichtig waren, und dass er es verstehen würde, später, wenn es an der Zeit war, und die Zeit würde kommen, darin war er sich sicher. Dann wurde Robert aus seinen Gedanken gerissen.

„Wir müssen uns etwas überlegen“, sagte seine Schwester, die sich nun wieder gefangen hatte, „so geht es nicht weiter.“ Robert sah es genauso. Die Geschwister schlossen einen Pakt. „Niemals werden wir uns im Stich lassen, egal, was Vater auch tut“, sagte Pheline, Robert nickte. Das war der Tag, an dem er wusste: Es würde nie Sicherheit für sie geben, solange sich nichts bei ihnen zu Hause änderte. Oder solange sie nicht groß genug wären, um etwas zu unternehmen. Etwas, das sie wieder friedlich schlafen lassen würde. Aber zunächst blieb dies eine Hoffnung. Denn das Grauen fing erst an.

Als immer neue Astronauten über den Mond hüpften und amerikanische Bomber vietnamesische Wälder mit Entlaubungsmittel eindeckten, quälten Robert oft Albträume. In einem von ihnen stürzte er stets von einem Hochhaus, raste dem Boden entgegen, schlug auf und erlitt stets furchtbare Schmerzen, bevor es schwarz um ihn wurde. Sein anderer Traum war das genaue Gegenteil. Mit der Kraft seiner Gedanken konnte Robert die Schwerkraft neutralisieren und riesige Sprünge vollführen, sogar in der Luft schweben. Dann schauten alle zu ihm hoch, in seinem Traum.

Die Bestie lief in ihrem Gefängnis umher seit einer Ewigkeit. Doch etwas hatte sich geändert. Ihre Herren hatten ihr etwas versprochen: Nahrung. Sie würde einen Seelentopf vorgesetzt bekommen und sie würde sich eine Seele daraus aussuchen dürfen. So lautete das Versprechen. Und ihre Lefzen tropften.

Schreckensträume

Robert schnellte aus dem Schlaf nach oben, er fieberte, hatte die Masern, doch deshalb war er nicht aufgewacht. Aus Richtung der Küche hatte er ein lautes Krachen gehört, gefolgt von einem Quietschen und Knarren, als ob jemand mit aller Gewalt Möbel verrücken würde. Robert wollte keine Details wissen, er tauchte unter seine Decke ab und zitterte am ganzen Körper. Im Nachbarzimmer sagte Feli irgendeine Art von Gebet auf.

„Bitte, bitte Vater, tu …“ Den Rest verstand Robert nicht.

Am nächsten Morgen drangen aus dem WC-Raum würgende, wimmernde Laute. Schließlich öffnete sich die Tür. Friedrich trat heraus, sein Gesicht war kreidebleich und von Schmerzen verzerrt. Feli stand in der Diele und schaute ihren Vater wortlos an, der sich mit kreisenden Bewegungen und Stöhnen den Bauch rieb. Er lehnte an der Dielenwand, als müsse er Kraft für ein entscheidendes Unternehmen gewinnen, dann gab er sich einen Ruck und setzte sich kommentarlos zu seiner Familie an den Frühstückstisch.

Mit ihnen am Tisch saß Amelia, Friedrichs Mutter, die sie im Abstand von 14 Tagen besuchen kam. Ob Friedrich dies gut fand, war nicht zu erkennen. Stumm saß er am Tisch. Sein Gesicht kündete von finsteren Gedanken.

Amelia hatte Kartoffelpuffer und Arme Ritter, in Eigelb und Milch eingeweichte Brötchen zubereitet, die gebraten wurden und die man, je nach Geschmacksrichtung, mit Süßem bestreichen konnte.

„Das hab ich oft gegessen, Kinder, als ich mit eurem Papi in Hamburg im Luftschutzkeller saß“, sagte sie und zwinkerte Renée zu.

„Oh Gott, lass das, bitte, in Hongkong haben wir …“, sagte Renée, vollendete den Satz jedoch nicht, weil Friedrich bei der Erwähnung Hongkongs kurz aufgezuckt war und im Anschluss eine noch düstere Mimik gezeigt hatte.

Robert wollte den Vater aus seiner dunklen Gedankenwelt reißen. Der Junge entschied sich für eine Frage, die ihn schon länger beschäftigt hatte. „Haben Autos einen Raketenantrieb? Da kommen doch hinten keine Flammen raus …“

Friedrich sagte nichts, sondern blickte nur starr geradeaus. Robert schob eine weitere Frage hinterher.

„Wie bin ich auf die Welt gekommen, Vater?“

„Ich hab dich in einem Laden gekauft. Ich dachte: der, ein neues Auto oder das Stück Käse, das ich in einer Auslage hatte liegen sehen? … Hab mich halt für dich entschieden.“ Friedrich grinste, als habe er einen besonders guten Witz gerissen. Dann stand er auf, ging in den Flur, zog eine Flasche aus seiner Jacke, die am Garderobenständer hing, nahm einen großen Schluck daraus und ging dann ins Wohnzimmer, wo er sich mit ächzenden Geräusch in den Fernsehsessel fallen ließ. Er blieb den Rest des Tages dort sitzen, unterbrochen nur durch seine Gänge zur Toilette.

„Ihr Lieben, ich lass euch dann mal allein, will noch ins KaDeWe, was einkaufen“, sagte Amelia und gab Friedrich einen Kuss auf die Stirn. Den anderen am Frühstückstisch winkte sie kurz zu, ohne sie jedoch wirklich angesehen zu haben, dann war sie fort.

Wenn man schon mal in Berlin war, musste man auch ins KaDeWe, zumal, wenn man schönes Essen und erlesene Düfte mochte, so wie Amelia. Friedrichs Mutter hastete in das Kaufhaus, besuchte kurz den Stand von Chanel und fuhr dann in die Gourmetabteilung. Am liebsten mochte sie die Fischabteilung. Sie wusste nicht weshalb, aber dies war schon so gewesen, als sie das erste Mal das berühmte Kaufhaus besuchte. Vor den Bassins mit den Hummern blieb sie stehen. Amelia sah einem Fischverkäufer zu, der neue Lobster in das Bassin setzte. Aber so richtig war sie nicht bei der Sache, sie ärgerte sich über Renée. Sie schadet meinem Friedrich. Sicher, mitunter ist er zu streng. Aber sie hat ihn halt oft provoziert …

Amelia rief sich zur Besonnenheit. Sie starrte auf einen Hummer, dessen Tentakel erst an der Scheibe des Bassins entlangglitten und nach einer spontanen Wendung in dem Behältnis einen Artgenossen abtasteten. Wenn du seiner Karriere schadest, dann…

Für Friedrich Windhorst schien die Abwesenheit seiner Mutter ein imaginäres Signal zu sein, aus seiner Passivität zu erwachen und Renée und den Kindern etwas zu verkünden, das dringend zu erledigen war.

„Ich könnte mir vorstellen …, dass …“ Er begann den Satz mehrmals, ohne ihn jedoch zu beenden. Lange starrte er auf ein Foto, das in einem großen Stellrahmen im Wohnzimmerschrank stand und seine Familie in freundlich vereinter Pose vor dem Gebäude der Admiralität in Hongkong zeigte.

Wieder war es, als ginge ein Ruck durch Friedrich, als habe er einen Entschluss gefasst, er beendete nun den wenige Minuten zuvor begonnenen Satz: „Ich könnte mir vorstellen, mit allem Schluss zu machen.“ Während er dies sagte, blickte Friedrich empfindungslos geradeaus, in ein namenloses Irgendwo, vorbei an seiner Frau und seinen Kindern.

Renées Gesicht, die ihren Ehemann jahrelang vergöttert und deshalb geflissentlich über dessen Sucht und zunehmenden Aussetzer hinweggesehen hatte, verlor auf Anhieb die für sie typische gesunde Farbe. Phelines Gesicht war bereits schneeweiß, und Robert saß regungslos auf seinem Stuhl. Das Stück Puffer, das er wenige Sekunden zuvor auf eine Gabel gespießt und zum Mund geführt hatte, blieb unangetastet. Kühl musterte er seinen Vater, es war nicht zu erkennen, was der Junge dachte oder fühlte. Die folgenden Stunden jedenfalls vergingen, ohne dass Weiteres geschah, das Grund zur Besorgnis gegeben hätte. Aber dabei würde es nicht bleiben.

Es wurde Nacht, und wieder dröhnte ein Rumpeln und Knirschen wie von splitterndem Holz durch die Wohnung, gefolgt von einem langen Schrei.

„Was war das, wer hat da gebrüllt?“, rief Robert zu Pheline, die bereits seit Längerem wach schien. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und blickte zu der Tür, die die Kinderzimmer vom Flur der Wohnung trennte. Seine Schwester pendelte mit dem Oberkörper vor und zurück.

„Mhhh, mhhh …“ Pheline bekam keinen anderen Laut heraus, sie zitterte am ganzen Körper und lutschte am Daumen. Robert traute seinen Augen nicht. Seine Schwester, die älter war als er, lutschte am Daumen? Das konnte nicht sein. Aber er wagte es nicht nachzuschauen, was sie derart beunruhigte. Ganz langsam zog er seinen Teddy an sich und schlief, als es gefährlich still geworden war, wie er fand, in dieser Haltung ein. Wie im Fieberwahn wälzte er sich hin und her.

Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, das schloss Robert aus dem von keinen morgendlichen Sonnenstrahlen überblendeten Licht der trübe dahinfunzelnden Straßenlaternen, als jemand an seiner Schulter rüttelte.

„Ist ja gut, ist ja gut.“ Seine Mutter stand neben ihm. Sie lächelte ihn an. Ihre linke Augenpartie war von herabfallendem Haar überschattet. Ein dunkler Fleck prangte unter dem linken Auge, es ähnelte einem Clownsauge, dachte Robert, nur war es nicht geschminkt.

Renée lachte ihn an, dann öffnete sie die oberste Schublade des Nachtisches, der neben Roberts Bett stand. Sie zog ein großes Buch und las ihm eine Geschichte über Zwerge vor. Es war seine Lieblingsgeschichte. In ihr reisten ein paar Zwerge auf einem Baumstamm über einen Wildwasserbach reitend durch einen mystischen Wald voller Geheimnisse. Sie suchten ihren Anführer, der verschollen war, außerhalb ihrer Welt, in dem Land ohne Wald, das sie nur aus Sagen kannten.

Als Renée ihm vorlas, nuckelte Robert an seinem Daumen. „Dafür bist du zu alt, Robert, lass‘ das“, sie schnitt einen Knopf von ihrem Morgenmantel ab, „wenn du den in deiner Hand hältst, bin ich immer bei dir.“

„Lässt du das Licht an, Mama? Mac’h bitte nicht die Tür zu.“

„Schlaf, mein Kleiner, schlaf.“

„Mama, was ist mit deinem Auge?“

„Es ist nichts …“

„Aber Mama, wir müssen mit Feli weggehen, bitte, bitte, nur weg von hier …, ich habe solche Angst.“

„Dir wird nichts passieren, mein Kleiner, glaub mir …“

Als Renée das Zimmer verlassen hatte, bückte er sich zu dem kleinen Schränkchen neben seinem Bett. Er zog ganz leise die oberste Schublade auf. In ihr lag ein Knopf von Renées Morgenmantel. Robert nahm ihn heraus, seine kleine Kinderhand umschloss den Knopf, ganz fest, so war Renée bei ihm, immer, auch wenn sie fort war. Über ihm, an der Deckenlampe, hing ein Lampion mit einem Clownsgesicht. Langsam drehte sich die Clownslampe um ihre Achse. Robert fand, dass er etwas fies aussah, aber sein Teddy, der auf dem Fensterbrett saß, lächelte, ein gütiges, freundschaftliches Teddybärenlächeln, und selbst in der Nacht leuchteten seine kleinen weißen Goofy-Handschuhe, die er Teddy übergezogen hatte. Eine Weile lang schaute er noch auf seine Zehenspitzen, die unter dem Bettzeug hervorlugten, dann schlief er ein.

Am nächsten Morgen ahnte Robert, dass alles unverändert war.

Friedrich saß fast reglos auf einem Stuhl, auf dem Tisch vor ihm lag ein kleiner, geleerter Flachmann. Renée schmierte Schulbrote. Die Kinder schauten ängstlich zu Friedrich, darum bemüht, möglichst keine Geräusche zu machen. Robert und Feli waren jederzeit bereit, sich wegzuducken, falls ihr Vater … Doch Friedrich blickte emotionslos aus dem Küchenfenster. Er beachtete seine Familie nicht und ließ, wie fast immer, das Frühstück unangetastet. Dann kleidete er sich an und ging. Genauso wortlos wie er am Tisch gesessen hatte.

„Ich habe ein Spiel für mich entdeckt, um dem zu entkommen“, eröffnete Robert Pheline nach der Schule, „ich träume mich in Träume hinein.“ Robert versuchte, es Feli zu erklären, doch sie verstand ihn nicht. Ein Wissenschaftler hätte es vielleicht folgendermaßen erklärt: Robert entrückte sich in eine Parallelwelt, in der es keinen Vater gab. Nur Formen, Farben und Traumfiguren. Mit ihnen, das versuchte Robert nun Pheline zu erklären, war er ein Bündnis eingegangen. Die Figuren unterhielten ihn, und er verriet sie nicht. Das Tagtraumland war seine innere Klause, ein unangetastetes, unbeflecktes Refugium für kindliche Spiele. Ein Ort ohne jedwede Notwendigkeit eines Gedankens an Flucht. Dort wollte Robert, ganz im Gegensatz zu seiner tristen Realität, nicht enteilen, sondern nur bleiben.

In seiner Traumwelt flog er auf dem Rücken eines Urvogels über namenlose Schelfmeere, die vor Jahrmillionen existierten. Tief unter ihnen, auf den grünen Ebenen der Urkontinente, grasten Saurier. Ein anderes Mal fuhr er mit einem Balsafloß über den Pazifik, trotzte allen Stürmen und aller Gischt, steuerte das Floß am Ende erfolgreich über ein gefährliches Riff in die sichere Lagune. Es waren Träumereien. Sie gaben ihm einen Hafen, bis die Wirklichkeit die Träume vertrieb.

Robert hatte gerade in seinem Lieblings-Comic „Rex Dany“ geschmökert, als mit einem lauten Knall die Wohnungstür aufflog. Friedrich war spät von seinem Job heimgekommen. Eine lange blutige Schramme prangte auf seiner Stirn, das Jochbein war blau und angeschwollen.

„Was hast du wieder getan, hast du keinen Respekt vor unseren Kindern, und wo ist das Haushaltsgeld?“, rief Renée. Friedrich beachtete sie nicht, taumelte durch den Wohnungsflur geradewegs auf das Schlafzimmer zu und riss dabei die Porzellanskulptur eines roten Drachen um, die ein britischer Diplomat ihnen in Hongkong geschenkt hatte. Robert flüchtete sich in sein Kinderzimmer. Im Nebenzimmer saß Feli, sie pendelte wieder mit dem Oberkörper: „Mhmh-mhhh, MHHH-mhhhhh.“ Ihre Augen waren verdreht.

„Feli, deine Augen … sie sind … ganz weiß.“ Robert duckte sich weg.

Friedrich haute die Schlafzimmertür hinter sich zu und schloss die Tür ab. Er war froh, dass er es nach Hause geschafft hatte. In einer Kneipe hatte es Streit mit zwei anderen Männern gegeben. Einer von ihnen hatte ihn verfolgt. Es war zu einer Schlägerei gekommen, wobei er ausgerutscht und sich diese verdammte Schramme am Kopf zugezogen hatte. Friedrich rieb sich über die Stirn, die Wunde war noch nicht ganz getrocknet. Eigentlich hätte sie genäht werden müssen, aber Friedrich dachte an anderes. An allem sind diese Bälger und diese Pute von Frau schuld. Sie wollen meinen Untergang. Aber wenn ich untergehe, gehen sie mit mir unter.

Am nächsten Morgen packte Robert seinen Ranzen. Er drückte Renée schnell noch einen Kuss auf die Wange, „bis nachher, Supah-Mama!“, dann machte er sich auf den Weg zur Schule.

Renée hauchte ihm lachend einen Kuss hinterher, als er sich noch einmal nach ihr umdrehte. Robert gab ihr Kraft, das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden. Einen Grund weiterzumachen …

Renée hatte ihm angeboten, ihn zu begleiten, aber er hatte abgelehnt. Er wollte sich von seinen Schulkameraden nicht vorwerfen lassen, ein Muttersöhnchen zu sein. Auch von seinen Problemen zu Hause wollte Robert sich nichts anmerken lassen. Er agierte wie ein Roboter, schaute im Unterricht kaum nach rechts und links, folgte den Ausführungen der Lehrer selbst dann noch, wenn alle Schüler um ihn herum wild kreischten. „Ordnung ist ganz, ganz, ganz wichtig“, sagte er zu seinem Klassenlehrer, Herrn Schelper, und lächelte ihn scheu an.

„Ist alles bei dir zu Hause gut?“, fragte Schelper. Robert nickte artig.

Herrn Schelper beschäftige das Verhalten des Jungen. Er wird immer stiller, wirkt verängstigt und eingeschüchtert, da stimmt etwas nicht. Roberts Klassenlehrer war entschlossen, dies im Lehrerkollegium anzusprechen.

Den schönen Sommern jener Zeit folgten schneereiche Winter. Doch Robert konnte sie nicht genießen. Er ging auf Abstand zu den Klassenkameraden und Kindern in seiner Nachbarschaft, wann und wo immer es ging. Als er sich später an diese Zeit zurückerinnerte, konnte er nicht mehr sagen, ob er Freunde hatte und wenn ja: wie viele. Er war damit beschäftigt zu überleben. Er half Renée im Haushalt, wenn Friedrich fort war und sich betrank. Er befeuerte den Ofen, brachte den Müll weg, harkte den Rasen im elterlichen Garten und arbeitete die Hausaufgaben mit derselben Ordnung ab, mit der ein Soldat vor dem morgendlichen Antreten seinen Spind aufräumt.

An einem unscheinbaren Nachmittag nahm Robert eine Schere und schnitt aus alten Tageszeitungen Buchstaben heraus. Er spielte mit ihnen, kombinierte immer neue Wortkombinationen. Ein Schnipselwort überdauerte alle anderen. Es lautete: VA-TER-F-ALL.

Gegenwart. Die Großen aus Hollywood sind da. Überall. Vor den Hotels, in den angesagten Restaurants, manchmal auch im KaDeWe oder den Galeries Lafayette. Filmstars laufen durch Berlin und posieren an den roten Teppichen der Premierenkinos. Denzel Washington lacht in die Kameras. Schauspielerkollege Edward Norton sitzt bei der Fashion Week in der ersten Reihe. Robert war dabei gewesen, hatte neben den flirrenden Absperrbändern gestanden und geguckt und geklatscht. Nun sitzt er in der Berlin-Mitte-Bar und trinkt Whisky nach Whisky, erinnert sich und weint. „Hey, Mann, kann ich dir helfen?“, fragt der Barkeeper. „Geh‘ lieber nach Hause. In so einer Stimmung sollte niemand ausgehen … „

„Bitte noch einen, for to go …“

Allein mit Caruso

Eppendorf, Anfang der 70er Jahre, das Elternhaus. Zwei Männer standen vor dem Wohnhaus von Roberts Eltern. Sie klingelten. Renée öffnete, bat die Männer ins Haus und schickte Robert in sein Zimmer.

„Kleiner, spiel doch ein bisschen. Das ist jetzt was nur für Erwachsene.“

Aber Robert dachte gar nicht daran, er lauschte hinter der Tür.

Einer der Fremden sagte: „Frau Windhorst, wir kennen einander nicht. Ich bin seit, ähm, einiger Zeit, der … Vorgesetzte Ihres Mannes, und ich will ehrlich sein: Ihr Mann schafft seinen Job nicht mehr, schon lange nicht mehr. Wir haben in der Führung der Bank … über den Fall geredet und nach einer Möglichkeit gesucht, ihm noch eine Chance zu geben, … ohne ihn zu kündigen. Wir haben eine Stelle in West-Berlin …“

„Schon wieder ein Umzug … und ein Abstieg. Ich hab zwar Geld zurückgelegt, aber … was soll aus uns nur werden, den Kindern?“

Nun redete der andere Mann, er ging nicht direkt auf Renées Worte ein: „Es ist zwar nicht mehr die Stelle eines Direktors oder Filialleiters, aber doch immerhin eine Stelle. Sehen Sie: Ihr Mann kam seit Monaten nur noch unregelmäßig ins Büro, darüber können wir nicht …“

„Aber er ist doch jeden Morgen zur Arbeit gegangen.“

„In der Hauptfiliale in Berlin ist der Posten des stellvertretenden Leiters zu besetzen. Unter den gegebenen Umständen … Es gibt auch andere Bewerber, und es ist die einzige Option, die Ihrem Mann bleibt, die einzige, ohne gekündigt zu werden. Wir haben dies nur getan, weil … Ihretwegen und wegen der Kinder.“

„Immerhin kenne ich die Stadt. Mein Vater hat dort gearbeitet“, sagte Renée leise und mehr zu sich selbst, als gelte es, sich Mut zu machen, sich einzustimmen auf das Unvermeidliche, das kommen würde, so oder so, das war ihr klar.

Der Alkohol, das Böse, so viel verstand Robert, hatte vollends Macht über seinen Vater gewonnen. Der kleine Junge wollte nicht mehr hören, was die Erwachsenen besprachen. Er rannte in sein Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und warf sich auf sein Bett. Über ihm drehte sich träge der Lampion mit dem Clownsgesicht. Es sah so traurig aus, fand Robert.

„Lach doch, lieber Clown, mach, dass es mir gut geht.“

Etwa eine halbe Stunde später hörte er das Zufallen der Wohnungstür, die Männer waren fort, und Tage später auch die vertraute Umgebung Hamburgs. Sie zogen nach Düppel, ein Ortsteil im Süden West-Berlins, unweit der Mauer zur DDR.

Ihr neues Heim, ein schlichtes, aber relativ großes Reihenhaus, dessen Einliegerwohnung im Erdgeschoss Friedrich Windhorst aus Kostengründen an eine andere Familie vermietet hatte, hielt keinem Vergleich mit ihren Unterkünften in London, Hamburg oder Hongkong stand. Aber es war bedeutend billiger, was Renée zu der Annahme verleitete, dass die Familie auch diesen Abstieg verkraften und Friedrichs Trinkschulden in den Bars und Kneipen irgendwie würde kompensieren können. Doch was sie bisher erlebt hatten, war nichts anderes als ein klägliches Vorspiel zu dem, was noch folgen sollte.

Nachbarsblicke

Hermine Dieterich wohnte im angrenzenden Reihenhaus neben den Windhorsts. Die Häuser stammten aus den 30er Jahren, Siedlungsbauten, die eine Bank für ihre Angestellten errichtet hatte. Die Häuser besaßen zur Straße hin kleine Vorgärten, dahinter lagen die eigentlichen, viel größeren Gärten, in denen manche ihrer Besitzer neben Zierpflanzen auch Obst und Gemüse anbauten. Zwei Häuser standen immer neben einander, Brandwand an Brandwand, sodass man manchmal mithören konnte, wenn jemand im benachbarten Haus laut wurde. Hermine Dieterich war nie zu hören. Sie war Rentnerin, deren Mann, ein Beamter, bereits vor einigen Jahren gestorben war. Sie lebte nun von seiner Pension und hatte tagsüber nicht viel mehr zu tun, als ihre Goldfische zu pflegen und sich über so manches in ihrer Umgebung Gedanken zu machen, über die Windhorsts etwa. Irgendetwas, darin war sich die Seniorin sicher, stimmte ganz und gar nicht mit dem Mann, der vor Kurzem in das Nachbarhaus mit seiner Frau und Kindern – unerhört nette Kinder, wie sie fand – eingezogen war. Zwar sah der Mann, wie sie fand, immer adrett gekleidet aus, aber die Art und Weise, wie er lief, passte nicht zu der äußeren Erscheinung, da war sie sich sicher. Der Mann bewegte sich wie ein Automat, man konnte es kaum beschreiben, aber die Art und Weise seines Ganges hatte etwas Maschinenhaftes, Erzwungenes, Kontrolliertes. In ihm war kein Gefühl, keine Natürlichkeit, und sie konnte das doch beurteilen, denn sie und ihr Mann Hermann waren leidenschaftliche Tänzer gewesen, bis er eines Tages bei einem Standardtanz-Wettbewerb vor ihr umgefallen war, einfach so. Seither hatte Frau Dieterich viel Zeit. Sie nahm sich vor, den neuen Nachbarn einen Teil ihrer Freizeit zu widmen.

Spätabends an Heiligabend im Haus der Windhorsts. Es hatte Gänsebraten gegeben, von dem Robert zu viel und zu hastig gegessen hatte. Es dauerte nicht lang, da überkam ihn eine massive Übelkeit. „Mama, ich muss mal zur Toilette, darf ich aufstehen?“

Renée schaute besorgt und nickte.

„Natürlich, mein Sonnenschein!“

Friedrich blickte desinteressiert zur Decke, als habe er nichts gehört. Aber er hatte alles gehört, und es schien ihm nicht zu gefallen. Die Finger seiner linken Hand trommelten hart auf dem Tisch.

Robert erwiderte den Blick mit einem missglückten Lächeln, legte Serviette und Besteck neben seinen Teller. Er stand auf, darum bemüht wenig Krach zu machen, denn nichts hasste sein Vater mehr als Krach, dann lief er leise zum Bad. Aber er schaffte es nicht bis dorthin. Noch vor der Badezimmertür landete sein Teil des Gänsebratens auf dem Boden der Diele. Und als ob es an Ungemach noch nicht reichte, hatte Friedrich wenige Meter hinter ihm drohend Position bezogen.

„Hast gedacht, kommst mit der Schweinerei einfach so davon, Bengelchen, was? Dabei kennst du doch die Strafe für Unordnung.“ Friedrich zog den Gürtel aus dem Hosenbund. Er ließ ihn durch seine Hände gleiten. Renée schrie etwas, aber das hörte Robert schon nicht mehr.

Tschak, tschak, tschak.

Waschen, ich werde mich waschen, Vater, ich verspreche es dir, es kommt nie wieder vor.

„Hilf … ahhh …“

Niemand hörte die Schreie.

Neben der Tagträumerei war das Schlafen Roberts Mittel der Flucht. Er dachte, in den schier endlosen Ebenen dieses Asyls würde ihn die Kälte Friedrichs nicht erreichen. Und mochte sie auch dessen Währung sein, in seinen Zufluchtsstätten besäße sie keinen Wert, glaubte Robert, er irrte.

Das Leben erschien ihm eigenartig. „Was sollen wir auf dieser Welt, wo sich doch unser eigener Vater nicht um uns schert, und wie kommt es, dass Mutter immer noch zu ihm hält?“, fragte er Feli.

„Ich weiß nicht“, antwortete seine Schwester und schaute traurig in Richtung ihrer lädierten Lieblingspuppe. Sie hatte sich mehrfach eine neue gewünscht, aber keine bekommen. Renée hatte ihren Kindern eröffnet, dass Friedrichs Trinkschulden bei seinen Saufkumpanen und Kneipenwirten mittlerweile in die Tausende gingen und dass sie deshalb sparen müssten. Stets versteckte sie Geld, damit Friedrich es nicht in Alkohol umsetzte, verspielte oder anderes mit dem Geld tat, über das ihre Mutter nur vage Andeutungen machte.

Mithilfe ihres Vaters, der als Diplomat durch die halbe Welt gereist war, organisierte sie sich einen Halbtagsjob bei einer Reiseagentur. Gegen neun Uhr, wenn Friedrich wochentags zu seiner Arbeit gegangen war, eilte sie zu ihrem Job, und lange bevor er aus seinem Büro heimkehrte, war sie zurück.

„Ich habe einen kleinen Nebenjob, aber das ist unser Geheimnis, hörst du? Du darfst Papa nix davon sagen.“

„Ja, versprochen, du bist doch meine Supah-Mama.“ Robert nickte.

Wenn er schulfrei hatte, saß er oft starr auf seinem Bett und blickte aus dem Fenster in den Himmel, fast wie eine Puppe, stundenlang.

„Das Kind ist so passiv, da stimmt doch was nicht. Malt er denn nicht, er wollte doch mal Maler werden, hat er das nicht einmal erzählt, oder bringe ich da was durcheinander?“ Eine Jugendfreundin seiner Mutter war vorbeigekommen. Argwöhnisch taxierte sie Robert. Er hatte aus Bounty-Schokoriegelpackungen Pappstreifen gesammelt und fertigte aus ihnen eine Rampe mit Loopingfunktion für seine Matchbox-Autos.

„Der Junge wirkt sehr in sich gekehrt. Vielleicht solltest du ihm ein Musikinstrument kaufen“, riet die Tante.

Renée nahm den Rat an und kaufte Robert eine Trompete und engagierte einen Studenten, der Robert das Spielen beibringen sollte. Es hatte sein Interesse an der Musik geweckt. Oft saß er nun vor einer großen Telefunken-Truhe, die im Nierentischdesign gestaltet war. Sie enthielt eine Auswahl kleiner und großer Schallplatten, akkurat in Schlitzfächern verstaut, senkrecht und stets griffbereit für die Hebelapparatur, die auf Knopfdruck zunächst die gewünschte Platte auf den Drehteller hob und dann langsam den Tonabnehmer auf sie herabsenkte.

Hinter einer Glasscheibe in der Mitte der Truhe war ein Inhaltsverzeichnis der Platten angebracht, hinter jedem Titel ein Buchstabe und eine Zahl. Seine Lieblingstastenkombination war die C 3, der Radetzky-Marsch, ein großes Dschingderassasa. Robert liebte die Musiktruhe. Staunend las er die Namen, die in der Mitte der LPs und Singles abgedruckt waren: Ravel, Caruso, Callas, Schostakowitsch, Smetana, Haydn. Die Truhe war ein Schatz, sein Nibelungenschatz. Er liebte das Wort. Erst vor wenigen Tagen hatte er eine Hörbuchplatte aus dem Europaverlag mit der Siegfriedsaga gehört. Sein Gold, darin war sich sicher, das waren die Platten aus der Truhe, mit ihren wunderbaren Melodien, die ihn träumen ließen, wenn er allein war, und er war gern allein.

„Das ist so schön. Ich brauche gar keinen Papa“, sagte Robert. Er weinte dabei.

Friedrich fiel nun immer öfter in seinem Job aus, mitunter kam er gar nicht nach Hause, andere Male erst, wenn Robert und seine Schwester Feli bereits längst schliefen. Wenn er jedoch zur Arbeit ging, dann akkurat gescheitelt und in seinem besten Anzug.

„Wie kann so jemand eigentlich arbeiten?“, fragte Robert Feli, die in ihrem Bett lag. Sie antwortete nicht. Er wollte sie trösten und ging zu ihr. Doch Feli drehte sich abrupt fort, er sah warum: Seine Schwester hatte ins Bett gemacht.

Am nächsten Morgen brach Feli ungewöhnlich früh auf. Sie fuhr mit der S-Bahn zum Bahnhof Wannsee, umrundete die Station und betrat auf der gegenüberliegenden Seite wieder das Bahngelände. „Mama, sei nicht böse. Mama, Robert, seid mir nicht böse …“, sagte sie leise, während sie ihren linken Ballerinaschuh auf die Schiene tippen ließ. Sie wartete, auf einen Zug. Es kamen viele. Aber sie zögerte. Feli nahm sich vor, Robert nichts von ihrem kleinen Ausflug zu erzählen.

Hey, Dany

Es war Roberts großer Tag, es hatte Zeugnisse gegeben, und seine Noten waren gut ausgefallen. Im Arm hielt er eine große Tüte mit Süßigkeiten, seine Belohnung. Renée, Roberts Patentante und Friedrichs Mutter Lini, die SPD-Genossen bis 1945 bei sich in einer Mädchenkammer versteckt hatte und so vor dem Tod im KZ bewahrte, standen vor der Schule. Friedrich fehlte.

Am Nachmittag, es war zu früh, als dass er in der Bank gearbeitet haben konnte, kam Friedrich schwer betrunken nach Hause. Er polterte, randalierte und sprach Unverständliches. Als er sich in der Küche setzen wollte, verfehlte er den Stuhl und krachte zu Boden.

„Ich hasse dich“, brüllte Robert, so laut er konnte. Friedrich würdigte ihn keines Blickes.

Wenig später kehrte auch Renée heim. Sie hatte eingekauft und war krampfhaft bemüht, ihr Bürooutfit vor Friedrich zu verbergen. Die Vorsicht war unnötig. Er wandte sich gelangweilt ab und verschwand im Schlafzimmer. Es polterte noch einmal kurz, dann war nur noch sein Schnarchen zu hören, was Renée erleichtert aufatmen ließ.

„Wie konntest du nur diesen Mann heiraten?“, fragte Robert.

„Ich habe ihn geliebt, liebe ihn vielleicht noch, da hat man keine Wahl.“

„Aber Mama, das klappt doch hier alles nicht, siehst du das nicht …?“

„Es wird, mein Kleiner, hab Geduld. Wir müssen ihm noch eine Chance geben.“

Robert schaute grimmig.

„Aber Mama, er hatte so viel Zeit, sich zu ändern.“ Robert ging in sein Zimmer.

Er hatte etwas mit seiner Schwester zu besprechen: „Wir müssen uns überlegen, wohin wir flüchten können, wenn es mit Vater gar nicht mehr geht.“ Während Robert dies sagte, erzitterte plötzlich das Haus seiner Eltern. Alles vibrierte, die Gardinenstangen, das Porzellan und die Schallplattentruhe und selbst Roberts Teddy, der zur Seite kippte. Diesmal hatte Robert keine Angst, er kannte das Geräusch. Amerikanische Panzer rollten über das Kopfsteinpflaster. Sie kamen von ihrem Übungsplatz im Süden Berlins und fuhren zurück zu ihrer Kaserne. Robert rannte auf die Straße und riss seine kleinen Hände hoch, zum Gruß den Zeige- und Mittelfinger gespreizt, das Victory-Zeichen.

Die Soldaten winkten zurück. Viele von ihnen waren Farbige. Robert bewunderte ihre perfekten Uniformen und ihre strahlend weißen Zähne. An jedem 4. Juli feierten die GIs vor ihrer Kaserne den Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten. Die Berlin-Brigade der Amerikaner stand Spalier. Auf den Tribünen standen die Stadtkommandanten und West-Berlins Bürgermeister. Davor die Truppenfahnen und jene der Bundesstaaten. Der riesige Platz hieß nun auch Platz des 4. Juli, dabei war er einer ganz anderen Zeit entsprungen, war Teil einer von den Nazis geplanten Autobahn gewesen, der „Vierte Ring“, wie ihn die Nazis genannt hatten. Er sollte Teil eines gigantischen Autobahnringes werden, die Hitlers Architekt Albert Speer um die Hauptstadt des „Dritten Reiches“, Germania, errichten wollte. Dies hatte Robert von Friedrich in einem jener wenigen lichten Momente erfahren, in dem sein Vater mit ihm geredet hatte. Robert hatte nicht alles davon verstanden, aber er war sich sicher, dass die meisten Gis auch nicht wussten, wo sie nun standen, mit ihren blank polierten Helmen und ihren prächtigen Uniformen.

„Utaaah, Nebraskaaa, North Dakotaaa, Wyoming, Arkansas … and the territories of Puerto Rico, Hawaii …“, hallte es markig aus den Lautsprechern über den Kasernenvorplatz und die angrenzenden Kleingärten. Es folgten Salutschüsse und das Dröhnen schwerer Militärflugzeuge, die von der Frankfurt Main Airbase einschwebten. Die Deutschen mussten nicht um Erlaubnis gefragt werden, der Luftraum gehörte den Alliierten. Die Russen zeigten, was sie davon hielten, und ließen ihre MIG-Jäger über West-Berlin die Schallmauer durchbrechen, es krachte gewaltig und war eine Botschaft: Vergesst uns nicht, wir sind auch da. Es war die eiskalte Phase des Kalten Krieges.

Am 4. Juli 1971 schnappte sich Robert sein Fahrrad und fuhr zu der Paradestrecke. Es gab dort Süßes für Kinder, Candy. Geduldig wartete er das Ende der Parade ab, pfiff jemand laut. Robert schaute in die Richtung. Ein US-Sergeant rief: „Hey boy, so alone? Come to me, Dany.“

Robert blickte skeptisch zu dem Soldaten hinüber, der einen Streifen Kaugummi in der Hand hielt und mit diesem werbend herumwedelte.

„Hey, boy, don’t be that shy!“ Robert riss dem GI den Kaugummi aus der Hand, stieg auf sein kleines Fahrrad und radelte hastig fort.

Er war noch einen Häuserblock von der Wohnung seiner Eltern entfernt, als ein Junge seine rasante Fahrt blockierte. Er sah nicht aus, als wollte er spielen.

„Willst du dich rollen?“

„Was meinst du?“

„Das hier …“ Der andere Junge, der zwei Köpfe größer war, warf sich auf Robert und prügelte los. Robert erkannte, dass er gegen diesen Gegner keine Chance hatte. Und so tat er, was er schon oft getan hatte, wenn er etwas Falsches getan hatte und Friedrich den Gürtel zog. Er stellte sich tot und steckte ein und träumte sich hinweg und gab vor, als spüre er nichts.

Lieber Gott im Himmel, lass es bitte schnell vorübergehen und mach, dass es hinterher nicht wieder so wehtut, das kannst du doch, oder?

Der andere Junge ließ ab von ihm. Er musterte Robert, der auf dem Boden lag wie eine tote Beute, dann schüttelte er den Kopf und ging pfeifend fort. Robert erzählte Renée und Feli nichts davon, es blieb sein Geheimnis.

Gegenwart. Milliardär und Kunstsammler Nicolas Berggruen ist in Berlin, er hat ein paar Häuser gekauft, berichtet der Nachrichtendienst Twitter. Vor der Mitte-Bar, in der Robert an seinem Absacker nippt, sind zwei Autos zusammengeprallt. Der Türsteher der Bar rennt zu dem Wagen und ruft: „Ist jemand verletzt worden?“ Robert dreht sich phlegmatisch um. In diesem Moment betreten zwei Tänzerinnen der Friedrichstadtpalast-Compagnie die Bar. „Eine Runde für die Girls, geht aufs Haus“, sagt der Barkeeper. Eine der Tänzerinnen heißt Marielle. Der Name erinnert Robert an eine Begegnung in seiner Kindheit.

Verstaubte Gedichte

Marie brachte den Zauber in sein Leben. Sie wohnte gegenüber und war einige Jahre älter als er. Manchmal tanzte sie auf dem Rasen vor Roberts Haus, drehte kleine Pirouetten, während er sie schüchtern durch den Türspion oder den Schlitz für die Hauspost beobachtete. Ein anderes Mal saß Marie nur auf der Treppe am Eingang des Hauses und spielte mit ihrem Terrier Dodie. Robert fand Marie umwerfend schön und wurde stets rot, wenn sie ihn ansprach, und das tat sie gern. Auch an diesem Tag.

„Na, wie geht’s dir heut?“

„Geht so“, Robert schaute zu Boden

Aus dem Radio dröhnte Musik der Beatles „All my trouble seemed so far away“ und „Hey, You, All you need is Love …“. In Roberts Kinderzimmer tanzte Marie, die Au-pair-Dienste bei Robert übernahm, wenn Renée arbeitete, auch diesmal. Paul McCartney und John Lennon waren Maries Stars. Seine würden David Bowie mit Heroes und die Eagles mit Hotel California sein, später.

„Kannst du für mich tanzen?“, fragte Robert leise. Marie lachte, er drehte sich weg.

„Mach ich.“ Und sie tanzte.

Er genoss Maries Anblick, doch seine Freude an ihren Hüftschwüngen wurde jäh unterbrochen.

Seine Eltern kehrten, was selten der Fall war, in diesem Moment Zeit heim. Sie mussten schon auf der Straße eine Auseinandersetzung gehabt haben, das erkannte Robert sofort. Renée schrie Friedrich an: „Was hast du mit dem ganzen Geld gemacht, wovon sollen wir die Miete zahlen? Bist du verrückt, hast du den Verstand verloren, willst du, dass ich mit den Kindern fortgehe, willst du das? Überleg es dir gut!“

Es war so laut, dass Robert das Gespräch noch aus 20 Meter Entfernung hätte verfolgen können. Friedrich brüllte etwas zurück, schloss sich eine Viertelstunde später mit einer Wodkaflasche im Badezimmer ein. Dann wurde es still, unheimlich still.

Renée trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür. „Ich kann so nicht mehr leben, mach‘ eine Entziehungskur, dir und uns zuliebe.“

Robert kannte die Bedeutung des Wortes nicht, er wartete auf eine Reaktion seines Vaters, vergebens. Eine halbe Stunde später verließ Friedrich das Bad, keuchte, stützte sich auf einem Schmutzwäschekorb ab, der jedoch unter seiner Last nachgab. Erst Minuten später raffte sich Friedrich auf, was der Korb mit einem Knirschen seiner Stäbe aus Bast quittierte. Friedrich wankte zu seinem Bett.

„Ich geh dann mal“, sagte Marie und flüchtete sich aus der Wohnung. Sie kam nie wieder.

Friedrich redete nach dem Vorfall nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Es lag nicht daran, dass er nicht wollte, denn einst liebte er die Sprache. Davon zeugten Gedichte, die Robert in einer verstaubten und hinter einem Kamin deponierten Aktentasche auf dem Dachboden gefunden hatte, als er mal wieder mit seiner Plastiksoldatenarmee spielen wollte, für die er aus Zeitungsknüllpapier, Tapetenkleister und Miniatur-Kunststoffmoossträuchern eine Landschaft mit deutschen Tigerpanzern und Atlantikbunkern nachgeahmt hatte, durch die er amerikanische Sherman-Panzer rollen ließ.

Robert war fast zufällig über die Tasche gestolpert, die unauffällig hinter einer Schachtel mit abgehängtem Lametta und Christbaumkugeln stand und die prall gefüllt war mit Gedichten, getippt auf einer Olympia-Schreibmaschine, auf Durchschlagpapier mit blauer Kopierfolie dazwischen. Einige der metallischen Buchstabenhebel hatten Löcher in das Durchschlagpapier gestanzt. Aufgeregt kletterte Robert mit seinem Fund die Klapptreppe vom Dachboden zu ihrer Wohnung hinunter und rannte dann zu seiner Schwester.

„Vielleicht wollte Vater daraus mal ein Buch machen, was meinst du?“ Er kramte einige der Zettel aus der Tasche hervor und hielt sie seiner Schwester direkt unter die Nase.

Aber Feli antwortete nicht einmal, so wie meist neuerdings, ja sie guckte die Schreiben nicht einmal an. Robert bereitete das große Sorgen. Seine Schwester wurde immer schweigsamer, stotterte bisweilen und litt unter Ess-Störungen. Renée würde etwas unternehmen müssen, er würde noch heute mit seiner Mutter darüber reden. Aber zunächst galt es, die Lage zu sondieren. Robert lugte um den Türpfosten ins Wohnzimmer.

Friedrich saß in seinem Fernsehsessel und füllte Kreuzworträtsel aus, sonst schrieb oder las er nur noch wenig. Meist brütete er vor sich hin.

Robert unternahm einen Vorstoß und sprach seinen Vater auf die Gedichte an. Der Moment schien günstig, denn Friedrich war fast nüchtern. Vor ihm stand nur eine leere Bierflasche.

„Vater, warum liest du nicht mehr, warum schreibst du nicht mehr, all die Gedichte auf dem Dachboden …“

Bei dem Wort „Gedichte“ war Friedrich zusammengezuckt, dann wandte er sich Robert zu.

„Du hast in meinen Sachen geschnüffelt?“ Mit einem Ächzen drückte sich Friedrich aus seinem Sessel empor.

„Ich wollte nicht, Vater, wollte nicht … ganz bestimmt nicht. Ich werde auch nie wieder …“

„Ich werde auch nie wieder, niiie wiiieder“, äffte ihn Friedrich mit einer völlig hochgedrehten und entstellten Stimme nach, „natürlich wirst du nie wieder, dafür sorge ich schon.“

Ganz langsam zog sein Vater den Gürtel aus der Hose, faltete diesen in der Mitte, schlug das doppelbündige Leder in die geöffnete linke Hand.

Tschak, tschak, tschak.

Friedrich lachte.

„Strafe muss sein, Rotznase. Hast es dir verdient.“

„Vater, das ist nur der Alkohol. So bist du nicht.“

Robert rannte in sein Zimmer, nahm seinen Teddy in den Arm und hechtete unter sein Bett.

Lieber Gott, wenn es einen Weg aus dieser Hölle gibt, dann bitte zeig ihn mir doch, dachte er, dann stand Friedrich in der Tür. Er grinste immer noch, und seine Augen waren kalt und leer und dunkel.

„Du kleiner Scheißer, ich weiß, wo du bist.“

„Aber, Vater …“

Dunkelheit und Schmerz.

Hört mich denn niemand, so hört doch…