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Sie schwört den Männern ab. Doch ihm kann sie nicht widerstehen
Winter Hamilton hat genug von Männern, die ihr das Herz brechen. Sie hat sich gerade erst aus einer toxischen Beziehung befreit und will dieses Kapitel hinter sich lassen. Doch als sie den erfolgreichen Bullenreiter Theo Silva trifft, geraten ihre guten Vorsätze ins Wanken. Es soll nur eine Nacht sein, eine einmalige Sache. Nicht mehr als Begehren. Sie werden keinem davon erzählen und sich niemals wiedersehen. Aber dann geschieht etwas, das es Winter unmöglich macht, ihr Geheimnis zu bewahren ...
»OMG! Dieses Buch hat mich komplett zerstört. Ich konnte einfach nicht genug von den beiden bekommen.« ADDICTED TO ROMANCE
Band 4 der CHESTNUT SPRINGS-Reihe von TIKTOK-Sensation Elsie Silver
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Seitenzahl: 534
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Anmerkung der Autorin
Widmung
Motto
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Epilog
Brasilianisches Stroganoff
Danksagung
Die Autorin
Die Bücher von Elsie Silver bei LYX
Impressum
ELSIE SILVER
Fearless
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katia Liebig
Winter Hamilton hat die Nase voll von Männern, die ihr das Herz brechen und sie manipulieren wollen. Sie hat es endlich geschafft, sich aus ihrer toxischen Beziehung zu befreien und versucht nun, sich ein eigenes Leben aufzubauen – weit weg von ihrem Ehemann und ihrer übergriffigen Mutter. Dazu fängt sie eine Stelle im Krankenhaus in Chestnut Springs an, auch weil sie sich endlich mit ihrer Schwester versöhnen will. Bei einem Dinner auf der Familienranch trifft Winter auf Theo Silva, attraktiv und mit mehr Charme gesegnet, als ihm guttut. Und obwohl sie gerade alles andere als die Liebe im Kopf hat, kann sie nicht leugnen, dass die Wortgefechte mit dem jungen Bullenreiter ihr Spaß machen und eine Seite in ihr wecken, die ihr ganz fremd ist. Theo ist auf den ersten Blick fasziniert von der kühlen Schönheit, die alles tut, um die Menschen von sich fernzuhalten und doch nichts mehr ersehnt, als akzeptiert zu werden und anzukommen. Nach einer weiteren hitzigen Diskussion verbringen die beiden eine leidenschaftliche und unvergessliche Nacht miteinander. Ihre Abmachung: nur Sex, keine Verpflichtungen. Und nach dieser einen Nacht würden sie sich nicht wiedersehen und niemand würde je von ihrem Geheimnis erfahren. Doch dann kommt alles ganz anders …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Anmerkung der Autorin und hier eine Contentwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
In diesem Buch kommen Themen wie Fehlgeburt und Unfruchtbarkeit vor. Ich hoffe, ich habe sie alle mit der Sorgfalt behandelt, die sie verdienen.
Für alle müden Mamas da draußen. Ich sehe euch.
Zu versagen bedeutet nicht hinzufallen, sondern nicht wieder aufzustehen.
Mary Pickford
»Ich verstehe einfach nicht, was dich dazu bewogen hat, eine Stelle in diesem schäbigen kleinen Provinzkrankenhaus anzunehmen.«
Ich habe Rob tatsächlich mal für einen netten Kerl gehalten.
Jetzt weiß ich es besser.
»Nun, Robert«, erwidere ich betont langsam und verwende dabei ganz bewusst seinen vollen Namen, um ihn zu provozieren, während ich noch einen letzten Pullover in meinen bereits übervollen Koffer stopfe. »Es mag dir vielleicht nicht bewusst sein, aber auch auf dem Land leben Menschen – echte, aus Fleisch und Blut –, die medizinisch versorgt werden müssen.«
Keine Ahnung, warum ich für eine einzige Schicht überhaupt so viel Zeug einpacke. Draußen in Chestnut Springs trage ich in der Notaufnahme meine Arbeitskleidung und im Hotel Leggings.
»Danke für die Klarstellung, Winter.«
Der beißende Unterton in seiner Stimme mag andere Leute zusammenzucken lassen. Mich nicht. Ein finsterer Teil von mir ist sogar sehr stolz darauf, dass ich genau weiß, wie ich meinen Ehemann auf die Palme bringen kann. Meine Mundwinkel zucken, als ich mir ein Lächeln verkneife.
»Aber warum ausgerechnet diese Klinik? Warum Chestnut Springs? Du bist mittlerweile ständig da draußen und sagst mir nicht mal Bescheid, bevor du losfährst. Wenn ich es recht bedenke« – er kratzt sich theatralisch am Kinn und lehnt sich gegen den Türrahmen meines Zimmers –, »hast du mich nicht einmal gefragt, was ich davon halte, dass meine Frau diesen Job annimmt. Deiner Karriere ist das ganz sicher nicht förderlich.«
Jedes Mal, wenn er rumjammert wie ein kleines Kind, frage ich mich, was genau ich eigentlich an diesem Mann mal anziehend gefunden habe.
Ich kann nicht mal sagen, seit wann die Grübchen an seinem Kinn mich eigentlich so anwidern, nur dass es so ist. Die Art, wie er seine Haare in einer kleinen Welle zur Seite kämmt, die sich nicht mal bei Wind bewegt, hat ihn in meinen Augen mal kultiviert und weltmännisch wirken lassen.
Jetzt wirkt es künstlich und gewollt.
Wie so vieles an meinem Leben mit ihm.
Mittlerweile bin ich mir sicher, dass er das nur macht, weil er nicht wahrhaben will, dass sein Haar lichter wird.
Und nichts lässt einen Mann weniger männlich wirken, als sich zu beschweren, wenn eine Frau im Job ihren eigenen Weg geht. Er könnte ebenso gut mit dem Fuß aufstampfen und wie ein kleiner chauvinistischer Trotzkopf aus dem Zimmer rennen.
Ich greife nach dem Reißverschluss und zerre an ihm, um den vollgestopften Koffer zu schließen. »Schon witzig«, sage ich und versuche dabei cool und gefasst zu klingen. »Aber tatsächlich bist du der letzte Mensch, mit dem ich über mein Leben sprechen würde.«
Mit einem angestrengten Schnaufen kriege ich den Reißverschluss endlich zu und blicke mit einem zufriedenen Lächeln, die Hände in die Hüften gestemmt, auf den Hartschalenkoffer.
»Was soll das denn heißen, Winter?«
Die Art, wie er den Satz mit meinem Namen beendet, klingt irgendwie tadelnd.
Pech gehabt, mein Lieber. Auf diesem Ohr bin ich taub.
Er hat keinen blassen Schimmer, was es für eine junge Ärztin bedeutet, sich im medizinischen Bereich zu behaupten. Wenn ich mich von Schwächlingen wie Rob niedermachen lassen würde, hätte ich gar keine Chance.
Und meine Karriere ist das Einzige, das mir jemals ganz allein gehört hat. Also fick dich, Rob.
Ich strecke eine Hand vor mir aus und schaue betont gelangweilt auf meine vernachlässigten Fingernägel. Während ich mich frage, ob ich in Chestnut Springs wohl ein Kosmetikstudio finde, in dem ich eine Maniküre bekomme, antworte ich: »Tu nicht so dumm. Das ist eine ziemlich schlechte Kombination mit deinem Rumgeheule.«
Unwillkürlich frage ich mich, warum ich eigentlich immer noch verheiratet bin. Ich weiß, warum ich eine ganze Weile dachte, ich müsste es aussitzen. Aber jetzt? Jetzt muss ich es einfach nur hinter mich bringen. Wieder blicke ich hinunter auf meinen Koffer, der aussieht, als würde ich sehr lange Zeit nicht mehr nach Hause kommen, und frage mich, ob mein Unterbewusstsein wohl mehr weiß als ich.
Vielleicht stampft die Bitch in mir gerade mit dem Fuß auf und erlöst mich endgültig.
Ich hätte nichts dagegen.
»Achte verdammt noch mal auf deinen Ton, wenn du mit mir redest.«
Meine Augen werden zu schmalen Schlitzen, während ich den Zorn, der in mir aufsteigt, wieder runterdrücke. Heiße Magma brodelt unter meiner coolen Fassade und wartet nur darauf, auszubrechen.
Doch genau das verhindere ich schon seit Jahren. Und Doktor Rob Valentine wird mich nicht zum Explodieren bringen.
Er ist den Aufwand nicht wert.
Ich lasse den Blick durch mein Zimmer zu ihm hinübergleiten. Mein Zimmer, weil mein Mann mich – Gentleman, der er ist – ins Gästezimmer dirigiert hat, statt selbst auszuziehen, als ich ihm erklärt habe, dass ich keine Nacht länger mit ihm in einem Bett schlafen würde.
Obwohl er die Schuld an allem trägt.
Er ist der Grund, dass wir da sind, wo wir sind.
Und das Schlimmste ist – ich habe ihn wirklich einmal geliebt. Er war ganz und gar mein. Ein sicherer Hafen, in dem ich mich geborgen fühlte, nachdem ich in einer Art kaltem Ehekrieg aufgewachsen war.
Ihm gegenüber habe ich meine Deckung aufgegeben. Und es bitter bereut.
Er hat mir das Herz gebrochen, und es war weit schmerzhafter, als ich es jemals zugeben werde.
Ich antworte ihm nicht, sondern greife nach meinem Koffer und schiebe mich schweigend an seinem schlanken Körper vorbei zur Haustür unserer riesigen, gut tausend Quadratmeter großen Villa.
Rob folgt mir. Ich höre seine Lederschuhe auf den Marmorfliesen. Und natürlich bietet er nicht an, meinen Koffer zu tragen.
Ein bitteres Lächeln umspielt meine Lippen, und ich schüttle den Kopf bei der Vorstellung, er könnte sich herablassen, auch nur einen Finger zu rühren, um mir zu helfen. Das Schlimmste am Scheitern meiner Ehe ist die Tatsache, dass ich es nicht habe kommen sehen. Und dass ich mich, egal wie klug und fähig und strategisch ich in allen anderen Belangen meines Lebens bin, dennoch von diesem Mistkerl habe überraschen lassen, ist einfach nur … beschämend.
So hintergangen worden zu sein frisst mich innerlich förmlich auf.
Ich kann seine Wut neben mir spüren, während ich ruhig weitergehe, meine Füße in die hohen Lederstiefel schiebe und mich in einen langen braunen Wollmantel hülle.
»Ist das wirklich dein Ernst, Winter? Du würdigst mich nicht einmal einer Antwort?«
Sorgfältig knote ich den Gürtel des Mantels um meine Taille und stelle fest, dass ich keinerlei Wunsch verspüre, ihn überhaupt zu würdigen.
Das Problem ist nur, dass Rob mich ziemlich gut kennt. Wir sind seit fünf Jahren zusammen, was bedeutet, dass auch er sehr genau weiß, wie er mich auf die Palme bringen kann.
Seine Augen scannen mein Gesicht und bekommen plötzlich einen bösartigen Ausdruck. »Mit den hellen Haaren hast du mir besser gefallen.« Sein Zeigefinger schwebt urteilend über meinen dunklen Strähnen. Er war immer schon besessen von meinen silberblonden Haaren und hat mir ständig gesagt, wie toll er sie findet. »Die neue Farbe steht dir nicht so gut. Sieht irgendwie schmutzig aus.«
Das ständige Nachfärben der Ansätze, das Spezialshampoo und die regelmäßigen Haarkuren waren irgendwann einfach zu viel für eine übermüdete Krankenhausärztin, sodass ich meine Friseurin gebeten habe, dunklere Strähnchen einzuarbeiten.
Ich blinzle ein paarmal so, als könnte ich nicht glauben, dass er ernsthaft denkt, meine Haarfarbe würde ihn irgendetwas angehen.
Dabei kann ich das sehr wohl. Denn im vergangenen Jahr hat er seine Maske fallen lassen und mir die ganze anmaßende Hässlichkeit darunter offenbart.
»Schon witzig. Du hast mir auch besser gefallen, als ich noch nicht wusste, dass du meine kleine Schwester erst gevögelt und dann eiskalt abserviert hast.«
Er schnaubt. Schnaubt. »Das stimmt nicht. Sie war völlig besessen von mir.«
Meine Nase kräuselt sich, denn sie riecht den Bullshit drei Meilen gegen den Wind. »Ein erwachsener Arzt rettet einer minderjährigen Patientin das Leben und nutzt seine Attraktivität und Macht, bis sie ihm förmlich aus der Hand frisst und ihn für einen Helden hält. Sobald sie achtzehn ist, vögelt er sie heimlich, als wäre sie sein schmutziges kleines Geheimnis – bis er ihre ältere, gesellschaftlich angemessenere Schwester kennenlernt. Denn dann lässt er sie fallen wie eine heiße Kartoffel und heiratet die, die ihn nicht wegen sexuellen Missbrauchs seinen Job kosten könnte. Oh!« Mein Finger schnellt nach oben. »Und jetzt wird’s spannend: Trotzdem gibt er bei der Jüngeren noch nicht auf. Er stalkt sie, belästigt sie und sabotiert jede neue Beziehung, die sie eingeht, und all das einfach nur, weil er es kann. Oder vielleicht auch nur, weil er sich dann nicht mehr so schlecht fühlt wegen der wachsenden Glatze auf seinem Kopf, die er verzweifelt zu verstecken versucht.«
Ich koche vor Wut, aber in diesem Fall bin ich es selbst, die die Glut schürt, indem ich ihm all das ins Gesicht schleudere.
Rob verschränkt die Arme vor der Brust und starrt mich an. Mit seinen goldblonden, perfekt frisierten Haaren und den blauen Augen sieht er aus wie Barbies Ken. »Du weißt, dass ich sie nie geliebt habe.«
Jetzt schießt weißglühender Zorn durch meine Adern. Alles um uns herum verschwimmt, während ich das Arschloch anstarre, das ich geheiratet habe. Ich bemühe mich um einen ruhigen, gefassten Ton. Jahrelang habe ich diese Fassade trainiert. Sie ist mir in Fleisch und Blut übergangen und hat mich schon die furchtbarsten Situationen überstehen lassen.
Aber heute fällt es mir schwer, mich zu beherrschen.
»Glaubst du tatsächlich, dass du sie nie geliebt hast, macht die Sache besser? Du redest hier von meiner kleinen Schwester. Die fast gestorben wäre. Die du jahrelang gevögelt und manipuliert hast. Und was ist mit mir? Ich bezweifle, dass du mich jemals geliebt hast.«
Meine Worte hallen durch das weitläufige Foyer, während wir hier stehen und uns anstarren.
»Das habe ich.«
Das habe ich. Ist das seine Liebeserklärung an mich?
Ich lache bitter. »Wen willst du damit verarschen, Robert? Wirst du es eigentlich nie leid zu lügen? Immer darauf zu achten, dass du dir nicht selbst widersprichst? Deine Story ist geplatzt. Ich durchschaue dich. Du hast mich glauben lassen, etwas zu haben, das mir in Wirklichkeit nie gehört hat. Du hast mich getäuscht.«
Er widerspricht mir nicht, sondern starrt mich nur an. Es sollte nicht so wehtun, aber das tut es.
»Trotz allem, was du mir angetan hast, bist du mir vollkommen gleichgültig. Aber für alles, was du ihr angetan hast, hasse ich dich. Wenn ich gewusst hätte, wer du wirklich bist, hätte ich dich nicht mal mit der Kneifzange angefasst. Einmal bin ich auf dich reingefallen, aber ein zweites Mal wird es nicht geben.«
Und mit diesen Worten hebe ich meinen Koffer noch ein wenig höher, drehe mich auf dem Absatz um und reiße die Tür so schwungvoll auf, dass sie gegen die Wand donnert. Ich ärgere mich, dass ich so wütend bin, so sehr die Fassung verloren habe. Doch ich halte den Kopf hoch, die Schultern unten und gehe mit aller Gelassenheit und Ungerührtheit, die ich aufbieten kann, aus diesem Haus.
»Heißt das, du verlässt mich?«
Wie kann ein so gebildeter Mensch nur so schwer von Begriff sein? Fast hätte ich gelacht. Ich gehe weiter und tätschle seine Schulter wie einen Hund, als ich an ihm vorbeikomme. »Nutz deinen teuren Medizinabschluss, und finde es selbst heraus.«
»Du magst sie nicht mal!«, schreit er, und seine weinerliche Stimme kratzt an meinem Nacken wie Fingernägel an einer Schultafel. »Willst du ernsthaft zu ihr laufen und um Vergebung betteln, weil du ihr gegenüber so eine Bitch warst? Na, viel Glück dabei. Ich werde hier sein, wenn du wieder zurückgekrochen kommst.«
Doch ich lasse ihn einfach rumbrüllen, zeige ihm den Mittelfinger und schwelge in dem Wissen, dass er sich irrt.
Dass er nicht so schlau ist, wie er glaubt.
Aber ich auch nicht. Im Augenblick fühle ich mich sogar ziemlich klein und dumm.
Denn ich liebe meine Schwester.
Ich habe nur eine ziemlich seltsame Art, ihr das zu zeigen.
Hoffentlich sterbe ich jetzt nicht, wo ich doch endlich wieder ein wenig Kontrolle über mein Leben habe.
Ich möchte noch einmal ganz neu anfangen. Und gleichzeitig hab ich eine Scheißangst davor.
Das Chestnut Springs General Hospital liegt nur eine Stunde von dem Haus entfernt, in dem ich wohne. Warum also fühlt es sich trotzdem so an wie die längste Fahrt meines Lebens?
Mittlerweile arbeite ich hier schon seit ein paar Monaten, sodass ich den Weg mit geschlossenen Augen fahren könnte, aber heute schneit es so heftig, dass ich das Lenkrad fest umklammere.
Und mich dabei immer noch ärgere, weil ich eben so ausgerastet bin.
Rob hat den Streit angefangen, als er meinte, er könne nicht verstehen, wieso ich in diesem schäbigen kleinen Provinzkrankenhaus arbeiten will, und ich hatte nicht das Bedürfnis, ihm die Wahrheit zu sagen.
Nämlich erstens, dass es wahnsinnig befreiend ist, mal irgendwo zu arbeiten, wo ich weder seine Frau noch die Tochter meiner Mutter bin. Ich kann Menschen helfen und stolz auf meine Arbeit sein, ohne mich mit ständigem Rumgeflüster, mitleidigen Blicken und dem ganzen Mist rumschlagen zu müssen.
Denn alle wissen es, aber niemand spricht darüber, und diese Situation raubt mir langsam, aber sicher den Verstand. Ich weiß, was die anderen von mir denken. Mag sein, dass sie es nicht laut sagen, aber ich höre es klar und deutlich.
Eine Ärztin, die ihre Stelle in der Klinik allein ihrer Ehe und ihrer familiären Beziehungen verdankt.
Eine Ehefrau, die erbärmlich genug ist, über die Affären ihres Mannes hinwegzusehen.
Und zweitens, dass ich es noch nie so genossen habe, in der Nähe meiner Schwester zu sein, wie jetzt. Als sie damals krank war, habe ich mich regelmäßig in die Klinik geschlichen, um nach ihr zu sehen und ihre Krankenakte zu lesen, damit ich wusste, wie es ihr ging, auch wenn ich damals erst an der Uni war. Und jetzt? Jetzt schaue ich meine kleine Schwester an und sehe die Zeit, die ich verpasst habe.
Ich sehe eine Frau, die jahrelang gelitten hat, um mir ein wenig Leid zu ersparen.
In dieser Hinsicht scheinen wir uns ziemlich ähnlich zu sein.
Heute ist sie glücklich und mit einem Mann verlobt, der eindeutig zu lange Haare hat und sie auf eine Weise liebt, die ich selbst wohl nie erfahren werde. Doch ich freue mich für sie – Gott weiß, sie verdient ein wenig Frieden. Mittlerweile hat sie ihren Juraabschluss und ihren sicheren Job als Sportagentin in der Firma unseres Vaters aufgegeben, um ein Fitnessstudio zu betreiben und auf einer hübschen kleinen Ranch im Nirgendwo zu leben.
Ich bewundere sie.
Doch ich habe keine Ahnung, wie ich den Riss zwischen uns kitten soll. Deshalb habe ich eine Teilzeitstelle in der kleinen Stadt angenommen, in der sie wohnt, und hoffe einfach, ihr hin und wieder über den Weg zu laufen und die Dinge zwischen uns mehr oder weniger organisch wieder in Ordnung bringen zu können.
Ich habe da so eine Geschichte im Kopf, die immer wiederkehrt, als würde ich versuchen, sie Wirklichkeit werden zu lassen.
In dieser Geschichte schlendert sie den Bürgersteig entlang, und ich komme gerade aus dem hübschen kleinen französischen Café in der Main Street und renne buchstäblich in sie hinein. Sie wirkt erschrocken, mich zu sehen. Ich schenke ihr ein warmes Lächeln, das kein bisschen gezwungen ist, und dann zeige ich mit dem Daumen über meine Schulter und sage: »Hey, ähm … Lust auf einen Kaffee?« Und zwar so entspannt und charmant, dass sie ebenfalls lächeln muss.
Damit es dazu kommt, müsste ich meine Zeit allerdings woanders als im Krankenhaus oder im Hotel verbringen, doch ich schleiche immer nur zwischen diesen beiden sicheren Zonen hin und her, zu verängstigt und zu beschämt, um mich meiner Schwester zu stellen.
»Scheiß drauf«, murmle ich, ziehe die Nase hoch und richte mich auf, die Augen wie zwei Laser nach vorn auf die Straße gerichtet. »Siri, ruf Summer Hamilton an.«
Die schwere Stille, die mir entgegenschlägt, ist mit jahrelanger Erwartung aufgeladen.
»Summer Hamilton wird angerufen«, antwortet die Roboterstimme. Diese Förmlichkeit ist wie ein Stich ins Herz. Die meisten Schwestern speichern sich gegenseitig unter irgendwelchen liebevollen Kosenamen in ihre Handys. Wenn wir Freundinnen wären, würde ich sie vielleicht Sum nennen oder so. Doch so, wie es im Augenblick zwischen uns steht, könnte ich ebenso gut ihren zweiten Vornamen mit eingespeichert haben.
Es klingelt. Einmal. Zweimal.
Und dann hebt sie ab. »Winter?«, fragt sie atemlos. Doch es klingt nicht vorwurfsvoll. Eher … hoffnungsvoll.
»Hi«, sage ich dümmlich. Kein Studium oder medizinisches Lehrbuch könnte mich auf dieses Gespräch vorbereiten. Seit damals im Krankenhaus alles ans Licht gekommen ist, habe ich dieses Telefonat Millionen Mal im Kopf durchgespielt. Nächtelang habe ich wach gelegen und mich darauf vorbereitet.
Doch es hat nicht gereicht.
»Hi … Ist … ist alles okay?«
Ich nicke und spüre, wie es oben in meiner Nase verräterisch kribbelt. Jahrelang habe ich mich Summer gegenüber einfach nur scheußlich verhalten, und das Erste, was sie fragt, ist, ob mit mir alles in Ordnung ist.
»Win?«
Ich atme tief ein. Win. Fuck. Dieser Kosename. Sie spricht ihn aus, als wäre es gar nichts. Geistesabwesend frage ich mich, unter welchem Namen sie mich wohl im Handy eingespeichert hat. Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich bei ihr »Böse Halbschwester« heiße oder so.
Sie ist einfach so unglaublich nett. Mir wird ganz flau bei dem Gedanken, wie jemand so nett zu mir sein kann nach allem, was wir durchgemacht haben, zumal ich ihr gegenüber immer so eisig war.
Ich habe Summer nicht verdient. Aber ich würde gerne. Und dafür muss ich ehrlich sein.
»Nein. Ist es nicht«, sage ich und versuche, das Piepsen in meiner Stimme mit einem Räuspern zu übertönen.
»Okay.« Ich stelle mir vor, wie sie nickt und sich auf die Unterlippe beißt, während sie angestrengt versucht, dieses Problem für mich zu lösen. So ist sie. Sie versucht immer, alle Probleme zu lösen.
Ich mag Ärztin sein, aber Summer ist eine wahre Heilerin.
»Wo bist du? Soll ich kommen? Bist du verletzt?« Sie schweigt kurz. »Oh! Brauchst du eine Anwältin? Ich praktiziere nicht mehr, aber ich könnte …«
»Können wir uns sehen?«, platze ich heraus. Und nun scheint es an ihr zu sein, verdutzt zu schweigen. »Ich bin auf dem Weg nach Chestnut Springs. Ich könnte … ich weiß nicht …« Ein tiefer Seufzer schleicht zittrig meine Kehle hinauf. »… dich auf einen Kaffee einladen?«, beende ich meinen Satz lahm und werfe einen Blick auf die Zeitanzeige, die mir sagt, dass es schon sechs Uhr ist.
Ihre Stimme klingt ein wenig belegt, und weich. »Klingt toll. Aber könnten wir auf Wein umsteigen?«
Ein Knoten aus Anspannung, von dem ich gar nicht wusste, dass er da war, löst sich in meiner Brust. Und nun, da es mir auffällt, habe ich das Gefühl, als wäre er schon jahrelang dort gewesen.
»Ja.« Meine Finger trommeln auf das Lenkrad. »Ja. Wein. Gut.«
Ich klinge wie eine Neandertalerin.
»Wir treffen uns heute Abend alle hier auf der Ranch im Haupthaus zum Essen. Es werden jede Menge Leute da sein, und ich würde mich freuen, wenn du ebenfalls kommst.«
Plötzlich habe ich einen für mich äußerst untypischen Kloß im Hals. Nach all den Jahren in dieser sterilen Blase mit Rob und meiner Mutter fühlt sich Summers Nettigkeit fremd an. Diese Form von Vergebung … Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.
Und so entscheide ich mich, sie einfach anzunehmen. Ist wohl das Mindeste, was ich tun kann.
»Kannst du mir die Adresse schicken?«
In meiner Hast, noch rasch die Unterlagen abzuholen und dann so schnell wie möglich aus der Stadt zu verschwinden, habe ich den Tank solange es ging ignoriert. Und jetzt ist er gefährlich leer. Was meine Anspannung immer mehr ansteigen lässt, je weiter ich mich von der Stadtgrenze entferne.
Schließlich gebe ich nach und halte kurz in Chestnut Springs, um zu tanken, bevor ich auf die Schotterpiste einbiege, die laut Navi zur Farm führt.
Während ich bibbernd an der Tankstelle stehe und mir wünsche, ich hätte mir was Wärmeres angezogen, kriechen all meine Ängste und Sorgen durch meine so sorgsam errichteten Schutzwälle.
Meine Angst davor, Summer wiederzusehen.
Meine Angst davor, gemeinsam mit einem Haufen Leute zu Abend zu essen, die mich ohne Zweifel für eine schreckliche Person halten.
Meine Angst vor den verschneiten Straßen. In letzter Zeit hatte ich einfach zu viele Unfallopfer in der Notaufnahme.
Meine Angst davor, wie es beruflich mit mir weitergehen wird, und was zum Teufel ich jetzt nur tun soll – und wo ich wohl landen werde.
Komischerweise – wenn auch auf schwärzeste Art – empfand ich null Sorge bei dem Gedanken, Rob endgültig zu verlassen. Ich habe es lange hinausgezögert. Darüber nachgedacht. Es aus allen Blickwinkeln analysiert.
Für mich hatte eine Scheidung immer etwas von Versagen. Aber heute Abend hat es sich kein bisschen so angefühlt.
Eher erleichternd. Als hätte die ganze Zeit über jemand auf meiner Brust gestanden und ich jetzt endlich den Mut gefunden, ihn runterzustoßen. Meine Muskeln sind erschöpft, und ich habe ein paar Macken und Schrammen davongetragen.
Rob zu verlassen hat wehgetan, aber trotz des Schmerzes kann ich endlich wieder atmen.
Ich seufze tief und beobachte, wie mein Atem zwischen meinen Lippen hervorquillt und sich in eine kleine Wolke verwandelt, die unter den grellen Neonlichtern der Tankstelle deutlich zu sehen ist. Meine Fingerspitzen kribbeln nicht mehr, sondern sind dort, wo sie um den roten Plastikgriff liegen, schon ganz taub. Ich hüpfe auf und ab und hebe den Blick, als ich die Glocke über der Tür zur Tankstelle bimmeln höre.
Der breitschultrige Typ, der durch die Glastür nach draußen schlendert, verströmt reinstes Selbstbewusstsein. Er hat dunkle Haare und noch dunklere Augen und Wimpern, die ein blondes Mädchen wie mich vor Neid erblassen lassen. Und er grinst auf den Lottoschein in seiner Hand hinunter, als glaubte er ernsthaft, er würde gewinnen.
Ich könnte ihm sagen, dass er nicht gewinnen wird. Dass es reine Geldverschwendung ist. Doch ich habe das leise Gefühl, dass er zu den Menschen gehört, denen das egal ist.
Seine Stiefel sind nicht geschnürt, die Jeans hat er nicht runtergekrempelt. Ein paar lange Silberketten schmücken seine Brust und verschwinden unter dem karierten Hemd, das exakt einen Knopf zu weit offen steht und über das er nachlässig eine dicke Strickjacke gezogen hat.
Er ist wahnsinnig sexy, und das vollkommen mühelos. Nicht mal das Wetter scheint ihm was auszumachen. Ich wette, er rollt sich morgens einfach mit seinen alten Socken aus dem Bett und steigt damit wieder in seine abgetragenen Lederstiefel.
Ich wette, seine Hände sind schwielig. Ich wette, er riecht nach Leder. Nach all den Jahren, die ich mit Rob verbracht habe, ist es mir einfach unmöglich, den Blick von dieser ungeschliffenen Erscheinung von einem Mann zu reißen.
Ich starre ihn so lange, so intensiv an, dass der Füllstutzen neben mir laut klackt und in meine Hand zurückschlägt, um mir mitzuteilen, dass der Tank voll ist.
Das Geräusch lässt ihn in meine Richtung blicken, und er richtet die gesamte Wucht seines Sexappeals auf mich. Ein kantiger Kiefer mit perfekten Bartstoppeln, gekrönt von Lippen, die bei einem Mann reinste Verschwendung sind. Er sieht so unglaublich gut aus, dass es schon absurd ist.
Hastig senke ich den Kopf und fummle mit dem Füllstutzen herum, bis ich ihn wieder an die Tanksäule zurückgehängt habe. Meine Zunge leckt über meine Lippen.
Ich habe das deutliche Gefühl, von sexy Lumberjack beobachtet zu werden, blicke aber nicht hoch, um nachzusehen. Dabei spüre ich ein Flattern in der Brust und eine Hitze in den Wangen, die ich schon sehr, sehr lange nicht mehr gefühlt habe.
Denn ich war tatsächlich glücklich verheiratet. Doch jetzt … bin ich es nicht mehr.
Glaube ich.
Das hier ist der erste Mann, von dem ich mich so anstarren lasse. Ein Mann, der sich nicht mal die Mühe macht, seine Schuhe zuzubinden, und der Lotto spielt.
Leise stöhnend gehe ich zur Fahrertür. Mit einem Mal ist mir gar nicht mehr kalt.
Während ich in den Sitz gleite, werfe ich dann doch noch einen letzten Blick über die Schulter zu dem Typen hinüber.
Der Typ, der an seinem silbernen Truck steht.
Der Typ, der mich immer noch mit einem wissenden Grinsen im Gesicht beobachtet.
Der Typ, der jetzt mit der Hand durch seine perfekt zerzausten Haare fährt und mir zuzwinkert.
In der nächsten Sekunde bin ich im Auto und wieder auf der dunklen Straße. Bloß weg von hier.
Denn das Letzte, was ich gerade brauche, ist ein Mann, der mir das Gefühl gibt, nicht genug Sauerstoff in der Lunge zu haben, obwohl ich gerade erst eingeatmet habe.
Die blonde Frau hat mich angestarrt, als wäre ich ein Alien. Ich musste einfach stehen bleiben und zurückschauen, so offensichtlich hat sie es getan.
Ich wollte gerade einen Witz machen und sagen, dass ich mich von ihr objektifiziert fühle, als sie sich über die Lippen leckte, blinzelte und davonraste. Schade eigentlich, denn es hat mir gefallen, wie sie mich angeblickt hat. Kein bisschen wie ein Objekt. Wenn sie mir in die Augen geschaut hätte, wer weiß, wo wir gelandet wären. Ich hätte ihr tatsächlich was zum Anstarren bieten können.
Schließlich bin ich nicht Bullenreiter geworden, weil ich es hasse, angeguckt zu werden. Im Gegenteil. Die Show, die Menschenmenge, der Ruhm – ich liebe es. Ich bin in diese Welt hineingeboren worden. Gabriel Silva war einer der berühmtesten Bullenreiter aller Zeiten.
Und er ist nicht nur mein Idol. Er ist mein Vater.
War mein Vater? Ich weiß nie, wie ich von ihm sprechen soll. Für mich ist er immer noch sehr präsent, auch wenn er schon vor langer Zeit gestorben ist.
Mit einem leisen Lachen schwinge ich mich auf den Fahrersitz meines Trucks. Ich weiß genau, dass die gut aussehende Blondine in ihrem schicken Audi noch ein paarmal durch meinen Kopf tanzen wird. Denn die Interaktion zwischen uns hatte etwas ungewohnt Natürliches – wie bei einer Sechzehnjährigen, die sich schämt, weil sie beim Anschmachten erwischt wurde. Sie würde mir ja leidtun, wenn ich mir nicht selbst so leidtäte, weil sie abgehauen ist, bevor ich mir ihre Nummer geben lassen konnte.
Ich biege auf die dunkle Schotterpiste zur Wishing Well Ranch ein. Im Laufe der Jahre bin ich oft genug hier gewesen, um zu wissen, wo ich hinmuss, auch im Dunkeln. Mein Mentor, Rhett Eaton, wohnt hier draußen, und da meine Mutter und meine kleine Schwester ein ganzes Stück entfernt leben, ist seine Familie für mich ein bisschen zu meiner eigenen geworden.
Normalerweise wäre ich über die Weihnachtstage zu meiner Mom gefahren, doch die ist gemeinsam mit meiner Schwester auf einer Single-Kreuzfahrt, um endlich Mr Right zu finden oder wie sie ihn nennen.
Und auch wenn ich selbst sehr, sehr single bin, habe ich keinerlei Bedürfnis, so einen Scheiß mitzumachen.
Nein danke.
Rund um die Arena der World Bull Riding Federation gibt es genug Buckle Bunnies, um mir die Zeit zu vertreiben, und so langweilig das endlose, stumpfsinnige Rumgevögel auch sein mag, es bedarf wenigstens nicht der Einmischung meiner Mom.
Ganz davon zu schweigen, dass mir allein schon bei der Vorstellung, auf ein Schiff zu müssen, der kalte Schweiß ausbricht.
Setzt mich auf einen wütenden Bullen, und mir geht’s gut.
Setzt mich auf ein riesiges Schiff ohne Land in Sicht? Nein danke. Ich hab mal eine Oprah-Folge über Leute gesehen, die auf diesen Dingern spurlos verschwunden sind, und ich bin noch zu jung und zu hübsch zum Sterben.
Nach wenigen Minuten sehe ich rote Rücklichter vor mir, denen ich mich schnell nähere. Sehr schnell.
»Komm schoooonnnnn«, stöhne ich in die stille Fahrerkabine und lege genervt den Kopf in den Nacken.
Ja, es schneit, aber der Schnee auf den Straßen ist fest und nicht vereist. Erst als ich endlich zu dem Wagen aufschließe, wird mir bewusst, wie langsam er tatsächlich fährt. Er kriecht förmlich. Als ich schließlich noch näher dran bin, sehe ich, dass es die heiße Blondine in ihrem Audi ist. Hätte ich mir eigentlich denken können. Die hochhackigen Stiefel und der lange Mantel schrien schließlich nicht unbedingt Country Girl.
Ebenso wenig wie ihre Fahrkünste auf unbefestigter Straße.
Ihr linker Blinker leuchtet auf. Der Wagen wird langsamer und dann wieder schneller.
Der rechte Blinker leuchtet auf, und der Wagen schlingert ganz leicht.
Vielleicht hat sie sich verfahren. Oder ist betrunken. Wenn ich ein paar Bier zu viel getrunken habe, krieg ich auch manchmal so einen leeren Blick wie sie eben, als sie den Blick nicht von mir nehmen konnte.
Dann bin ich nah genug, um ihr Handy durch die Heckscheibe hindurch leuchten zu sehen.
Na großartig. Sie tippt und fährt gleichzeitig. Das Mädel wird sich noch umbringen. Oder mich.
Wenn wir im selben Krankenzimmer landen, könnte ich vielleicht doch noch ihre Nummer kriegen. Könnte die Sache wert sein.
Als sie auf die Bremse tritt, zucke ich erschrocken zusammen und hupe.
»Nicht dein Ernst!«, rufe ich und spüre, wie mein Puls steigt. Scheißegal, wie scharf sie ist. Autofahren kann sie jedenfalls nicht.
Sie gibt Gas und wird dann wieder langsamer. Ich lasse mich zurückfallen, um ein wenig Abstand zwischen mich und diese unberechenbare Lady zu bringen.
Aber dann stelle ich mir meine Mom oder meine Schwester allein und verloren auf einer Schotterpiste im Nirgendwo vor und entscheide mich wieder dafür, dass sie sich verfahren haben muss, statt absichtlich wie eine Irre zu fahren. Ein kurzer Blick auf mein Handy in seiner Halterung sagt mir, dass hier auf dem Stück ohnehin kein Empfang ist. Sie kann also unmöglich jemandem geschrieben haben.
Ich blinke mit dem Fernlicht und denke mir, dass ich ihr ja helfen könnte, wenn sie rechts ranfährt.
Und fühle mich augenblicklich wie ein Serienmörder.
Keine Frau, die auch nur minimal bei Verstand ist, würde auf einer einsamen dunklen Straße anhalten, um mit einem fremden Mann zu sprechen, der sie angeblinkt hat.
Also lehne ich mich zurück, mache Chris Stapleton an und lasse den Blick über die schneebedeckten Felder gleiten. Das strahlende Weiß reflektiert das Licht des Mondes. Wenig später erreiche ich die Abbiegung zur Wishing Well Ranch und kann mich nun endlich von dieser grässlich fahrenden Versuchung befreien.
Doch sie blinkt. Und biegt auf die Ranch ein.
Was hat das zu bedeuten? Sie wird garantiert denken, dass ich sie verfolge. Und wenn wir beide das gleiche Ziel haben, dann kennt sie jemanden, den ich kenne.
Sobald das hell erleuchtete Haupthaus in Sicht kommt, fährt sie schneller und direkt bis vor die Veranda. Dort tritt sie auf die Bremse und springt aus dem Wagen. Bevor ich selbst aussteigen kann, hat sie schon die Tür zugeschlagen und ist auf mich losgestürmt.
Als ich draußen bin, höre ich ein »Bist du bescheuert?«
Okay. Sie ist sauer. Und klingt kein bisschen betrunken. Sie hat sich die Schlüssel wie Krallen zwischen die Finger geschoben. Die Frau gefällt mir.
Kein Vorspiel. Sie greift sofort an. Winzig und wild. Ich komme mir vor wie Peter Pan, der von Tinkerbell attackiert wird.
»Entspann dich, Tink.« Ich lächle ihr zu und hebe die Hände, um ihr zu signalisieren, dass ich mich ergebe.
»Tink?« Ihre Stimme wird nur noch lauter.
Ich wedle mit der Hand. »Ja, du hast so einen total wütenden Tinkerbell-Vibe. Gefällt mir.« Ich lasse meinen Blick nur ganz kurz über ihren Körper gleiten, um nicht respektlos zu wirken. Aber hey, fair ist fair, nach ihrem Geglotze an der Tankstelle eben.
»Du bist total durchgeknallt, weißt du das?«, legt sie wieder los. »Hängst mir zehn Minuten lang wie der letzte Arsch im Kofferraum und verfolgst mich sogar bis hierher, um … um mich abzuchecken und mit einem Disneyelf zu vergleichen, oder was? Das war echt gefährlich. Du hättest jemanden umbringen können.« Ihre Arme wedeln wütend durch die Luft, und ihre puppenhaften Gesichtszüge sind vor Zorn total verzerrt. Mit diesem Blick könnte sie einen Mann auf der Stelle in Schutt und Asche legen.
Aber nicht mich.
Ich sollte sie nicht provozieren, ich weiß. Aber ich fühle mich wie ein Junge, der das Mädchen, in das er verliebt ist, ein bisschen necken will, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Und es gefällt mir, wie dieses Mädchen hier zurückschießt.
Ich will mehr davon.
»Tatsächlich ist sie eine Fee. Und nur fürs Protokoll: Zwanzig Meilen unter dem Tempolimit zu fahren ist auch gefährlich und könnte jemanden umbringen. Mich zum Beispiel. Vor Langeweile.«
Sie reißt die Augen auf, so weit, dass es beinahe komisch wirkt. Ein sicheres Zeichen, dass es mir nicht gelungen ist, ihre Stimmung zu heben. »Es ist dunkel, und es schneit! Ich kenne die Gegend nicht. Ein Tier könnte auf die Straße laufen! Langsam zu fahren ist sicher, jedenfalls solange ich keinen unterbelichteten Kerl im Nacken hab, der mir mit seinem Minipimmel im Arsch sitzt und mich die ganze Zeit anblinkt.«
Ich presse die Lippen zusammen.
Fuck.
Ich mag diese Frau wirklich.
Ich sollte jetzt aufhören und sie in Ruhe lassen. Ich sollte mich wie ein erwachsener Mensch benehmen und nicht mit ihr flirten, indem ich sie wütend mache.
Aber ich kann nicht anders.
»Hab mir sagen lassen, wenn du was im Arsch haben willst, ist ein kleiner Pimmel genau das Richtige. Vielleicht bin ich also genau dein Typ.«
Mein »Pimmel« ist nicht klein. Aber für einen guten Witz bringe ich dieses Opfer gern. Nur ein Typ mit einem winzigen Schwanz würde sich diese Gelegenheit entgehen lassen.
Ich hätte so was nicht sagen sollen, aber das Entsetzen, das jetzt ihr hübsches Gesicht überzieht, ist es mehr als wert. Ihre Wangen glühen, und ich kann mir nicht helfen. Spiel mit dem Feuer, und ich bin dabei und gieße noch ein bisschen Benzin drauf.
Ihre Hand schießt zwischen uns in die Höhe. »Ich bin verheiratet, du Wichser. Und jetzt verschwinde.« Sie zeigt entschlossen die Einfahrt hinunter.
Verheiratet. Ich zucke mit den Schultern. »Noch.«
So leicht lasse ich mich nicht abschrecken. Und dieses Mädel hier hat mich eben nicht so angesehen wie eine verheiratete Frau. Jedenfalls nicht wie eine glücklich verheiratete.
Rhetts Stimme lässt uns zu der breiten Veranda hinüberblicken, die das riesige Haupthaus umgibt. »Ja, Winter, keine Sorge. Von diesem Ehemann werden wir dich noch befreien und ihn irgendwo im Feld verscharren. Wie in diesem Dixie-Chicks-Song: Rob ist der neue Earl.«
Winter.
Winter … Summers Schwester? Was für eine dämliche Namenswahl für zwei Schwestern. Wenn ihr mich fragt, sollten die beiden lieber ihre Eltern hassen statt einander.
Ich sehe wieder zu der Frau hinüber, die knapp zwei Meter vor mir steht. Alle haben sie als kalt und distanziert beschrieben. Eine echte Eiskönigin.
Ich kenne die Geschichten. Das Drama. Darin klingt sie wie ein kriminelles Mastermind. Doch alles, was ich sehe, ist eine verdammt heiße Fee, die meine Hilfe braucht, um Dampf abzulassen.
Und ich hätte nichts dagegen, ihr ein wenig zur Hand zu gehen. Kein bisschen. In dieser Hinsicht bin ich ein wahrer Menschenfreund.
Winter massiert sich die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen. Ich überlege, ob ich ihr eine Aspirin anbieten soll, oder einen Orgasmus. Hab mir sagen lassen, das hilft ebenfalls.
»Du hast Glück, dass du meine kleine Schwester so glücklich machst, Eaton«, sagt sie jetzt und klingt dabei abgrundtief erschöpft.
Rhett brummt gutmütig und bekommt diesen verträumten, schummrigen Blick, den er immer bekommt, wenn jemand Summer erwähnt. Doch er sagt nur: »Theo ist noch ein Baby. Den kannst du nicht bestechen, Winter.«
Ich rolle mit den Augen. »Ich bin kein Baby. Ich bin sechsundzwanzig.«
Rhett schnaubt spöttisch. »Nein, bist du nicht. Du bist zweiundzwanzig.«
Lieber Himmel. Denkt er etwa ernsthaft, er wüsste besser als ich, wie alt ich bin?
»Dude, das war ich, als wir uns zum ersten Mal in der Arena begegnet sind. Seitdem bin ich älter geworden. Du machst das Gleiche wie meine Mom mit ihren Tieren. Wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, behauptet sie steif und fest, dass sie immer gleich alt bleiben, bis sie irgendwann tot umfallen.«
Er lacht. »Ganz genau. Du bist wie dieser Laden mit den knappen Kleidchen. Forever 22.«
Ich stemme die Hände in die Hüften und seufze amüsiert. »Jap. Du wirst eindeutig alt. Der Laden heißt Forever 21.«
Rhett winkt ab. »Wie auch immer. Ich kenn nur die knappen Kleidchen.«
»Seid ihr bald fertig? Ich brauch was zu trinken, wenn ich diesen Abend überstehen soll«, mischt Winter sich genervt in unsere Unterhaltung ein. Wobei Rhetts Auftauchen den kleinen Wortwechsel zwischen ihr und mir eigentlich beendet hat.
Leider. Das Sparring mit ihr hat echt Spaß gemacht. Diese Frau hier lässt sich nicht so leicht unterkriegen, ganz im Gegensatz zu den Frauen in meinen bisherigen Beziehungen.
Sofern man die überhaupt als Beziehungen bezeichnen kann.
»Ah, ja, Winter, darf ich dir meinen Schützling vorstellen? Theo Silva. Theo, das ist Doktor Winter Hamilton, meine zukünftige Schwä…«
»Winter Valentine«, korrigiert sie ihn steif.
»Noch«, ergänze ich und zwinkere ihr zu. Denn jetzt, wo ich weiß, wer sie ist, fühle ich mich nicht mehr ganz so mies, weil ich sie provoziert habe. Ich weiß, mit wem sie verheiratet ist. Und ich weiß auch, dass der Typ mir am Arsch vorbeigeht.
Winter hat was Besseres verdient.
Und ich bin sogar sehr viel besser, egal ob ihr das jetzt schon bewusst ist oder nicht.
Mit einem extremst übertriebenen Augenrollen kommt sie in meine Richtung. Ich strecke die Hand aus – denn Mom hat mich schließlich gut erzogen –, doch sie marschiert an mir vorbei und funkelt mich mit ihren leuchtend blauen Augen an, die aussehen wie das Innere einer Kerzenflamme. Ich drehe den Kopf, um ihren Blick festzuhalten, als sie mit mir gleichzieht, Schulter an Schulter.
Doch sie ignoriert meine Hand. Ich spiele mit, hebe selbige mit einer flüssigen Bewegung nach oben und fahre mir damit durch die Haare, während ich Winter zuzwinkere.
Das gleiche Zwinkern wie an der Tankstelle.
Unser kleines Geheimnis.
»Pfeif deinen Hund zurück, Eaton.« Sie geht einfach weiter und spricht demonstrativ mit Rhett, als wäre ich gar nicht da.
Verdammt, ich liebe eine gute Herausforderung.
Mit einem lauten »Wuff!« drehe ich mich um und blicke ihrer zierlichen Silhouette nach, als sie im hellen Licht des warmen, von Stimmen und Menschen erfüllten Hauses verschwindet.
Rhett lacht. Über mich. Nicht mit mir. »Du bist ein Idiot, Theo.«
Ich schüttle den Kopf. »Dude, ich glaub, ich steh auf deine Schwägerin. Sie hat echt Feuer.«
Jetzt ist es Rhett, der den Kopf schüttelt, als wüsste er etwas, das ich nicht weiß. Und ich folge ihm ins Haus, denn ich will mehr erfahren.
Mehr über Winter Valentine.
Zum Beispiel, wann sie sich scheiden lässt.
Rob: Grüß Summer von mir.
Als ich das große Farmhaus betrete, bin ich noch angespannter als bei der Abfahrt aus der Stadt vor ein paar Stunden. Die Aussicht, überhaupt hierherzukommen, die schlechten Straßen, all das verblasst im Vergleich zu dieser wahnsinnig gut aussehenden Nervensäge von einem Mann, die in diesem Moment draußen vor der Tür steht.
Ich schwöre, ich kann immer noch seinen Blick spüren, der bewundernd über meinen Rücken gleitet, sodass ich mich instinktiv ein wenig gerader halte.
So erbärmlich es auch klingen mag, es fühlt sich gut an, auf diese Weise angesehen zu werden.
In letzter Zeit habe ich mich eher an geringschätzige und mitleidige Blicke gewöhnen müssen, und wenn Rob diesen Blick aufsetzt, bei dem ich weiß, dass er einen Ständer hat, widert es mich bloß noch an.
Aber das hier ist anders. Ich will, dass Theo mich bewundert, und gleichzeitig will ich ihm gegens Schienbein treten.
Das Klappern von Geschirr lockt mich über den Flur in die warm erleuchtete Küche. Mit ihren dunkelgrünen Wänden und den dunklen Holzdielen wirkt sie ausgesprochen gemütlich. Die Stimmen klingen fröhlich und das Lachen echt.
Hier gibt es keinen Marmor, keine glänzenden weißen Schränke, keinen Hall, wenn jemand spricht.
Es ist seltsam.
An der Tür bleibe ich stehen, überwältigt von dem, was ich gleich tun werde. Als hätte meine Flucht vor Theo Silver – dem sexy Bullenreiter und durchgeknallten Autofahrer – und seinem perfekten Körper mich so weit getrieben, dass ich nun weder vor noch zurück kann.
Ich schlucke ein paarmal, während ich die Hände zu Fäusten balle. Als würde ich damit auf mich aufmerksam machen.
Der erste Schritt, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
»Alles okay, Winter?« Eine feste Hand legt sich auf meine Schulter, und ich blicke auf und in das gebräunte Gesicht von Summers Verlobtem. Es ist nicht so, dass er nicht gut aussehen würde. Er ist nur so … na ja, wie ein riesiger, fröhlicher Hund, der dringend einen Termin beim Hundefriseur braucht.
Ich nicke ihm zaghaft zu und luge dann wieder um die Ecke.
Tatsächlich ist gar nichts okay. Ich bin ein einziges Nervenbündel. Aber das werde ich schön für mich behalten. Solange ich meine Coolness bewahre, fühle ich mich sicher, nur höre ich hinter mir die Schritte jenes Mannes, der mir zweifellos alle Coolness raubt.
»Das wird super.« Rhetts Hand drückt meine Schulter. »Soll ich dich schubsen, wie bei einem Fallschirmsprung?«
Ich bedenke ihn mit einem knappen Blick. »Nein danke, ich komm schon klar.«
Keine Ahnung, zu wem ich das gerade gesagt habe. Zu ihm oder zu mir selbst? Egal. Hoch erhobenen Hauptes trete ich in die Küche und sage möglichst selbstbewusst: »Hi, kann ich irgendwie helfen?«
Diverse Köpfe drehen sich in meine Richtung, doch niemand reißt die Augen auf. Die Stimmen verstummen nicht plötzlich, als hätte jemand die Stopp-Taste gedrückt. Stattdessen sehe ich winkende Hände. Und lächelnde Gesichter. Und ein »Heyoooo, Winter!« von Willa, die mit ihrem bereits erkennbaren Babybauch auf einem Stuhl sitzt.
Summer kommt eilig zu mir gelaufen. Ihre Wangen sind rosig. Und ihr Lächeln so echt.
Sie sagt nichts, sondern zieht mich einfach nur in die Arme und legt den Kopf an meine Halsbeuge. So viel offen gezeigte Zuneigung.
So etwas bin ich nicht gewohnt. Und habe es auch nicht erwartet. Deshalb stehe ich zuerst ein wenig steif da, bevor ich sie ebenfalls umarme. Summers Körper entspannt sich, und sie seufzt leise.
»Ich freue mich so, dass du hier bist«, flüstert sie.
Und ich bin froh, dass gerade niemand mein Gesicht sehen kann, denn es muss ziemlich verzerrt wirken, weil ich verzweifelt versuche, nicht loszuheulen.
Viel zu dramatisch. Und ich bin wirklich keine Drama-Queen. Nein, ich senke den Kopf und mache mich an die Arbeit.
Es wird Zeit, das Kriegsbeil zwischen meiner Schwester und mir zu begraben. Und hier bin ich.
»Ich auch«, ist alles, was ich herausbringe, bevor sie einen Schritt zurücktritt, eine Hand auf meine Schulter legt und sich mit der anderen über ihre großen braunen Rehaugen wischt. Sie haben die gleiche Form wie meine, nur eine andere Farbe.
Wir beide haben die Gesichtszüge unseres Vaters geerbt, aber ich die Augenfarbe meiner Mutter.
»Hi, Winter!« Ein älterer Mann kommt auf mich zu und wischt sich die Hände an seiner Hose ab, was den Hygienefreak in mir zusammenzucken lässt. »Ich bin Harvey Eaton, Rhetts Vater. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Er streckt mir die Hand entgegen, und sosehr ich auch danach suche, ich finde nicht den Hauch von Vorwurf in seiner Miene. Keine Ahnung, was für ein Heile-Welt-Mist hier abgeht, aber es haut mich echt um.
»Ähm, hi«, erwidere ich ein wenig nervös und schüttle seine Hand. »Danke noch mal, dass ich so spontan reinplatzen durfte.«
Der Mann schnaubt gutmütig und winkt ab. »Unsinn. Das ist ein Familienessen, und du gehörst zur Familie. Wenn ich mich nicht irre, bist du also genau da, wo du hingehörst.«
Ich schwöre, mir klappt gerade die Kinnlade runter. Wer ist dieser Mann? Cowboy Ned Flanders?
Er lächelt. Ein freundliches, normales Lächeln. Keins, bei dem ich mich frage, was er wohl damit bezwecken will. Und dann geht er wieder. Zurück zum Herd, wo er gerade was auch immer kocht, als wäre es vollkommen normal, dass ich hier bin, und nicht seltsam oder gar schockierend.
Familie? Vielleicht hat dieser Harvey Eaton schon ein bisschen zu tief ins Glas geschaut. Denn Summer und ich haben uns schon sehr lange nicht mehr wie Mitglieder derselben Familie gefühlt. Und ich kenne hier keinen einzigen anderen Menschen, bis auf …
»Hier.« Ein Ellbogen stößt mir gegen den Arm, und ich rieche ihn, bevor ich ihn überhaupt ansehe. Orangen, frisch und süß, vermischt mit etwas Würzigem. Nelken? Ingwer? Er riecht wie Glühwein.
Der Geruch ist betörend. Und sehr männlich. Aber nicht scharf, er brennt nicht in der Nase.
Mein Blick wandert zu ihm, noch bevor ich den Kopf drehe. Nun kann ich seine Hände sehen, groß und schwielig, wie ich es mir schon dachte.
Ein Glas Wein in jeder von ihnen. Eins rot, eins weiß.
»Da hat aber jemand Durst.« Ich neige den Kopf zur Seite und ziehe eine Augenbraue hoch. »Das passt. So wie du gefahren bist, hast du wahrscheinlich schon früh angefangen.«
Ein Winkel seiner sündigen Lippen zieht sich nach oben, und mir wird klar, dass Theo Silva genau weiß, wie gut er aussieht. Wahrscheinlich trainiert er genau das vor dem Spiegel. »Wir haben jetzt schon so viel gemeinsam. Genau das habe ich nämlich auch gedacht, als ich während der zehn längsten Minuten meines Lebens hinter dir hergezockelt bin.«
Ich lächle ihn betont gelangweilt an, während ich eine Hand hebe und meine Fingernägel betrachte. Wenn ich hier eine Maniküre bekommen kann, werde ich sie in einem warmen Braun lackieren lassen, auch wenn gerade Weihnachten ist. Rot ist zu auffällig. Aber das ist ohnehin egal, denn im Krankenhaus sind lackierte Nägel nicht erlaubt.
»Nun, jetzt weißt du, wie Frauen sich in deiner Gegenwart fühlen.«
»Ach, deshalb kreischen sie im Bett immer Oh Theo, das ist so langweilig!«
Ich schnaube, sehe zu ihm hoch und erröte ein wenig. Es ist verstörend. Er ist verstörend. Also schlage ich zurück und hoffe, ihn damit so zu treffen, dass er abzieht.
»Das sagen sie bloß, damit du endlich fertig wirst und aufhörst, dich auf ihnen abzurackern.«
»Meinst du? Vielleicht könnten wir uns mal verabreden, damit du mir zeigst, wie ich schneller fertig werde. Ich würde liebend gern ein wenig üben.«
Meine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.
Wie typisch, dass ausgerechnet ich den einzigen Mann auf dieser Welt anziehe, der unverwundbar zu sein scheint. Den einzigen Mann auf dieser Welt, der mich einfach nicht gehen lässt, wenn ich mich Wonder Woman auf ihrer männerfreien Insel anschließen will.
»Welches?« Er streckt mir die beiden Weingläser entgegen und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
»Was?«
»Rot- oder Weißwein? Du hast gesagt, du brauchst was zu trinken. Ich wusste nicht, was du möchtest, also habe ich beides mitgebracht. Ich nehme das andere.«
Ich bin sprachlos. Dabei will ich eigentlich erwidern, dass es mich nicht überrascht zu hören, dass er alles trinkt, was er kriegen kann.
Er scheint genau so ein Typ zu sein. Großspurig. Gut aussehend. Der Inbegriff von Selbstbewusstsein. Frau braucht keine Raketenwissenschaftlerin zu sein, um zu wissen, dass so ein Typ viel herumkommt. Er riecht förmlich nach Erfahrung, was ich von mir leider nicht behaupten kann.
Denn ich war komplett in Rob verliebt – bis ich es nicht mehr war.
Misstrauisch beäuge ich die beiden Weingläser. Fällt das schon unter die Rubrik, mit einem Mann was trinken zu gehen?
Rob hätte eine ganz besondere Flasche aus einer speziell ausgewählten Anbauregion gekauft und sie aufs Grad genau kühlen lassen. Und dann hätte er mir das Glas in die Hand gedrückt und mir prahlerisch ins Ohr geflüstert, dass die Gastgeber nur billiges Gesöff ausschenkten.
Ich strecke die Hand aus und greife zögernd nach dem Weißwein. Rot macht blaue Zähne, und ich fühle mich auch so schon unsicher genug in diesem Haus.
Ich will mich gerade für den Wein bedanken, auch wenn es mir schwerfällt, da streifen meine Finger ganz leicht seine, und ein elektrischer Schock jagt durch meinen Körper. Mein Blick schießt nach oben. Ich reiße die Hand zurück und drücke sie an meine Brust.
»Alles okay?« Er runzelt die Stirn.
Okay? Fast hätte ich gelacht. Das lag garantiert nur an der trockenen Prärieluft hier draußen. Alles ist statisch aufgeladen. Mehr nicht. Aber er wirkt ernsthaft besorgt, und das ist … verstörend.
Ein Wort, auf das ich heute Abend immer wieder zurückkomme. Das Wort des Tages. Mein Leben heißt von nun an Sesamstraße, und ich bin Oskar in der Tonne.
Und Elmo hat mir gerade einen Wein gebracht.
Ich schnappe mir das Glas und wende mich ab, um mich unter die Leute zu mischen. Auch wenn ich es hasse, mich unter die Leute zu mischen, stehen zu bleiben, Theo Silva in die dunklen Augen zu sehen und in seinem Zitrus-und-Ingwer-Duft zu schwelgen, wäre noch schlimmer.
»Irgendwas Neues von Beau?«, fragt Summer, die an dem riesigen Esstisch neben mir sitzt.
Harvey räuspert sich und richtet sich ein wenig auf. »Ja. Es geht ihm ganz gut. Er hatte Verbrennungen dritten Grades an den Füßen. Sie mussten ihm Haut transplantieren und haben ihn jetzt unter Beobachtung. Aber gestern meinten sie, dass sie ziemlich beeindruckt sind, wie schnell der Heilungsprozess voranschreitet.«
»Typisch Beau. Der Kerl ist einfach in allem gut«, murmelt Rhett kopfschüttelnd.
Was ihm einen Chor aus lautem Gelächter einbringt. Ich bin seinem anderen Bruder noch nie begegnet. Ich weiß nur, dass er beim Militär ist und bei einer Mission verletzt wurde. Zurzeit liegt er im Militärkrankenhaus.
Verbrennungen sind wirklich eine fiese Sache. In der Notaufnahme habe ich selbst so einige davon zu Gesicht bekommen und würde sie nicht mal meinem ärgsten Feind wünschen.
Okay, doch. Rob. So nett bin ich dann doch nicht.
»Wir müssen uns noch nach ein paar guten Ärzten umschauen, die ihn weiter versorgen, wenn er nach Hause kommt.«
Schulterzuckend spieße ich eine mit braunem Zucker glasierte Karotte auf die Gabel, und mein Angebot ist schon raus, bevor ich den Mund wieder schließen kann. »Ich kann gern helfen.«
»Ja?« Harvey auf der anderen Seite des Tisches strahlt mich an, und ich frage mich, ob Nettsein womöglich ansteckend ist. Im Studium hab ich zwar nichts davon gehört, aber die Wissenschaft entwickelt sich schließlich ständig weiter.
Ich merke, dass Theo mich ansieht. Er sitzt mir direkt gegenüber, und es fällt mir schwer, ihn nicht anzuschauen. Im Schein der Kerze, die zwischen uns steht, wird mein Blick magisch angezogen von den Bartstoppeln in seinem Gesicht. Und rasch wegzugucken wie ein kleines Mädchen, das beim Abschreiben erwischt wurde, ist kindisch.
Ich tu’s trotzdem. Wie eine Vierzehnjährige, die dem beliebtesten Jungen in der Klasse gegenübersitzt.
Heute Abend erkenne ich mich selbst nicht wieder. Und beschließe, es nicht allzu genau zu analysieren.
»Sicher.« Ich senke den Blick auf meinen Teller. »Kein Problem. Ich freue mich, wenn ich helfen kann.«
Summer schiebt die Hand unter den Tisch und drückt mein Knie. Ich sehe sie an und frage mich, wie zwei Menschen, die in derselben Familie aufgewachsen sind, nur so unterschiedlich werden konnten. Gegensätzlich. Winter und Summer. Unsere Namen sind nicht bloß alberne Gags, sie drücken tatsächlich auf gewisse Weise aus, wer wir sind.
Doch, ich weiß, wie es dazu gekommen ist. Unsere Eltern haben sich zwar nie offiziell getrennt, dafür aber alles um sie herum. Ein Team gegen das andere.
Ich bekam Mom. Summer unseren Dad.
Rhett spricht gerade von einer Runde Eishockey auf dem zugefrorenen See, den er und Sloane extra dafür vorbereitet haben, und Sloane, eine zierliche Blondine, die neben Harvey sitzt, erzählt, wie sie und Jasper kürzlich auf einer anderen Farm gespielt haben.
Sie spricht von dem NHL-Superstar Jasper Gervais. Einem Klienten meines Vaters und dem Mann, der direkt neben ihr sitzt und sie ansieht, als könne sie heiße Regenbögen aus ihrer Vagina schießen oder so was.
Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt zuhört, denn er schaut sie an, als hätte sie den Mond an den Himmel gehängt. Und es schmerzt mich, seinen Blick zu sehen. Ich hasse es, neidisch zu sein, aber vieles von dem, was ich heute Abend hier erlebe, erfüllt mich mit diesem finsteren, bitteren Gefühl.
Ich könnte platzen vor Neid.
Wobei ich niemandem hier sein oder ihr Glück missgönne. Nein, es ist vielmehr so, dass ich es auch will.
Es macht mir bewusst, was mir all die Jahre gefehlt hat. Was ich alles nicht habe.
Und niemals haben werde.
Den restlichen Abend lang beobachte ich nur. Ich ziehe mich ein wenig zurück und fühle mich wie eine Außenseiterin. Alle sind so zufrieden. Und ich … nicht.
Es ist fast so, als würde ich durch ein Mikroskop Bakterien in einer Petrischale beim Wachsen zusehen. Ich kann verfolgen, wie es passiert. Ich verstehe, warum es passiert. Ich bin nah genug, um es anzufassen. Und trotzdem blicke ich nur durch eine Linse. Beobachte.
Wir sind ins riesige Wohnzimmer umgezogen, wo ein Feuer im Kamin lodert, und ich sitze in einem wahnsinnig gemütlichen Sessel, als Theo zu mir herübergeschlendert kommt.
Schon wieder.
Er ist echt hartnäckig.
Jetzt ist er nur noch ein paar Schritte von mir entfernt, den Blick fest auf mich gerichtet, alles an ihm pures Selbstbewusstsein und Konzentration. Doch Willa zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie schaut kurz zu mir, und ich lächle ihr zu. Ich mag Willa. Sie ist Summer eine Schwester, wie ich es nie sein konnte.
Und ich glaube, dafür werde ich sie immer lieben.
»Theo, du Ladykiller, wie läuft die Jagd?«
Sein Blick hängt noch einen Herzschlag lang an meinem, mehr zielgerichtete Entschlossenheit als spielerische Nonchalance. Und plötzlich will ich wissen, was zum Henker er gerade zu mir sagen wollte. Ich gehe ihm schon den ganzen Abend aus dem Weg, und Willa ist aufmerksam genug, es zu bemerken. Aber ihr Timing ist falsch.
»Willa, wie geht es dir? Hat dir in letzter Zeit schon mal jemand gesagt, dass du von innen heraus strahlst?« Er umgeht ihre Frage so mühelos. Sie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen und rollt mit den Augen.
Theo besitzt einen unwiderstehlichen Charme. Jungenhaft und witzig. Unschuldig. Vielleicht ist genau das der Reiz dieses Mannes, dessen Glas immer halb voll zu sein scheint, während meines meistens halb leer ist.
Cade, der älteste der Eaton-Brüder, kommt herbei, lässt sich neben Willa auf dem Sofa nieder und legt einen Arm um ihre Schultern. »Nur du würdest dich sogar noch an eine schwangere Frau ranmachen, Theo.«
Alle lachen, sogar Theo. Doch ich sehe, wie sein Nacken sich leicht versteift, als hätte Cades Scherz ihm einen unerwarteten Stich versetzt. Als zwinge er sich mitzulachen, obwohl ihm überhaupt nicht danach ist.
Ich sehe es, denn ich mache es genauso.
»Komm schon, Mann. Sie trägt dein Baby im Bauch und wohnt in deinem Haus. Was brauchst du denn noch? Deinen Namen auf ihrer Stirn tätowiert? Ich war einfach nur nett.«
Rhett tritt zwischen die beiden. »Ja, Kumpel, ich hab gesehen, wie nett du sein kannst. Ich würde sogar so weit gehen, dich als freundlich zu bezeichnen.«
Theo lächelt und verdreht die Augen. »Und das ausgerechnet von dir, Eaton.«
»Hey …« Rhett hebt abwehrend die Arme, in einer Hand sein Bier. »Ich war wie Goldlöckchen. Der Brei war immer entweder zu heiß oder zu kalt, bis ich endlich den gefunden habe, der …«
Summer schneidet ihm mit einem gespielt entnervten Blick das Wort ab. »Bitte hör auf. Jeder Vergleich von mir mit Brei ist einfach nur … nein, Rhett. Nein.«
»Aber der Ahornsirup, den ich immer so gern da reintue, erinnert mich an …«
»Rhett Eaton.« Die Augen meiner Schwester werden immer größer. »Reiß dich zusammen.«
Seine Mundwinkel zucken, und sein Blick trieft förmlich vor Sex. Es schrappt ziemlich hart an der Grenze zur Unangemessenheit vorbei, doch ich weiß, wie impulsiv und ungefiltert er sein kann.
Blinzelnd wende ich den Blick ab und schaue durch die großen Fenster hinaus auf die schneebedeckten Felder.
Es schneit immer noch.
»Entschuldige.« Theo steht direkt vor mir, und ich blicke tatsächlich hinter mich, um sicherzugehen, dass er mit mir gesprochen hat. An der Wand hängt ein Hirschkopf mit einem riesigen Geweih.
Ich zeige darauf. »Warum? Hast du ihn getötet?«
Seine Mundwinkel wandern nach oben, und neben seinen Augen bilden sich winzige Fältchen. »Ich habe nicht mit ihm geredet, Winter.«
Die anderen um uns herum haben sich wieder ihren eigenen Gesprächen zugewandt und beachten Theo nicht mehr. Dafür richtet er jetzt seine ganze Aufmerksamkeit auf mich. Es ist beinahe erdrückend.
»Entschuldige, dass ich dich auf der Fahrt vorhin bedrängt habe. Das wollte ich nicht. Also …« Er fährt sich mit der Hand durch die Haare, die an den Seiten ganz kurz und oben ein wenig länger sind. Nun sind sie zerzaust, als hätte er gerade Sex gehabt. »Wirklich nicht.«
Ich nicke, verschränke jedoch die Arme vor der Brust, als könnten sie mich vor ihm schützen. »Okay.«
Seine dichten braunen Augenbrauen schießen nach oben. »Echt? Heißt das, du nimmst meine Entschuldigung an?«
»Und wenn ich es nicht tue?« Herausfordernd ziehe ich eine Augenbraue hoch. Und erkenne mich selbst kaum wieder.
Flirte ich etwa gerade mit ihm?
Rob hat mich offenbar zu weit getrieben. Ich flirte bei einem Familienessen mit einem jüngeren Mann, und zwar nicht, weil ich ihn mag, sondern … weil es sich gut anfühlt.
Sein Gesichtsausdruck wird beinahe ernst. »Das wäre grausam, weil mein Selbstwertgefühl stark davon abhängt, dass andere Leute mich mögen. Von anderen gemocht zu werden ist meine beste Eigenschaft.«
Ich blinzle. Fast hätte ich ihm gesagt, dass es nicht seine beste Eigenschaft ist, doch das erscheint selbst mir zu grausam.
»Es würde mir das Herz brechen, wenn du mich nicht magst«, fährt er fort und geht vor mir in die Hocke. Mit ihm auf Augenhöhe kommt mir dieses Gespräch noch intimer vor.
Ich verdrehe die Augen. »Ich dachte, du wolltest, dass ich deine Entschuldigung annehme. Und jetzt soll ich dich auch noch mögen?«
Er zuckt mit den Schultern, und als er grinst, erkenne ich seine Grübchen. »Das ist mehr oder weniger das Gleiche.«
Ich schnaube. Dieser Mann. »Nein, ist es nicht.«
Er fährt sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe, und mein Blick folgt ihr wie gebannt. »Ich stimme zu, dass wir einander nicht zustimmen.«
Ich strecke ihm die Hand entgegen, wie um einen Handel zu besiegeln, und zwinge meine Gesichtszüge zu einer coolen Maske. Dieselbe, die mir all die Jahre so gute Dienste geleistet hat. »Ich nehme deine Entschuldigung an«, erkläre ich so distanziert wie nur möglich. »Aber ich mag dich nicht.«
Er lacht leise, und es klingt tief und warm und amüsiert, als wäre ich bloß eine Herausforderung – und keine besonders furchterregende. »Damit kann ich erst mal leben«, entgegnet er, bevor er meine Hand nimmt.
Und als unsere Fingerspitzen sich berühren, durchzuckt mich erneut ein elektrischer Schlag.
Aber diesmal liegt es garantiert nicht an der trockenen Prärieluft.
Mom: Du hättest mit auf diese Kreuzfahrt kommen sollen. Das Wetter ist herrlich.
Theo: