Jetzt sind wir eins (Jetzt-Trilogie, Band 2) - Gabriella Santos de Lima - E-Book
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Jetzt sind wir eins (Jetzt-Trilogie, Band 2) E-Book

Gabriella Santos de Lima

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Beschreibung

»Niemand musste mich vervollständigen. Ich war allein eine ganze Person. Aber was, wenn zwei ganze Personen plötzlich eins wurden?« Via Interrail durch Skandinavien: Das Videoprojekt ist Tillies letzte Chance auf ein Stipendium. Der Haken? Für professionellen Content braucht sie Hilfe. Den perfekten Reisepartner hätte sie sogar: Fotografiestudent Jonathan. Blöd nur, dass Tillie ausgerechnet seinem Bruder das Herz gebrochen hat und Jonathan sie seitdem hasst. Widerwillig sagt er zu – unter der Bedingung, das Tattoo auf ihrem Oberschenkel ablichten zu dürfen. Was sie dabei nicht einkalkuliert hat: Dass er beim Anblick der Narben unter der Tinte nicht wegsieht. Dass er Tillie eigentlich immer ansieht ... Die Fortsetzung der Jetzt-Trilogie: Schonungslos ehrlich, poetisch und romantisch Im zweiten Band ihrer New Adult-Trilogie für die Gen Z verknüpft SPIEGEL-Bestsellerautorin Gabriella Santos de Lima gesellschaftliche Tabuthemen mit topaktuellen Fragestellungen rund um Beziehungen, Social Media und Mental Health und generiert damit eine längst überfällige Sichtbarkeit.

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Seitenzahl: 416

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Inhalt

Playlist

Zitat

Prolog

I – Es ist okay, es ist okay, es ist okay.

TilliePOV: Du bist richtig am Arsch

TilliePOV: Du blutest

TilliePOV: Du hast dich nicht einmal verbrannt, aber er hat sich verliebt

TilliePOV: Du glaubst an alles, aber nie an dich selbst

TilliePOV: Du bist leider eine Macherin

TilliePOV: Vielleicht hassen dich alle, weil du alles hasst

TilliePOV: Die Welt ist kleiner als ein Dorf

TilliePOV: Eigentlich weißt du nichts und am allerwenigsten, was du tust

TilliePOV: Du speicherst dich selbst ab

TilliePOV: Du würdest deinen Stolz wirklich herunterschlucken, aber …

TilliePOV: Händewaschen nie vergessen

TilliePOV: Erstens kommt es anders und zweitens, als du willst

II – Ich kann das schaffen, ich kann das schaffen, ich kann das alles schaffen.

JonathanPOV: Du verstehst dich selbst nicht

TilliePOV: Du malst so viel in deinem Kopf aus, aber am Ende bleibt immer alles schwarz

JonathanPOV: Du bist garantiert kein Protagonist

TilliePOV: Dein Leben ist ein Film, aber du bist nicht für die Leinwand gemacht

JonathanPOV: Du bist der Bösewicht mit der guten Seite

TilliePOV: Es ist immer dasselbe, denn du bist die Frau und er ist der Mann

TilliePOV: Kopenhagen

TilliePOV: Du könntest Liebe lieben

JonathanPOV: Du wolltest nie hier landen, dabei hast du die Route selbst ausgesucht

JonathanPOV: Du bist ein positiver Mensch, aber Schatten ziehen dich an

TilliePOV: Du hast so viele Fragen, auf die nicht einmal Google Antworten hat

JonathanPOV: Du wolltest alles, aber nicht das, und trotzdem willst du es jetzt viel zu sehr

III – Mein Leben ist schön, mein Leben ist schön, mein Leben ist so schön.

TilliePOV: Social Media vs. Realität

JonathanPOV: Du glaubst nicht an Schicksal, aber ohne ergibt das alles keinen Sinn mehr

TilliePOV: Du hast dich an ihm verbrannt

TilliePOV: Du hast so viele Träume, dass du nicht mehr weißt, was wirklich ist

TilliePOV: Forced proximity ist nicht so begehrenswert, wie es klingt

TilliePOV: Du bist nur ein Zufall. Und du. Und du. Und du auch

JonathanPOV: Du planst alles, aber alles kommt anders

TilliePOV: Das Wasser steht dir bis zum Hals

JonathanPOV: Es ist nie einfach, aber du bist überzeugt, dass es bei dir wirklich nie einfach ist

TilliePOV: Alle wollen die Wahrheit, bloß nicht deine, denn die ist zu hässlich

JonathanPOV: Wenn du etwas anfängst, musst du es auch zu Ende bringen

TilliePOV: Es ist nicht so wie in den Büchern

TilliePOV: Du willst leben, was du predigst, aber leben ist ein bisschen schwierig

JonathanPOV: Die Backpack-Experience

TilliePOV: Du bist so sehr, dass du plötzlich nicht mehr weißt, wer du bist

TilliePOV: Dir ist heiß, weil alles heiß ist

JonathanPOV: Schweigen ist Gold, aber die richtigen Worte zur richtigen Zeit sind Platin

TilliePOV: Du rennst nicht weg

TilliePOV: Finnland

JonathanPOV: Du hast etwas verloren

TilliePOV: Du bist nackt

TilliePOV: Die Zeit bleibt stehen, obwohl die Zeit natürlich nie stehen bleibt

IV – Fehler gehören dazu, Fehler gehören dazu, Fehler gehören dazu.

JonathanPOV: Alles ist verkehrt herum, aber es fühlt sich so richtig an

TilliePOV: Dein Leben ist ein Film, aber du möchtest ihm -3 Sterne geben

TilliePOV: Du bist eine Heuchlerin

TilliePOV: Du gibst alles, aber dein Alles ist nicht genug

TilliePOV: Du bist zu Hause

TilliePOV: Du tust, was du nie tun wolltest, aber alle tun es, also …

JonathanPOV: Selbst Google weiß deine Antwort nicht

V – Narben verheilen nicht schneller, bloß weil du sie versteckst.

TilliePOV: Es ist immer noch Sommer

JonathanPOV: Alle starren dich an

TilliePOV: Déjà-vu

TilliePOV: Dein neues Kapitel

JonathanPOV: Das ist für Matilda

TilliePOV: Zorn & Liebe

TilliePOV: Nicht trotz, sondern wegen allem

Epilog

Danksagung

Triggerwarnung

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Elemente. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Für alle Tillies.

Playlist

Einfach sein (Demo) – Leuchtstoff

Alles gut keine Angst – Provinz

Where’d All The Time Go? – Dr.Dog

Lied über Nichts – Heisskalt

Liability – Lorde

Pier Café – Harmless

FIN – JEREMIAS

Sink to the Bottom – Fountains Of Wayne

King – Florence + The Machine

Daylight – Harry Styles

The Great Salt Lake – Band of Horses

Matilda – KAFFKIEZ

Keep Driving – Harry Styles

No One’s Gonna Love You (Live Acoustic) – Band of Horses

Makeout – Faze Wave

Schlaf gut – Betterov

You’re On Your Own, Kid – Taylor Swift

Northern Attitude – Noah Kahan

Die Sonne in deinem Zimmer – Edwin Rosen

Sommerregen – RAUM 27

Chocolate – The 1975

Peace – Taylor Swift

Strangers – J-pag

Zorn & Liebe – Provinz (ft. Nina Chuba)

Don’t Delete the Kisses – Wolf Alice

Ceilings – Lizzy McAlpine

Böller aus Polen – Betterov

Matilda – alt-J

PARDON

MY SANITY

IN A WORLD

INSANE.

Emily Dickinson

Prolog

Donnerstag, 14:25Uhr Von: [email protected]: [email protected]: Alles wird gut

Hi T,

ich weiß nicht, wo du bist, was du machst und was du denkst, wie du dich gerade nennst und wer du jetzt bist, aber … ich hoffe, es geht dir besser. Das ist alles.

T

Tillie

POV: Du bist richtig am Arsch

Ich würde Jonathan fragen müssen.

Das realisierte ich, als die Supermarktkassiererin mich irritiert ansah, weil es in meinem Kopf zwar auf Hochtouren arbeitete, ich sie allerdings nur anblinzelte.

Scheiße, dachte ich. Scheißescheißescheiße.

»Die geht nicht«, wiederholte sie und nickte auf meine Karte. »Haben Sie noch eine andere?«

Kopfschüttelnd kramte ich in meiner Tasche nach Kleingeld, während ich auf das Band blickte. Tiefkühlpizza, Tampons, eine Tafel vegane Schokolade. Neun Euro achtunddreißig sagte die Anzeige neben der Kassiererin, doch ich bekam bloß eine Münze zu fassen. Ein Zweieurostück, wenn ich Glück hatte. Fünfzig Cent, wenn nicht. So oder so: Das würde nicht reichen.

Schweißperlen sammelten sich in meinem Nacken. Ich konnte die Ungeduld der anderen Wartenden förmlich spüren. Es war kurz nach zwölf. Drei Stunden, nachdem der Brief mich erreicht hatte. Alle wollten Mittagspause machen und essen. Niemand wollte einer Studentin dabei zusehen, wie sie nervös nach Geld kramte. Panisch ließ ich den Blick über meinen Einkauf schweifen. Die Tampons brauchte ich, Pizza und Schokolade nicht. Aber mein Magen grummelte und ich wollte alles. Irgendwo hatte ich mal gehört, dass etwas zu wollen – unsere fiesen, trügerischen Wünsche –, der Ursprung all unserer Probleme war.

Ich verstand es.

Außerdem: Wie peinlich wäre es, den Einkauf zurückgehen zu lassen? Wie könnte ich das erklären?

Hi, äh, sorry, eigentlich stocke ich nicht, denn ich bin Matilda Vogt, das Paradebeispiel einer extrovertierten Protagonistin in diesen dämlichen Liebesromanen, gegen die ich leidenschaftlich rebelliere, weil sie Bad Boys romantisieren, aber gerade habe ich blöderweise kein Geld. Mein Stipendium hat sich heute Morgen nämlich wie aus dem Nichts dazu entschieden, sich in Luft aufzulösen. Könnten Sie meinen Einkauf also bitte stornieren, während ich mich selbst geschmeidig in Luft auflöse?

Wohl kaum.

Ein Kloß schwoll in meinem Hals an. Er war so riesig, ich hätte mich an ihm verschlucken können. Aber ich hatte eine Stimme, auch wenn sie kratzte. Ich war laut, selbst wenn ich schwieg. Also straffte ich die Schultern und ignorierte meine innerliche Unbehaglichkeit.

Ich würde die Kassiererin darum bitten, den Einkauf zu stornieren. Klar, es war unangenehm, doch ich könnte mir für das nächste Mal einen anderen Supermarkt suchen. In fünf Jahren würde ich mich an heute nicht mehr erinnern.

Es ist okay, es ist okay, es ist okay.

Mein wackelig wankender Mut durchflutete mich. Ich öffnete den Mund.

Und wurde unterbrochen.

»Ich bezahle das.«

Mit gerunzelter Stirn drehte ich mich um, die Hände zu Fäusten geballt. Ich war weder undankbar noch aus Prinzip wütend. Es war dieser herablassende Stimmton. Ich war kein bisschen überrascht, als ich diesem Typen mit aufgerollten Hemdärmeln entgegenstarrte. Das blonde Haar trug er akkurat nach hinten gegelt, während die dunkle Anzughose perfekt saß. Doch was ihn wirklich verriet, waren seine Schuhe. Schwer und edel, schwarz und poliert. Sie quietschten, als er lässig einen glatt gebügelten Fünfziger hervorkramte und der Kassiererin in die Hand drückte. Mama hatte immer gesagt, es seien die Schuhe. Die Schuhe verrieten, ob man Geld hatte oder nicht.

Während die Kasse pingte, musterte ich meine eigenen.

Abgenutzte Dr.Martens, für den halben Preis ergattert auf Vinted. Meine kleine Schwester Delia hatte damals gemeint, es sei ekelhaft, gebrauchte Schuhe zu kaufen. Überleg mal, hatte sie erklärt, der ganze Schweiß und all die Schritte, die jemand anderes darin gegangen ist. Du hast doch keine Ahnung, wer diese fremde Person ist. Ist das nicht komisch?

Doch im Grunde war alles, was ich tat, komisch. Ich tunkte fettige Pommes in McSundaes. Ich war an meinem achtzehnten Geburtstag ausgezogen und hatte seitdem das Gefühl, ich würde immer nur rennen. Immer nur weiter, weiter, weiter, weiter, ohne Ziel, selbst mit nigelnagelneuen Schuhen. Wenn Leute mich fragten, woher ich kam, würde ich am liebsten erwidern: Ich komme vom Rennen.

Aber was das Komischste war, was ich heute tat?

Ich protestierte nicht, als ein wildfremder Typ mir meine Tampons bezahlte und anschließend seinen Zwölf-Euro-Fünfzig-Salat.

»Danke«, flüsterte ich nur, doch er hörte es nicht.

Ich fühlte mich so unendlich leise. Als wäre es ein Gefühl, keine Lautstärke.

Tillie

POV: Du blutest

@fotografievonjonathan

In meinen Ohren piepte es schrill, während ich seinen Nutzernamen auf Instagram eingab. Dabei spürte ich den kalten Pizzakarton durch den Stoff meines Jutebeutels. Es war Juli, allerdings einer dieser Tage, der nicht in die Jahreszeit passte. Die Sonne hatte sich den ganzen Morgen über nicht blicken lassen und trotzdem schwitzte ich in meiner übergroßen Jeansjacke. So sehr, dass ich zu Hause garantiert Flecken unter meinen Armen erkennen würde.

Ich bog nach links ab, ließ die U-Bahn-Haltestelle Florastraße und eine rote Ampel hinter mir. Ich war viel zu spät dran. Mein Bauch knurrte und mein Unterleib zog. Außerdem hatte ich Heißhunger und immer noch nicht verarbeitet, dass ich gerade nicht protestiert hatte.

Es war kein Flirtversuch gewesen. Der Typ hatte sich weder annähern wollen noch nach meiner Nummer gefragt. Einfach, weil er genervt gewesen war, hatte er einen Fünfziger gezückt. Typen wie er, mit Designerschuhen und dem Duft nach frisch gedruckten Geldscheinen, hatten keine Zeit, auf eine Studentin zu warten, deren Stipendium ab nächstem Semester nicht mehr existierte.

Wir befanden uns in der letzten Uniwoche. Und heute – heute! – hatte mich der Bescheid erreicht. Per Brief, wie altmodisch. Das Michaela-Walter-Stipendium würde sich auflösen. Nicht mit einem Puff, sondern mit einem gewaltigen Knall. Zumindest fühlte es sich gerade so an. Die Stiftung ermöglichte es Kunstschaffenden in Nordrhein-Westfalen, sich ganz auf ihr Studium zu konzentrieren.

Mir ermöglichte sie das.

Zumindest bis vor drei Stunden.

Wobei ich auch so stets knapp bei Kasse war. Meine Eltern hatten kein Geld, BAföG konnte ich aber natürlich auch nicht erhalten. Bis zum nächsten Semester benötigte ich also ein neues Stipendium. Die ersten beiden Stunden nach dem Brieföffnen hatte ich mich panisch durch das Internet gescrollt auf der Suche nach einem neuen Stipendium. Alles in mir hatte dabei gezittert. Ich hatte nur ein einziges Stipendium gefunden, das für mich infrage kam. Für die anderen war ich entweder zu jung oder zu alt oder studierte im falschen Bereich.

Ein-fach nur groß-artig.

Es existierte dieses Sprichwort, das besagte: Jeder hat seinen Preis. Demnach würde jede Person einknicken, ihre Werte und Moralvorstellungen über Bord werfen, wenn man ihr nur den richtigen Betrag anbot. Ich war zwanzig, seit sieben Jahren vegetarisch und seit drei Veganerin. Wenn mir jemand zehn Euro im Gegenzug dafür anbieten würde, dass ich einen Hamburger esse, würde ich die Anfrage ignorieren. Bei tausend würde ich den Kopf schütteln. Bei zweitausend zögern. Spätestens bei fünftausend würde ich nachgeben und Geld über meine Werte stellen. Selbst wenn ich Tillie war, meine Instagram-Bio unmissverständlich mit einem plant based  versehen hatte und alle in meinem Umkreis bekehren wollte. Und trotzdem war ich käuflich, würde einknicken und mir selbst das Herz brechen, für läppische fünftausend Euro. Zumindest hatte ich das bis heute gedacht.

Neun Euro achtunddreißig.

Das war mein wahrer Preis.

So niedrig. So billig.

Bei billig musste ich schlucken, doch mir blieb keine Zeit, mich zu schämen. An der nächsten Kreuzung schaffte es mein Handy nämlich endlich, Jonathans Profil zu öffnen. Gleichzeitig erreichten mich Nachrichten in unserer thegirlnextdoor-Gruppe. Meine beste Freundin Lucy erkundigte sich nach einem Treffen zur Planung unserer nächsten Beiträge. Doch ich ignorierte es. Das lag keinesfalls an der Sache selbst. Unser gemeinsamer Blog bedeutete mir alles. Auf @thegirlnextdoor machten Lucy, Manda und ich uns für Frauen stark. Es war der beste Teil in meinem Leben neben meinen Freundinnen. Ohne Stipendium würde ich jedoch auch ihn verlieren.

Deshalb fokussierte ich mich nun auf Jonathans Profil. Auf keinem der hochgeladenen Fotos war sein Gesicht zu sehen. Nur auf seinem Userbild, das in Schwarz und Weiß gehalten war, ihn und die Kamera vor seinem Gesicht zeigte.

An einer roten Ampel scannte ich seinen Feed ab. So wie ich es in den letzten Tagen viel zu oft getan hatte. 123Beiträge, 7485 Follower, 349Profilen folgte er selbst. Ringsum rauschten fette Autos mit pulsierenden Beats an mir vorbei. Doch ich blendete die Geräuschkulisse aus, als mein Finger instinktiv den neusten Post anklickte. Es war keine selbst geschossene Aufnahme, sondern ein bearbeitetes Bild mit einem kurzen Text. Ganz oben stand: Aufruf. Jonathan suchte Fotomodelle mit Makeln. Er wollte Haut, die eine Geschichte erzählte.

Haut, die eine Geschichte erzählt.

Meine Finger krampften sich um das Handy, während die Worte in mir nachhallten. Mit einem Kloß im Hals musterte ich sein Profilbild erneut. Letzteres verriet so unendlich wenig über sein Aussehen, aber es machte nichts. In meinem Kopf war Jonathan gestochen scharf. Ich sah ihn genau vor mir. Ihn mit seinen hochgewachsenen eins neunzig, die er trug, als würde er sie am liebsten verstecken. Da war etwas in seinen Bewegungen, in der Art, wie er ging, das so unendlich sanft war. Ganz egal, wie hektisch er den Campus überquerte. Dabei waren seine Schultern immer etwas zu gebeugt. Als hätte er die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, sich kleiner zu machen. Sein Haar war rotblond und perfekt getrimmt, an den Seiten kürzer als in der Mitte. Die tiefschwarze Brille auf seiner Nase wirkte immer eine Spur zu klobig und daher genau richtig. Schließlich trug sie zu seinem intellektuellen Charme bei. Und Letzteren hatte er, das stand außer Frage. Es war nicht nur die Wahl seiner Klamotten, die Markenrollkragenpullover oder teuren Hemden, die so lässig um seinen drahtigen Oberkörper baumelten, als wäre er der Inbegriff des romantisierten Hashtags #oldmoney. Jonathan war ein Nerd. Ein richtig, richtig, richtig guter Nerd, der alles wusste, was niemand sonst wusste. Dabei wusste ich lediglich drei Dinge über ihn.

Erstens: Er war Fotografiestudent im Masterprogramm und mit Abstand der Beste in seinem Gebiet, was zweitens: der Grund dafür war, dass ich unbedingt ihn fragen und er unbedingt Ja sagen musste. Das Problem an der Sache? Gute-Seele-Jonathan-Brenner, der Typ, der laut meiner besten Freundin Lucy der allerliebste Mensch auf Erden war, hasste mich. Das war der sicherste Fakt von allen.

Frustriert steckte ich mein Handy weg, wobei ich einen Blick auf die Uhrzeit erhaschte. 12:32Uhr. Die Ampel war immer noch nicht auf Grün gesprungen. Alles, was ich sah, war rot. Vor mir. In mir. Alles war rot und rasend.

»Hey, sorry, du, hallo?«

Ich zuckte heftig zusammen, als diese Frau neben mir zum Stehen kam und mich antippte.

»Ähm«, machte ich. »Ja?«

Doch statt mir zu antworten, richtete sie den Henkel ihrer Tote Bag von Prada. Dann deutete sie mit einem Nicken auf mein Hinterteil.

»Du blutest da«, flüsterte sie.

Wirklich alles war rot.

Tillie

POV: Du hast dich nicht einmal verbrannt, aber er hat sich verliebt

»Sieh an, sieh an.« Ronja hob die Brauen. »Tillie hat es also doch noch geschafft.«

»Sorry«, murmelte ich atemlos und zog die Tür hinter mir zu. So unauffällig wie möglich versuchte ich, auf meinen Platz zu huschen. Vergebens. Jeder der zwölf Anwesenden sah mir dabei zu, wie ich zu dem freien Stuhl stolperte, den Laptop aus meiner Tasche zerrte, ihn aufklappte und mein Passwort eintippte. Absichtlich ließ ich meinen Blick nicht nach links schweifen, obwohl ich seinen auf mir spürte. Ihn spürte.

Leander.

»Also«, sagte Ronja, die Leiterin unserer Schreibwerkstatt. »Wir sind vollzählig. Wer will zuerst vorlesen?«

Ruckartig schossen zwei Hände in die Höhe. Wren und Samuel, die zwei üblichen Verdächtigen. Belustigt musste ich mit dem Kopf schütteln. Samu, der Streber. Lucy und ich kannten ihn seit der Erstiwoche. Er war laut und lustig, genauso wie die berühmt-berüchtigten Partys in seinem Wohnhaus.

Das hier war unsere fünfte gemeinsame Schreibwerkstatt. Samu studierte Kreatives Schreiben, ich Drehbuch und Dramaturgie. Ich wusste, wie es ablief. Gegenseitig mailten wir uns unsere Texte und arbeiteten sie zu Hause durch. Die, die sich in der Werkstatt in den Vordergrund drängten, bekamen die meiste Lesezeit, die längsten Diskussionen und das ausführlichste Feedback. Vor meinem ersten Semester hatte ich mir meinen Studiengang anders vorgestellt. Ich hatte ihn mir ausgemalt wie in den amerikanischen Filmen, in denen Creative-Writing-Kurse überspitzt skizziert wurden. Mit täglich stattfindenden tiefgründigen Diskussionen und verrückten Schreibaufgaben à la: Suchen Sie sich einen Fremden auf der Straße und verfolgen Sie ihn. Schreiben Sie anschließend eine Charakterisierung. Das war natürlich nicht geschehen. Stattdessen belegte ich Schreibwerkstätten wie diese und Seminare für meine Nebenfächer Film und Regie. Wenn ich meine Texte gut fand, las ich sie gelegentlich vor. Dann fragte ich sogar nach der Kritik, obwohl sie sich immer etwas zu vernichtend anfühlte. Nicht plastisch genug, zu klischeehaft, zu offensichtlich. Jedes Wort stach in mein Herz, allerdings blieb ich nicht blutend liegen. Ich stand jedes Mal auf. Meine Freundinnen nannten mich deshalb eine Macherin, eine Anpackerin, eine Niemals-Aufgeberin. Ich wollte die Welt und mich selbst verbessern. Wieder und wieder. Und das war wohl der Ursprung all meiner Probleme.

»Ah, wie schön, mal jemand Neues!« Ronjas aufgeregtes Klatschen riss mich aus meinen Gedanken. »Leander, bitte.«

Mein Herz sackte mir bis in die Kniekehlen. Kein Scherz. Ich spürte, wie es dort pulsierte. Wir müssen hier weg, signalisierte es mir. In meinem Kopf sah ich mich sogar aus der Tür huschen, mit meiner zu Hause übergezogenen schwarzen Leggings. Damit niemand die Blutflecken erkennen könnte, falls ich wieder auslief. Aber das passierte natürlich nicht wirklich.

Stattdessen krallte ich wie besessen die Nägel in meine Stoffhose, während ich den Blick nach links wandte. Leander klickte auf sein Touchpad und hatte das Gesicht dabei dem Bildschirm zugewandt. Sein blonder Buzz Cut wirkte unter dem grellen Licht beinahe weiß, wobei seine Wimpern und Iriden dunkel waren. Das hatte mich fasziniert. Wenn ich ihm in seinem Bett über die kratzigen Stoppeln gefahren war, hatten sie sich unter meinen Fingerkuppen rau und kalt angefühlt. Seine Augen jedoch waren immer warm gewesen. Braun, tief und funkelnd, ganz ohne Licht.

Im Grunde hätte das mit uns nie passieren dürfen. Das wusste ich.

Und er wusste es nun auch.

Das erkannte ich an der Art, in der er sich jetzt langsam aufrichtete. Leander las nie freiwillig vor. Seine Finger hätten zittern sollen. Irgendetwas in seiner Körpersprache hätte von Unsicherheit und Nervosität erzählen müssen. Doch das war nicht der Fall. Da wurde es mir bewusst.

Er hatte das hier geplant.

Mein Körper begann zu kribbeln, als wollte er sich auflösen. Denn mit einem Mal tat Leander das, was er von Anfang an so gut gekonnt hatte. Bevor er mit dem Lesen begann, hielt er inne und sah mich an. Nur mich, in einem Raum voller Leute. Dann ließ er den ersten Satz wie eine vernichtende Bombe zwischen uns hochgehen.

»Bevor M sich von mir trennte, fickte sie mich noch ein letztes Mal richtig geil.«

Tillie

POV: Du glaubst an alles, aber nie an dich selbst

»Tut mir leid, meine Liebe.« Die Frau auf meinem Handydisplay schüttelte den Kopf. »Die Karten zeigen mir eine Eiszeit an. Erst im Herbst sehe ich eine Besserung. Hast du noch Fragen dazu?«

Meine Finger verharrten über der Tastatur, während es sich hinter meiner Stirn drehte. Natürlich hatte ich noch Fragen. Gibt es jetzt wirklich keine Besserung? Wie kann ich meine Eiszeit umgehen? Könnte das Universum nicht ein wenig netter zu mir sein, nachdem mich meine letzte Affäre vor nicht einmal einer Stunde vor dem gesamten Kurs mit einem selbst geschriebenen Text bloßgestellt hat?

»Es reicht.« Lucy schnappte mir das Handy aus der Hand. »Du hast keine Fragen mehr dazu. Das war die dritte Kartenlegerin, die du innerhalb von zehn Minuten auf TikTok befragt hast und …«

»Und es war die dritte in Folge, die mir prophezeit hat, dass es momentan keine Besserung gibt«, unterbrach ich sie.

Zugegeben: Wenn ich Fremden erzählen würde, dass ich mich in eine Toilettenkabine auf dem Campus sperrte, damit ich TikTok-Wahrsagerinnen um Ratschläge bitten konnte, würden sie mich für noch komischer als so schon halten. Aber ich war verzweifelt.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, flüsterte ich, doch es war zu leise. Gegen die blechern verzerrte Stimme von @alana_legung kam ich nicht an. In einer Tour beantwortete sie Fragen, die sich nur um die eine Sache drehten:

Betrügt Timo (23) mich? Liebt Olcan (31) mich? Wird Erik (27) mich wieder anschreiben? Haben Serkan (22) und ich (20) eine Zukunft?

Meine Fragen stachen stets als einzige hervor. Schließlich handelten sie nie von Männern. Liebesprognosen und mögliche Seelenverwandtschaften interessierten mich nicht. Ich wollte meinen Erfolg kalkulieren, wissen, wie lange und wie hart ich noch für meine Träume kämpfen musste, bis ich sie erreichte. Denn ich hatte Träume. So, so, so viele. Ich war die Hauptperson in meinem Leben, mir egal, wie sehr das nach einem Nullachtfünfzehn-Selbstratgeber klang.

Schade nur, dass besagtes Leben gerade ziemlich den Bach runterging.

»Tut mir leid«, seufzte Lucy und betätigte den Knopf an der Seite meines Handys, sodass Alanas Gesicht erlosch. »Ich muss das leider ausmachen, weil ich diese Betrügt-er-mich-mit-einer-blonden-Frau-Fragen nicht mehr ertrage.«

Eigentlich hatten wir uns erst für später zu einem Redaktionstreffen verabredet, nachdem ich dann endlich mal in der Gruppe geantwortet hatte. Gemeinsam mit Manda wollten wir zu Lucy und unsere nächsten Beiträge planen. Bis ich eine panische Nachricht abgeschickt und um ein Spontantreffen gebeten hatte. Leider saß Manda gerade in einem Seminar, also waren Lucy und ich jetzt allein. Manda studierte Grafikdesign und zeichnete ständig auf ihrem iPad. Eigentlich war sie Künstlerin. Wenn jemand sie fragte, wieso sie nicht Kunst studiere, lautete ihre Antwort: Sicherheit. Daran war nichts verwerflich. Wir alle verstanden das. Nur den seltsamen Ausdruck, der dabei in ihre Augen trat, durchschauten die anderen nicht.

Jetzt zuckte ich mit den Schultern. »Man gewöhnt sich schnell daran. Deshalb werden meine Fragen auch meistens rausgepickt.«

»Lass mich raten.« Lucy lächelte mich unter ihrem dunkelblonden Pony an. »Du willst nicht wissen, wie lange dein Langzeitfreund eine Affäre hat, und an der Antwort festmachen, ob du dich nun trennst oder nicht?«

»Lucy-Lu«, begann ich, doch sie hob schon die Hände.

»Ja, ja, ja«, entgegnete sie belustigt. »Ich weiß natürlich, dass das so nie passieren würde, weil du niemals den Fehler begehen würdest, in einer richtigen Beziehung zu landen.«

»Richtig«, bestätigte ich halb grinsend, trotz allem.

»Dann … erzählst du mir, was falsch gelaufen ist?«

Ich zögerte, also sprach sie weiter.

»Schließlich muss es einen Grund dafür geben, dass du mich hierherbestellt hast. Du wusstest doch, dass ich eigentlich noch bei Mila wegen der Übergabe für Campuskitsch vorbeischauen wollte. Außerdem sind die Toiletten in der dritten Journalismus-Etage unsere Notfallorte. Was ist passiert, hm?« Sie ging in die Hocke, während sie die Hand tröstlich auf meinen Oberschenkel legte. Die Ärmel ihrer übergroßen Cordjacke rutschten dabei nach oben. Lucy war heute schlicht gekleidet, helle Leggings mit Flare und ein weißes Top, darüber die Jacke. Die Lippen hatte sie dunkel geschminkt und ihre Wimpern schienen endlos lang. Alles an Lucy war Lucy, klang nach Lucy und sah aus wie Lucy. Selbst ihre journalistischen Texte. Sie waren minimalistisch, durchdacht und liebevoll perfektioniert. Die Sohlen ihrer Boots quietschten nun, weil sie mir auf dem versifften Kloboden näher rückte.

Diese Toilette war seit ein paar Monaten tatsächlich unser Notfallort. Genau genommen seit Lucy hier wegen Gregor Samsa zusammengebrochen war. Na gut. Gregor Samsa hieß eigentlich Gregor Beck und war Lucys große Liebe. Normalerweise vermied ich solche abgedroschenen Formulierungen, aber bei Lucy und Gregor stimmte es. Beide hatten schon immer die stärksten Gefühle füreinander. Lucy war Gregors Erste gewesen. Erster Kuss, erster Sex, Erstes-Mal-sein-Herz-verlieren-und-an-Gefühlen-ertrinken. Leider hatte nach dem Schreibworkshop in Berlin, wo die beiden sich kennengelernt hatten, Funkstille geherrscht. Bis Gregor im Wintersemester mit seinem Master hier begonnen hatte. Gemeinsam hatten sie die letzten beiden Semester Campuskitsch moderiert, den hauseigenen Podcast unserer Kunsthochschule, bevor ihn nach einem Jahr jemand anderes bekam. Lucy hatte es gehasst, weil sie Gregor geliebt und er sie so verletzt hatte. Vermutlich stimmte es wirklich, dass Liebe und Hass nah beieinanderlagen. Obwohl Gregor immer nur Ersteres für Lucy empfunden hatte.

Als ihre Finger jetzt begannen, sanft über den Stoff meiner Hose zu streichen, brannte es hinter meinen Lidern. Es war derselbe Moment, in dem ich mir wünschte, ein Spiegel hätte hier gehangen. Der Grund war simpel. Ich erkannte mich nicht wieder und hätte mich gern vergewissert, dass ich immer noch ich war.

Denn eigentlich war ich nicht so.

So leise, so zögernd.

Ich schickte ohne Umschweife minutenlange Sprachnachrichten in unsere WhatsApp-Gruppe thegirlnextdoor, wenn mich etwas zur Weißglut trieb. Am liebsten nahm ich sie gleich auf der Straße auf, wobei es mir gleichgültig war, wenn Leute mich anstarrten. Mir unverschämt unverfroren in die Augen zu schauen, war besser, als mir den Rücken zuzukehren und dann über mich herzuziehen. Blickduelle konnte ich gewinnen, Lästerrunden nicht.

Reiß dich zusammen, Tillie. Es ist okay, es ist okay, es ist okay.

Keine Ahnung, wieso es mir so schwerfiel, den Mund aufzubekommen. Lucy war meine beste Freundin. Sie wusste von Leander und dem Drama. Sie wäre auf meiner Seite. Für mich würde sie ihn sogar hassen, wenn sie erfuhr, was er gerade in der Schreibwerkstatt gebracht hatte, obwohl sie das eigentlich nicht konnte: hassen.

Das konnte nur ich.

Also beschwor ich mich zu tiefen Atemzügen, richtete mich auf dem Klodeckel auf, und gerade als ich mit der Sprache herausrücken wollte, verstummte ich.

Schritte.

Klackernde Absätze polterten über den Fliesenboden. Lucy und ich lauschten, wie die Tür neben uns aufgezogen, der Klodeckel nach oben geklappt und ein Gürtel klimpernd geöffnet wurde. Dann Stille. Meine Freundin und ich sahen uns an. Lucy blies die Wangen auf, ich unterdrückte ein Seufzen. Es war eine Patt-Situation. Unsere Toilettennachbarin wartete mit heruntergezogener Hose darauf, dass wir den Raum verließen. Wir hingegen warteten darauf, dass sie welches Geschäft auch immer erledigte und wir danach weiter ungestört reden konnten. Zwei, drei, vier, fünf viel zu lange unangenehme Sekunden vergingen. Es war so still, dass wir jede Regung hörten. Wie Lucy sich an der Nase kratzte, wie die Fremde sich auf der Kloschüssel bewegte und schon einmal ein Stück Klopapier abriss. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.

»Gehen wir?«, formte ich lautlos mit den Lippen.

Lucy reckte erleichtert den Daumen in die Höhe, bevor wir keine Minute später die Toilettentür hinter uns zuzogen.

»Oh Mann«, stöhnte sie, doch ich war schon dabei, die Gegend abzuscannen. In der dritten Etage von Lucys Fakultät war stets wenig los. Es gab ausschließlich Büros, die nur selten besetzt waren – meistens dann nicht, wenn man dringend eine Antwort auf seine Mail brauchte. Deshalb waren die Toiletten so beliebt. Man war ungestört. Außer man wollte zur selben Zeit ungestört sein.

Ich grübelte gerade über einen Platz, an dem wir wirklich ungestört wären, als ich bemerkte, dass Lucy mir ihr Handy vor die Nase hielt.

»Ähm?« Sie schluckte. Lucy, die direkte und klare Fragen kanonenartig formulierte. »Wieso zum Teufel fragt Gregor mich, ob ich es schon gehört habe?«

Ich unterdrückte ein Fluchen. Natürlich hatte es schon die Runde gemacht.

»Tillie?« Plötzlich klang sie ganz besorgt. »Was meint er damit?«

»Es ist nicht so schlimm, wie es sich gerade anhört«, wiegelte ich hastig ab, wie um mich selbst davon zu überzeugen. »Brenner, der mich angeblich so geliebt hat, hasst mich jetzt, weil ich ihn nicht liebe, und hat sich mit einem Text in der Werkstatt an mir gerächt. Vielleicht ist es sein Sternzeichen, Skorpione sind immer so rachsüchtig. Na ja, ist auch eigentlich egal. Ich habe nämlich ein noch größeres Problem.«

Der Mund meiner Freundin öffnete sich, ohne dass Worte ihn verließen. Sie wollte wissen, was Leander genau über mich geschrieben hatte.

Doch ich war schneller. »Ich muss mit Jonathan reden«, erklärte ich. »Dringend. Du hast ihn heute zufälligerweise noch nicht gesehen?«

Tillie

POV: Du bist leider eine Macherin

Das Problem mit Jonathan war, dass er mein Problem lösen konnte. Und das war fatal. Immerhin verließ ich mich nicht auf andere Personen. Ich wollte mein Glück nur von mir selbst abhängig machen. Für mich einstehen. Meinem Mantra glauben, dass alles okay sei, selbst wenn es sich gerade nicht so anfühlte.

Also trat ich ein. Im Innern blähte mir sofort abgestandene Lernluft entgegen. Bekannte Gesichter vergruben die Nasen in Büchern und überflogen neonfarbige Notizen. Ich hätte es ihnen gleichtun können. Hätte tief durchatmen, mich sammeln und meine Siebensachen anschließend an einem Arbeitsplatz ausbreiten können. Dort hätte ich mich dann an einen der vielen Texte gesetzt, die ich immer zu spät abgab.

Aber ich war nicht ruhig, niemals vernünftig und sowieso viel zu laut für eine Bib.

Du atmest zu laut. Das hatte der erste Typ zu mir gesagt, neben dem ich eingeschlafen war. Seitdem schlief ich lieber allein und in meinem eigenen Bett, aber das war eine andere Geschichte. Jeder meiner Selbstratgeber beharrte darauf, dass ich mich auf das Jetzt fokussieren sollte. Das zweite Problem in diesem Moment war jedoch, dass mein Herz pochte, als ich daran dachte, was ich wirklich in dieser Bib vorhatte. So unendlich stark, dass ich gleich irgendwo zwischen Fachbüchern und Versuchen von poetologischer Reflexion blutrot zerfließen könnte. Aber das war natürlich nicht echt.

Also reckte ich diesen negativen Gedanken meinen positiven Mittelfinger entgegen und durchquerte den großen Raum, bis ich das erste Stockwerk erreichte.

Und erstarrte.

Ich hatte mir diese Suche so viel schwieriger vorgestellt. Wie eine Schatzsuche, die ich unmöglich erfolgreich bestreiten könnte. Dem war allerdings nicht so. Mein Schatz war kein Schatz, keine Truhe mit Gold und Silber.

Beim Anblick von Jonathan Brenner setzte mein Herz einen Schlag aus. Seelenruhig hockte er da, schlank und definiert vor seinem universumsgrauen MacBook. Wie auf seinem Profilbild bildete das dunkle Brillengestell einen harten Kontrast zu seiner hellen Haut. Die laubblätterfarbenen Strähnen standen ihm wirr vom Kopf ab, während ich mich fragte, wie lange er hier wohl schon saß. Meine Vermutung: ziemlich lange. Denn er trug bloß noch ein schlichtes Shirt, das mit einem bekannten Markenlogo versehen war. Über der Stuhllehne hing ein so großer Pullover, dass ich darin ertrinken würde.

Gerade schlurften zwei Freundinnen an ihm vorbei, die sich flüsternd unterhielten. Eine von ihnen kramte sogar ihr Handy hervor und hielt es der anderen unter die Nase. Bestimmt wollte sie ihre Aussage mit dem Screenshot irgendeines Chats untermauern. Trotzdem huschte der Blick ihrer Freundin kurz zu Jonathan, der jedoch nichts davon bemerkte. Die Sache war die: Wenn du darauf getrimmt warst, zweite Blicke auf dir zu spüren, bemerktest du es auch, wenn es anderen geschah.

Ich war du. Jonathan war das nicht.

In Gedanken zählte ich die Sekunden, bis die zwei Freundinnen ihn endlich passiert hatten. Dann gab es keinen Grund mehr zu warten.

Als ich nur noch drei Schritte von ihm entfernt war, verwandelte sich das Herzpochen in ein Stechen und ich unterdrückte ein Fluchen.

Ich hatte kein Bauchgefühl.

Ich hatte nur Herzgefühle.

Das war eigentlich gut. Immerhin war es das, was meiner weiblichen Intuition am nächsten kam. Eigentlich. Mein drittes Problem bestand nämlich darin, dass mir ausgerechnet jetzt übel wurde. Magensäure kroch mir die Kehle wie Gift hinauf, während es in meinen Schläfen schmerzend pulsierte. Trotzdem beschleunigten meine Beine automatisch, weil ich niemals die Person sein würde, die Problemen den Rücken zukehrte. Ich komme vom Rennen. Selbst wenn meine Intuition gegen all meine innerlichen Wände schlug. Weil jede Faser meines Seins wusste: Das hier wird nicht klappen.

Mit leider immer noch rasendem Herzen blieb ich vor Jonathan und seinem Fotobuch stehen. »Jonathan?«, brachte ich krächzend hervor.

Raketenruckartig schoss sein Kopf in die Höhe. Binnen Sekunden schwoll in meinem Hals ein Kloß an. Er schmeckte ranzig und bitter wie der letzte Schluck einer Mische, die du nicht trinken solltest. Penibel achtete ich auf Sicherheitsabstand, darauf, ihm keinen Schritt näher zu kommen. Er saß an einem Ende des Tisches, ich stand an dem anderen. Im Stehen überragte ich ihn. Genau genommen sah ich auf ihn hinab. Allerdings fühlte sich nichts in mir überlegen an, als ich mir die Lippen befeuchtete.

»Glaubst du, wir könnten kurz reden?«

»Wieso?« Er spuckte das Wort förmlich aus und traf mich damit nicht im Gesicht, sondern tief in meinem Inneren. Der tonnenschwere Hass zwischen den Buchstaben hallte vibrierend in mir wider.

Ich schluckte. »Ich hätte da eine Frage.«

»Und die wäre?« Er war verwirrt. Ich erkannte es an der Regung seiner Brauen, daran, wie sie sich über dem Brillengestell kräuselten.

Da ergriff ich meine Chance. Sofort schmiss ich mein Vorhaben über Bord und rückte doch näher. Mit einem unüberhörbaren Poltern ließ mich auf dem Stuhl neben ihm nieder, als wären wir verabredet. Jonathans Reaktion war eindeutig. Er zog die leicht schiefe Nase kraus, wobei er an seine Stuhlkante rutschte und krampfhaft gegen die Wand blinzelte, um mich ja nicht anschauen zu müssen. Als wäre ich giftig. Gefährlich. Eine blonde Medusa in trendigen Leggings.

»Tut mir wirklich leid, wenn ich dich damit überfalle, das will ich nicht. Nur ist mein Anliegen ziemlich dringend und …«

»Anliegen?«, unterbrach er mich schroff. »Sind wir hier in einem Business Meeting, oder was?«

»Ehrlich gesagt könnte man es so bezeichnen.«

»Wovon zum Teufel redest du, Vogt?«

Scheiße. Mein Nachname. Er knallte ihn mir um die Ohren und das ausgerechnet in diesem Stimmton, den ich nur viel zu gut kannte. Ich konnte nichts dafür, wie offensichtlich ich zusammenzuckte. Ich wollte mir auf den Oberschenkel klopfen, ein-, zwei-, drei-, vier-, fünfmal, doch im letzten Moment ermahnte ich mich selbst.

»Ich plane ein Projekt«, begann ich unsicher. »Ein ziemlich großes. Es würde in den Semesterferien stattfinden.« Als ich bemerkte, wie Jonathans Verwirrung wuchs, passierte das, was ich am besten konnte: Ich wurde schneller, bis ich nicht mehr zu bremsen war. »Es geht darum, dem Komitee zu zeigen, wer ich wirklich bin. Dabei möchte ich über meine Grenzen hinausgehen, indem ich Dinge tue, die ich eigentlich nie tue. Dafür will ich eine vierwöchige Interrail-Reise machen. Und ich brauche jemanden, der mich begleitet. Also, nicht, weil ich nicht allein reisen kann. Sorry. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der das für mich fotografisch und filmisch festhält. Das Ganze soll aber kein Kurzfilm werden. Ich will mehrere kurze Sequenzen, die für sich stehen können, aber am Ende natürlich ein großes Ganzes ergeben.«

Stille.

Wir befanden uns in der Bib. Niemand redete, alle lasen und Jonathan starrte mich schweigend an. Viel zu viele Sekunden, bis ich es nicht mehr aushielt und wie eine Idiotin weiter vor mich hin faselte.

»Du bist der Erste, den ich um Hilfe bitte. Alle auf unserem Campus wissen, dass du der Beste in deinem Jahrgang, wenn nicht sogar deiner ganzen Fakultät bist. Deshalb würde es mich auch wirklich freuen, wenn du es dir zumindest überlegen könntest. Natürlich würde ein Teil deiner Semesterferien dafür draufgehen, und falls du schon was vorhast, verstehe ich total, dass …«

»Matilda.«

Ich erstarrte. Mein richtiger Name brachte mich immer zum Stocken. Das war unfairer als Vogt. Plötzlich spürte ich sogar diese Wärme, die nicht von meinen Händen, sondern von Jonathan ausging. Weil er sich unvermittelt in meine Richtung lehnte, doch dabei ebenfalls bedacht war. Hitze strahlte förmlich von ihm aus. Als hätte er eine Körpertemperatur von sechzig Grad Celsius. Doch dieser behutsame Idiot fuhr nicht fort. Er versicherte sich bloß, dass sein Blick meinen festhielt.

Dass ich das hier mitbekam. Dass ich hier war. Mit ihm.

»Wieso zur Hölle kommst du auf die Idee, dass ich jemals freiwillig mit dir zusammen für ein Projekt verreisen würde?«

Was sollte ich darauf antworten? Wie sollte ich darauf reagieren? Jonathan fluchte nicht einmal, wenn er fluchte, weil seine Stimme sich selbst bei einem Wieso zur Hölle? unendlich weich anhörte. Als hätte er keinerlei Ecken und Kanten. Er hatte vorbildlich geflüstert, mich, meine Bitte und meine Hoffnungen abserviert, ohne auch nur eine einzige Person in unserer Umgebung zu stören.

»Also.« Er zog sich zurück, wobei er fahrig nach seinem Textmarker griff. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dann jetzt gerne weiterarbeiten.«

Es dauerte viel zu lange, bis seine Worte in mich einsickerten und ich mich endlich von meinem Platz erhob. Für einige winzige Sekunden konnte ich mich nämlich nur auf seinen Mund konzentrieren. Jonathan hatte volle Lippen, sie waren einen Tick zu groß. Doch er besaß dieses seltsame Talent, sie millimetergenau zu einer geraden Linie zusammenzupressen. Es war das Einzige, was er mit Leander gemeinsam hatte. Diese fiese, stumme und perfekte Ablehnung mir gegenüber. Ich fragte mich, ob es die zu dem Nachnamen Brenner einfach mit dazu gab.

Jonathan und Leander Brenner.

Jonathan war Leanders Bruder.

Und er hasste mich noch mehr als Leander selbst.

Tillie

POV: Vielleicht hassen dich alle, weil du alles hasst

Hitze, Kälte, Hitze, Kälte, Hitze, Kälte.

Mein ganzer Körper pulsierte vor Wut. Dabei ermahnte ich mich weiterhin selbst, mir nicht auf den Oberschenkel zu klopfen. Alles in mir pochte rot und rasend. Wäre ich sportlich, hätte ich mir zu Hause meine Laufschuhe geschnappt und wäre joggen gegangen, bis ich nicht mehr gekonnt hätte. Aber ich hasste Sport und Sneakers.

Also ballte ich bloß heimlich Fäuste in meinen Jackentaschen, während ich in die Kaiserstraße bog und mich ermahnte, nicht zu heulen.

Verdammter Mist.

Nicht.

Heulen.

»Pass doch auf, Mann«, murmelte ein Typ mit Handy in der Hand, der mich im Vorbeigehen angerempelt hatte.

Auf der Stelle blieb ich stehen und funkelte den Fremden an. Er war einen Kopf größer als ich. Schimmernde Bomberjacke, knallbunte Sneakers. In der Bahn hockte er sich sicherlich breitbeinig auf den Sitz. Einfach, weil er es konnte. Weil er ein Mann war, groß und cool. Von meinem Killerblick bekam er rein gar nichts mit.

Es fühlte sich an wie eine Niederlage. Die zweitausendste an diesem Tag.

Fünfzehn Minuten später schloss ich endlich die Tür zu meiner Wohnung auf, hätte meinem Zuhause allerdings am liebsten prompt wieder den Rücken zugekehrt. Der Geruch von Angekohltem blies mir entgegen. Die rauchige Note brachte mich zum Husten.

Oh Gott.

Mein Unterleib.

Wieso fühlte es sich so an, als würden dreitausend Nadeln meine Gebärmutter attackieren?

Hallo Körper, du blutest schon den ganzen Tag, könntest du weitere Verletzungen bitte vermeiden? Vielen Dank.

Doch mein weibliches Organ antwortete nur mit einem weiteren Krampf.

»Hast du deine eigene Version von Grill den Henssler veranstaltet?«, rief ich in den Flur, doch meine Schwester erwiderte nichts.

Seufzend befreite ich mich von Schuhen und Jacke, bevor ich in Richtung Küche tapste. Dort fand ich die Übeltäterin, eingekuschelt in ihre liebste Dekodecke. Cleo, die eigentlich Clementine hieß, aber ihren Namen schon immer seltsam fand und sich daher seit der Mittelstufe ausnahmslos als Cleo vorstellte, saß mit ihrem neusten Buch in der Hand am Esstisch. Vor ihr erkannte ich einen leeren Teller. Ich stellte mich im Türrahmen auf und scannte den Raum ab. Die Arbeitsfläche glänzte und das Ceranfeld war poliert. Sogar das roséfarbene Geschirrtuch baumelte akkurat platziert über dem Backofen. Unsere Küche war hell, weiß und modern. Wir hatten sie im Angebot bei einem nahe gelegenen Möbeldiscounter ergattert. Es war der schönste Raum in unserer Wohnung. Wenn unsere jüngere Schwester Delia zu Besuch kam, nannte sie es das Herzstück. Instagrammable (wichtig für mich) und der Traum einer angehenden Konditorin (überwichtig für Cleo). Na ja, eigentlich kam unsere siebzehnjährige Schwester nie wirklich zu Besuch. Meistens stürmte sie unangekündigt herein, bevor sie sich in mein Bett legte, weil es wieder ein Drama gab. Schließlich kannte ich mich damit viel zu gut aus.

»Hallo.« Ich fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Lebst du noch oder liest du nur noch?«

»Pssst«, machte Cleo, ohne von ihrem Buch aufzusehen. »Sie haben gerade erfahren, dass sie sich ein Bett teilen müssen. Im Kühlschrank steht Linsensuppe, wenn dir deine Pizza vorhin nicht gereicht hat.«

»Es riecht angebrannt.«

»Das sind Röstaromen.«

»Du und deine Röstaromen«, versuchte ich es witzelnd, doch meine Schwester war zu vertieft in ihr Ein-Bett-Szenario.

In letzter Zeit passierte uns das ständig. Wir unterhielten uns, ohne etwas zu sagen. Nicht länger als ein paar Minuten täglich, um einen erneuten Streit zu vermeiden. Seit zwölf Tagen war unsere Wohnung ein brodelndes Vulkanland, das sich noch nicht von seinem letzten Ausbruch erholt hatte.

Gott, Tillie. Wie hältst du dich selbst bloß aus?

Ich hörte das Echo ihrer Worte überall. Hinter jeder Ecke und jeder Tür, in der Abstellkammer und zwischen den Hohlräumen ihres nach Regenbogenfarben sortierten Bücherregals. Am lautesten vibrierte es tief in mir.

Ich fragte mich, ob deshalb alles um uns so leise war.

»Na dann«, murmelte ich also.

Ich drehte mich um, Cleo bemerkte es nicht einmal. Dabei bemerkte sie eigentlich alles. Meine Schwester war eineinhalb Jahre älter als ich, hatte bereits ein abgeschlossenes Bachelorstudium und letztes Jahr mit der Ausbildung zur Konditorin angefangen. Sie hatte Lebensmitteltechnologie studiert, aber schnell gemerkt, dass sie eigentlich nur eines wollte: Konditorin werden. In ihrem Ausbildungsbetrieb wurde sie von allen geliebt, weil sie die Art talentiert war. Erst vor Kurzem hatte es eine ihrer Kreationen ins Standardsortiment für den Sommer der Zuckermonarchie geschafft, die bekannt war für ihre außergewöhnlichen Torten und Gebäcke. Eine saftige Orangentarte mit einer Limettensahnecreme und gerösteten Pekannüssen. Meine Schwester kannte sich mit Mengenangaben und Details aus. Manchmal arbeitete sie Stunden an einer einzigen dekorativen Rosenblüte. Meiner Schwester fiel alles auf – außer wie es mir jetzt ging.

Es ist okay, es ist okay, es ist okay.

Ich klammerte mich an mein Mantra, doch die Realität holte mich trotzdem wieder ein. Und zwar pingend.

Manda ♥ @thegirlnextdoor Aaalle lieben den neusten Post @tillie

Ich will nicht sagen, dass ich es dir gesagt habe, aber … ich habe es dir gesagt

Ich umklammerte das Handy noch eine Sekunde länger, bevor ich mich schließlich von der Nachricht losriss. Mit zitternden Fingern drückte ich die Türklinke zu meinem Zimmer nach unten und trat ein.

Emma Chamberlain sagte in ihrem erfolgreichen Podcast ständig, dass wir unser Leben intensiver romantisieren müssten. Dass wir uns wie der Hauptcharakter in einem fucking movie fühlen sollten. Keine Ahnung, ob ich das richtig machte, als ich meine Zimmertür hinter mir schloss, ohne mich von der Stelle zu rühren. Dramatisch blieb ich stehen, lehnte meinen Hinterkopf gegen das Holz, spürte Blut in meinen Slip sickern und wusste nicht, wie ich den Rest dieses Tags überleben sollte. Fehlte nur noch traurige Popmusik, ein Heranzoomen an mein Gesicht – und ich hätte die Darstellerin einer Tiefpunktszene sein können.

Selbst mein Zimmer hätte der Stimmung entsprochen. Meine Einrichtung war das Gegenteil von Cleos. Alles, was sie berührte, wurde schön und hell, glatt und gemütlich. Ihr Zimmer hätte bei IKEA ausgestellt sein können und alle hätten sich die Artikelnummern der perfekt harmonierenden Dekokissen notiert. Meine Einrichtung wirkte dagegen zu spärlich, zu kalt und unbewohnt, weil ich ständig und überall auf Sauberkeit achtete.

Ich seufzte und tat das Einzige, was in diesem Moment Sinn ergab: Ich schmiss mich aufs Bett, wägte kurz ab, mich unter der Decke zu verkriechen und nie wieder hervorzukommen, doch befürchtete, früher oder später meinen Bezug vollzubluten. Also verband ich mein Handy stattdessen mit der Bluetooth-Box, stellte das neuste Album von Provinz ein und klickte TikTok an. Ich betrat die Plattform mit meinem privaten Account, doch gab sofort @thegirlnextdoor in die Suchleiste ein.

Normalerweise durchflutete mich dieses Profil inständig mit Stolz. Manda, Lucy und ich hatten den Account gemeinsam gegründet. Mittlerweile bloggten wir seit über zwei Jahren über die Themen, die uns am Herzen lagen, allen voran: Feminismus. Feminismus. Und noch mal Feminismus.

Wenn ich Fremden verriet, wie unser Profil entstanden war, dachten sie, es sei ein Scherz. Und wer sollte es ihnen verübeln? Die meiste Zeit konnte ich es selbst nicht glauben. Manda, Lucy und ich hatten denselben Typen gedatet. Und waren mit exakt derselben Ausrede abserviert worden.

Du bist leider nur das nette Mädchen von nebenan.

Kurz nachdem wir dahintergekommen waren, hatten wir unseren Blog und gleich darauf den dazugehörigen Social-Media-Account gestartet. Heute, beinahe drei Jahre später, waren Lucy und Manda meine allerbesten Freundinnen. Gemeinsam sprachen wir über den Einfluss der Medien und Popkultur auf die eigene Identität, internalisierte Misogynie und darüber, wie alte Rollenbilder immer noch fest in uns und unserer Welt verankert waren. Angefangen hatten wir auf Instagram, doch seit ein paar Monaten erreichten wir auf TikTok ein größeres Publikum.

Ich brannte für das, was wir dort mit unseren Posts erreichten. Für jede Nachricht, die mit einem Danke anfing und aufhörte.

Danke, dass ihr da seid.

Danke, dass ihr mir zeigt, dass ich nicht allein bin.

Danke, dass ich mich bei euch immer verstanden fühle. Danke, wirklich.

Manda, Lucy und ich führten den Blog gemeinsam, während sich jede von uns unterschiedlich einbrachte. Lucy zum Beispiel beantwortete Leserinnenfragen in ihrer Sonntagsrubrik namens Liebe Lucy. Es war der erste Baustein in ihrer Karriere. Sie studierte Journalismus mit der Vision von einem eigenen Frauenmagazin, das sich mit echten Themen beschäftigte. Sie wollte Schlagzeilen wie 5Pfund in 5Tagen in die Hölle verbannen – wo sie hingehörten.

Manda fertigte Illustrationen zu unseren Herzensthemen in ihrem unverkennbaren und verspielten Stil an, die beinahe jedes Mal durch die Decke gingen. Es waren immer digitale Zeichnungen, meistens verbunden mit einem Spruch und wunderschönen Verzierungen. Fremden fiel es schwer zu glauben, dass diese wirklich von Amanda Breuninger stammten. Ihre Illustrationen strahlten das Gegenteil ihrer Präsenz aus. Ihre Bilder leuchteten, während sie auf eine dunklere Weise glühte.

Lucy und ich wussten, was dahintersteckte.

Die anderen nicht.

Meine bestlaufenden Videos waren – wie sollte es anders sein – feministisch. Gestern hatte ich das neuste hochgeladen. Ich hatte ein Gespräch zwischen zwei Typen über sogenannte Feministinnen mitbekommen und in dem Post kommentiert. Meine Meinung dazu war kurz, schmerzlos und mit einer guten Portion Sarkasmus versehen.

Jetzt schluckte ich, als ich die Zahl unter meinem Gesicht erkannte.

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Mit bebendem Daumen klickte ich auf das Video. Ich war geschminkt, trug Eyeliner und Wimperntusche. Meine Augen darunter wirkten riesig. Sie waren einnehmend und funkelten herausfordernd.

»… und dann meinte der eine: Ohne Spaß, wisst ihr, was mich so richtig aufregt? Diese sogenannten Feministinnen. Wer hat die eigentlich verarscht, haha? Die sind hier überall, mit ihren unrasierten Beinen und ihren komischen Fleischersatzprodukten, weil natürlich sind sie auch vegan und labern uns voll davon, dass Frauen benachteiligt sind. Sagen wir es doch mal, wie es ist: Deren Problem ist einfach, dass sie hässlich sind.«

Mein Gesicht im Video verzog sich. »Jepp«, fuhr ich anschließend fort. »Mein Problem liegt definitiv darin, dass mich niemand bumsen will. Deshalb bin ich Feministin. Das ist der einzige Grund. Ist ja nicht so, dass ich für uneingeschränkte Gleichberechtigung aller Geschlechter einstehen will. Nein, überhaupt nicht.«

Die Sequenz endete mit meinem gespielt süßen Lächeln und meiner Hand, die eine abwinkende Bewegung andeutete.

Als ich anschließend das Kommentarsymbol anklickte, durchflutete mich Erleichterung.

Lina2347: Preach!

Sunflowersintherain_: Kommentier mal Deutschrap, das wird bestimmt auch lustig haha

Sevcan2704: Queeen, die Fakten spricht

Marlenem.: Tillies Videos = safe space <3

19Goaldigger99: Danke für deine Beiträge, sie machen einen Unterschied

Ich machte einen Unterschied.

Tief atmete ich durch.

Ja, vielleicht war mein Tag scheiße gewesen.

Ja, vielleicht hatte ich mir meinen Einkauf von einem Wildfremden bezahlen lassen, während ich durch meine Hose geblutet hatte.

Ja, vielleicht hatte Leander mich vor unserem gesamten Kurs auf die sexistischste Weise dieser Welt bloßgestellt.

Ja, vielleicht war er eigentlich nicht diese Art von Arschloch gewesen. Vielleicht hatte er ein Herz besessen, ein gutes. Und ja, vielleicht bestand sein einziger Fehler darin, es mir mit seinen groben Berührungen und sanften Schreiberfingern übergeben zu haben. Doch das gab ihm noch lange nicht das Recht, so einen Text vorzulesen.

Und als wäre das nicht schon genug gewesen, hatte mich dann auch noch sein Bruder abgewiesen. Mit diesem Blick, der alles gesagt hatte.

Ab-so-lut groß-ar-tig.

Meine Gedanken drohten zu überschlagen, da ermahnte ich mich selbst.

Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.

Es ist okay, es ist okay, es ist okay.

Ich mache einen Unterschied.

Wenn das stimmte, konnte ich auch in meinem eigenen Leben einen Unterschied machen. Mir selbst Mut zunickend setzte ich mich auf. Gleich darauf öffnete ich die Kamera-App und begann zu sprechen.

Es war ein gewöhnlicher Dienstagnachmittag, an dem beinahe die gesamte Welt gegen mich schien. Trotzdem gab ich nicht auf, selbst wenn mein Magen sich zusammenzog und mein Unterleib rebellierte, bloß weil ich eine Frau war. Allerdings war ich gern eine Frau. Ich war sogar gern ich. Die Erde war nur ein Planet im endlos großen Universum. Meine Probleme waren so winzig. Ich würde Lösungen finden.

»Ich habe keine Ahnung, was ich tue«, sagte ich meiner eigenen Miene, dem Bildschirm, der gesamten Welt. »Aber ich weiß, dass es großartig werden wird.«

Ich glaubte das.

Ich glaubte das so sehr.

Tillie

POV: Die Welt ist kleiner als ein Dorf

Diese Welt bestand jedoch bloß aus exakt sechsundneunzig Menschen. Und das war wenig erfolgsführend.

»Ich verstehe das nicht«, murmelte ich und legte mein Handy beiseite, während Lucy mir ihre Wärmflasche reichte. »Ich meine, wo ist die TikTok-Magie, von der immer alle sprechen, wenn ich sie brauche? Hat diese App denn keine Ahnung, dass wir täglich unseren Seelenfrieden für sie verkaufen? Sie ist mir was schuldig.«

Ich wollte laut sein, doch die Worte verließen meinen Mund erst nach einem heiseren Räuspern. »Es muss klappen, versteht ihr?«