Feels like Christmas - Gabriella Santos de Lima - E-Book

Feels like Christmas E-Book

Gabriella Santos de Lima

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

A December to Remember Heiligabend in Venedig oder Silvester in den Bergen? Während die München-WG mit einem Krimidinner und ohne Strom ins neue Jahr startet, kann Jonas im Skiurlaub bloß an eines denken: Polly. Oder besser gesagt: ihre Lippen. Und auch in Venedig verläuft nicht alles nach Plan. Als die Kanäle zufrieren, müssen Cleo, Sofia und Livia kurzerhand ein Weihnachtsfest in der città d'amore organisieren. Ähnlich chaotisch geht es auf Sylt zu, wo die lang ersehnte Hochzeit von Lenis Oma stattfindet. Doch nicht nur die Insel lässt Herzen höherschlagen – auch Noel van Viet. Was Tillies Schwester Clementine allerdings nicht weiß: Er ist der Sohn ihres Chefs. Und damit verboten … Fünf Autorinnen - Fünf Geschichten - Unendlich viele Emotionen Gabriella Santos de Lima, Marina Neumeier, Alexandra Flint, Carolin Wahl und Kyra Groh schreiben in diesem Sammelband über starke Protagonistinnen, herzerwärmende Freundschaften und weihnachtliche Abenteuer. In fünf winterlichen Kurzgeschichten können New-Adult-Leser*innen die Feiertage gemeinsam mit ihren liebsten Intense-Protagonist*innen vor romantischer Kulisse inklusive Weihnachtsmarkt, Schneegestöber und Rutschpartien ins neue Jahr verbringen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 318

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Playlist

Prolog

Gabriella Santos de LimaJetzt sind wir ewig

So Much Wine

Day After Tomorrow

If We Make It Through December

7 O’Clock News / Silent Night

Christmas Song

Have Yourself a Merry Little Christmas

Marina NeumeierSeason of Love

Livia22. Dezember

Livia22. Dezember

Sofia23. Dezember – Vormittag

Sofia23. Dezember

Cleo24. Dezember

Cleo25. Dezember

Kyra GrohAlles, was sie mir bedeutet

Was bisher geschah …

Die FlascheKöln, 15. Dezember Asia-Supermarkt

Der Moment im AutoLansberg an der Wupper, 24. Dezember Haus der Mühlfords

Die blaue SchatulleKitzbühel, 31. Dezember Skihütte

Die inneren WerteKitzbühel, 31. Dezember Skihütte

Die schönste BescherungKöln, 2. Januar WG

Alexandra FlintKein Leuchten zu hell

Die Sache mit den BescherungenElisa25. Dezember

Von Schnee und anderen KatastrophenLou26. Dezember

28. Dezember

(Schnee-)Berge versetzenLeni28. Dezember – Vier Stunden zuvor

28. Dezember

Helden und ChallengesElisa28. Dezember

28. Dezember

29. Dezember

29. Dezember

Zwischen Tüll und TeigLou30. Dezember

31. Dezember

Das hellste LeuchtenLeni31. Dezember

Carolin WahlVielleicht für immer

Triggerwarnung

Gabriella

Anton

Joana

Kilian

Karla

Henning

Gabriella

Anton

Joana

Kilian

Karla

Henning

GABRIELLA SANTOS DE LIMA

Jetzt sind wir ewig

So Much Wine – Phoebe Bridgers

Day After Tomorrow – Phoebe Bridgers

If We Make It Through December – Phoebe Bridgers

7 O’Clock News / Silent Night – Phoebe Bridgers

Christmas Song – Phoebe Bridgers

Have Yourself a Merry Little Christmas – Phoebe Bridgers

MARINA NEUMEIER

Season of Love

Jingle Bells – Frank Sinatra

Let it Snow – Dean Martin

Santa Baby – Eartha Kitt

White Christmas – Bing Crosby

Tu scendi dalle stelle – Andrea Bocelli

KYRA GROH

Alles, was sie mir bedeutet

Wonderful Christmastime – Paul McCartney

Driving Home for Christmas – Chris Rea

White Christmas – Michael Bublé

ALEXANDRA FLINT

Kein Leuchten zu hell

All I Want for Christmas Is You – Mariah Carey

Jingle Bells – Frank Sinatra

White Christmas – Micheal Bublé

Stand by Me – Ben E. King

L-O-V-E – Nat King Cole

CAROLIN WAHL

Vielleicht für immer

something about december – Christina Perri

All I Want for Christmas Is You – Mariah Carey

Somewhere In My Memory – John Williams

Prolog

Ich wusste das mit Noel sofort.

Dabei ist mir klar, wie abgedroschen das klingt. Wie ein Satz, der in tausendfacher Ausführung in den Büchern steht, die ich immer zu schnell inhaliere. Wo alles so schön und nichts echt ist. Meine jüngere Schwester Tillie ordnet mein Lieblingsgenre scherzhaft der Fantasy zu. Sie ist nämlich der Meinung, dass solche Männer nicht existieren. Dass sie zu perfekt seien. Dass sie zwar unglaublich männlich schienen mit ihren Sixpacks und den makellosen Vs, doch am Ende von Frauen für Frauen kreiert werden. Und wir Frauen geben nun mal einen Haufen Geld aus, um zumindest auf dem Papier gut von Männern behandelt zu werden. Verrückt, nicht wahr?

Im Grunde hat meine Schwester recht, aber das spielt keine Rolle. Es geht mir einfach darum klarzustellen, dass ich es sofort wusste. Dass Noel van Vliet mich eiskalt in einem Dezember zwischen warm scheinenden Lichterketten erwischte.

Noel van Vliet.

Selbst sein Name klingt ausgedacht.

So Much Wine

Ich lernte Noel in einem Einkaufszentrum kennen.

Es passierte an einem Freitagnachmittag, um genau zu sein. Doch der Himmel war so stockduster, dass es auch nach Mitternacht hätte sein können.

»Warte, warte«, verlangte Tillie lachend, obwohl ich eigentlich weiterwollte, um nicht zu einer Statue zu gefrieren.

Wir liefen gemeinsam mit ihren Freundinnen über den Weihnachtsmarkt. Ich umklammerte eine lauwarme Glühweintasse, während meine Finger vor Kälte zitterten. Dabei hatten wir gerade erst mit Lucy und Manda angestoßen. Vor drei Sekunden hatte unser überteuerter Glühwein noch gedampft, jetzt war er beinahe kalt. Kurz ließ ich meinen Blick über die Menge schweifen, vorbei an rustikalen Büdchen und blinkenden Schaugeschäften. Meine dicke Winterjacke knautschte bei jeder Bewegung, während fremde Ärmel mich streiften. Zu sagen, dass der Kölner Weihnachtsmarkt überfüllt sei, wäre die Untertreibung des Jahres. Von links trällerte Wham! seinen größten Hit, während Mariah Carey weiter vorn von ihren allbekannten Weihnachtswünschen sang. In der Luft lag der Geruch von Mandeln mit Zimt und Zucker, von Langos für sieben Euro und karierten Schals, die Schulmädchen mit zu viel Parfum eingesprüht hatten.

»Damit ich das richtig verstehe«, fuhr meine Schwester an ihre Freundin fort. »Gregor Ich-bin-so-künstlerisch Beck hat dir ernsthaft einen kitschigen Adventskalender aus Gedichten gemacht?«

»Du vergisst die Süßigkeiten.« Lucy nippte schelmisch an ihrem Glühwein. »Manchmal sind die Verse sogar an die Schokoladenmarke angepasst. Am zweiten Dezember war der Spruch Und weiter geht’s mit Nummer zwei, lecker Kitkat ist auch dabei.«

»Oh. Mein. Gott.« Tillie schüttelte den Kopf, während ein paar blonde Strähnen unter ihrer Bommelmütze hervorlugten. »Ich kann nicht glauben, dass in Gregor ein romantischer Geist schlummert.«

Lucy zuckte mit den Schultern, doch auf ihren Lippen lag dieses verräterische Lächeln. Sie hatte den Jackpot geknackt. Sie liebte und wurde zurückgeliebt. Bedingungslos. Und das, obwohl wir in einer Welt lebten, in der wir ständig swipten, um uns niemals festlegen zu müssen.

»Hör auf, so überrascht zu klingen«, sagte ich zu Tillie.

»Stimmt«, schaltete Manda sich ein. »Ist ja nicht so, als würdest du dich nicht mit romantischen Männerseelen auskennen. Schau dir Jonathan an.«

Auf der Stelle verfärbten sich Tillies Wangen rot. Würde sie sich jetzt im Spiegel betrachten, würde sie es sicherlich der Kälte zuschreiben, um nicht zugeben zu müssen, was sich in Wahrheit dahinter verbarg. Obwohl … seit sie im Sommer mit Jonathan durch Skandinavien getourt war, hatte sich einiges geändert. Tillie war immer noch Tillie. Matilda Vogt, laut und lauter. Sie hatte eine Stimme und wusste sie einzusetzen, sei es in Seminaren oder auf ihrem Instagram-Kanal. Gemeinsam mit Lucy und Manda veränderte sie auf dem Account @thegirlnextdoor das Leben anderer Mädchen. In verschiedenen Formaten vermittelten die drei ihre feministischen Werte, klärten auf und gaben Halt. Jede Privatnachricht, die sie erhielten, endete mit Danke für eure Arbeit, ich fühle mich so gesehen. Ich war so stolz auf meine Schwester.

»Riechst du das auch, Cleo?« Mit übertrieben gerümpfter Nase wandte Manda sich in meine Richtung. »Hier liegt so viel Liebe in der Luft. Schnell, trink deinen Glühwein, damit wir uns den nächsten holen können!«

Lucy kicherte und Tillie verdrehte die Augen.

Wir wechselten das Gesprächsthema und landeten bei @thegirlnextdoor, während erste Regentropfen auf unsere Köpfe segelten. Keine Ahnung, zum wievielten Mal Wham! das letzte Weihnachtsjahr besang, während gestresste Menschen an uns vorbeizogen. Und trotzdem fand ich es schön. Klar, Schnee wäre mir lieber gewesen. In dem Fall hätten auch die zwei Grad Celsius nichts mehr ausgemacht, weil man dem weißen Anblick seltsamerweise alles verzieh. Taube Finger, spröde Lippen, verspätete Busse und Bahnen. Das alles spielte keine Rolle, wenn der Schnee unter deinen Schuhsohlen knirschte und du drohtest, dich in all dem Weiß zu verirren.

Aber ich verirrte mich nicht gern. Ich wusste, was und wohin ich wollte. Mit meinem abgeschlossenen Lebensmitteltechnologiestudium hätte ich in großen Konzernen arbeiten und richtig Karriere machen können. Stattdessen hatte ich letztes Jahr eine Ausbildung zur Konditorin angefangen, selbst wenn viele das nicht verstanden.

Du hast ein abgeschlossenes Studium, wieso willst du jetzt Kuchen backen?

Genau aus diesem Grund: weil ich es wollte. Und gerade wollte ich meinen lauwarmen Glühwein an einem zu gut besuchten Stand genießen, mir anschließend zu Hause einen weihnachtlichen Tee aufgießen und Phoebe Bridgers’ Weihnachtsalbum genießen. Mehr wollte ich nicht. Ehrlich. Ich war zufrieden.

Und dann traf ich ihn.

Wir verabschiedeten uns von den anderen gegen sechs. Lucy musste noch an einem Essay arbeiten und Manda fuhr über das Wochenende nach Hause. Eigentlich wollten Tillie und ich sofort die Wohnung ansteuern, die wir uns teilten. Siebenundfünfzig Quadratmeter, etliche Lichterketten und noch mehr angefangene Packungen von Mehl. Da blieb sie mitten auf der Straße stehen.

»Hättest du was dagegen, wenn wir noch kurz bei dm vorbeischauen? Dann können wir nach diesem Tee gucken, der nach gebrannten Mandeln und Vanille schmeckt. Der war letztes Mal so lecker.«

Auf dem Weg zum Drogeriemarkt vibrierte mein Handy immerzu. »Was geht da ab auf deinem Handy?« Neugierig nickte Tillie auf mein Display. »Ist das ganze Internet mal wieder in Aufruhr, weil Taylor Swift aus dem Nichts ein Album herausgebracht hat?«

»Wenn es so wäre, hätte Lucy dann nicht schon längst etwas in eure Gruppe geschrieben?«

»Touché.« Meine Schwester stieß die schwere Tür zur Einkaufspassage auf. »Was ist es dann?«

»Meine Kolleginnen hyperventilieren, weil der Sohn unseres Chefs in der Stadt ist. Alle finden ihn heiß.« Ich wackelte übertrieben gespielt mit den Brauen, bevor uns Weihnachtsmusik entgegenblähte. Die Schaufenster waren alle passend geschmückt mit Tannenzweigen und Wichteln. Die Geschäfte warben mit Sales, an denen Tillie uns gekonnt vorbei – und direkt in den Drogeriemarkt lotste. Dort steuerte sie die Teeabteilung an, ich blieb jedoch an meinem Spiegelbild hängen. Keine Ahnung, was das mit mir und dm-Spiegeln war. Sie hatten schon immer eine Faszination auf mich ausgeübt, ganz egal, wie alt ich gewesen war. Mit dreizehn und Lipglossen von Essence zwischen den Fingern. Mit fünfzehn und roséfarbenen Lippenstiftproben auf dem Handrücken, die kaum voneinander zu unterscheiden gewesen waren. Mit siebzehn und silberfarbenen Glitzerpigmenten im Einkaufskorb, damit mein Make-up perfekt mit meinem Paillettenrock auf der Vofi harmonierte, was im Endeffekt niemandem jemals aufgefallen war. Links fragte eine Kundin nach einem bestimmten Abwaschprodukt, während ich mich selbst betrachtete. Im Grunde hatte sich nichts an meinem Aussehen verändert. Seit dem Abi war ich kaum gewachsen, trug meine blonden Haare immer noch lang und kombinierte meine dunklen Leggings im Winter am liebsten mit kniehohen Stiefeln. Tillie war nur ein Jahr und drei Monate jünger als ich, trotzdem ähnelten wir uns kein bisschen. Sie war kleiner, extrovertierter und exzentrischer. Ihr Markenzeichen waren die roten Lippen, ich verwendete meist nur ein durchsichtiges Gloss. Dabei war ich nicht das graue Mäuschen, das sich in einen Schwan verwandeln musste. Ich war einfach ich. Gut so, wie ich war. Ich glaubte daran, dass jeder gut und genug war. Aber ich hatte nie daran geglaubt, dass mir das passieren würde.

Nachdem Tillie bezahlt hatte, liefen wir in Richtung Edeka. Auch eine Etage weiter unten herrschte das absolute Einkaufswinterwunderland. In unmittelbarer Nähe der Rolltreppen war sogar eine Krippe aufgestellt. Joseph, Maria und Jesus, geschmückt mit warm leuchtenden Lichterketten.

»Was hältst du von Wraps für heute Abend?«, wollte Tillie wissen, doch ich überhörte sie.

Hier schallten die Weihnachtshits nicht aus den Lautsprechern, sondern wurden wirklich gespielt. Neugierig landete mein Blick auf dem dunklen Piano. Eine Menschentraube hatte sich darum versammelt, um diesem Typen beim Spielen zuzuhören. Selbst im Sitzen war er groß, während er in seiner Musik versank und dabei die Schultern nach vorn beugte. Nachtschwarze Strähnen fielen ihm in die Stirn. Er trug schlichte Jeans in Kombination mit einem schlichten Hoodie, Letzterer eine Nummer zu groß. Er fiel auf. Ich hatte die Theorie, dass es dabei im Grunde nicht wirklich auf das Aussehen ankam. Wie flach dein Bauch oder wie gerade deine Nase war. Es ging immer um die Art, wie du dich trugst. Um die Weise, wie du dich gabst. Und er gab alles.

»Stopp mal.« Unvermittelt blieb Tillie stehen. »Spielt der Typ da gerade Day After Tomorrow in der Version von Phoebe Bridgers?«

Es war wie in einem meiner Bücher. Er war ein leidenschaftlicher Pianist in einem Einkaufszentrum, der Lieder von Phoebe Bridgers spielte. Ihn umgab diese Aura, die so viele auf Tillies Campus besaßen. Leicht melancholisch, irgendwie anders und gerade deshalb interessant. Keine Ahnung, wieso uns das so faszinierte. Vielleicht, weil Kunst ehrlich war und wir die meiste Zeit über logen. Authentisch sein, sagten sie, aber benutzten Filter, um ihr wahres Gesicht zu verbergen.

Dieser Typ hatte etwas Ehrliches.

Die Art, wie er spielte, war roh und verletzlich.

So schön.

Ein merkwürdiges Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Aber vielleicht hatte ich auch bloß zu viele Liebesromane gelesen und war zu gut darin, mein Leben, insbesondere gesichtslose Fremde darin, zu romantisieren. Also wandte ich mich ab, allerdings war Tillie noch nicht fertig.

»Er spielt echt krass. Wir sollten ihn auf Instagram suchen.« Beiläufig nickte sie auf das Pappschild, das er neben sich aufgestellt hatte. @musikvonnoel. Doch statt ihr Handy hervorzuholen, hakte sich Tillie bei mir unter und wir gingen weiter.

Sollten war ein Konjunktiv, die Möglichkeitsform. Bloß weil etwas möglich war, bedeutete es nicht, dass wir es taten. Wenn ich die Protagonistin in einem meiner Lieblingsbücher gewesen wäre, hätte Tillie ihn wirklich auf Instagram gesucht und mir befohlen, ihm zu folgen, weil Hauptcharaktere meistens von extrovertierten Freundinnen zu ihrem Glück gezwungen werden mussten. Das passierte jedoch nicht. Meine Schwester und ich kauften bloß Gemüse und Tortillawraps ein, schafften es endlich nach Hause und schmissen alle Lichterketten an, die wir fanden. Beim Kochen drehte ich Musik auf. Zufälligerweise ertönte So Much Wine von Phoebe Bridgers. Nur kurz dachte ich an @musikvonnoel.

Day After Tomorrow

TillieIch danke dir

Du bist die beste Schwester auf der Welt

Ich schwöööre

Augenrollend steckte ich das Handy zurück in meine Tasche. Tillie hatte mich mit Nachrichten überflutet, weil sie sich in einer Notlage befand. Genau deshalb war ich diejenige, die jetzt von Kopf bis Fuß nass wurde. Fiese Regentropfen hämmerten auf die Dächer, während ich einen Blick nach vorn wagte.

Noch immer war ein halbes Dutzend Leute vor mir dran.

Ich versicherte mich ein weiteres Mal, dass ich den gelben Schein auch wirklich in meine Jackentasche gesteckt hatte, und stellte abermals fest, dass ich ihn nicht vergessen hatte. Nur meine Schwester hatte das und anschließend mich panisch auf WhatsApp darum gebeten, ihr Paket für sie abzuholen. Heute war nämlich der letzte Tag, bevor es wieder zurückgeschickt wurde. Außerdem war der Inhalt von größter Wichtigkeit, weil es sich um ein spezielles Handylicht handelte, das sie für ihre Videos brauchte. Sie hockte gerade in einem Seminar und würde es nicht vor der Schließungszeit schaffen. Deshalb war nun ich diejenige, die sich fragte, wieso meine Daunenjacke keine Kapuze besaß.

Was ist das überhaupt für eine Winterjacke, wenn man nicht vor Regen geschützt ist?

Ich kramte nach meinen AirPods und überlegte, welches Hörbuch ich beginnen sollte, nachdem ich das letzte gestern beendet hatte. Eine Office Romance? Oder doch lieber dieses Buch, von dem ganz TikTok schwärmte, weil es eine One-Bed-Szene gab? Ich öffnete gerade die Hörbuchapp, da registrierte ich, wie jemand hinter mir zum Stehen kam.

»Fuck«, fluchte dieser Jemand. »Das dauert hier Ewigkeiten. Ich meld mich, sobald ich fertig bin, ja?«

Eine Stimme war nur eine Stimme. Man konnte analysieren, ob sie schnell oder langsam war, nervös oder überheblich klang. Was keinen Sinn ergab, war, dass sich bei ihrem Klang ein seltsames Kribbeln in meinem Körper ausbreitete.

So intensiv, dass ich mich einfach umdrehen musste.

Fast hätte ich gelacht, weil ich es sofort gewusst hatte.

Es war der Typ vom Einkaufszentrum. Natürlich. Natürlich war er es.

@musikvonnoel.

Keine Ahnung, wieso ich seinen Namen behalten hatte. Dafür wusste ich ganz sicher, dass ich ihn zu intensiv anstarrte.

Und dass ich recht gehabt hatte.

Er sah gut aus.

Er war nicht perfekt, kein Model oder Elevator Boy. Seine Nase war zu schief und etwas zu groß. Seine Lippen wirkten einen Tick zu voll, während seine Ohren eine Spur zu klein für sein Gesicht waren. Trotzdem sah er gut aus. Die verwuschelte Frisur, die dunklen Augen, die dichten Wimpern und dazu dieser leichte Bartschatten.

Er war schön, weil Männer nicht schön sein mussten. Im Grunde brauchten sie nur hochgewachsen und muskulös zu sein. Nicht riesig, aber eben größer als wir. Das war – aus welchem Grund auch immer – sehr wichtig. In meinen Romanen stand ständig, dass sie nach Wald und/oder Moschus rochen. Dass ihre Augen die Farbe des Meeres hatten und du wie in Wellen in ihrem Blick ertrinken konntest.

Das hier war nicht so.

Ja, der Typ vor mir war groß und attraktiv, aber als sein Blick auf meinen Blick traf, ertrank ich nicht darin. Mein Herz schlug bloß ein paar Takte zu schnell und Hitze schoss mir in die Wangen, obwohl es weiterhin nasskalt regnete. Mein Gegenüber schien sich daran allerdings nicht zu stören. Wie in Zeitlupe zogen sich seine zu vollen Lippen nämlich zu einem Lächeln auseinander.

»Wirklich Mist, nicht wahr?« Er nickte auf die Schlange. »Dabei muss ich eigentlich nur ein paar Weihnachtsbriefe abgeben. Echt scheiße, dass unsere Generation keine Briefmarken zu Hause hat.«

»Weihnachtsbriefe?«, wiederholte ich wenig elegant.

Als wäre nichts dabei, zog er vier Briefe aus der Jackentasche. Sie waren rot und mit weihnachtlichen Stickern versehen. Ich erkannte kindliche Motive, bevor ich an der Absenderadresse hängen blieb.

i.A. Weihnachtsmann, Joulumaantie 1, Rovaniemi, Finnland

Meine Mundwinkel zuckten. »Im Auftrag des Weihnachtsmanns also, ja?«

»Wenn ich damit nicht den Titel für den Onkel des Jahres verdient hab, weiß ich auch nicht.« Schnell verstaute er die Briefe wieder in seiner Jacke, damit sie vom Regen verschont blieben. Es war nur eine Bewegung. Nicht einmal eine Sekunde lang. Und dennoch fiel mir etwas an der Art auf, wie er seine Finger bewegte. So fließend. So elegant.

Elegante Finger. Ist klar, Cleo.

»Das ist Tradition. Ich mache das schon seit Jahren für meine Schwester. Wahrscheinlich weiß die Älteste längst, dass es nicht echt ist, aber will die Weihnachtspost für ihre Geschwister nicht ruinieren.« @musikvonnoel atmete kleine Wolken in die Luft, während die Schlange weiter vorrückte.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Meine Generation redete nicht miteinander. Selbst Freundinnen saßen mit zugestöpselten Ohren in der Bahn, um sich nicht unterhalten zu müssen. Wir konnten das gut mit dem Schweigen. Mit dem Blockieren und der Funkstille.

@musikvonnoel war seltsamerweise nicht so.

»Und du?«, fragte er. »Musst du auch was abgeben?«

Ich schüttelte den Kopf. »Etwas abholen.«

»Weihnachtsgeschenke?«

»Nein, ist für meine Schwester. Ein Weihnachtsgeschenk an sich selbst sozusagen. Schade nur, dass sie keine Zeit hat, es abzuholen.«

»Sich bei dem Wetter an so einer Schlange anstellen? Vielleicht könntest du Anwärterin auf den Preis für die beste Schwester des Jahres werden.«

»Nah«, machte ich und winkte ab. »Sie musste mir dafür versprechen, ihre berühmten Blondies mit weißer Schokolade für mich zu machen.«

»Weiße Schokolade ist so viel leckerer als die normale, oder?«

»Absolut!«

»Die weiße Ritter Sport mit Zimtcrispies ist der größte Geheimtipp überhaupt. Ich hab schon angefangen, sie zu bunkern. Und …« Er verstummte. Wir waren an der Tür angekommen. Mein Kopf war jetzt sogar geschützt, nur auf meinen Gesprächspartner regnete es weiter herunter. »Sorry, dass ich dich so vollrede. Eigentlich ist das nicht meine Art.« Verlegen fuhr er sich durch die Haare. Dabei verharrte mein Blick erneut an seinen Fingern. Vor meinem inneren Auge flackerte das Bild von ihm vor dem Klavier auf.

»Ich bin übrigens Noel.«

Ich weiß.

Fast wäre es mir herausgerutscht, doch ich biss mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Als er mir dann seine Hand hinstreckte, zögerte ich nicht. Ich legte meine Finger in seine. Sie waren warm.

»Cleo«, sagte ich.

Er kippte den Kopf. »Wie Cleopatra?«

»Clementine«, verbesserte ich.

»Clementine«, wiederholte er langsam.

Mein Name war nur ein Name. Ich hatte ihn schon tausendmal von irgendwelchen Leuten gehört. Und ich hatte ihn jedes einzelne Mal seltsam gefunden. Deshalb stellte ich mich seit der Mittelstufe ausnahmslos als Cleo vor. Doch jetzt, in diesem Moment, als er meinen Namen sagte und unsere Hände sich berührten und wir uns ansahen, da schlug mein Herz noch einen Takt schneller. Es regnete, aber meine Wangen glühten und alles wurde ganz warm. Mitten auf der Straße, im Dezember in Dunkeldeutschland, weil ein Fremder mich angesprochen hatte und sein Blick etwas mit mir machte.

Das passiert nur in deinen Büchern, dachte ich.

Und dann passierte noch etwas, was nur in meinen Büchern geschah. Hinter Noel verblassten blinkende Rücklichter mit Kölner Kennzeichen, Regentropfen perlten von seinen dunklen Haaren, als er plötzlich einen Schritt auf mich zukam. So nah, dass ich mir fast eingebildet hätte, ich könnte seinen Herzschlag hören.

»Das ist eigentlich wirklich nicht meine Art«, begann er wieder, während der Postangestellte schon nach dem nächsten Kunden rief. »Aber hättest du vielleicht Lust, mir deine Nummer zu geben?«

»Warte, was?« Tillie war so schockiert, dass ihr die Gabel aus der Hand fiel. »Er hat dich im strömenden Regen nach deiner Nummer gefragt? Und als du nicht sofort geantwortet hast, hat er sich entschuldigt, weil er auf gar keinen Fall schmierig oder aufdringlich rüberkommen wollte?«

»Du übertreibst.« Kopfschüttelnd spießte ich eine Kirschtomate von meinem Teller auf. »Es war zu dem Zeitpunkt schon überdacht.«

»Aber der Rest stimmt?« Tillie schien ihren Salat vergessen zu haben, dabei hatte sie sich so viel Mühe beim Anrichten gegeben. Nicht für Instagram, sondern für sich selbst. Weil meine Schwester seit diesem Sommer wieder besser darin geworden war, sich selbst zu lieben.

»Na ja.« Ich zuckte die Achseln. »Irgendwie schon, aber …«

»Aber was?«

»Das ist zu schön, um echt zu sein, findest du nicht? So was passiert nur in meinen Büchern.«

»Vielleicht passiert es nicht so oft. Aber das heißt nicht, dass es nicht dir passieren kann.«

Den Rest unseres Abendessens versuchte Tillie, mich davon zu überzeugen, positiver zu denken. Lichterketten strahlten in meinen Augenwinkeln, während meine Schwester mir erklärte, wieso wir genau das anzogen, was wir dachten, und es deshalb so wichtig sei, unsere Gedanken selbst zu bestimmen. Irgendwann war ich mir sogar sicher, dass Tillie mir in zwei Wochen zu Weihnachten irgendeinen Ratgeber schenken würde, mit dem ich mein Leben verändern könnte.

Dabei mochte ich mein Leben.

Ich mochte es, dass wir den Abwasch gemeinsam erledigten und unserer jüngeren Schwester Delia anschließend ein Selfie schickten.

Ich mochte es ebenfalls zu beobachten, wie sich Tillie und ihr Freund Jonathan begrüßten, nachdem es gleich darauf an der Tür geklingelt hatte. Ich mochte es, wie innig ihre Umarmung war. Wie intim, selbst wenn er die Hand bloß auf ihren unteren Rücken legte. Jonathan war einen Kopf größer als Tillie, hochgewachsen mit drahtigen Muskeln. Er trug eine Brille und teuer wirkende Pullover, machte seine Leidenschaft zum Beruf und war der netteste Mensch, den ich kannte. Er war diese Art von Typ, der in meinen Romanen ständig verlassen wurde, weil sein Geheimnis nicht dunkel genug und seine Aura nicht ausreichend mysteriös war.

Jonathan verursachte kein Drama.

Er brachte meiner Schwester bloß Wärmflaschen und Weihnachtspullover. Er machte ihr Leben schön, sanft und leichter.

Aber ich mochte es auch, mich von den beiden zu verabschieden, meine Zimmertür hinter mir zu schließen, um Kerzen mit Bratapfelduft anzuzünden und es mir mit einem neuen Buch gemütlich zu machen. Ich zog mir meine dicksten und kitschigsten Weihnachtssocken an, bevor ich den Winterliebesroman mit gewissem Etwas aufschlug. Gewisses Etwas stand meistens für erotische Szenen und das mochte ich noch viel mehr. Ich las gerade den ersten Satz, während das Weihnachtsalbum von Phoebe Bridgers in meinem Zimmer vor sich hin plätscherte.

Genau dann vibrierte mein Handy. Und mein Buch war vergessen.

Unbekannte NummerHey, hier ist Noel

Wir schrieben den ganzen restlichen Abend, trotzdem war diese fiese Stimme ganz tief in mir drin, die sich fragte, wo der Haken war. Immerhin waren meine Erfahrungen mit der männlichen Spezies nicht gerade die besten. Ich hatte einen Freund in der Zehnten gehabt. Drei Monate waren wir in einer Beziehung gewesen, hatten uns verliebte Nachrichten auf Facebook geschrieben und uns getrennt, weil er Schluss gemacht hatte. Das war kurz vor seiner Skifreizeit gewesen. Nach der Stufenfahrt hatte er seinen Single-Status wieder zu In einer Beziehung geändert. Etliche Nächte hatte ich zu Taylor Swifts Red durchgeheult und weinerliche Zitate in meinen Status gepostet, die mir jetzt peinlich waren. Danach war nichts mehr Gravierendes in meinem Liebesleben geschehen. Ich hatte Dates gehabt und Phasen durchlebt, in denen ich so viele Männer wie möglich kennenlernen wollte, aber es hatte nicht geklappt. Nie gefunkt. Oft hatte ich den Fehler bei mir gesucht, wenn ich geghostet worden war. War ich zu wählerisch, zu eigen, zu komisch? War ich nicht dünn oder an den richtigen Stellen nicht dick genug? Mittlerweile war ich vierundzwanzig. Ich war nicht hässlich. Ich war nett und freundlich, sympathisch und emphatisch. Ich hatte meine Fehler, aber ich war liebenswert. Für diese Erkenntnis hatte ich keinen Mann benötigt. Aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Ich hatte niedrige Erwartungen. Ich war es gewohnt, dass man(n) behauptete, man(n) würde mir schreiben und man(n) es dann trotzdem ließ.

Noel hatte mir geschrieben. Und Noel schrieb weiter. Auch an den Tagen danach. Anfangs dachte ich mir nichts dabei. Ich rechnete sogar nach jeder meiner Nachrichten, die keine Frage war, damit, dass er nicht zurückschreiben würde. Noel hingegen fragte, wenn ich nicht fragte. Wir tauschten uns über unseren Alltag und unsere Hobbys aus, als würden wir ein Freundschaftsbuch ausfüllen.

Abends, meist nach acht Uhr, erreichten mich seine WhatsApps ohne längere Wartezeit. Er schickte mir Musik und lustige Videos. Ich fand schnell heraus, dass er eine Schwäche für die Wilde Herzen-Playlist auf Spotify hatte. Er mochte Indie-Künstler und hätte damit perfekt mit meiner Schwester harmoniert. Gestern schickte er mir Kippe von Ennio und ich ihm das neuste Lied von Gracie Abrams. Keine Ahnung, ob das ebenfalls harmonierte. Ich wusste inzwischen, dass er Musikstudent gewesen war, bis vor Kurzem seinen Master in Berlin gemacht hatte und jetzt zurück in die Heimat gezogen war. Hier hatte er eine Stelle als Aushilfslehrer an einer Musikschule angenommen. Manchmal wollte ich ihm schreiben, dass ich längst wusste, wie sehr er für die Musik brannte. Dass ich es gesehen hatte.

Ihn gesehen hatte.

Aber dann traute ich mich nicht, weil ich nicht wusste, mit welchem Smiley ich die Aussage versehen könnte, um nicht ganz so stalkermäßig rüberzukommen.

Also schloss ich auch jetzt wieder unseren Chat und begab mich in die Küche, in der Manda und Lucy am Tisch saßen. Lucy trug einen Dutt, eine Lederleggins und einen dicken Pullover mit hohem Kragen. Ringe glitzerten an ihren Fingern, während sie Tillie dabei beobachtete, wie diese mit übergroßen Handschuhen eine brennend heiße Auflaufform aus dem Ofen manövrierte. Manda beäugte das Ganze mit perfekt gezupften hochgezogenen Brauen. Der Lidstrich darunter war so präzise gesetzt, wie ich ihn niemals hinbekommen hätte. An Lucy wirkte immer alles schön und perfekt aufeinander abgestimmt. Bei Manda war es anders. Sie wirkte anziehend, doch auf eine mysteriöse Weise. Manchmal schien sie wie dieses dunkelhaarige Mädchen, das Leserinnen auf TikTok als Vorlage für Charaktere benutzten. Sie war so schön. Aber irgendwie immer so … traurig?

»Ähm«, machte sie, als meine Schwester uns keine drei Minuten später Teller mit ihrem Gebäck reichte. »Bist du dir sicher, dass das kein Apfelkuchen ist?«

»Manda-Schmanda, ich bitte dich!« Energisch setzte Tillie sich an den Tisch. »Es sind meine Blondies in der Weihnachtsversion mit Apfel, Mandeln und Spekulatiusgewürz.«

»Sorry, du Chefkoch.«

»Köchin«, verbesserte Tillie feixend, bevor sie den ersten Bissen nahm und sich die Zunge verbrannte.

Wir aßen heiße Blondies, die wie weihnachtlicher Apfelkuchen schmeckten, bevor meine Schwester alle Kerzen anzündete, die wir besaßen. Wir sprachen über Weihnachtsgeschenke für unsere Eltern und darüber, dass es unmöglich war, unseren Vätern etwas zu kaufen, das sie wirklich mochten. Lucy und Manda versuchten, sich auf einen Termin für Tillies großes Plätzchenbacken zu einigen, als mein Handy plötzlich vibrierte. Es lag mit dem Display nach oben auf dem Tisch. Der Blick meiner Schwester huschte sofort zu meinem Sperrbildschirm, während sie anzüglich mit den Brauen wackelte.

Sie nippte an ihrem Tee in der Geschmacksrichtung Schneewunder, als ich die Nachricht entzifferte. Als ich schon gedacht hatte, er würde nie fragen.

NoelLiebste Clementine-nicht-Cleopatra, hättest du vielleicht übermorgen Lust auf ein Weihnachtsmarktdate?

Day After Tomorrow.

If We Make It Through December

Er hatte sogar Date geschrieben.

Noel ließ keine einzige Frage offen. Es gab keine widersprüchlichen Signale. Er bat mich um ein Date. Und ich sagte Ja.

Manchmal war es also tatsächlich einfach. Tillie hätte in diesem Moment Mandas Lieblingslied aufgedreht. einfach von JEREMIAS. Allerdings war es so leicht nun auch nicht. Immerhin spürte ich mein pochendes Herz bis in die Zehen, als ich am Donnerstag aus der Bahn stieg. Fremde Schultern berührten meine, während die Mütze tief in meiner Stirn und in meinem Bauch dieses seltsame Gefühl saß, das sich von dort aus in meinem gesamten Körper ausbreitete.

Ich lief die Treppen der U-Bahn-Haltestelle nach oben und erhaschte in einer Scheibe einen Blick auf mich selbst. Ich hatte kein komplettes Makeover veranstaltet und mir auch nicht auferlegt, seit vorgestern nichts mehr zu essen, um am Tag des Dates zumindest einen semi-flachen Bauch zu haben. Heute sah ich so gut aus, wie man im Winter aussehen konnte. Meine Jacke war zu dick und ließ meine Silhouette klobig wirken, dafür glänzten meine Lippen glossig.

»Bist du nervös?«, hatte Tillie mich vor etwa einer Stunde gefragt. Meine Antwort war ein Schulterzucken gewesen. Bevor meine Schwester mit Jonathan durch Skandinavien gereist war, hatte sie viele Dates gehabt, weil sie es geschafft hatte, Dates nur Dates sein zu lassen. Ich schaffte das nicht, hatte mich deshalb immer lieber an mich und meine Bücher gehalten. Bis ich ihn dort stehen sah.

Es war siebzehn Uhr achtundvierzig.

Er war genauso überpünktlich wie ich.

Ich nutzte den Moment, um ihn zu mustern. Wieder stach er aus einer Masse hervor, obwohl er diesmal nicht vor einem Klavier saß. Wahrscheinlich lag es an dieser treffsicheren Kombi, die bei Männern tatsächlich immer funktionierte: Er war groß und selbstbewusst. Noel trug auch diesmal Jeans und Pullover, darüber eine offene Bomberjacke und eine Mütze auf dem dunklen Haar. Er wirkte genau wie der Musikertyp aus Berlin, der er war. Seine Kleidung war einen Tick zu weit, genau so, wie Indie-Bands sie auf ihren Covern trugen. Vorbeiziehende Mädchen warfen ihm zweite Blicke zu, was er nicht zu bemerken schien. Oberflächlich betrachtet wirkte nichts an ihm nervös, doch mir entging nicht, wie er auf seinen Fußballen wippte, während er die Hände in den Jackentaschen vergrub. Gerade dann, dann, als ich den ersten Schritt nach vorn machte, landete sein Blick auf mir. Aus der Ferne deutete er ein Winken an und kam dann auf mich zu. Ich spürte mein Herz in jedem Winkel meines Körpers. Ich war der Meinung, es übertrieb, aber was mein Kopf dachte, war in diesen Angelegenheiten immer sehr egal.

»Hi«, sagte Noel, bevor wir unangenehm voreinander verharrten. Für eine Sekunde wirkte es nämlich so, als würden wir uns umarmen, aber als er wollte, war ich zu spät, und als ich wollte, wollte er nicht mehr.

Gott, wieso war das nur immer so peinlich?

»Voll cool, dass es geklappt hat.« Noel lächelte mich an. Nein, das stimmte nicht. Er strahlte mich an. Und ich strahlte zurück. Vielleicht konnte es doch einfach sein.

»Auf einer Skala von eins bis zehn.« Noel ließ den Blick über die Menge schweifen. »Wie sehr regt es dich auf, dass die Vorstellung von einem Weihnachtsmarkt immer besser ist als der wirkliche Besuch?«

Der Platz war auch heute wieder überfüllt, dabei war es noch nicht einmal Wochenende. Menschen streiften mich auf allen Seiten. Vor mir verschüttete sogar eine Frau Glühwein wegen des Gedrängels. Rechts von uns wurden überteuerte Crêpes verkauft, während links Hunderte von Schneekugeln in LED-Farben leuchteten.

»Sechs«, erwiderte ich schließlich.

»Ich setze auf fünf, aaaber du hast Glück, dass ich so ein positiver Mensch bin. Das wird trotzdem gut.« Noel berührte mich so sanft am Handgelenk, dass ich es kaum bemerkte – wäre da nicht die Wärme seiner Finger gewesen, die sich in meinem gesamten Körper ausbreitete. Unser Ziel war ein Büdchen, vor dem er zwei freie überdachte Plätze entdeckt hatte.

»Kann ich dich mit der Getränkeauswahl überraschen?«, erkundigte er sich. Das Licht war schummrig, aber Noel stand in unmittelbarer Nähe einer Lampe. Der Schein legte sich warm auf sein Gesicht. Seine Augen glühten. Schimmerten so stark, dass ich mich selbst in seinen Pupillen sah. Meine Wangen waren gerötet und meine Mütze saß schief. Aber es war so egal.

»K…klar«, erwiderte ich.

Noel bestellte zwei Schneewunder, ohne Alkohol. Der vollbärtige Typ hinter der Theke nickte wortlos, bevor er keine zwei Minuten später die Tassen vor uns abstellte.

»Also, Clementine-und-nicht-Cleopatra.« Mit einem breiten Grinsen hielt er die Tasse in die Höhe. »Auf was trinken wir?«

Ringsum unterhielten sich so viele Menschen, dass die Gesprächsfetzen sich in meinen Ohren zu einem Rauschen vermischten. Dampf stieg aus unseren Glühweintassen in die Luft. Alles roch nach Winter, nach Zimt und Nelken.

»Auf die schönste Zeit des Jahres?«

»Winter? Nah, komm schon. Ich verstehe, dass man Weihnachten toll findet, weil man so viel Zeit mit der Familie verbringt. Aber ist die Welt nicht viel schöner, wenn man um halb zehn abends am See chillen kann, weil es noch dreiundzwanzig Grad sind?«

Ich dachte an Juli und August, an dreißig Grad und das permanente Gefühl von Freiheit. In der Realität jedoch war der Himmel stockfinster, während die Besucher das Kinn bibbernd in ihren Schals vergruben.

»Absolut«, stimmte ich zu. »Sommer wäre wirklich schön jetzt.«

»Also trinken wir darauf?« Seine Augen wurden noch heller.

»Auf den Sommer.« Ich besiegelte es, indem ich meine Tasse gegen seine stieß. Und dann waren wir tatsächlich die Idioten, die mit dampfenden Weihnachtsgetränken auf den Sommer tranken. Noel grinste und ich lächelte. Vor unserem Date hatte ich befürchtet, es könnte unangenehm werden. Denn ja, wir hatten tagelang geschrieben, aber war er nicht immer noch ein Fremder?

Doch wir fanden immer wieder Gesprächsthemen. Nachdem wir unseren Kakao mit Marzipansirup und Sahne ausgetrunken hatten, wagten wir uns wieder in die Menge. Wenn es einmal eine Sprechpause gab, bemerkte ich, wie Noel mich ansah. Immer von der Seite, immer so schüchtern, dass ich wusste, er hoffte, ich würde es nicht bemerken. Er überraschte mich. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mir Noel nicht so vorgestellt.

So gesprächig, so nett, so unterhaltsam, so positiv.

Wäre das hier eins meiner Bücher, wäre er anders. Verschlossener, mysteriöser, alles in allem ein bisschen gequälter, damit es auch zu seiner Künstleraura passte.

Aber das hier war die Wirklichkeit.

Ich fand unheimlich viele Dinge über ihn heraus, ohne dass ich überhaupt fragte. Noel liebte gebrannte Mandeln und Kakao mit Sahne und Zimt. Generell liebte er alles mit Zimt. Daher waren die Weihnachtsüßigkeiten das Einzige, was ihm im Sommer fehlte. Den Sommer liebte er tatsächlich so sehr, dass er sich damals nach dem Abi eine Pause in der Sonne gegönnt hatte. Er hatte nämlich eineinhalb Jahre in Neuseeland auf Kiwiplantagen gearbeitet. Während er davon sprach, wirkte alles an ihm noch wärmer und leuchtender.

»Würdest du noch mal zurück?«, fragte ich daher und rechnete mit einem Ja, weil so gut wie jeder, den ich kannte, sich in sein Auslandsjahr zurückbeamen würde, wenn es möglich wäre.

»Eher nicht«, erklärte er jedoch achselzuckend. »Ich bin froh, dass ich es gemacht hab. Aber ich mag mein Leben gerade ziemlich gern, so wie es ist. Ich freue mich, zurück in der Heimat zu sein. Berlin war cool, aber Berlin war eben auch …«

»Berlin?«, vollendete ich für ihn.

»Ja.« Er warf mir einen belustigten Seitenblick zu. »Ein großer Teil meiner Freunde ist noch hier in Köln. Außerdem hab ich diesen neuen Job und kann mich hier besser auf mein eigenes Ding konzentrieren.«

Auf mein eigenes Ding konzentrieren.

Die Worte hallten in mir nach, während ich mich an unsere erste Begegnung erinnerte. Wann war der richtige Zeitpunkt, seinem Date zu erzählen, dass man ihn in einem Einkaufszentrum beim Klavierspielen gesehen hatte, ohne seltsam zu wirken?

»Ist …« Ich befeuchtete mir die Lippen. »Ist der Job in der Musikschule dein Traum?«

»Eigentlich will ich Konzertpianist werden.« Plötzlich wurde Noel ganz leise. »Aber so einfach ist das nicht. Wahrscheinlich werde ich immer nebenbei als Klavierlehrer arbeiten müssen. Außer ich werde der nächste Chopin, wobei ich keine Ahnung habe, ob ich das wirklich will. Klar, Geld und Ruhm sind schon nice. Aber reicht es nicht aus, so wie es ist? Ich habe das Gefühl, wir wollen immer mehr. Gut reicht nicht, es muss sehr gut sein. Ich muss gar nicht der Beste sein. Ich liebe Klavierspielen und wenn ich davon leben kann, wäre das doch absolut perfekt.« Unvermittelt stoppte er, um sich dann über das Gesicht zu reiben. »Sorry«, lachte er rau. »Ich hoffe, ich habe dich nicht vollgelabert.«

»Nein, nein«, warf ich sofort ein. »Ich finde das schön.«

»Schön?«

»Ja.« Wild fuchtelte ich mit den Händen in der Luft. »Alle versuchen ständig, ihre Leidenschaften zu verstecken. Nicht preiszugeben, was sie wirklich mögen oder wofür sie tatsächlich brennen, um sich so in einer gewissen Art zu schützen. Wir sollten viel öfter aussprechen, was wir denken.«

»Absolut.« Er kippte den Kopf. »Und du, Clementine?« Seine Stimme klang verändert, als er meinen Namen jetzt sagte. »Wofür brennst du?«

»Hm«, machte ich und vergrub die Hände dabei in meinen Jackentaschen. »Ich backe gern. Ich meine, ich backe so gern, dass ich sogar eine Ausbildung zur Konditorin angefangen habe.«

»Konditorin?«, fragte er überrascht, was mich wiederum nicht im Geringsten überraschte.

»Wenn ich nur einen Cent für genau diese Reaktion bekommen würde, wäre ich reich.« Belustigt schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß, es klingt irgendwie altmodisch. Wer will in unserem Alter schon Konditorin werden? Aber ich liebe es. Die Sorgfalt, die dahintersteckt. Es ist ein Handwerk, das den Menschen Freude bereitet. Und das mag ich sehr.«

Neugierig kippte Noel den Kopf. »Wie bist du darauf gekommen?«

»Wieso wusste ich, dass auch diese Frage kommt?«

»Weil du auch schon längst reich wärst, wenn du einen Cent für diese Nachfrage bekommen würdest?«

»Touché.« Ich holte tief Luft. »Ich erzähle es dir …«

»Das klingt nach einem Aber.«

»Aber«, fuhr ich fort, »du darfst nicht lachen, weil es leider wirklich klischeehaft klingt.«

Ruckartig hob Noel die Hände in die Luft. »Sommerehrenwort.«

»Sommerehrenwort?«

»Klar, damit du weißt, dass es mir ernst ist. Schließlich ist mir der Sommer heilig.«

Er wackelte mit den Brauen, während ich mich innerlich wappnete und dann die Schultern straffte. »Wir sind drei Schwestern und meine Mutter war alleinerziehend. Es war nicht immer besonders leicht, außerdem bin ich die Älteste. Meine Freundinnen hatten großartige Geburtstage. Es gab mehrere Feiern, selbst gemachte Muffins für die Klasse und zig Kerzen auf dem Kuchen. Wir konnten froh sein, wenn das Geld für eine Benjamin-Blümchen-Torte reichte. Und versteh mich nicht falsch, ich liebe diese Torte, aber …«

»Aber es ist nicht dasselbe.«

»Richtig«, bestätigte ich. »Mit dreizehn habe ich angefangen, Kuchen für meine Schwestern zu backen, damit sie sich nicht so fühlen wie ich. Gott.« Ich musste lachen. »Ich merke gerade wieder mal, wie kindisch das klingt.«

»Das tut es überhaupt nicht. Außerdem warst du damals wortwörtlich ein Kind. Deine Gefühle sind absolut verständlich.«