Faule Fische fängt man nicht - Christiane Franke - E-Book + Hörbuch

Faule Fische fängt man nicht Hörbuch

Christiane Franke

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Beschreibung

«Es muss nicht Sylt sein, in Neuharlingersiel passiert doch auch genug.» Dora Heldt Frühling in Neuharlingersiel: Bei einem Malkurs auf dem Steffens-Hof stellen die Teilnehmer zur Begrüßung ihr Lieblingsbild vor. Karin Müller hat ein Ölgemälde aus der Küche ihrer Oma dabei, das verdächtig an van Gogh erinnert. Eine Kopie? Karins Oma ist schließlich keine Kunstsammlerin und vermögend schon mal gar nicht. Kursleiter Conrad ist sich trotzdem sicher, dass es echt ist. Zum Entsetzen aller ist Karin am nächsten Tag tot. Ermordet. Als kurz darauf auch Conrad stirbt, glauben Rosa, Rudi und Henner nicht an einen Zufall und beginnen, der Sache auf den Grund zu gehen. «Ich liebe diese Reihe!!!» Gisa Pauly

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Zeit:6 Std. 59 min

Sprecher:Tetje Mierendorf

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Christiane Franke • Cornelia Kuhnert

Faule Fische fängt man nicht

Ein Ostfriesen-Krimi

 

 

 

Über dieses Buch

Malen, Mord und mieses Karma

Frühling in Neuharlingersiel: Bei einem Malkurs auf dem Steffens-Hof stellen die Teilnehmer zur Begrüßung ihr Lieblingsbild vor. Karin Müller hat ein Ölgemälde aus der Küche ihrer Oma dabei, das verdächtig an van Gogh erinnert. Eine Kopie? Karins Oma ist schließlich keine Kunstsammlerin und vermögend schon mal gar nicht. Kursleiter Conrad ist sich trotzdem sicher, dass es echt ist. Zum Entsetzen aller ist Karin am nächsten Tag tot. Ermordet. Als kurz darauf auch Conrad stirbt, glauben Rosa, Rudi und Henner nicht an einen Zufall und beginnen, der Sache auf den Grund zu gehen.

 

«Ich liebe diese Reihe!!!» Gisa Pauly

Vita

Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihren gemeinsamen Projekten mit Cornelia Kuhnert schreibt sie weitere Krimis und Romane, die im Emons Verlag und im Goya Verlag erscheinen.

 

Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.

 

Neben ihrer Bestsellerserie um Henner, Rudi und Rosa veröffentlichen die Autorinnen bei rororo eine Krimireihe um Heißmangelbetreiberin Martha Frisch, die in den Fünfzigerjahren in Leer ermittelt.

Mehr über die Autorinnen unter: www.kuestenkrimi.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

Coverabbildung Igor Stevanovic; Michelle Willeter/mauritius images; Shutterstock

ISBN 978-3-644-01622-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Prolog

Was für ein herrlicher Frühlingstag. Der Himmel ist blau, nur ein paar Wolkenfetzen werden vom Wind Richtung Meer getrieben. Draußen ist es zwar frisch – das Thermometer zeigte vorhin gerade fünf Grad an –, aber drinnen ist es behaglich warm. Friedrich König legt ein weiteres Holzscheit auf das flackernde Kaminfeuer, setzt sich in seinen Lehnsessel und greift erneut zu dem Ausstellungskatalog, in dem er schon geraume Zeit blättert. Max Beckmann. Eine wunderbare Ausstellung haben die in München auf die Beine gestellt. Er hätte längst einmal wieder dorthin fahren sollen. In den Ort seiner Studienjahre. Der großen Unbeschwertheit. Aber er findet einfach nicht die Zeit dafür. Seine Arbeit nimmt ihn zu sehr in Anspruch. Dabei ist er genau genommen schon im Rentenalter. Aber es ist gar nicht so einfach, einen Nachfolger zu finden.

Es klingelt an der Tür. Nanu, Besuch? Er runzelt die Stirn. Danach ist ihm nun gar nicht. Er liebt es, in aller Ruhe vor dem flackernden Feuer zu sitzen.

Es klingelt erneut.

Widerwillig steht er auf und geht zur Tür.

Er lächelt, als er sieht, wer ihn besucht. «Was für eine Überraschung! Komm rein! Ich hab dich ja ewig nicht mehr gesehen!»

Freitag, zwei Wochen später

Henner Steffens wischt sich den Schweiß von der Stirn, nachdem er die beiden Stühle vom Dachboden runtergewuchtet, in die Scheune getragen und an den großen Tisch zu den anderen gestellt hat. Ursprünglich ist nur von sieben Teilnehmern die Rede gewesen. Und – schwups – sind es jetzt neun. Der Kursleiter kann wohl nicht richtig zählen. Aber Muddern stört das nicht, zwei der Teilnehmer kommen ja aus der Gegend und übernachten nicht in den neuen Pensionszimmern auf dem Hof.

Anfangs hat sie noch in Erwägung gezogen, die Malgruppe abends zu bekochen, doch zum Glück hat Vaddern ihr das ausgeredet. Vollverpflegung haben sie genau ein Mal angeboten. Beim Wintergast. Und der hat das total ausgekostet. Das macht er nicht noch mal mit, hat Vaddern gesagt und gedroht, er würde sonst in einem der Gästezimmer schlafen. Das wollte Muddern dann doch nicht, auch wenn sie sich immer über Vadderns Schnarchen beschwert.

«Das ist mega! So authentisch!» Eine aufgedrehte männliche Stimme dringt an sein Ohr, und Henner hebt den Kopf. Vom Sonnenlicht geblendet, sieht er eine große, schlanke Silhouette im weit geöffneten Tor stehen. Über den langen Haaren tanzen Staubpartikel in der Luft. «Ich kann die Kühe fast riechen!»

Das wüsste Henner aber. In diesem Stall stehen schon seit Jahren keine mehr. Und wenn, wäre er mit seiner extremen Kuhhaarallergie nicht hier.

«Das ist echt der Hammer!» Eine junge Frau tritt neben den Mann. Sie ist fast so groß wie er, ebenso begeistert und hat wunderschöne lange blonde Haare, die lockig auf ihre Schultern fallen. Der Typ hingegen ist ein freakiger Künstlertyp und wirkt deutlich älter als sie. Mit dem Aussehen könnte der bei den Festspielen in Oberammergau glatt den Jesus geben. Henner hat erst kürzlich einen Dokumentarfilm darüber gesehen, weil Muddern sich für so’n Kram interessiert. «Und guck mal den Tisch an! Der ist echt irre! Ideen muss man haben!»

Henner betrachtet das Möbelstück und schüttelt den Kopf. Das sind einfach nur dicke Eichenbohlen auf zwei ausrangierten Holzkabeltrommeln. Was ist denn daran irre?

Nun betreten die beiden den Stall und sehen sich um, ohne Henner wahrzunehmen. Liegt wohl daran, dass es schummrig ist und sie aus dem grellen Sonnenlicht kommen.

«Wow!» Der Langhaarige klingt begeistert. «Spürst du den Spirit dieses Raumes? Die Vibrations?»

Einen Moment herrscht Stille. Henner überlegt schon, was er dazu sagen soll, da klatscht die Frau in die Hände. «Oh ja. Es ist absolut spacig. Das wird ein super Event. Du hattest mal wieder den richtigen Riecher.» Ihr umherschweifender Blick bleibt an Henner hängen. «Ups.»

«Moin», sagt der.

In diesem Moment stürmt seine Obermieterin Rosa Moll wie ein Rauschgoldengel durch das Scheunentor. Ihr folgen zwei mit Koffern bepackte Frauen in wallenden Klamotten. Eine klein und rund, die andere etwas größer.

«Conrad, wie schön, dich wiederzusehen.» Rosa sprintet auf den Langhaarigen zu und fällt ihm um den Hals.

«Rosa! Wie ich mich erst freue.» Der Kerl küsst Rosa rechts, links und dann wieder rechts auf die Wange. «Du siehst unglaublich gut aus, meine Liebe. Die Nordseeluft muss ein wahrer Jungbrunnen sein.»

«Ach, Conrad, du alter Schmeichler.»

Damit hat Rosa den Nagel auf den Kopf getroffen, der Typ erscheint Henner nicht ganz koscher. Überhaupt gefällt ihm diese innige Begrüßung nicht. Das trieft ja alles vor Schmalz. «Ich geh dann mal», murmelt er. «Hast du die Brote fürs Abendessen mitgebracht?»

Rosa hat mindestens eine Scheibe zu viel gegessen, aber das bedauert sie nicht. In Gesellschaft schmeckt es immer besser als allein am heimischen Küchentisch. Sie greift zur Wasserflasche und gießt sich nach.

In diesem Moment klopft Conrad mit einem Löffel an sein Glas. «Ihr Lieben, nachdem wir nun so angenehm gesättigt sind, wird es Zeit für die ausführlichere Vorstellungsrunde.»

Schnell erhebt sich eine spindeldürre Frau und deutet auf ihre Zigarettenschachtel. «Einen Moment. Ich bin gleich wieder da.»

Jetzt erst erkennt Rosa Knöllchen-Karin, bekannt dafür, gnadenlos Strafmandate wegen Falschparkens zu verteilen.

Mechthild verdreht die Augen. «Immer diese Raucher.» Mit der Hand streicht sie ihre pechschwarzen, halblangen Haare hinters Ohr. Als Karin wieder Platz genommen hat, wirft Mechthild ihr einen strafenden Blick zu, bevor sie das Wort ergreift. «Sehr gerne fange ich an, lieber Conrad. Ich bin achtundfünfzig Jahre alt, geschieden und habe zwei erwachsene Kinder, die wie ich in Hannover leben. Ich führe eine Boutique für starke Frauen, und alles, was ich trage, könnt ihr in meiner Boutique erwerben.» Sie steht auf und dreht sich in ihrem weit geschnittenen geblümten Kleid, das sie über giftgrünen Leggins trägt. «In meiner Freizeit betätige ich mich gern kreativ. Früher habe ich getöpfert, mich aber vor zwei Jahren fürs Malen entschieden.» Sie setzt sich wieder. «Ich nehme an dem Kurs teil, weil ich mir eine Vertiefung meiner bisherigen Kenntnisse erhoffe. Ich möchte maritime Bilder malen, in denen die Kraft der Elemente spürbar wird.» Sie schaut Verena auffordernd an. «Nun bist du dran.»

Verena nickt und stellt sich vor. Nach drei Sätzen ist sie fertig, Erfahrung im Malen hat sie nicht, freut sich aber darauf, es auszuprobieren. Ihre Freundin Mechthild hat sie zu dem Kurs überredet.

Für das Ehepaar Eckhard und Barbara Hövelkamp spricht der Mann. Beide sind frisch pensionierte Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte und haben das Malen zu ihrem gemeinsamen Hobby erkoren, um ihre neue Freiheit mit Sinn zu füllen. Alle Teilnehmer sollten zur Inspiration ein Bild mitbringen, das sie mögen, und sie haben als Motiv eine Postkarte des Blauen Pferdes von Franz Marc mitgebracht.

Karin ist neunundvierzig, lebt mit ihrem Mann in Neuharlingersiel und hat im Frisörsalon von dem Kurs gehört. Als Malobjekt hat sie ein gerahmtes Fischerboot-Bild im Gepäck, das ihrer Oma gehört. Und weil Karins Kater Elvis vor zwei Tagen operiert worden ist, muss sie während der Kurswoche morgens und nachmittags eine kurze Pause einlegen und nach ihm sehen.

Die rothaarige Andrea Schlasky blickt nervös nach links und rechts, als sie an der Reihe ist. Sie trinkt den ganzen Abend über schon Ingwertee, ist Ende vierzig, alleinstehend und arbeitet am meereswissenschaftlichen Institut Terramare in Wilhelmshaven. Bislang hat sie nur Wandersteine bemalt.

Rosa hat kein Bild dabei, was Conrad enttäuscht. «Meine Liebe, ich verstehe nicht, warum du nicht zumindest ein Foto von einem Gemälde mitgebracht hast. Schließlich hat das in der Kursbeschreibung gestanden.»

Sie ist froh, als Jette das Wort ergreift und von ihrer Galerie in Hannovers Nordstadt berichtet. «Ich bin schon ganz gespannt, was ihr so malt. Conrad hat mir von dem Kurs sooo vorgeschwärmt. Vielleicht können wir eure hier geschaffenen Werke ja im Herbst ausstellen.»

«Stopp!», sagt Conrad. «Es geht in diesem Workshop allein ums Malen! Nicht darum, eure Bilder zu verhökern.» Verärgert blickt er Jette an, die seinen Blick trotzig erwidert.

«Nun blas dich man nicht so auf. Klar kann es sein, dass ein Talent unter deinen Schülern schlummert. Wenn dem so ist, wirst du es sicher entdecken. Und ich werde die Bilder ausstellen und vielleicht sogar verkaufen. Das mache ich mit deinen ja auch.» Sie grinst frech. «Aus diesem Grund hast du mir die Galerie ja eingerichtet.»

Eins zu null für Jette, denkt Rosa amüsiert und ahnt schon jetzt, dass es eine interessante Woche wird, so unterschiedlich, wie die Teilnehmer sind.

Conrad geht nicht weiter darauf ein. «Um halb acht morgen früh ist Aufbruch, wir wollen das Morgenlicht nutzen.» Er wendet sich an Karin. «Ich denke, dein Bild ist zu Beginn genau die richtige Vorlage für alle. Eine Anregung und Inspiration.»

Gleich darauf hält er es hoch. «In den Farben könnt ihr natürlich variieren, aber vom Motiv her wäre es herrlich.»

«Ich will keine Fischerboote abmalen. Deswegen habe ich den Kurs doch nicht gebucht. Ich bin freie Künstlerin mit eigenen Ideen», beginnt Mechthild sofort zu mosern.

Conrad übergeht ihren Einwand. Aufmerksam studiert er das Bild erneut, streicht über die Oberfläche, dreht es um und riecht daran.

Sofort läuft Karin rot an. «Es hängt seit Ewigkeiten in der Küche meiner Oma», sagt sie entschuldigend. «Kann sein, dass es nach Bratkartoffeln und Hausmannskost riecht.»

Nachsichtig guckt Conrad Karin an. «Dieser Geruch hat mich nicht interessiert», sagt er. «Ich habe versucht, das Alter zu erriechen. Es könnte schließlich ein echter van Gogh sein», feixt er. «Man weiß ja nie.»

Karin bricht in schallendes Gelächter aus. «Na, das wüsste ich aber! Oma Käthe besitzt garantiert kein wertvolles Kunstwerk. Meine Großeltern waren ganz normale Leute. Das Bild haben sie zur Silberhochzeit geschenkt bekommen.» Sie greift danach.

Doch Conrad hält das Bild fest. «Wir nehmen es morgen als Vorlage mit an den Strand.»

«Ich weiß nicht, ob das meiner Oma recht wäre. Ist zwar kein van Gogh, aber ich habe Angst, dass es zu Schaden kommt.»

«Das lass mal meine Sorge sein. Dem Bild passiert nichts.» Er greift zu seinem halb vollen Glas Weißwein, trinkt es in einem Zug aus und wirft einen Blick auf die Uhr. «Halb zehn. Zeit, ins Bett zu gehen. Mein Wecker klingelt morgen um fünf, ich möchte den jungfräulichen Tag mit dem Morgengruß am Meer beginnen. Gute Nacht allerseits.»

Samstag

Es ist noch verdammt früh, als Rosa auf dem Steffens-Hof ankommt. Vorsichtshalber hat sie sich im Zwiebel-Look angezogen. Untenrum schützen eine wattierte Hose und dicke Schuhe vor der Kälte, obenrum ein Norwegerpulli, eine Steppweste, die blaue Wachsjacke, und den Abschluss bilden die hellblaue Strickmütze, der dazu passende Schal und gestrickte Pulswärmer, die bis zu den Fingern gehen und ein Loch für den Daumen haben. Auch wenn die Sonne schon am Himmel steht, sind es noch längst keine frühlingshaften Temperaturen.

In der gemütlichen Hofdiele ist schon ordentlich was los. Auf dem Holztisch stehen drei Thermoskannen, benutzte Becher, Frühstücksbrettchen, Brot, Aufschnitt und Marmelade. Barbara Hövelkamp klappt gerade eine Stulle zusammen, packt sie in eine Tupperdose und steckt sie in ihre Tasche. Karin sieht blass aus. «Ich hab wahnsinnige Kopfschmerzen», sagt sie, geht vor die Tür und zündet sich eine Zigarette an.

Als Conrad Rosa sieht, klatscht er zufrieden in die Hände. «Dann sind wir ja komplett. Fein! Ihr lauft zum Strand, Jette und ich fahren mit dem Wagen und bringen die Ausrüstung und die Staffeleien zum Parkplatz am Hafen. Von dort müsst ihr die Sachen nur noch über den Deich und an den Strand tragen. Übrigens: Frau Steffens wird uns gegen elf Uhr belegte Brote und Kaffee bringen, ihr braucht also keine Angst haben, dass ihr verhungert.»

 

Obwohl die Strecke zum Strand ein netter Spaziergang ist, mosert Mechthild schon wieder, aber selbst Verena hat heute keine Lust, sich das anzuhören, und unterhält sich lieber mit Karin, wie Rosa bemerkt. Sie haben den Weg über den neu gestalteten Campingplatz zum Deich eingeschlagen, damit sie gleich schon aufs Meer und hinüber nach Spiekeroog schauen können, während sie Richtung Strand laufen. Und tatsächlich kann man eine der weißen Fähren auf der Fahrt zur Insel im Sonnenlicht glänzen sehen.

Conrad und Jette erwarten sie bereits, als sie ankommen. Jette steht auf dem Weg zwischen Wasser und Strand, die Staffeleien sind aufgebaut, was sogar Mechthild ein zufriedenes «Na bitte, geht doch! Da tut Conrad wenigstens etwas für sein Geld» entlockt. Als sie jedoch das Bild von Karins Oma entdeckt, tippt sie sich an die Stirn. «Was soll denn der Scheiß?»

Erst da sieht Rosa, dass das gerahmte Bild in durchsichtige Folie eingewickelt ist. Verdutzt blickt sie Conrad an.

«Ich merke schon, ihr habt noch sehr viel zu lernen. Dieses Bild», er deutet darauf, «gehört uns nicht, und ich habe Karin versprochen, darauf aufzupassen. Es wird Wind und Sonne nicht schutzlos ausgeliefert sein. Der Wind trägt das Salz des Meeres mit sich und wirbelt ab und zu auch Sandkörner durch die Luft.»

«Ach nee, aber bei unseren Bildern macht es nichts, wenn da Sand draufgewirbelt wird?», fragt Mechthild spöttisch, kassiert jedoch eine scharfe Antwort des Kursleiters.

«Bei euren Bildern, die bewusst hier am Meer entstehen, gehört das sogar dazu! Mikrofeine Salzkristalle, winzige Sandkörner, sie geben euren Bildern das Authentische, das Lebendige, sie gehören zu den Elementen, die ihr für euch und die Nachwelt einfangt.»

Rosa muss schmunzeln. Conrad nun wieder. Er übertreibt gern, das hat er in Hannover schon getan. Andrea hingegen hängt hingebungsvoll an seinen Lippen, die Hövelkamps nicken und stellen die Rucksäcke neben ihre Staffeleien, nur Karin scheinen seine Worte nicht weiter zu beeindrucken. Stattdessen kämpft sie gegen den Wind, um sich ihre Zigarette anzuzünden. Rosa überlegt noch, wo sie ihre Staffelei hinstellen will, da kommt Rudi schnaufend angelaufen.

«Moin, Rosa!» Er trägt Joggingklamotten, Mütze, Handschuhe, Stöpsel in den Ohren und läuft auf der Stelle, als er neben ihr steht, um in Bewegung zu bleiben. «Nun geht’s also los mit deinem Malkurs?» Er grinst fast schon unverschämt. «Henner hat mir gestern Abend erzählt, dass euer Kursleiter ein echter Künstler ist.» Bei dem Wort «Künstler» malt er Anführungszeichen in die Luft.

«Gestern Abend?»

«Jo. Bei Berthold im Dattein an der Theke.» Wieder grinst er breit.

«Hab ich tatsächlich nicht dran gedacht», sagt sie und ärgert sich über sich selbst. «Wir hatten eben noch einiges für heute zu besprechen. Ist schließlich kein Anfängerkurs.»

«Conrad, kannst du mir mal helfen?», ruft Andrea in genau diesem Moment. «Ich hab das noch nie gemacht.»

Prompt steigt Rosa die Röte ins Gesicht.

«Na dann, viel Erfolg, du Meisterschülerin!» Rudis Grinsen geht von einem Ohr zum anderen, als er losläuft und wieder Tempo aufnimmt.

Emsig sind alle bei der Sache. Manche zeichnen mit dem Bleistift dünne Linien vor, andere legen bereits mit Pinsel und Farbe los, doch nach einer halben Stunde gibt Karin auf. «Tut mir leid, mir geht’s nicht so gut. Ich muss mich hinlegen.»

Strammen Schrittes läuft Karin nach Hause. Ihr Kopf fühlt sich an, als würde er in einem Schraubstock stecken. Der Druck hinter den Augen ist unerträglich. Außerdem jagt eine Hitzewallung die nächste. Sie schließt die Haustür auf, zieht Jacke und dicken Pullover aus und lehnt ihre Schläfe an die kühle Wand. Diese verdammten Kopfschmerzen kann sie nun gerade überhaupt nicht gebrauchen. Im Badezimmer nimmt sie die Schachtel mit den Schmerztabletten aus der Medikamentenschublade, drückt zwei aus dem Blister und schluckt sie trocken herunter. Sie hat sich so auf diesen Malkurs gefreut, und jetzt das. Zurzeit geht wirklich alles schief. Sie beugt sich zu ihrem Kater Elvis herunter und streichelt seinen Kopf. In diesem Moment klingelt es an der Tür.

Vermutlich bringt der Postbote die bestellten Turnschuhe. Sie schaut durch das Guckloch und öffnet die Tür. «Was machst du denn hier?»

Um kurz nach zwölf steuert Henner den elterlichen Hof an und radelt mit Schwung die Auffahrt hoch. Schon von Weitem sieht er Hühni, das älteste Huhn der Steffens, das gemächlich über den Weg trippelt. Als es Henners quietschende Bremsen hört, nimmt es Reißaus in die mit Perlhyazinthen gesäumten Rabatten.

Vaddern sitzt auf der Bank vorm Haus und schmökt seine Selbstgedrehte, Hofhund Butscher liegt zu seinen Füßen. Es ist ein Bild, an dem sich seit Jahr und Tag kaum etwas geändert hat. Außer dass Muddern jetzt immer eine leere Dose ans Bankende stellt, damit Vadderns Kippen nachher nicht auf der Erde liegen.

«Moin, Vadder! All up Stee?»

«Muss ja.» Vaddern nickt und nimmt einen letzten Zug. Bedächtig stößt er den Rauch aus, bevor er den Stummel in die Dose fallen lässt.

«Is was?»

«Ach, Jung.» Bevor Vaddern weitersprechen kann, geht das Küchenfenster auf, und Muddern steckt ihren Kopf heraus. «Essen ist fertig.» Ihr Blick fällt auf Henner. «Schön, dass du schon da bist. Hab heute was ganz Besonderes gekocht. Kommt rin.» Schon schließt sie das Küchenfenster.

Schwerfällig steht Vaddern auf.

Henner mustert ihn beim Reingehen von der Seite. «Also, was is?»

«Was soll sein?»

«Du guckst so muksch.»

«Die Pensionsgäste. Werden immer mehr.» Vaddern bleibt stehen. «Ich hätt dieser spinnerten Idee nicht zustimmen sollen. Man hat ja kaum noch seine Ruhe. Die Gäste machen sich überall breit.»

Stimmt. Auf solche überdrehten Typen wie den Kursleiter kann man gut verzichten. Aber es war nun mal Mudderns Wunsch, und sie müssen ja auch nicht dauerhaft vermieten. Das spielt sich schon ein.

Im Flur schnuppert Henner. Verlockender Bratenduft steigt ihm in die Nase. Aber da ist noch ein anderer Geruch. Scharf und unangenehm.

«Mit was für Zeugs hantiert ihr denn rum? Das stinkt ja wie die Pest.» Zügig schließt Henner die Küchentür hinter sich.

«Du redest doch nicht von meinem Braten?» Empört deutet Muddern auf das Blech mit dem großen Stück Rindfleisch. Knusprig braun, belegt mit Kräutern und Lorbeerblättern. Als besondere Zutat gibt Muddern einen ordentlichen Schuss Glühwein zum Schmoren dazu. Dadurch kriegt die Soße einen ganz eigenen Geschmack.

«Nee», wiegelt Henner gleich ab. «Draußen riecht es, als wenn ihr Türen gestrichen hättet.»

«Ach das … Das kommt von unseren Künstlern.» Muddern greift zum Messer und schneidet den Braten an. «Die haben gestern Abend wohl schon angefangen. Und heute Morgen sind die um halb acht mit Sack und Pack los zum Strand. Malen.»

«Das war vielleicht ein Getrampel, als die durch die Diele gelaufen sind. Rücksicht darauf, dass in diesem Haus vielleicht noch jemand schlafen will, nehmen die nicht.» Vaddern gibt einen Schlag Rotkohl auf den Teller.

Henner tut es ihm gleich und angelt sich anschließend ein besonders dickes Stück Braten mit der Gabel von der Platte. «Braten mit Glühweinsoße vor Ostern. Das gibt’s wohl nur bei uns.» Er grinst breit.

«Ist doch wurscht! Der schmeckt immer.» Vaddern schiebt sich ein großes Stück Fleisch in den Mund und kaut genüsslich.

Muddern tätschelt liebevoll seine Hand. «Man muss nicht alles in Stein gemeißelt sehen. Das hat Conrad auch gesagt, als er mich nach dem Rezept gefragt hat. Traditionen sind nicht gottgegeben, hat er gesagt. Sie müssen sich uns anpassen und nicht umgekehrt. Wir haben nur dieses eine Leben, da sollten wir jeden Tag feiern, als wäre es der letzte.»

Bei Mudderns Worten verzieht Vaddern unwillig das Gesicht. Henner muss ihm recht geben. Seit sie Pensionsgäste haben, ist Muddern wie ausgewechselt. Überhaupt: Conrad. Jetzt ist sie mit dem auch schon per Du. Henner räuspert sich. «Also ich finde den Typen ein bisschen zu abgedreht», sagt er.

«Das ist ein Schwafelheini», sagt Vaddern und hält Muddern seinen Teller hin. «Kann ich noch Soße haben?»

Am frühen Nachmittag geht Rudi mit einer Handvoll getrockneter Mehlwürmer in das Gehege neben seinem Haus. Kaum öffnet er das quietschende Tor, kommen die braunen, schwarzen und weißen Araucanas unter den Johannisbeerbüschen vor und rennen auf ihn zu. Das «putt, putt, putt» kann er sich sparen. Seine Hühnerschar begrüßt ihn freudig. Fast wie ein Rudel Haushunde. Bloß dass das Federvieh nicht an ihm hochspringt.

Rudi beugt sich vor und hält die geöffnete Hand hin. Gleich beginnen die Damen begierig zu picken, die Schnabelspitzen kitzeln ein wenig in der Handfläche. Da nähert sich der schwarze Hahn mit majestätischen Schritten, sein roter Kehllappen schwingt bedächtig hin und her, als wolle er seinen Auftritt noch eindrucksvoller in Szene setzen.

«Na, Zorro, all up Stee?» Rudi wirft ihm die restlichen Mehlwürmer hin. Mit Zorro ist manchmal nicht gut Kirschen essen. Er darf ihm nie den Rücken zudrehen, sonst attackiert der Hahn ihn von hinten, um bei seinen Mädels den Chef herauszukehren.

Zorro legt den Kopf schräg und gönnt Rudi nur einen kurzen Blick, dann pickt er in Windeseile die Würmer vom Boden auf. In diesem Moment schmettert Rudis Fanfare los. Ein Anruf von der Leitstelle. Das verheißt nichts Gutes.

 

Zehn Minuten später ist Rudi in seine Uniformjacke geschlüpft, hat sich sein Fahrrad geschnappt und fährt mit Höchstgeschwindigkeit zur Deichringstraße, auch wenn alles auf eine reine Routinesache hindeutet. Ein Mann hat seine Frau tot im Sessel vorgefunden. Der Notarzt ist schon vor Ort und hat den Tod festgestellt. Rudi muss die erste Leichenschau vornehmen, was aber wohl nur pro forma geschieht, denn würde Gewalteinwirkung vorliegen, hätten die das ja gleich am Telefon gesagt. Allerdings war die Frau noch keine fünfzig. Und Rudi kennt die Adresse, sie mussten dort schon oft mit dem Einsatzwagen hin. Die Frau hat sich ständig über angebliche Vergehen ihres Nachbarn beschwert.

Vor dem schmucken Einfamilienhaus bremst Rudi ab. Im Vorgarten stehen Dutzende Osterglocken, die einen gelb leuchtenden Farbteppich bilden. Er drückt auf die Klingel. Herr Müller öffnet die Tür. In Joggingklamotten.

«Moin», grüßt Rudi. «Ich wurde gerufen.»

Claas Müller tritt einen Schritt zurück. Schweißflecken sind auf der Brust seines Trikots zu sehen. Rudi weiß, dass Müller für den Marathonlauf trainiert. Ab und zu begegnen sie sich auf ihren Laufrunden.

«Kommen Sie herein. Ich hab Karin gefunden, als ich vom Joggen kam.»

Rudi folgt ihm über den gefliesten Flur ins Wohnzimmer. Der Arzt sitzt am Tisch und notiert etwas auf einem Formular. Die Tote sitzt im Sessel am Couchtisch.

«Moin», wiederholt Rudi.

Der Arzt hebt den Kopf. «Scheint Herzversagen gewesen zu sein. Ganz sicher bin ich mir natürlich nicht. Ist nicht meine Patientin, ich kenne die Krankenakte nicht.» Er wendet sich wieder dem Formular zu, und Rudi tritt an den Sessel.

Betroffen schaut er die Tote an. Der Kopf ist zur Seite gekippt, sie trägt ein ärmelloses T-Shirt zu einer Jeans. Ihre Füße stecken in Birkenstock-Schlappen. Er kennt Karin Müller nicht nur von den vielen Anzeigen, die sie gegen ihren Nachbarn erstattet hat, sie war früher auch die Kindergärtnerin seines Sohnes. Sven hat zwar mittlerweile schon das Abi, aber Rudi hat Frau Müller nicht vergessen. Sie war ja die erste fremde Person, der er Sven anvertraut hat. Wobei es eigentlich Denise gewesen ist, die Sven zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Kindergarten angemeldet hat. Seine Ex-Frau hatte es eilig, Sven vormittags loszuwerden, um mehr Zeit für sich zu haben. Dabei hat sie nicht mal gearbeitet. Ihr ging immer alles zu langsam. Besonders hier in Ostfriesland. Deswegen hat sie sich auch vom Acker gemacht, als Sven gerade in der Grundschule war. Weil sie was vom Leben haben wollte.

Rudi lässt seinen Blick durch das Wohnzimmer wandern. Durch die breite Fensterfront schaut er in den großzügigen Garten, der von einer akkurat geschnittenen Hecke eingefasst ist. Das Zimmer selbst wird von einer breiten Eichenholzschrankwand und einer hellen Velourssitzgarnitur mit Fernsehsessel und Couchtisch dominiert. Gegenüber steht ein großer Fernseher mit Drehständer, auf dem gefliesten Fußboden liegt ein beiger Teppich mit dunklen Tupfen. In der Ecke befindet sich ein Katzenkorb. Eine schwarze Katze liegt eingerollt auf dem Kissen und schläft.

Rudi wendet sich Claas Müller zu. «Hatte Ihre Frau gesundheitliche Vorschädigungen?»

«Nein», antwortet Müller tonlos. «Karin war kerngesund. Außer dass sie ab und zu unter Migräneattacken litt. Deswegen hat sie ja auch ihren Beruf an den Nagel gehängt. Das laute Kindergeschrei war ihr auf Dauer zu anstrengend. Jetzt ist sie … war sie … viel an der frischen Luft, wie Sie ja wissen.»

So kann man das auch nennen. Karin Müller arbeitete seit einigen Jahren bei der Gemeinde und verteilte Strafzettel. Deswegen war sie allseits bekannt als Knöllchen-Karin. Bearbeitet werden die Dinger allerdings in Esens. Rudi hat dort auf der Polizeistation schon die eine oder andere Beschwerde gegen sie entgegengenommen. Die Leute haben eben immer etwas zu meckern. Die einen, weil die Garage zugeparkt ist, die anderen, weil sie deswegen abgeschleppt werden. Recht machen kann man es eigentlich nie jemandem.

«Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesprochen?», fragt Rudi.

«Heute Morgen gegen sechs. Ich habe Karin geweckt und ihr eine Tasse Tee ans Bett gestellt. Da war sie wie immer. Allerdings klagte sie schon über Kopfschmerzen und hat eine Tablette genommen. Sie hatte ja diesen Malkurs am Meer. Um halb acht wollten die am Strand loslegen.» Müller streicht sich mit einer fahrigen Handbewegung über das lichte Kopfhaar.

«Wo Sie jetzt hier sind», wendet sich der Arzt an Rudi, «können Sie mir helfen. Ich muss mir die Frau ja noch von hinten angucken.»

«Wieso das denn?»

«Um auszuschließen, dass ein Messer in ihrem Rücken steckt.»

«Hören Sie auf mit so einem makabren Witz», ruft Rudi erbost und hofft, dass Müller es nicht gehört hat.

«Kippen Sie sie mal nach vorn», bittet der Arzt.

Zum Glück ist nichts Auffälliges zu sehen. Kein Messerstich. Keine Schusswunde. Beim Blick auf den linken Oberarm hält Rudi allerdings inne. Was ist das? Er beugt sich vor. Sieht aus wie ein Einstich. «Doktor, gucken Sie mal.»

Der Arzt mustert die Stelle eingehend. «Die ist mir eben gar nicht aufgefallen», murmelt er ein wenig verlegen.

«Vielleicht ein Insektenstich?», fragt Rudi.

Auf einmal steht Müller neben ihm. «Gestern Nacht hatten wir eine Mücke im Schlafzimmer.»

«Im April?», wundert sich der Arzt. «Seltsam. Aber wenn es ein Mückenstich wäre, müsste es drum rum eine Rötung geben. Nein, das sieht eher aus wie ein Einstich. War Ihre Frau in den letzten Tagen beim Arzt?»

«Nicht dass ich wüsste.»

Nachdenklich deutet der Mediziner auf sein halb ausgefülltes Formular. «Tja. Dann weiß ich es auch nicht.» Er blickt Rudi an. «Was anderes als ‹Todesursache unbekannt› kann ich nicht ankreuzen. Ich würde zur Obduktion raten. Aber das liegt natürlich bei Ihnen.»

Rudi nickt. «Jo. Ich kümmere mich.» Er zieht sein Handy aus der Uniformtasche und wählt die Nummer seines Chefs. Anschließend macht er ein paar Fotos. Man weiß ja nie.

Ziemlich durchgefroren und hungrig kehren die Kursteilnehmer gegen halb sechs auf den Steffens-Hof zurück. Während die anderen die Malutensilien in ihre Zimmer bringen, packt Rosa ihren Kram in der Hofdiele des renovierten Stallgebäudes in die hintere Ecke, wo sich auch der Spielbereich für Kinder befindet: ein kleines Bällebad, eine Rutsche, ein großer Korb mit Bilderbüchern sowie ein Kindertisch mit Ausmalbüchern und Buntstiften.

Auf dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes stehen schon Holzbrettchen, Becher, Aufschnitt, Brot und Thermoskannen mit Kaffee und Tee bereit.

Rosa hat gehofft, Karin wäre bereits hier, um zumindest am geselligen Abendessen teilzunehmen, aber von der ist weit und breit nichts zu sehen. Nun ist sie doch etwas beunruhigt. Als Conrad die Hofdiele betritt, fragt sie: «Hat Karin sich eigentlich noch mal bei dir gemeldet? Ich mache mir direkt Sorgen. Sie wirkte heute früh so blass und war gar nicht gut drauf, als sie gegangen ist.»

Conrad schüttelt den Kopf, seine Haare schwingen dabei um sein Gesicht. «Nein. Vielleicht, hat sie ihre Tage oder so. Dann seid ihr Frauen doch besonders empfindlich.»

«Na hör mal», sagt Rosa entrüstet, «was ist das denn für’n Spruch! Karin wird sich genauso auf den Workshop gefreut haben wie wir, sonst hätte sie sich ja nicht angemeldet. Außerdem lassen wir uns nicht so leicht von Hormonen durcheinanderbringen.» Zumindest Rosa nicht. Bei Karin weiß sie das nicht, sie kennt sie ja nicht näher, aber diesen Macho-Spruch kann sie Conrad einfach nicht durchgehen lassen. «Du hast doch bestimmt die Kontaktdaten der Teilnehmer. Gib mir mal ihre Telefonnummer, ich rufe sie an.»

Conrad verdreht die Augen. «Hab ich in meinem Zimmer.»

«Ich hab Zeit.»

Kopfschüttelnd nimmt Conrad eine Scheibe Bauernmettwurst vom Tisch, steckt sie sich in den Mund und geht hinaus. Inzwischen trudeln die anderen Teilnehmer ein. Barbara Hövelkamp übernimmt das Einschenken der Getränke, Conrad kommt mit einem Zettel wieder, und Rosa greift zu ihrem Handy, geht hinten in die Kinderecke und tippt die Festnetznummer ein. Es klingelt siebenmal, bis am anderen Ende abgenommen wird.

«Müller.»

«Moin, Herr Müller. Rosa Moll hier. Ich gehöre zu Karins Malkurs. Wir wollten uns nur eben erkundigen, wie es ihr geht. Sie ist ja heute Vormittag wegen Kopfschmerzen nach Hause gegangen, und weil sie auch zum Abendbrot nicht da ist, wollten wir eben wissen, wie es ihr geht.»

Er atmet hörbar aus. «Sie ist tot.»

Diese drei Worte verschlagen Rosa die Sprache. Sie schluckt und lässt sich auf den kleinen Tisch neben die Malbücher sinken.

«Wie bitte?»

«Sie saß tot im Sessel, als ich vom Laufen zurückgekommen bin.»

«Um Himmels willen!»

Beim Klang ihrer Stimme schauen die anderen alarmiert zu ihr hinüber.

«Der Arzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Und sogar die Polizei war da. Das muss man sich mal vorstellen. Als hätte ich ihr was getan.» Müller atmet tief durch.

«Mein Beileid», murmelt Rosa. Sie ist vollkommen schockiert. «Wenn ich etwas für Sie tun kann, sagen Sie bitte Bescheid. Ich kann Ihnen Karins Sachen bringen und …»

«Ich brauche erst mal Ruhe», unterbricht Müller sie. «Und nun entschuldigen Sie bitte.» Damit ist das Gespräch beendet.

Wie betäubt bleibt Rosa sitzen.

«Was ist los?», fragt Conrad angespannt.

Rosa kehrt zum Tisch zurück, wo die heißen Getränke in den Bechern dampfen. Mechthilds Appetit scheint groß zu sein, sie ist die Einzige, die schon von ihrem Schmalzbrot abbeißt.

«Karin ist tot. Ihr Mann hat sie gefunden, als er nach Hause kam.»

«Ach du Scheiße.» Conrad schnaubt verärgert. «Das hat mir gerade noch gefehlt. Bestimmt will ihr Mann das Bild zurückhaben, dabei brauchen wir das noch bis Ende der Woche.»

«Ich kann auf das Bild gut verzichten», sagt Mechthild mit vollem Mund.

«Ich nicht», widerspricht Andrea, und auch die Hövelkamps würden das Bild gern noch weiter als Vorlage haben.

«Nein, das geben wir erst mal nicht her. Das werde ich dem Mann schon klarmachen.» Genervt greift er zu seinem Becher.

«Conrad!» Rosa ist entsetzt. «Karin ist tot! Heute Morgen war sie noch quicklebendig. Sie ist von einer auf die andere Minute gestorben! Wo bleibt denn dein Mitgefühl?»

Der Kursleiter lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, greift in seine langen Haare, fasst sie zu einem Pferdeschwanz und lässt sie wieder los. «Rosa. Jeden Tag sterben Menschen von jetzt auf gleich. Deshalb predige ich immer: Genießt euer Leben. Jeden Moment. Es kann schneller vorbei sein, als man denkt.»

«Wahrscheinlich hat sie sich über irgendetwas so aufgeregt, dass sie einen Herzschlag gekriegt hat», vermutet Mechthild und belegt ungerührt die nächste Scheibe Brot mit Deichkäse. «Gesund sah die ohnehin nicht aus. Ganz grau im Gesicht. Kein Wunder bei der Raucherei. Da verstopfen die ganzen Gefäße. Und zuzusetzen hatte die auch nichts, klapperdürr, wie die war.»

«Mechthild.» Rosa ist fassungslos über so viel Gefühllosigkeit.

«Nun spiel dich mal nicht so auf, Rosa. Du tust ja gerade so, als wär Karin deine beste Freundin gewesen. Du hast gestern Abend selber gesagt, dass du nicht gern neben ihr sitzt, weil sie wie ein kalter Aschenbecher riecht.»

Rosa wird rot. «Entschuldigt mich. Ich möchte jetzt lieber nach Hause.» Schon verlässt sie die Hofdiele.

In der Steffens-Küche wird viel und laut gelacht. Henner, seine Eltern, seine Schwestern Adelheid und Bärbel, nebst deren Lebenspartnerin Caro, sitzen am Küchentisch und spielen das Quiz «JUST MUSIC». Gerade steht Adelheid auf Zehenspitzen, die Hände hoch über dem zur Seite abgeknickten Kopf gefaltet. Bärbel muss erraten, was sie darstellt. «Bist du ein Blasinstrument?», fragt sie, aber Adelheid schüttelt den Kopf. Noch immer auf Zehenspitzen dreht sie sich und wackelt dabei.

«Bist du eine Balletttänzerin?», fragt Bärbel weiter.

Adelheid nickt.

«Schwanensee», prustet Bärbel los. «Nicht ganz so elegant wie die Primaballerina, die ich im Fernsehen gesehen habe, aber passt schon.»

Henner kann da nicht viel mit anfangen, Ballett ist nicht so sein Ding.

«Du bist dran», sagt Adelheid und deutet auf den Kartenstapel.

Er zieht eine Karte und hält sie so, dass alle bis auf ihn den Begriff sehen können.

«Welchen Begriff suchst du dir aus?», fragt Bärbel.

«Nummer zwei.»

Die andern kichern los, als Rosa hereinstürmt.

Völlig ermattet lässt sie sich neben Henner auf die Eckbank plumpsen.

«Rosa! Was ist passiert?» Erschrocken lässt Henner die Karte sinken.

«Karin Müller ist tot.»

«Knöllchen-Karin?», fragt Adelheid. «Die hab ich doch grad letzte Woche auf der Beerdigung von Doktor König gesehen. Der ist ja ganz überraschend gestorben. Da sah die zwar verkniffen aus, war aber ansonsten putzmunter. Was hast du denn mit der zu tun?»

«Die macht auch bei dem Malkurs mit», sagt Mudder Steffens.

«Knöllchen-Karin und Malkurs», wundert sich Adelheid. «Aber gut, im Verteilen von Strafzetteln ist sie ja auch kreativ.»

«Du nun wieder mit deiner spitzen Zunge», sagt Bärbel leicht amüsiert, wird aber sofort wieder ernst. «Wie ist sie denn gestorben?»

«Ihr Mann hat sie tot im Sessel gefunden. Sie ist heute Morgen wegen Kopfschmerzen vom Malen am Strand nach Hause gegangen. Ich dachte, spätestens zum Abendbrot ist sie wieder da, aber sie kam nicht. Da hab ich bei ihr angerufen. Ich bin total fertig.»

Vaddern steht auf, geht zum Kühlschrank und kehrt mit einer Buddel Korn und einem Schnapsglas zurück. Er gießt ein und stellt das Glas vor sie. «Hier. Trink man erst ’nen Schluck. Das beruhigt die Nerven.» Er guckt in die Runde. «Sonst noch jemand?» Kurz darauf hat jeder bis auf Muddern ein Schnapsglas vor sich.

«Prost. Auf Karin.» Rosa hebt das Glas. «Das war so ’ne Liebe.»

«Prost.»

Kaum stehen die Gläser wieder auf dem Tisch, sagt Adelheid: «Von wegen das war ’ne Liebe. Die konnte ganz schön Gift spritzen. Frag mal ihren Nachbarn. Mit dem hatte sie sich ordentlich in den Haaren. Eigentlich hat sie sich mit jedem angelegt. Wenn die ihre Runden in Neuharlingersiel drehte, hagelte es Knöllchen am laufenden Band. Selbst wenn jemand die Parkzeit nur um zehn Minuten überzogen hat. Die kannte keine Gnade. Vor Kurzem stand ein Leserbrief im Anzeiger für Harlingerland. Da hat die tatsächlich einem Auto ein Knöllchen verpasst, das fast allein auf dem riesigen Parkplatz beim Fähranleger stand. Nicht auf dem gepflasterten. Nee, auf dem anderen, dem Schotterplatz. Der hat sich vielleicht aufgeregt.»

«Recht hatte sie aber», wirft Bärbel ein.

«Und tierlieb war sie auch. Ihr Kater war ihr Ein und Alles», ergänzt Caro, die die Tierarztpraxis in Neuharlingersiel betreibt. «Erst vor drei Tagen musste ich ihren Elvis nähen. Er hatte eine tiefe Bisswunde. Die Müller hat unglaublich mit dem Tier gelitten und laut geflucht, der Hundebesitzer würde das noch büßen.»

«Das passiert, wenn Katzen frei rumlaufen», erwidert Adelheid. «Aber glaub man, da werden manche Leute gar nicht so böse sein, dass Knöllchen-Karin nun keine Bußgelder mehr verhängen kann. Und ihr Nachbar schickt sicher ein Dankgebet zum Himmel. Endlich hat er Ruhe. ‹Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.› Ihr kennt doch den Ausspruch von Schiller?»

«Ich dachte, das ist ein Lied von Roland Kaiser», sagt Henner.

«Jaja, der hat da ein Lied draus gemacht. Aber ursprünglich stammt es von Schiller. Jedenfalls hat Hadi nun wohl endlich seine Ruhe. Mit Claas hat er sich ja immer ganz gut verstanden. Karin hat den Unfrieden in die Nachbarschaft gebracht. Hoffen wir, dass das nun vorbei ist.»

«Hadi?», fragt Rosa.

«Hans Dieter Döpke.» Adelheid schaut Rosa an, als müsse sie das wissen. «Du kennst ihn doch. Er ist Apotheker in Esens.»

Montag

Die Ente springt auf Anhieb an. Zufrieden gondelt Rudi mit dem Oldtimer zur Polizeistation nach Esens. Beim Betreten des Gebäudes schnuppert Rudi. Frischer Kaffeeduft. Sein Kollege Bernie Bütefisch ist im Kaffeekochen einsame Spitze, sein Tee ist allerdings meist viel zu stark. Deswegen sind sie übereingekommen, dass Bernie nur für Kaffee sorgt. Heute hat er sogar ein halbes Mettbrötchen für Rudi mitgebracht.

«Wenn du das nicht magst, musst du es nicht essen», sagt Bernie, als beide die Kaffeebecher und Brötchen an ihren Schreibtisch bringen. «In dem Fall würde ich mich glatt opfern.»

Rudi grient innerlich. Bernies Frau Marga hat ihn auf Diät gesetzt, aber Bernie findet immer Möglichkeiten, sie auszutricksen. «Nee, passt schon, esse ich gerne», antwortet er gut gelaunt. «Danke fürs Besorgen. Wie war dein Wochenende?»

«Hör bloß auf! Marga hatte sich vorgenommen, die Kleiderschränke auszumisten. Du hast keine Ahnung, was das für eine Arbeit war. Sie hat jedes Kleidungsstück angezogen, ich musste gucken, ob es noch richtig passt, ob es noch gut aussieht, ob sie es behalten soll … und umgekehrt hat sie das Gleiche von mir verlangt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erniedrigend das war, als ich die erste Hose nicht mehr schließen konnte. Und die nächsten drei auch nicht. Einige hab ich nicht mal mehr über die Oberschenkel gekriegt.» Beherzt beißt Bernie von seinem Brötchen ab. «Das hat sie absichtlich gemacht, um mich zu demütigen. Damit ich auch wirklich weniger esse. Aber, mal ehrlich: Was hat man denn sonst noch vom Leben, wenn man nicht mal mehr gut essen darf?»

«Na ja, da gibt es schon so einiges», meint Rudi. «Bewegung in frischer Natur, Treffen mit Freunden und der Familie.»

«Bei diesen Treffen wird aber auch gegessen», wirft Bernie ein und beißt erneut ab. «Und wie war’s bei dir?», fragt er mit vollem Mund. «War Sven da?»

«Nee, der ist in Emden geblieben. Die haben da so ein Umweltschutzprojekt, an dem er begeistert mitarbeitet.»

«Der hat sich echt abgenabelt, oder?»

«Das ist der Lauf der Dinge. Aber wir telefonieren ja viel. Und über Facetime können wir uns auch sehen. Und … sooo weit ist Emden ja nun auch nicht weg. Aber klar, ist schon was anderes, dass ich ihn jetzt nicht mehr jeden Tag sehe.» Rudi greift zum Becher und trinkt einen Schluck. «Ich bin am Samstag zu einer Toten gerufen worden. Stell dir vor, das war Karin Müller.»

«Knöllchen-Karin?»

«Jo. Ihr Mann hat sie gefunden, als er vom Joggen heimkam. Saß leblos im Sessel. Der Notarzt meinte, es könnte ein Herzinfarkt gewesen sein. Mir ist dann ein Einstich am Oberarm aufgefallen. Pöppelmeyer hat die Tote abgeholt und nach Oldenburg in die Rechtsmedizin verfrachtet.» Rudi zuckt mit der Schulter. «Wird bei der Obduktion aber bestimmt nichts rauskommen.»

«Wart’s ab.» Bernie rührt in seinem Kaffeepott. «Vielleicht hat sie sich drüber geärgert, dass sie am Wochenende keine Knöllchen verteilen kann.» Seit sie ihm zwei Strafmandate verpasst hat – unberechtigt, wie er findet –, ist er nicht gut auf sie zu sprechen. «Und wie war dein Wochenende sonst so?»

«Sonst war es ruhig. Bin Sonntag tatsächlich fünfundzwanzig Kilometer gelaufen. Den Halbmarathon krieg ich locker hin. Abends dann wie üblich Tatort gucken mit Henner. Ich hab ein Blech Pizza gemacht, das haben wir beide gemütlich verputzt.»

«Pizza …», schwärmt Bernie und steckt sich den Rest des Mettbrötchens in den Mund, als das Telefon klingelt.

«Polizeistation Esens, Kommissar Bakker am Apparat», meldet sich Rudi.