Fay und die alltägliche Welt - Sabrina Dengel - E-Book

Fay und die alltägliche Welt E-Book

Sabrina Dengel

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Beschreibung

In »Fay und die andere Welt« begab sich Fay auf eine spannende Reise – die Reise zu sich selbst. Dabei entdeckte sie, dass es neben der normalen noch eine weitere Welt gibt: die Anderswelt, in der ihr Krafttiere und Geistführer zur Seite stehen. Voller Kraft und Zuversicht kommt Fay nach einer Visionssuche in den Bergen zurück nach Hause – und wird prompt vom Alltag eingeholt: Post von der Arbeitsagentur und ihren Vermietern. Wird Fay auf ihrem gerade erst gefundenen Weg bleiben und weiterhin auf das Lied ihrer Seele hören? Eine Zeit voller neuer Herausforderungen beginnt. Ein Roman, der mehr Impulse für das eigene innere Wachstum geben kann als so manches Sachbuch!

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Originalausgabe

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten

ISBN 978-3-8434-6339-3

© 2016 Schirner Verlag, Darmstadt 1. E-Book-Auflage 2018

Umschlag: Murat Karaçay, Schirner, unter Verwendung von # 159255926 (Martina Ebel), www.shutterstock.com Lektorat & Print-Layout: Claudia Simon, Schirner E-Book-Layout: Rudolf Scholz, Schirner Gesetzt aus der Arimo (© Ascenderfonts.com) unter der Apache-Lizenz 2.0: www.apache.org/licenses/LICENSE-2.0

Über die Autorin

Sabrina Dengel wurden bereits in frühester Kindheit von ihrer Uroma eine tiefe Naturverbundenheit mitgegeben und weitreichende Kenntnisse über die Heilkräfte der Natur vermittelt. In den vergangenen 20 Jahren ließ sie sich in schamanischen Heilmethoden, Techniken, Zeremonien und Ritualen aus den verschiedensten Kulturkreisen ausbilden. Dieses Wissen gibt sie in Seminaren und Workshops weiter.

www.trafo.or.at

Inhalt

Widmung

Was bisher geschah – Rückblick

Angekommen?

Integration

Der dritte Tag

Eine Begegnung

Einnorden

Am runden Tisch

Das Abendessen

Traumzeit

Was zu tun ist

Udo

Auf dem Heimweg

Twifal

Im Park

Der Ahnenwald

Im Büchercafé

Sulis

Die Kommode

Besuch von Twifal

Peter

Marcel und Maya

Das Vorstellungsgespräch

Erinnerungen

Wachstum

Der Ausflug

In der Anderswelt

Fays Garten

Ein Gespräch

Der Lehrer und die Schlange

Sonntag

An der Quelle im Park

An der Quelle in der Anderswelt

Der Brief

Eine neue Woche

Achtsamkeit

Unverhofft

Das Ritual

Fay und Maya

Wie die Zeit vergeht

Epilog – oder was seither im Leben der Autorin geschah

Danksagung

Widmung

Ich widme dieses Buch den Lesern von »Fay und die andere Welt«. Ihr habt mir die Motivation geschenkt, Fays Geschichte weiterzuschreiben. Familie Pföstl/Wörndle aus Schenna/Südtirol will ich ebenfalls ausdrücklich in der Widmung erwähnen. Ich danke euch, denn ihr habt mir in eurem wunderbaren »Rosengarten« den Raum gegeben, um dieses Buch zu schreiben.

Was bisher geschah – Rückblick

Eigentlich ist Fay ganz zufrieden mit ihrem Leben. Sie hat eine kleine Wohnung, einen Job, der genug zum Leben abwirft, einen Kater und viele Bücher – mehr braucht es doch nicht, oder?

Eines Tages kommt sie mit Hans, einem etwas skurrilen Kaffeehausbesitzer, ins Gespräch, der in seiner Freizeit dem Schamanismus nachgeht. Hans lädt Fay auf eine spannende Reise ein, eine Reise, die sie auf den Weg zu sich selbst führt.

Nach einigem Zögern traut sich Fay, diese Reise anzutreten. Je weiter sie geht, desto lauter erklingt eine Stimme in ihrem Innern: »Hattest du nicht einmal Träume und ganz andere Vorstellungen von deinem Leben?« Endlich begibt sich die junge Frau auf die Suche nach ihren verlorenen Träumen und entdeckt, dass es neben der normalen noch eine ganz andere Welt gibt: die Anderswelt.

Unter der Anleitung von Hans lernt Fay, die Anderswelt zu bereisen. Dort trifft sie auf Krafttiere, Seelenteile und MaPa, das große Geheimnis. Mithilfe wertvoller schamanischer Techniken begibt sich Fay auf ihren Weg der Heilung, der sie in ihren Seelengarten führt. In diesem Garten lernt sie, ihr Leben in der alltäglichen Welt zu »weben«.

Um dir, liebe Leserin, lieber Leser, das Lesen dieser Geschichte ein wenig zu erleichtern, beschreibe ich im Folgenden diejenigen Wesen aus dem ersten Teil »Fay und die andere Welt«, die hier weiterhin eine Rolle spielen.

Die Menschenwesen

Fay ist die Heldin des Buches. Ihr eigentlicher Name lautet Friederike Heylrich. Ihr Seelenweg steht im Mittelpunkt der Betrachtung.

Hans ist Kaffeehausbesitzer und Fays schamanischer Lehrer in der alltäglichen Welt.

Hugo ist Fays Nachbar, der gerne ihren Kater Pfötchen hütet.

Marcel ist der Sohn ihres Nachbarn Hugo. Fay und Marcel empfinden eine tiefe Zuneigung zueinander.

Hermine ist eine nette, alte Dame und Fays Nachbarin. Sie ist mit Hugo befreundet und überrascht Fay oft mit ihrer Weisheit.

Ulrich, Sascha und Gabriella sind drei Menschen, die mit Fay in einer Gruppe von Hans den Schamanismus erlernen.

Die Andersweltwesen & Seelenteile

Diana ist ein Schmetterling und eines von Fays Krafttieren. Aus der Raupe Kurt entpuppte sie sich als eine kämpferische, weibliche Kraft.

Edith ist ein Eichhörnchen und ein weiteres Krafttier, das Fay auf ihrem Weg begleitet. Ihre Medizin bzw. Kraft ist das Sammeln und Sortieren auf allen Ebenen.

Pfötchen, der in der Anderswelt Sir Samtpfote genannt wird, ist Fays schwarzer Kater. Er ist ihr Haustier und zugleich einer ihrer Verbündeten, ihr Totem in der Anderswelt.

Fylgir ist Fays zweites Totem, ein Pegasus.

Edward ist ein Seelenteil aus dem Sumpf der vergessenen Träume, ihr Ritter des Herzens. Er unterstützt sie bei der Verwirklichung ihrer Träume.

Lana ist ebenfalls ein Seelenteil. Sie bringt die Medizin der Ruhe zu Fay.

Sarah verkörpert einen weiteren Teil ihrer Seele. Sie hat die Medizin des Vertrauens wieder in Fays Leben gebracht.

Funny ist ebenfalls ein Seelenteil. Als pure Lebensfreude ist sie Fay auf ihrem Seelenweg eine große Hilfe.

Skulan ist ein Wanderfalke und Verbündeter von Hans.

Du hast dich nun an den Weg erinnert, den Fay bisher gegangen ist. Es ist Zeit, du bist vorbereitet. Jetzt warten auf Fay und dich neue Erfahrungen, Abenteuer und Weisheiten. Ich wünsche dir mit »Fay und die alltägliche Welt« viel Spaß!

Angekommen?

Fay schloss die Wohnungstür hinter sich. Sie lächelte, lehnte sich an die Tür, ihre Sachen glitten von ihren Schultern und plumpsten auf den Boden. Egal, das kann ich morgen auch noch aufräumen, beschloss sie. Es war still in ihrer Wohnung, fast so still wie auf ihrem Visionsplatz in den Bergen, wo sie die letzten Tage verbracht hatte.

»Was für ein Wochenende!«

Als sie von ihrem Platz im Wald zurückgekehrt war, war die Schwitzhütte schon für die Gruppe bereit gewesen. Schweigend waren Ulrich, Sascha, Gabriella und Fay gemeinsam mit Hans eingetreten.

Die Hitze und Hans’ Gesänge hatten sie aus der Welt der Visionen abgeholt. Fay hatte das Gefühl gehabt, als würde sie aus einer anderen Welt zurück in die Wirklichkeit gerufen werden. Was genau genommen ja auch so gewesen war. Nachdem die Zeremonie in der Hütte beendet war, hatten sie alle in einer Reihe vor Sandra auf der Wiese neben der bereits abkühlenden Feuerstelle gestanden. Von ihr hatten sie das erste Mal nach der Zeit an ihren Plätzen wieder frisches Wasser bekommen. Fay konnte sich jetzt noch an den Geschmack erinnern. Da hatte sie erfahren, woher Süßwasser seinen Namen hatte. Es war ein unglaubliches Gefühl gewesen, als diese klare Flüssigkeit ihre ausgetrocknete Kehle hinuntergeronnen war. Kühl, nass, süß – einfach göttlich!

Den Rest des Tages hatte die Gruppe mit Schreiben, Reflektieren und Ausruhen verbracht. Mit dem Abendessen hatten sie den Tag abgeschlossen und waren alle früh schlafen gegangen. Nach einer traumlosen Nacht hatte Fay gemeinsam mit den anderen gefrühstückt und mit ihnen das Haus aufgeräumt. Darauf hatte ein Abschlusskreis gefolgt, bevor sie wieder in das Auto von Hans gestiegen und zurück in die Stadt gefahren waren. Es war bereits Abend geworden, als sie im Tal angekommen waren.

Ohne Licht zu machen ging Fay in die Küche. Erstaunlich, wie anders ihre Wohnung im Dunkeln wirkte. Das war ihr so noch nie zuvor aufgefallen. Fay öffnete den Kühlschrank, mehr aus Gewohnheit, als dass sie etwas suchte. Das Licht blendete sie. Außerdem war der Kühlschrank sowieso leer. Hatte sie doch selbst alles ausgeräumt, bevor sie mit Hans und der Gruppe in die Berge gefahren war.

Als sie die Kühlschranktür wieder schloss, meinte sie, etwas neben sich vorbeihuschen zu sehen. Sie blinzelte und schaute genauer hin, aber da war nichts. Zeit, ins Bett zu gehen, dachte Fay. Das einzige Geräusch, das langsam in ihr Bewusstsein drang, war das Ticken der Uhr. Zeit, was ist schon Zeit?, dachte sie.

Statt ins Bett zu gehen, ging Fay ins Wohnzimmer hinüber. Auch hier war es still. Eine angenehme Stille, eine Ruhe, die sie auch in sich selbst spüren konnte. Fay erinnerte sich an das Gefühl der Zeitlosigkeit, das sie während ihrer Visionssuche in den Bergen empfunden hatte. Sie konnte dieses Gefühl in sich wahrnehmen, dennoch drang das Ticken der Uhr immer mehr in ihrer Wahrnehmung hervor.

Fay öffnete die Terrassentür und trat in die Frühlingsnacht hinaus. Hier draußen war es nicht mehr still. Sie konnte das Rauschen der Schnellstraße ein Stück weiter weg hören. Das hatte sie vorher noch nie so deutlich wahrgenommen. Noch während Fay dem Rauschen lauschte, huschte der Schatten erneut an ihr vorbei. Zumindest meinte Fay, ihn zu sehen. Sie streckte sich an der frischen Luft, nahm einen tiefen Atemzug und fragte sich, wo Pfötchen war. Leise rief sie ihren Kater. Sie wartete eine Weile, aber Pfötchen kam nicht. Für einen kurzen Moment wurde es Fay eng ums Herz. Doch sie wusste, Pfötchen ging es gut. Er wurde von ihrem Nachbarn Hugo liebevoll versorgt.

Fay drehte sich um, ging zurück in ihre Wohnung und direkt ins Schlafzimmer, vorbei an dem Schrank, in dem immer noch die eine oder andere Sache zum Aufräumen lag. Ja, es gibt noch so einiges zu tun, aber erst morgen, entschloss sie sich.

Mit diesem Gedanken hatte Fay sich auch schon ausgezogen. Ihre Kleidung ließ sie einfach auf dem Boden vor ihrem Bett liegen. Sie kuschelte sich in die Kissen und schlief mit dem Gefühl ein, dass es nichts Schöneres auf der Welt gab als das eigene Bett.

Integration

Während Fay tief und fest schlief, trafen sich ihre Verbündeten auf der Lichtung im inneren Garten.

Sir Samtpfote erklärte den anderen gerade, was nun weiter geschehen würde: »Jeder von euch hat eine besondere Kraft, eine Medizin, die er zurück in Fays Leben bringt. Das ist eure Essenz. Nun kommt es darauf an, wie Fay diese Talente oder Eigenschaften, die ihr verkörpert, in ihr Leben integriert. Das ist die eigentliche Aufgabe, die Fay bevorsteht. Bisher konnte ihr Hans helfen. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir heute alle hier sind, und er wird auch weiterhin für sie da sein. Nun geht es darum, dass Fay die Verantwortung für ihr Leben übernimmt. Wir können ihr dabei helfen, wenn sie das will.«

»Ja, klar will sie das, sonst wären wir doch nicht hier!«, rief Funny vergnügt.

»Ich wusste doch, dass die Geschichte einen Haken hat«, maulte Edward und trat mit dem Fuß gegen einen Kieselstein.

»Niemand hat gesagt, dass es einfach wird«, meinte Lana ruhig und besonnen.

»Leute! Es kann auch spannend sein, sich zu entfalten«, warf Diana grinsend in die Runde.

Edith schaute ernst in die Gesichter der anderen. »Alles, was Fay benötigt, ist schon da. Ich weiß es, weil ich eine Sammlerin bin. Wir sind für Fay wie Teile ihres ganz persönlichen Puzzles, das sie für sich zusammenfügen muss. Fay kann diese Aufgabe gemeinsam mit uns bewältigen. Das haben wir gesehen. Lassen wir ihr einfach Zeit.«

Sarah nickte und erwiderte: »Ja, ich denke auch, dass Fay jetzt Zeit braucht. Sie muss erst wieder lernen, ganz zu vertrauen. Vor allem sich selbst. Dabei können wir ihr helfen, wenn sie danach verlangt.«

Fylgir schnaubte. »Fay wird in der alltäglichen Welt einige Erlebnisse haben, die sie in der nächsten Zeit herausfordern werden. Lassen wir es auf uns zukommen, wie sie ihren weiteren Weg gehen wird.«

»Und was für Herausforderungen werden das sein? Kann ich da wenigstens mal meine Ritterqualitäten unter Beweis stellen?«, fragte Edward mürrisch.

Noch bevor jemand eine Antwort geben konnte, rief Funny aufgeregt: »Hey, Leute, könnt ihr es spüren? MaPa kommt!« Wie immer freute sich Funny unbändig auf MaPa, und sie tanzte übermütig im Kreis herum.

Ein Schmunzeln ging über die Lippen der anderen. Sie alle konnten nun wahrnehmen, wie MaPa immer präsenter wurde.

Das Erste, was sie vom großen Geheimnis hörten, war ein herzliches Lachen. Gefolgt von den Worten: »So eine Freude, wie sie Funny versprüht, heilt jede Wunde und vertreibt alle Sorgen. Ihr macht euch Gedanken über Fay und ihren weiteren Weg. Das ist sehr schön von euch. Es zeigt mir, wie nah ihr euch Fay, eurem Menschen, fühlt. Fylgir, du hast Fay in ihrer Vision das Land gezeigt, in dem ihr Vater jetzt lebt. Sie hat den Wunsch, dorthin zu reisen. Das ist gut. In ihr breitet sich eine Aufbruchstimmung aus. Sie will mehr in ihrem Leben verändern und herausfinden, was ihre wahre Bestimmung, ihre Lebensaufgabe, ist. Es ist so, dass jeder Schritt, den sie geht, egal, in welche Richtung, sie immer auch etwas lehren wird. Manche Entscheidungen ergeben zunächst keinen Sinn, dieser zeigt sich erst später.Es werden vordergründig alltägliche Entscheidungen sein, die Fay in der nächsten Zeit zu treffen hat. Aber nichts ist so alltäglich, dass es keinen Einfluss auf die Anderswelt hätte. Das wissen wir alle.«

Nach einer kurzen Pause fuhr MaPa fort: »Fay hat von euch einen großen Vertrauensvorschuss erhalten. Jetzt liegt es an ihr, wie sie damit umgeht. Seid für sie da, wenn sie euch braucht. Aber gebt auch nicht auf, wenn sie sich aus der Anderswelt zurückzieht. Manchmal ist es ziemlich schwer, in der Menschenwelt zurechtzukommen. Zeit und Raum können sehr fordernd sein. Schnell können sich in einem Menschen Zweifel ausbreiten, wenn dieser seine Mitte verliert. Es braucht Disziplin und Ausdauer, um im Einklang mit sich selbst zu bleiben. Das weiß Fay zwar schon, aber es fehlt ihr noch die Erfahrung, das Durchhaltevermögen und den starken Willen aufzubringen, die eigene Mitte zu wahren. Wir werden gemeinsam erleben, wie sie diese Herausforderung meistert.«

»Aber kannst du uns nicht wenigstens verraten, worum es gehen wird?«, fragte Funny hoffnungsvoll.

MaPa erwiderte: »Alles wird sich darum drehen, dass Fay ihr eigenes Wesen bestimmt, indem sie sich selbst findet und kennenlernt. Im Innen wie im Außen. Dabei wird sie sich mit der Heilung ihrer Weiblichkeit und mit ihrem Selbstwert, der tief in ihrer Liebe zu sich selbst verwurzelt ist, beschäftigen. Sie wird lernen, ihr Energiefeld aufzubauen und – noch wichtiger – auch zu halten. Außerdem wird sie lernen, sich abzugrenzen, weil sie sich bewusst macht, was sie stärkt und was ihr schadet.«

»Puh, das klingt nach viel Arbeit«, seufzte Diana.

»Tja, ich kann mich dann wohl wieder in meinen Sumpf verziehen. Weiblichkeit ist nicht gerade meine Stärke, oder?« Edward war nun nicht mehr miesepetrig, sondern ehrlich verletzt. Er fühlte sich betrogen. Diese Figuren da holten ihn aus seinem Sumpf, versprachen ihm, dass er wieder gesehen werden würde, dass er endlich seine Essenz des Kriegers aufleben lassen dürfte, und was nun? Die Heilung ihrer Weiblichkeit!, äffte Edward in Gedanken die Worte MaPas nach. Er versuchte vergeblich, die Tränen der Enttäuschung, die sich den Weg zu seinen Augen bahnten, zu unterdrücken. Dann übermannte ihn schlagartig die Wut auf sich selbst, weil er den anderen seine Enttäuschung ungewollt offenbarte. Beschämt drehte er sich von ihnen weg. In diesem Moment spürte er eine sehr sanfte und dennoch starke, liebevolle Umarmung. MaPa umschloss ihn mit seinem ganzen Sein.

»Es ist genau deine Kraft, die Fay braucht, Edward. Die Kraft des kultivierten Kriegers, der nicht blind um sich schlägt und wahllos verletzt, sondern souverän für seine Interessen einsteht und auf sein Herz hört. Du bist der Krieger, der mit seiner Kraft für das Leben und die allumfassende Liebe steht. Ein Krieger der Schönheit, des Lebens, der Liebe und des Herzens. Du bist derjenige, der die Türen zu ihrem Innersten öffnen wird, und ebenso wirst du diese bewachen. Du wirst Fay begleiten, wenn sie Tür für Tür öffnet. Du wirst ihre tiefsten Geheimnisse, ihre Schätze, hüten.«

Erstaunt drehte sich Edward um. Er erkannte die große Bedeutung der Aufgabe, die ihm MaPa gerade erklärt hatte.

Nun richtete MaPa das Wort auch an die anderen: »Diana wird Fay dabei unterstützen, sich ihrer Weiblichkeit gewahr zu werden. Sie wird ihr helfen, sich von den Idealvorstellungen zu befreien, wie eine Frau zu sein hat. Sie wird dabei sein, wenn Fay ihre eigene Weiblichkeit schrittweise entdeckt. Selbstverständlich ist für diese Arbeit auch Edith unverzichtbar. Sie wird die Erinnerungen hinter den Türen, die Edward hütet, gemeinsam mit Fay sortieren. So kann Fay ihr wahres Selbst deutlicher erkennen. Lana, Funny und Sarah, ihr drei seid sehr wichtig für Fay auf ihrem weiteren Weg in der alltäglichen Welt. Für ihre nächsten Schritte ist es von großer Bedeutung, dass ihr eure Essenz in jedem Augenblick in Fays Leben fließen lasst. Sie wird Freude, Ruhe und Vertrauen in der nächsten Zeit dringend brauchen. Denkt daran, ihr seid nun zwar bei ihr, mit ihr verschmolzen, aber damit das auch so bleiben kann, braucht es Bemühungen von beiden Seiten. Von euch wie auch von Fay. Im Moment ist Fay noch ganz in der Energie der Vision. Das wird sich jedoch legen. Bereits morgen, am dritten Tag nach der Schwitzhütte, wird sie wieder voll und ganz im Alltag angekommen sein. Dann beginnt euer Einsatz erst richtig.«

Die Freunde nickten und wirkten alle recht nachdenklich. Eines war klar, langweilig würde die nächste Zeit jedenfalls nicht werden.

MaPa lächelte. Es konnte alle ihre Gedanken wahrnehmen und meinte: »Schön, dass ihr es so seht. Ich wünsche euch viel Kraft und Mut. Es bleibt spannend.« Mit diesen Worten verschwand MaPa von der Lichtung im Garten.

»Es bleibt spannend«, wiederholte Sir Samtpfote und schnurrte. Seine Schwanzspitze zuckte, und für einen Augenblick meinte er, einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Aber ganz sicher war er sich nicht, und so behielt er es für sich.

Der dritte Tag

Fay wurde schlagartig wach, als es an ihrer Tür Sturm klingelte. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand, und sie musste sich erst einmal orientieren. Sie lag in ihrem Bett, und vor ihrer Wohnungstür stand offenbar ein Verrückter.

»Ich komme ja schon!«, rief sie laut. Es klang genervter, als sie es beabsichtigt hatte. Schlaftrunken stand sie auf und blickte sich um. Wo war ihr Bademantel? Wenigstens hatte das Dauerklingeln aufgehört. Sie lief ins Badezimmer. Da lag er. Schnell schlüpfte sie in das alte Ding. Den Blick in den Spiegel ersparte sie sich. Im Gang lagen noch ihre Sachen, die sie gestern Abend dort fallen gelassen hatte. Als sie mit dem Fuß alles beiseiteschob, läutete es erneut. Sie öffnete die Tür. Vor ihr stand der Postbote. Grinsend musterte er sie von oben bis unten, was Fays Stimmung nicht gerade hob. Sie zog den Bademantel enger um sich.

»Ja, bitte?«, fragte sie harsch.

»Ähm ja, sind Sie Frau Heylrich?«, stammelte der Postbote.

»Ja, steht doch hier direkt unter der Klingel, oder?«, zischte Fay schärfer, als sie es von sich kannte. Ein bisschen erschrak sie darüber, aber nur ein bisschen.

»Ich habe hier ein Einschreiben für Sie. Das müssten Sie mir bitte unterschreiben.« Er hielt Fay einen Zettel und einen Stift hin, und sie setzte ihre Signatur neben das Kreuzchen.

»Vielen Dank, hier noch die restliche Post für Sie.« Mit diesen Worten drückte er Fay einige Briefe in die Hand, drehte sich um und ging grußlos davon.

Einen Moment später fasste sich Fay und rief ihm hinterher: »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!« Das wünschte sie ihm ehrlich.

Der Postbote drehte sich noch einmal zu ihr um und grinste sie an. »Ich Ihnen auch, Frau Heylrich.«

Mit der Post in der Hand ging Fay in die Küche. Sie stellte Teewasser auf und öffnete das Einschreiben. Es kam von der Hauseigentümerverwaltung. Wohl ein Bescheid über die Erhöhung der Betriebskosten, dachte Fay genervt. Sie überflog den Brief, und ihr Herz begann, heftig zu klopfen. Es ging nicht um die Betriebskosten. Die Wohnungen sollten verkauft werden! Die Eigentümer, vorwiegend private Investoren, hatten beschlossen, die alten Wohnungen abzugeben, da es sich ihrer Meinung nach nicht mehr lohnen würde, im Randbezirk einen Umbau zu finanzieren. Die Alternative zum Umbau wäre der Abriss der gesamten Anlage, der jedoch ebenso teuer wäre. Also boten sie Fay einen sogenannten Vorkauf an. Unter Berücksichtigung der von ihr in den letzten Jahren schon bezahlten Miete blieb noch ein Restbetrag von 31 295 Euro übrig, den sie aufbringen müsste, um die Wohnung zu kaufen. Ansonsten würde sie die Wohnung innerhalb der nächsten drei Monate räumen müssen. Das ist so ungefähr die Summe, die ich gespart habe, dachte sich Fay. Sie ließ den Brief sinken. Das Teewasser kochte, und sie goss sich ihre Kräuter auf.

Der nächste Brief war von der Arbeitsagentur. Nachdem sie selbst gekündigt hatte, waren für sie die Arbeitslosenbezüge für die ersten vier Wochen gesperrt worden. Sie musste sich also für diese Zeit selbst versichern. Hierfür lag der Zahlschein im Kuvert: 50 Euro für einen Monat. Außerdem sollte sie sich innerhalb von zwei Wochen auf dem Amt melden, weil sich sonst jeder weitere Bezug des Arbeitslosengeldes um eben diese Zeit verzögern würde. Na Klasse!, dachte sich Fay.

Sie ging ins Wohnzimmer, warf die Post achtlos auf den Tisch, öffnete die Terrassentür und trat mit ihrem Tee in der Hand hinaus ins Freie. Im nächsten Moment strich Pfötchen um ihre Beine. Fay lächelte. Sie stellte den Tee ab, hob Pfötchen hoch und vergrub ihr Gesicht in seinem weichen Fell.

»Na, du? Dir ist es sicher gut ergangen.« Liebevoll kraulte sie ihren Kater. Pfötchen rieb seinen Kopf an Fay und genoss es sichtlich, von ihr liebkost zu werden. Fay hörte, wie nebenan die Terrassentür geöffnet wurde. Hugo kam in den Garten.

»Oh, Fräulein Fay. Schön, dass du von deinem Abenteuer wieder gesund zurückgekehrt bist.«

Fay begrüßte ihren Nachbarn herzlich. In ihr breitete sich ein warmes Gefühl aus. Pfötchen sprang aus ihren Armen und lief hinüber zu Hugo.

»Wir hatten es gut zusammen, nicht wahr, Pfötchen?«, sagte Hugo in Richtung des Katers. »Miau!« kam als Antwort. Fay und Hugo mussten beide lachen. Es ist schön, wieder hier zu sein und Hugos Gesellschaft genießen zu können – nur wie lange noch?, dachte Fay.

»Hugo, hast du auch diesen Brief von der Eigentümergemeinschaft bekommen?«, fragte Fay den alten Mann.

»Natürlich, meine Liebe, den habe ich auch bekommen«, antwortete Hugo ruhig.

»Und was wirst du tun?«, fragte Fay ein wenig ängstlich.

»Hm, ich werde wohl ausziehen. Ich werde nicht jünger, und es gibt hier in der Nähe eine Seniorenresidenz, die mir gefallen würde. Kein Altersheim, nein. Ich kann dort in einer Wohnung mit Garten wohnen. Eine wie diese hier. Dort leben auch andere Leute in meinem Alter, und es gibt Gemeinschaftsräume, wo Konzerte und Spieleabende stattfinden. Für Notfälle gibt es einen Arzt und eine Krankenschwester auf Abruf. Außerdem besteht die Möglichkeit, ins Restaurant zu gehen, wenn ich nicht selbst kochen möchte. Ich kann mir das gut vorstellen. Marcel überlegt, ob er die Wohnung kaufen soll. Sie ist günstig, da ich schon lange hier lebe. Er hätte dann eine sichere Bleibe, die ihn obendrein nichts kostet, wenn er unterwegs ist.«

Bei der Erwähnung von Marcel machte Fays Herz einen freudigen Sprung. Sie spürte Hitze in sich aufsteigen und wusste, dass sie errötete. Das war ihr peinlich. Und dass es ihr so offensichtlich peinlich war, machte sie wütend. Fay war überrascht von diesem Karussell der Gefühle, das sie heute innerhalb relativ kurzer Zeit schon durchlebt hatte. Zudem erstaunte sie die Fülle an plötzlichen Veränderungen, die fraglos auf sie zukamen.

»Und was wirst du machen, Fay?«, fragte Hugo.

Fay zuckte mit den Schultern. »Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Im Moment bin ich mit dieser Entscheidung ein wenig überfordert.«

Fay spürte plötzlich eine Veränderung in sich, ein Ziehen. Es war subtil, aber vorhanden. Es schmerzte auf eine gewisse Weise, war aber nicht wirklich unangenehm. Wie ein Seufzen, das in ihr nachhallte. Für einen Moment glaubte sie, wieder einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Im nächsten Augenblick war wieder alles wie gewohnt. Fay entwich ein sonderbarer Laut. Ups, dachte sie, das war jetzt genau dieses Seufzen, das ich gerade eben gespürt habe.

Fay schüttelte den Kopf. »Mal sehen. Ich habe ja noch etwas Zeit, mir die Sache zu überlegen«, schob sie als Antwort auf Hugos Frage hinterher.

Das Telefon in Hugos Wohnung klingelte. Er nickte Fay zum Abschied zu und ging zum Apparat. »Hallo? Ja. Ich freue mich. Dann sehen wir uns heute Abend, mein Sohn. Gut, bis dann.«

Heute Abend würde Marcel also wiederkommen. Fay wurde ganz warm ums Herz, und sie spürte, wie sich diese Wärme auch von ihrer Mitte aus zu ihrem Schoß hin ausbreitete. Sie würde Marcel wiedersehen. Ob sich nach ihren Erfahrungen in den Bergen etwas an ihren Gefühlen für ihn verändert hatte? Wenn sie an ihn dachte, war da ein süßer Schmerz, ein leichtes Ziehen in ihrer Mitte. War das Liebe?

Hugo kehrte in den Garten zurück. »Marcel kommt heute Abend von seiner Vortragsreihe zurück. Er bringt eine Freundin mit, Maya, eine sehr nette und gebildete Person. Die beiden kennen sich seit dem Studium.« Fay spürte einen Stich in ihrem Herzen, und gleichzeitig verschob sich ihre Mitte. »Ich möchte dich gerne einladen, den Abend mit uns zu verbringen. Fay, hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte Hugo.

»Ähm. Ja, gerne, Hugo. Wann, hast du gesagt, treffen wir uns?«, wollte Fay wissen.

»Die beiden kommen am frühen Abend. Ich werde für uns kochen. Hermine kommt sicher auch gerne dazu. Wenn sie von ihrem Spaziergang im Park zurück ist, werde ich sie fragen. Vielleicht macht sie für uns zum Nachtisch ja einen ihrer legendären Kuchen.« Schelmisch zwinkerte Hugo Fay bei diesen Worten zu.

»Okay, ich habe noch einiges zu tun. Wir sehen uns am frühen Abend. Ich bringe den Wein mit. Ich muss sowieso noch einkaufen gehen.«

Fay ging zurück in ihre Wohnung und überlegte, was sie in welcher Reihenfolge erledigen sollte.

Eine Begegnung

Edward war, wie es ihm entsprach, auf der Lichtung in Fays Seelengarten, um diesen zu hüten. Er freute sich über die Veränderung, die hier im Garten vor sich gegangen war, und dennoch spürte er einen leichten Schmerz. Eine Ungläubigkeit, was den weiteren Weg und Fays Kraft betraf. Ja, er zweifelte. Obwohl er sich vom Sumpf entfernt hatte, war doch ein leiser Zweifel geblieben. Ob dieser jemals ganz verschwinden würde? Edward blickte auf. War da etwas? Er glaubte, direkt neben sich eine schnelle Bewegung wahrgenommen zu haben. Edward schüttelte den Kopf. Hier war Fays Garten. Nichts und niemand konnte diesen ohne Fays Einladung betreten. So war es vereinbart. Edward stand auf und streckte sich. Ich könnte doch mal die Gegend ein wenig erkunden, dachte er bei sich und schaute sich um.

Der Garten hatte sich schon sehr verändert. Die Quelle sprudelte munter vor sich hin, und überall blühte und summte es. Der Weiher war klar und voller Leben. Edward hob seinen Blick und schaute über die Lichtung hinaus auf den Wald und die Berge dahinter. Er konnte Rauch sehen. Was war da hinten? Sieht aus wie ein Lagerfeuer, dachte er. Das muss ich Fay bei ihrem nächsten Besuch zeigen, beschloss Edward. Auf der anderen Seite konnte er in einiger Entfernung an einem Hang umgefallene, abgestorbene Bäume sehen. Sie lagen da wie nach einem Sturm oder einem Erdrutsch. Er drehte sich weiter und blickte nun auf eine hohe Felswand, die anscheinend mehrere Höhlen hatte.

»Ob diese Höhlen wohl einige der Schätze bergen, von denen MaPa gesprochen hat?«, überlegte er laut.

Als er seinen Blick über die letzte Seite des Gartens schweifen ließ, erblickte er etwas, was seine Aufmerksamkeit gefangen nahm. Es beunruhigte ihn weitaus mehr als das Feuer, der kahle Hang oder die Höhlen. Er sah ein Wesen, das sich ihm näherte. Edward hatte es noch nie zuvor gesehen. Es war wunderschön und verwirrend zugleich. Es faszinierte ihn und machte ihm Angst. Edward war sich nicht sicher, ob es eine Frau oder ein sehr schlanker Mann war. Aber noch wichtiger war die Frage: Was tat es hier in Fays Garten? Sie hatten doch alle gemeinsam den Garten in diesem Tempel der Kraft eingeschlossen. Es konnte also nur hereinkommen, was Fay eingeladen hatte. Edward war wirklich verwirrt. Er konnte sich nicht erklären, warum Fay dieses Wesen eingeladen haben sollte.

Im nächsten Moment stand es direkt vor ihm. Viel zu nah. Edward wich einen Schritt zurück. Selbst jetzt konnte er nicht genau sagen, ob das Wesen vor ihm eine Frau oder ein Mann oder keines von beiden war. Es schien keine wirkliche Form zu haben und auch nicht richtig auf dem Boden zu stehen. Es war, als würde es vor ihm in der Luft schweben. Edward lief ein Schauer über den Rücken.

»Wer bist du?«, fragte Edward.

Im nächsten Augenblick war das Wesen wieder weiter fort. Es drehte und wand sich beinahe so, als ob es tanzen würde. Edward hörte ein leises Kichern und dann eine zarte Stimme, die ihm in einem eigenartigen Singsang zurief:

»Ich bin da und auch schon weg,

rüttle dich wach, halte dich in Schach.

Kann dir von Nutzen sein,

aber auch ein Stolperstein.

Bin stets in deinem Leben,

kann dir viele Erfahrungen geben.

Manchmal magst du mich, manchmal hasst du mich,

je nachdem, um was es geht, je nachdem, wer vor dir steht.«

Die letzten Worte wurden hinter seinem Rücken in sein Ohr geflüstert. Er wirbelte herum und konnte gerade noch wahrnehmen, wie das Wesen mit einem verrückten Kichern verschwand.

Edward war zutiefst verwirrt. Er konnte das Wesen nicht mehr sehen oder hören. Es war wie vom Erdboden verschluckt. Langsam und nachdenklich ging er zurück zur Hütte auf der Lichtung. Die anderen waren nicht da. Edward wusste nicht, wo sie sich aufhielten. Er sandte die Bitte aus, dass sie zu ihm auf die Lichtung kommen sollten, damit er ihnen von seiner Begegnung erzählen konnte. Er setzte sich an den runden Tisch in der Hütte und wartete.

Einnorden

Nachdem Fay ihren Tee getrunken hatte, räumte sie die Sachen, die noch im Gang lagen, weg. Pfötchen strich um ihre Beine und schnurrte hingebungsvoll. Fay hatte ein eigenartiges Gefühl. Sie fühlte sich beobachtet. Dabei waren doch nur Pfötchen und sie in der Wohnung. Sie schlenderte in die Küche, schnappte sich einen Notizblock und begann, sich zu überlegen, was sie einkaufen musste. Putenfleisch für Pfötchen, Milch, Obst, Gemüse und etwas für morgen zum Frühstücken. In Gedanken versunken schrieb Fay ihre Einkaufsliste, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung sah.

»Kommst du zu mir in die Küche?«, fragte sie geistesabwesend und blickte in Richtung der Bewegung. Da war jedoch nichts auszumachen. Fay richtete sich auf. »Pfötchen?«, rief sie. Sie ging hinüber ins Wohnzimmer und sah Pfötchen entspannt auf dem Sofa liegen und schlafen. Eigenartig, dachte sie. Fay schüttelte den Kopf und ging zurück in die Küche. Als sie weiterschreiben wollte, war ihr Stift verschwunden. Fay schaute auf den Boden. Es wäre ja möglich, dass er vom Tisch gerollt war. Kein Stift. Sie überlegte. Hatte sie den Stift mit ins Wohnzimmer genommen? Sie ging nochmals in den anderen Raum, obwohl sie sich eigentlich sicher war, den Stift in der Küche auf den Tisch gelegt zu haben. Auch kein Stift. Ein komisches Gefühl breitete sich in Fay aus.

Was soll das? Bin ich verrückt geworden? Ich weiß genau, dass ich den Stift in der Küche gelassen habe!, dachte sie verwirrt. Zurück in der Küche blieb Fay wie angewurzelt stehen. Sie sah den Stift auf ihrem Blatt liegen. Genau da, wo sie ihn hatte liegen lassen. Jetzt zweifelte sie wirklich an ihrer Wahrnehmung. Das konnte doch nicht nur Einbildung gewesen sein! Oder doch? In diesem Moment kam Pfötchen um die Ecke, miaute und blickte Fay direkt an.

»Hast du etwas damit zu tun?«, fragte sie den Kater. Pfötchen hob eine Pfote und begann, sie zu putzen. Plötzlich hielt er inne und blickte aufmerksam in eine Ecke der Küche. Seine Barthaare und Ohren zuckten. Sein Schwanz schweifte von einer Seite zur anderen. Dann schüttelte er sich, blickte nochmals kurz in die Ecke, drehte sich um und verließ die Küche. Fay blickte ihm nach, und für einen Moment glaubte sie, einen Schatten um eben jene Ecke huschen zu sehen.

Okay, sie hatte einige intensive Tage hinter sich und musste sich erst wieder an die alltägliche Welt gewöhnen. Das hatte Hans ihnen im Abschlusskreis erklärt. Fay hielt inne und dachte an das zurück, was Hans ihnen allen ans Herz gelegt hatte, als sie von dem Platz in den Bergen Abschied nahmen:

»Die Zeit, die ihr hier verbracht habt, kann euch niemand mehr nehmen. Sie ist nun ein Teil eures Lebens. Aber nun gilt es, all das, was ihr erlebt habt, auch in euer alltägliches Leben zu integrieren. Es ist wichtig, dass ihr in der nächsten Zeit nach und nach eure Erfahrungen, die Informationen und die Kraft aus der Vision in euer Leben holt, damit diese Wurzeln bekommt. Schafft in eurem Leben eine Grundlage, auf der ihr eure Vision verwirklichen könnt. Was auch immer das für jeden Einzelnen von euch bedeuten mag. Vertieft den Kontakt zu euren Verbündeten. Sie sind für euch da, wenn ihr sie braucht. Ihr müsst sie nur fragen, euch die Zeit nehmen, mit ihnen in Kontakt zu treten. Denkt daran, eine schamanische Reise immer mit einer klaren Absicht anzutreten. Seid aufmerksam und in eurer Mitte. Wenn ihr euch die Zeit nehmt, mit ihnen in Verbindung zu treten, werden sie euch helfen. Es kann sein, dass sich in eurem Leben nun manche Dinge sehr schnell verändern werden. Das passiert oft, wenn sich Menschen intensiv mit sich selbst und ihrem Lebensweg beschäftigen. Es kann dabei auch zu heftigen Krisen kommen, sogenannten Heilkrisen. Darüber haben wir schon geredet. Erinnert ihr euch?«

Fay erinnerte sich.

»Wenn ihr eine solche Heilkrise erleben solltet, dann meldet euch bei mir. Ich bin für euch da. Zu einem solchen Zeitpunkt ist es wichtig, seine Erlebnisse zu reflektieren. Dabei begleite ich euch. Seid darauf gefasst, dass es die folgenden Tage turbulent werden kann. Nach einer Reise in der alltäglichen Welt, wie unsere hierher in die Berge, dauert es drei Tage, bis eure Seele wieder in eurem Körper angekommen ist. Von eurer Seelenreise, der Visionssuche in der Anderswelt, seid ihr durch die Zeremonie in der Schwitzhütte zurück in eure Körper gekommen. Wovon ich jetzt rede, sind eure energetischen Spuren in der alltäglichen Welt. Wenn ihr an einen Ort reist, an dem ihr euch besonders wohlfühlt, dann kann es sein, dass ein Teil von euch dortbleiben möchte. Ihr hinterlasst überall, wohin ihr geht, energetische Spuren. Wenn ihr von etwas oder von einem Ort beeindruckt seid, dann hinterlasst ihr dort ebenfalls einen Eindruck, einen Abdruck im Energiefeld. Das ist wie eine energetische Signatur. Ihr könnt während einer schamanischen Reise an alle Orte zurückkehren, die ihr in eurem Leben bereits besucht habt, und erforschen, an welchen Stellen eure energetischen Bindungen liegen. Dort befinden sich kleine Tropfen eurer Kraft. Diese könnt ihr euch zurückholen. Aus eurer Mitte heraus verbinden euch Energiefäden mit diesen Orten. Löst diese Fäden, und zieht sie zu euch zurück. Bittet eure Verbündeten darum, euch zu helfen. Diese Technik wird ›Einnorden‹ genannt.«

Hans hatte noch mehr gesagt, aber Fay erinnerte sich nur noch bruchstückhaft an seine Worte. Sie war noch zu beschäftigt mit all dem gewesen, was sie gerade erst erlebt hatte. Da war kein Platz mehr für andere Informationen gewesen.

Es ist also alles ganz normal. Ich bin dabei, wieder bei mir anzukommen. Es ist der dritte Tag, dachte Fay und grinste. Turbulent würde es werden, hatte Hans gesagt. Ja, das konnte Fay nur bestätigen. Jetzt, nachdem sie sich an Hans’ Worte erinnert hatte, ging es ihr etwas besser.

Sie schrieb ihre Liste fertig, zog sich an und machte sich auf den Weg zum Einkaufen. Das »Einnorden« würde sie dann am Nachmittag machen, wenn sie alles andere erledigt hatte.

Es war ein schöner, milder Frühlingstag. Es ist überhaupt ein schöner Frühling, dachte sich Fay, während sie die Straße entlanglief. Gerade als sie an der Straßenbahnhaltestelle vorbeiging, kam eine Bahn. Spontan entschloss sie sich, in die Stadt zu fahren, um dort einzukaufen. Die Straßenbahn war um diese Zeit ebenso gut gefüllt wie zu ihrer früheren Arbeitszeit. Nur die Fahrgäste waren andere. Sie sahen nicht nach Leuten aus, die in ihre Firmen fuhren. Vor allem ältere Leute und Mütter mit kleinen Kindern saßen mit ihr im Waggon. Außer einer Mutter mit einem etwa dreijährigen Kind redete niemand. Gelegentlich erklang ein Räuspern oder ein Hüsteln, sonst nichts.

Fay sah in die unterschiedlichen Gesichter. Die meisten wirkten teilnahmslos. Ihr Blick blieb an den Augen eines Kindes hängen, das ihr direkt ins Gesicht schaute. Sie lächelte das Kind an, und es lächelte zurück.

»Schau, Mama, da ist eine freundliche Frau! Sie lächelt mich an!«

Die Mutter drehte sich zu Fay um und schaute sie missmutig an. »Anna, mit Fremden sollst du doch nicht reden. Das habe ich dir schon so oft gesagt«, ermahnte sie ihre Tochter.

»Aber ich hab doch gar nicht mit ihr geredet!«, erwiderte Anna. »Ich habe sie nur angeschaut. Dann hat sie mich angelächelt, und ich hab zurückgelächelt.«

»Lass das bleiben, Anna, sie ist eine Fremde!«, befahl die Mutter streng.

Fay konnte das Misstrauen und die Angst der Frau förmlich riechen. Es war ein eigenartiges Gefühl, eines, das sie kannte, bis vor Kurzem selbst noch gelebt hatte, das aber jetzt nur noch eine Erinnerung war. An der nächsten Station stieg die Frau mit ihrer Tochter aus. Beim Aussteigen blickte Anna nochmals zu Fay zurück und lächelte. Dieses Lächeln ließ Fays Herz hüpfen. Die Kleine hatte gespürt, dass Fay ihr wohlgesonnen war. Fay lächelte zurück und winkte der kleinen, mutigen Anna nach.

Am Hauptplatz in der Stadt stieg sie aus und ging in die Fußgängerzone. Sie war schon lange nicht mehr hier in der Innenstadt gewesen. Als sie noch bei »Babylon« gearbeitet hatte, war ihr keine Zeit für Ausflüge in die Stadt geblieben. Sie ging die Straße entlang und betrachtete die Auslagen der Geschäfte. Überfluss, wohin sie auch sah. Brauchen wir Menschen wirklich so viele Dinge?, ging es ihr durch den Kopf.

Eine kleine Seitengasse zog Fays Aufmerksamkeit auf sich. Weiter hinten sah sie einen Ständer, auf dem bunte Kleider hingen. Ähnlich denen, die sie bei ihrem Ausflug zu ihrer Mutter gekauft hatte. Es sah ganz so aus, als ob da noch ein Laden wäre. Fay ging in die Straße hinein, und sofort umfing sie ein süßer, angenehmer Duft. Als sie vor dem Laden ankam, der die Kleider ausstellte, sah sie den Grund dafür. In einer Schale vor dem Geschäft brannten Räucherstäbchen und verbreiteten ihr Aroma. Neugierig schaute Fay durch das Schaufenster, in dem verschiedene Buddhastatuen, Trommeln, Fahnen und Steine lagen, in den Laden hinein. Er schien innen größer zu sein, als er von außen wirkte. Fay konnte im hinteren Teil eine Wendeltreppe erkennen, die in den oberen Stock führte.

Fay betrat den Laden. Angenehme Musik klang leise aus den Ecken. Sie hörte zwei Frauenstimmen und ging in die Richtung, aus der sie kamen. Hinter der Wendeltreppe reihten sich Bücherregale aneinander. Fay fühlte sich in diesem Geschäft jetzt schon wohl. Als sie um die Regale herum kam, stand sie vor einer gemütlichen Sitzecke, in der sich zwei Frauen angeregt miteinander unterhielten. Beide waren etwa Mitte fünfzig. Fay empfand sie auf ihre Art als recht attraktiv. Die schlankere der beiden Frauen saß in Fays Richtung blickend. Sie unterbrach das Gespräch, als sie Fay bemerkte.

»Schau mal, du hast Kundschaft, Nana«, sagte sie und lächelte Fay zu.

Die zweite Frau drehte sich um und blickte Fay offen und freundlich ins Gesicht. »Hallo, schön, dass du uns gefunden hast. Wie kann ich dir helfen? Ich bin Nana, das ist mein Laden, und ich freue mich, dir nach Möglichkeit deine Wünsche zu erfüllen.«

Von diesem Redeschwall war Fay erst einmal überwältigt. Sie stand da und wusste nicht so recht, was sie antworten sollte.

»Ähm, danke, sehr freundlich. Ich möchte mich nur mal umsehen. Einen schönen Laden haben Sie hier.« Mit diesen Worten drehte sich Fay um.

Noch bevor sie das erste Regal umrundet hatte, hörte sie Nana sagen: »Wenn du Hilfe brauchst oder eine Frage hast, weißt du, wo ich bin.«

»Ja, danke«, erwiderte Fay und ging in den vorderen Bereich des Ladens zurück, um sich genauer umzuschauen.

Es gab eine Ecke mit Kräuterprodukten aus biologischem Anbau. Sie erblickte verschiedene Seifen und Gewürze, diverses Räucherwerk und eine große Auswahl an Tee- und Essigsorten. Daneben hingen Kleidungsstücke aus Leinen, Hanf, Baumwolle oder anderen Stoffen, die als fair gehandelt und biologisch nachhaltig ausgewiesen waren. Eine weitere Nische des Geschäfts beherbergte jede Menge Buddha- und andere Heiligenfiguren, Klangschalen und Glöckchen. Daran grenzte ein Bereich mit Schmuck aus Nordamerika. Danach kamen Friedenspfeifen und Mokassins aus Leder. Tiefer im Laden fand sie Trommeln verschiedenster Art, aber auch Didgeridoos und Rasseln. Fay hatte den Eindruck, dass alle Kulturen der Welt hier vertreten waren. Als ihr Blick auf den Kassenbereich fiel, sprang ihr dort ein Prospekt ins Auge. Fay las seinen Titel: Veranstaltungen in Nanas Regenbogentempel. Fay nahm sich einen Prospekt und wollte gerade weitergehen, als die beiden Frauen zu ihr kamen.

»Konntest du finden, was du gesucht hast?«, fragte die Frau namens Nana freundlich. Ihre Augen waren wach und sanft.

»Nein, ich habe nichts Bestimmtes gesucht. Ich habe nur Ihren Laden von der Straße aus gesehen und war neugierig«, erwiderte Fay. »Ich habe mir Ihren Prospekt mitgenommen, den schaue ich mir zu Hause genauer an«, fügte sie hinzu. Fay wedelte mit dem Zettel in ihrer Hand und war schon unterwegs zur Tür.

»Ich wünsche dir noch einen schönen Tag. Auf Wiedersehen!«, rief Nana ihr nach.

»Danke, ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag«, sagte Fay und ging hinaus auf die Straße. Interessanter Laden, dachte sich Fay, während sie zum Hauptweg der Fußgängerpassage zurückging.

Sie lief ein Stückchen weiter und betrat das große Kaufhaus, in dem sie alle ihre Einkäufe erledigen konnte. Sie hakte der Reihe nach ihre Einkaufsliste ab und bummelte anschließend noch ein wenig durch das Kaufhaus. Als sie Hunger bekam, ging sie in ein Fast-Food-Restaurant und bestellte sich Gemüsenuggets mit Sauerrahmsoße und einen Salat. Das Wetter war so schön, dass sich Fay entschied, draußen zu essen. Also schlenderte sie hinaus ins Freie. Sie fand eine unbesetzte Bank und ließ sich darauf nieder. Kaum hatte sie ihre Nuggets ausgepackt, setzte sich ein älterer, unangenehm riechender Mann neben sie.

»Hamse mal n Euro, junge Frau?«, lallte er Fay ins Gesicht. Er roch stark nach Alkohol. Fay blieb der Bissen im Hals stecken. Hastig kaute sie weiter und schluckte. »Hä? Was nu? Hamse n Euro oder nich?«

Fay schaute ihm ins Gesicht. »Haben Sie Hunger? Ich überlasse Ihnen gerne meine Nuggets«, bot sie ihm freundlich an.

»Die Dinger will ich nich. Ich will Kohle, haste was für mich?«, fragte er dreist ein weiteres Mal.

Fay fühlte sich unbehaglich. Sie wollte dem Mann kein Geld geben. Er würde es ziemlich sicher in Alkohol investieren. Aber sie fürchtete sich auch davor, was er tun könnte, wenn sie ihm keinen Euro gab. Sie spürte, wie sich ihre Mitte verschob und sich ihr Magen zusammenzog.

»Ich hab kein Geld übrig«, log Fay leise.

»Hä? Was haste gesagt? Haste kein Geld übrig?« Der Mann wurde lauter und bohrte Fay einen Finger in ihren Oberarm.

Himmel noch mal, was passiert hier gerade?, dachte Fay und spürte, wie Angst in ihr hochstieg. Sie versuchte, in ihre Mitte zu atmen und ruhig zu werden. Lauter und, wie sie empfand, auch mit mehr Kraft in ihrer Stimme antwortete sie dem Mann: »Ich habe kein Geld für Sie, lassen Sie mich bitte in Ruhe!«

»Hä? Meinst du, ich glaub dir das? Du lügst doch!« Er umfasste unsanft Fays Handgelenk. »Los! Gib mir was von deiner Kohle!«, forderte er unwirsch.

Fay durchfuhr in diesem Moment ein Gefühl der Kraft, sie spürte Edward, den Ritter, in sich. Sie stand auf, wobei sie sich blitzschnell dem Griff des Mannes entzog, und schaute ihn direkt an. Sehr laut und deutlich sagte sie nun zu dem Fremden: »Sie können gerne von mir mein Mittagessen haben, aber ich gebe Ihnen kein Geld für Alkohol. Entweder ist Ihnen das genug, oder Sie lassen mich jetzt sofort in Ruhe.«

Fay hatte so laut gesprochen, dass es beinahe jeder im Umkreis von mehreren Metern gehört hatte. Das war auch dem Bettler klar. Missmutig und obszöne Beschimpfungen in Fays Richtung murrend stand er auf und schlurfte davon.

Wow, cool!, dachte sich Fay. So gehts also auch. Danke für deinen Beistand, edler Ritter Edward. Fay war sich im Klaren darüber, dass Edward ein Teil von ihr war. Sie bedankte sich also genau genommen gerade bei sich selbst. Er war ein Teil ihrer Kraft, die sie zurückgewonnen hatte und jetzt leben konnte. Es tat gut, für sich selbst einzustehen. Fay wünschte sich, dass sie in Zukunft immer öfter in der Lage sein würde, so zu handeln.

Irgendwie war ihr der Hunger vergangen. Außerdem war es sowieso Zeit, nach Hause zu fahren. Sie hatte sich ziemlich in der Stadt verbummelt. Fay machte sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Es war bald Abend. Die Straßen füllten sich mit den Menschen, die nach der Arbeit ihren Heimweg antraten. Sie eilten hektisch an Fay vorbei durch die Gassen. Die meisten hatten ihr Handy an einem Ohr oder schrieben sogar im Laufen SMS. Jeder schien in seiner eigenen Welt zu sein. Keiner bemerkte, was um ihn herum geschah. In Fay stieg eine Frage hoch: Lebten diese Menschen wirklich? Manche von ihnen kamen ihr wie Maschinen oder Roboter vor. Fremdgesteuerte Wesen.

Die Straßenbahn kam, und Fay stieg ein. Sie schloss ihre Augen und dachte über ihre Begegnungen am Nachmittag nach. An das Kind mit seiner Mutter, die solche Angst gehabt hatte. An die beiden Frauen im Laden – das genaue Gegenteil. Sie hätte ohne Weiteres etwas klauen können. Die beiden hätten das dort hinten in der Sitzecke nicht bemerkt. War es Vertrauen oder einfach Dummheit gewesen?

Fay staunte einen Moment über diesen Gedanken. Klar konnte es auch Dummheit sein. Wer ließ heutzutage schon Fremde in einem Laden unbeaufsichtigt?

Wieder dieses Gefühl, bekannt und doch nicht greifbar. Fay spürte nach, es war wie ein leichtes Verschieben der Mitte, ungewiss, nicht wirklich, aber doch … Es war zum Verrücktwerden. Fay konnte dieses Gefühl nicht einordnen. Sie wusste, dass sie es kannte, aber es entzog sich ihr immer in dem Augenblick, in dem sie meinte, es zuordnen zu können.

Dann der Mann im Park. Er hatte sie an ihre Eltern erinnert. Damals, als die beiden noch getrunken hatten, hatten sie auch manchmal wie er gerochen, wenn auch nicht so extrem. Er war dazu noch sehr schmutzig gewesen und hatte nach Urin gestunken. In dieser Situation hatte sie definitiv anders reagiert, als sie es früher getan hätte. Bis vor Kurzem hätte sie dem Typ ängstlich ihr Geld gegeben, nur um von ihm in Ruhe gelassen zu werden. Fay war mit sich selbst zufrieden. Sie hatte gut reagiert, denn sie hatte zu sich selbst gestanden.

»Bist du das, Fay?«, hörte sie in dem Moment eine Stimme von weiter hinten. Sie reagierte nicht darauf. Es war bestimmt jemand anderes gemeint. Obwohl, so viele andere Fays kenne ich nicht, ging es ihr durch den Kopf. »Fay Heylrich, bist du das?«, fragte die Stimme diesmal eine Spur lauter und auch näher. Fay öffnete die Augen, vor ihr stand ein durchaus attraktiver Mann in ihrem Alter. »Ja, du bist es! Diese Augen. Die werde ich nie vergessen. Ein braunes und ein blaues«, rief der Mann und lachte herzlich. Es war definitiv keiner ihrer Ex-Freunde, auch niemand von ihren ehemaligen Arbeitskollegen bei »Babylon«. Wer war der Mann, der da vor ihr stand und sie wie eine alte Freundin begrüßte? »Erkennst du mich nicht? Ich bin es. Peter, Peter Wagenreich. Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen.«

Peter Wagenreich. Fay grub in ihren Erinnerungen, und ganz langsam fügte sich ein Bild dem Namen hinzu. Peter Wagenreich war ein kleiner, dicker Junge mit fettigen, dunklen Haaren und Seitenscheitel gewesen. Eines der Prügelkinder, ein Außenseiter wie sie selbst. Aber das Bild aus ihrer Erinnerung hatte absolut nichts mit dem Mann zu tun, der vor ihr stand. Fay schaute ihn mit offenem Mund an.

Sie schnappte nach Luft und stammelte: »Peter Wagenreich – der Mops?« Schnell hielt sie sich den Mund zu. Hitze stieg ihr ins Gesicht, und sie wusste, dass sie einen roten Kopf bekam.

Peter lachte. »Ja, genau, so wurde ich genannt. Peter, der Mops. Du warst Fay, die Brillenschlange«, grinste er sie an. »Und du kannst heute immer noch so bezaubernd erröten wie damals.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Fay war richtig verlegen. Sie hatte ihn nicht erkannt. Wie auch? So, wie er jetzt aussah! »Du bist eine richtig hübsche Frau geworden, Fay«, sagte er. Fay schaute ihn an und spürte, dass er es ehrlich meinte. »Darf ich mich bitte neben dich setzen? Ich muss noch ein paar Stationen fahren.« Mit diesen Worten setzte sich Peter auch schon neben sie.

Für den Rest der gemeinsamen Fahrt unterhielten sich die beiden angeregt über ihre Schulzeit und darüber, was danach so geschehen war. Fay fühlte sich wohl. Es machte ihr Spaß, mit Peter an die alten Geschichten zurückzudenken. Wohl auch, weil er wie sie nie richtig dazugehört hatte. Peter stieg eine Station vor Fay aus. Er wohnte also ganz in ihrer Nähe. Sie tauschten ihre Telefonnummern aus. Peter war sichtlich erstaunt darüber, dass Fay kein Handy besaß. Sie sah ihm nach, als die Straßenbahn weiterfuhr. Der hat sich echt gut gemacht, sicher ist er bei den Mädels der Hahn im Korb, dachte sie bei sich.

Als Fay beschwingt aus der Straßenbahn stieg, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Wie war das gewesen? Es konnte turbulent werden? Fay lachte. Sie fühlte sich zuversichtlich und voller Abenteuerlust. Heute Abend würde sie Marcel wiedersehen. Bei dem Gedanken an ihn schlug ihr Herz etwas schneller. Flotten Schrittes ging sie auf das Haus zu, in dem sie wohnte.

Am runden Tisch

Edward und die anderen hatten sich inzwischen vollzählig am runden Tisch in der Hütte auf Fays Lichtung versammelt. Edward erzählte den anderen von seinen Erlebnissen im Garten. Vor allem erzählte er ihnen von der Wesenheit, die er wahrgenommen hatte. Während sie alle noch über das nachdachten, was ihnen Edward gerade erzählt hatte, veränderte sich etwas draußen vor der Hütte.

Sarah bemerkte es als Erste. »Mir ist kalt«, sagte sie. »Außerdem ist es dunkler geworden. Und es riecht so komisch«, fügte sie hinzu.

»Ja, das stimmt«, bemerkte Sir Samtpfote, dem der merkwürdige Geruch auch bereits in die feine Nase gestiegen war. »Irgendwie modrig, wie in einem alten Keller«, meinte der Kater.

Dann konnten sie alle ein Flüstern hören. Erst klang es ein bisschen wie ein Seufzen, ein Raunen, doch dann erkannten sie einen eigenartigen Singsang.

»Die Energie folgt der Aufmerksamkeit,

denkst du an mich, bin ich schon bereit.

Ich komme, dich zu umschmeicheln,

ich lasse dich grübeln und zweifeln …«

Dem Reim folgte ein verrücktes Kichern. Dann wurde es wieder still. Die Freunde schauten sich an.

»Genau das war es!«, rief Edward und sprang so heftig von seinem Sessel auf, dass dieser laut krachend umfiel.

Erschrocken blickte ihn Sarah an. »Das war die Stimme, die zu dem Wesen gehörte, das du wahrgenommen hast?«

»Ja!«, rief Edward aufgeregt. »Ich bin mir absolut sicher!«

Sarah schüttelte sich und sprach ganz leise: »Ich kenne dieses Wesen. Es entsteht aus den Gefühlen eines Menschen. Es ist ein Elemental – ein Anteil einer Energie, die auch im Kollektiv der Menschheit ihren Platz hat. Diese Kraft ist eine schwere Prüfung, die viele Menschen ihr ganzes Leben lang begleitet. Es ist die Macht des Zweifels.«

In diesem Moment erklang das irre Kichern abermals, und die Freunde hörten erneut einen Reim:

»Geboren in der Einsamkeit,

genährt von Menschen Kraft,

begleite ich dich in Zweisamkeit,

und der Zweifel schelmisch lacht.

Twifal werde ich genannt,

schon seit alter Zeit.

Als Schattenprinz bin ich bekannt,

verursache so manches Leid.

Bin ich gut, oder bin ich schlecht?

Was ist dir denn recht?

Hinterfrage und blende dich.

Lass dir keine Ruh.

Was ist dein Selbst, was ist dein Ich?

Helfe dir, zu überleben,

dich stets selbst zu prüfen.

Bin ich Fluch oder Segen?«

Das Kichern, das nun folgte, war weniger verrückt. Es war eher ein Glucksen, das schon fast sympathisch klang.

»Ich liebe die Rätsel,

ich frag einfach gern.

Ich kann dir auch dienen,

das entscheidest nur du von nah und fern.«