Feindbild China - Uwe Behrens - E-Book

Feindbild China E-Book

Uwe Behrens

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Beschreibung

China – das Reich der Mitte hat in den letzten Jahrzehnten einen beispielhaften wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Uwe Behrens, der 27 Jahre in diesem Land lebte und arbeitete, informiert in zehn Frageblöcken kenntnisreich, wie die Volksrepublik es schaffte, ohne Demokratie westlichen Vorbilds ihre Wirtschaft auf den heutigen Stand zu heben, mit welchen Schwierigkeiten sie dabei zu kämpfen hatte und welche Probleme noch immer bestehen. Mit dem Hintergrund jahrelanger Erfahrung als Transportökonom klärt Uwe Behrens über Handelswege wie die neue Seidenstraße auf und thematisiert darüber hinaus die kritische wie parteiische Perspektive des Westens. Das rasche wirtschaftliche Wachstum und die damit einhergehende wachsende Bedeutung der Rolle Chinas in der Weltpolitik werden in den westlichen Medien und der Politik seit Jahren negativ betrachtet. Chinesische Wissenschaftler werden aus den USA ausgewiesen, Dumpingvorwürfe erhoben und Import- oder Exportverbote ausgesprochen. Wer kann es China also verübeln, andere Wege zu gehen, neue Handelspartner für sich zu gewinnen? Uwe Behrens beantwortet als Experte Fragen zur Unterdrückung von Minderheiten, Territorialkämpfen, Cyberkriminalität und der Behandlung der Menschenrechte.

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

edition ost im Verlag Das Neue Berlin – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-51050-1

ISBN Print 978-3-360-01896-0

1. Auflage 2021

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Das ist die Innensicht einer Gesellschaft, die für viele Menschen unverständlich ist. Im besten Falle gilt sie als exotisch, im schlimmsten Falle als feindlich. Die westliche Welt fühlt sich bedroht, heißt es. Doch China bedroht niemanden. Die mit etwa 6000 Jahren älteste, ununterbrochen fortbestehende Zivilisation folgt anderen Regeln als etwa das jüngere christliche Abendland. Um sich dessen bewusst zu werden, muss man sie auch kennen. Behrens hat fast drei Jahrzehnte in China gelebt. Er berichtet von seinen Erfahrungen, bringt unbekannte Fakten und stellt erhellende Zusammenhänge her.

Über den Autor

Uwe Behrens, Jahrgang 1944, studierte an der Hochschule für Verkehrswesen »Friedrich List« in Dresden, diplomierte an der Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock und war nach dem Studium mit der Einführung des Containertransportsystems bei der Deutschen Reichsbahn der DDR beschäftigt. Von 1980 bis 1984 war er als DDR-Vertreter bei Intercontainer in Basel und promovierte 1986 als Logistiker bei Deutrans-Transcontainer. Seine Tätigkeit als Fachdirektor im Betrieb des Kombinates Deutrans, Deutrans-Transcontainer, endete im Dezember 1989. Für eine BRD-Spedition ging er 1990 nach China. 2000 übernahm er das Management des französisch-indischen Joint Ventures Geodis India und pendelte zwischen China und Indien. Von 2008 bis 2017 wirkte er als Berater eines in Hongkong ansässigen Logistikunternehmens im Rahmen der chinesisch-afrikanischen Wirtschaftskooperation, der späteren Neuen Seidenstraße.

Inhalt

Vorwort

Auf nach China

Überall, auch in China, dreht sich alles ums Geld

Die Berliner Mauer, der Tiananmen und Mao

Mein Joint Venture

Ein kleiner Schritt vorwärts – ein großer Schritt zur Zivilisation

Das Sozialpunktesystem

Great Firewall

Soziale Werte

Markt, Plan und Eigentum

Was war das Erfolgsrezept?

Ein zivilisatorischer Staat

Eine meritokratische Regierungsform

Kampf gegen Armut

Korruption und Antikorruption

Grünes China

Die Neue Seidenstraße

Das größte Infrastrukturprojekt der Geschichte – eine neue Strategie der Globalisierung?

Die nächste Renaissance der Seidenstraße

»Kommunistische Staatskapitalisten wollen die Welt beherrschen!«

Die Routen

Organisation des Projektes »Neue Seidenstraße«

Zurück in Deutschland

Spannungsfeld zwischen dem Westen und China

China ist aggressiv

»America First« heißt Hegemonie statt Harmonie

Die Uiguren-Frage

Ordnung im Oberstübchen: Tibet, das Dach der Welt

Hongkong: eine schwärende Wunde?

Wer hat Angst vorm »Gelben Mann«?

Vorwort

Seit nunmehr vierzig Jahren findet das größte Modernisierungsprojekt der Menschheitsgeschichte statt, und ich konnte daran fast drei Jahrzehnte teilhaben, es unmittelbar begleiten. Über meine Beobachtungen und Erfahrungen will ich hier erstmals berichten. Seit 2017 lebe ich wieder in Deutschland, und ich habe seither feststellen müssen, dass wenig Wissen über China existiert und die Vorurteile groß sind, die über das volkreichste Land der Welt kursieren. Das war mein Motiv, mich in der vorliegenden Form mitzuteilen, Sachverhalte zu erklären, Irrtümer zu korrigieren und Wissenslücken zu füllen. Denn wie ich seit meiner Rückkehr aus Fernost als Konsument hiesiger Medien erstaunt bemerkte, hatte sich die Feststellung Alfred Polgars, jenes von den Nazis aus Europa vertriebenen jüdischen Feuilletonisten, keineswegs erledigt, obgleich sie inzwischen über hundert Jahre alt ist: »Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist.«

Nun war ja nicht alles unwahr, was ich über China in den Zeitungen las, im Rundfunk hörte oder im Fernsehen sah. Doch es schien mir ziemlich oberflächlich und nicht eben freundlich. Das Land mit seinen 1,4 Milliarden Menschen, vor allem aber seine riesige Ökonomie, die ein wesentlicher Faktor der Weltwirtschaft geworden ist, zeichnete man vorwiegend stereotyp als Bedrohung. Das war zunächst nur ein Eindruck, ein Gefühl. Inzwischen jedoch wurde der Begriff auch offiziell in die Sprache der Politik eingeführt. Auf dem virtuellen NATO-Gipfel Anfang Dezember 2020 erklärte der Generalsekretär des westlichen Militärpaktes, dass zwar kein Mitgliedsland »unmittelbar« von China bedroht werde, aber man sich stärker gegen Bedrohungen aus China wappnen werde. »Es kommt uns näher, von der Arktis bis nach Afrika«, zitierten die Medien Jens Stoltenberg. »Wir müssen dies gemeinsam angehen, sowohl als NATO-Verbündete als auch als Gemeinschaft gleichgesinnter Länder.«

Natürlich ist die Angst »des Westens« durchaus begründet. Es ist ihm mit der Volksrepublik China ein ernstzunehmender Konkurrent erwachsen. Der vertritt nicht nur mit wachsendem Selbstbewusstsein seine nationalen Interessen und handelt also nicht anders als etwa die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und andere kapitalistische Staaten. Dieser Konkurrent präsentiert aber auch noch einen anderen Gesellschaftsentwurf. Dieser erweist sich angesichts der vielen Krisen und Konflikte, für die der Kapitalismus ursächlich ist, zunehmend als Alternative. Eine der ältesten Zivilisationen und Hochkulturen der Welt sucht nach Wegen in eine Zukunft, die diese Bezeichnung auch verdient. Und dabei sind die Chinesen sehr erfolgreich.

Nun ist das, was sie machen, überhaupt kein Modell für die Welt. Das stellen die Chinesen selbst energisch in Abrede. Doch allein das Funktionieren ihrer Ordnung beweist, dass der Kapitalismus – der sich doch selbst einmal als Krönung und Ende der Geschichte bezeichnete – eben nicht ohne vernünftige Alternative und das Schlusskapitel der Menschheit sein muss. Denn darin besteht heute weltweit Einigkeit: Wenn wir so weiter wirtschaften wie bisher, geht die menschliche Zivilisation in absehbarer Zeit zugrunde.

Das ist die eigentliche Bedrohung, vor der nicht nur »der Westen« steht.

Dessen sogenanntes China-Bashing, das Kritisieren, Verunglimpfen und Sanktionieren der Volksrepublik erfolgt nach der Methode »Haltet den Dieb!«. Das heißt, ein ertappter Halunke beschuldigt mit großem Geschrei einen anderen als Halunken, um auf diese Weise von seinen eigenen Vergehen abzulenken. Je erfolgreicher und souveräner China auf der Weltbühne agiert, desto lauter wird das Geschrei. Die Welt ist nicht genug. Inzwischen weht die rote Fahne mit den fünf gelben Sternen sogar schon auf dem Mond.

Diese gewaltigen Fortschritte in Wissenschaft und Wirtschaft sind wohl kaum Resultat von Propaganda, sondern Ergebnis angestrengter und kollektiver Arbeit. Und diese geschieht geplant, nicht anarchisch. Sie wird überlegt organisiert und konzentriert geführt. Anders als etwa in den unter dem Banner des Westens versammelten »Demokratien«.

»China teilt nicht unsere Werte«, monierte der bereits zitierte NATO-Generalsekretär. Wenn zu diesen »Werten« die Freiheit gehört, zur Durchsetzung nationaler Interessen Kriege zu führen und Konflikte zu schüren, verhasste Regimes zu stürzen und genehme zu installieren, Naturressourcen hemmungslos auszubeuten, den Regenwald abzuholzen und in Naturschutzgebieten nach Öl zu bohren, die Meere zu vermüllen und Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben – derzeit sind mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht –, dann natürlich hat Stoltenberg Recht: Diese Werte teilt die Volksrepublik China ganz und gar nicht.

Der chinesische Traum, und so nennen sie es selbst, ist der Aufbau einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand, die Schaffung eines reichen, starken, demokratischen, zivilisierten und modernen Landes mit einer zufriedenen Bevöl­kerung. China setzt auf Harmonie statt Hegenomie. Es betrachtet keinen Staat und kein Volk als Feind.

Ich habe nicht Sinologie studiert, wohl aber das Leben in China. Ich bin zwar promovierter Transportökonom, aber habe nie wissenschaftlich gearbeitet und geforscht – ich arbeitete zeitlebens als Logistik-Manager in Europa und in Asien. Das ist mein Fundus. Ich urteile also über real Erlebtes und halte es wie Goethes Faust: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.« Oder mit einem anderen großen Denker, der die Praxis als Kriterium der Wahrheit benannte.

Und rigoros bin ich für die ganze Wahrheit, denn bekanntlich sind halbe Wahrheiten mitunter ganze Lügen.

Bei der Erarbeitung des Buches waren mir meine chine­sischen Freunde und der Verleger Frank Schumann außer­ordentlich behilflich. Ich danke meinen chinesischen Freunden und dem Verleger sowie und meiner Frau Wei Lan, die mir die Augen und das Herz für ihre Heimat geöffnet hat.

Uwe Behrens,

Wandlitz, im Januar 2021

Die größte Explosion persönlicher Freiheiten, die das chinesische Volk in den letzten 4000 Jahren erlebt hat, erfolgte in den letzten 40 Jahren. Vor 40 Jahren konnte sich das chinesische Volk nicht aussuchen, wo es leben, was es tragen, wo man arbeiten, was es studieren sollte. Es gab null Touristen, die China verließen. Heute verlassen 134 Millionen Chinesen (das entspricht einem Drittel der US-Bevölkerung) China frei. Dann kehren sie frei nach Hause zurück. Anstatt Repressionen zu erleiden, erleben die Chinesen eine große Befreiung in ihrem persönlichen Dasein. Unabhängige Umfragen zeigen, dass in China 90 Prozent der Menschen ihrer Regierung vertrauen. In den USA sind es nur 39 Prozent.

Im Gegensatz zur amerikanischen Politik, die von kurzfristigen Wahlerwägungen getrieben wird, ist Chinas Politik von sorgfältigen, langfristigen strategischen Berechnungen bestimmt.

China lernt schnell aus seinen Fehlern.

Nach den ersten Fehlschritten in Wuhan war die anschließende Reaktion der chinesischen Regierung auf den COVID-19-Ausbruch eine der effektivsten aller Regierungen der Welt.

Die WHO erklärte: »Angesichts eines bisher unbekannten Virus hat China die vielleicht ehrgeizigste, agilste und aggressivste Krankheitseindämmung in der Geschichte eingeführt.«

Kishore Mahbubani, Professor für Public Policy

an der National University in Singapur, zuvor UNO-Botschafter,

in: »Has China won?«, 2020

Auf nach China

Ende November 1989 rief mich der Direktor einer bundesdeutschen Spedition an. Ich hatte bereits in den vergangenen Jahren beruflich mit Militzer & Münch in Hof zu tun gehabt. Jetzt, wo doch die Mauer gefallen sei, wäre dies die Chance für einen flexiblen Manager, aus der Enge des DDR-Außenhandels auszubrechen. Er sähe für mich eine große Chance in China, aber auch für seine Spedition. Schließlich hätte ich in den vergangenen Jahren Eisenbahntransporte zwischen der Volksrepublik und der DDR besorgt, da würde ich mich doch auskennen. Kurz und gut, er schlage mir vor, in China für sein Unternehmen eine Repräsentanz zu übernehmen.

Nun war mir klar, dass er dieses Angebot nicht selbstlos unterbreitet hatte. Er wollte sich meine Verbindungen und meine Erfahrungen nutzbar machen. Auf der anderen Seite stellte er natürlich in Rechnung, dass auch ich mir Gedanken machte über die Zukunft meines Betriebes und des Landes, für das ich arbeitete. Denn nachdem die Grenze offen war, stand seine Zukunft nicht mehr in den Sternen. Als Ökonom war ich mit den Gesetzen des Marktes hinlänglich vertraut, ich konnte mir ausrechnen, was nun passieren würde.

Ich zögerte dennoch.

Beim zweiten Anruf machte er es dringlich, dadurch war ich in einer taktisch günstigeren Situation. Sein Unternehmen habe bereits ein Büro in Peking, doch der Repräsentant wolle so schnell wie möglich nach Hause. Die Unruhen im Frühsommer hätten bei ihm bleibende Spuren hinterlassen. Er habe gesehen, wie randalierende Studenten ­Soldaten massakriert hätten, dort auf dem Platz des Himmlischen ­Friedens und in den Straßen der Innenstadt. Das wäre für den ruhigen Schweizer zuviel Aufregung gewesen. Er habe fristgerecht gekündigt, im April 1990 werde er das kommunistische China verlassen.

»Sie haben doch keine Angst vor den Kommunisten?«, erkundigte er sich. »Sie sind doch bestimmt selber einer.«

Eigentlich hatte ich mich bereits durchgerungen, den Job anzunehmen. Doch nach dieser abwertend gemeinten Ansage musste ich ablehnen.

Als sei alles in trocknen Tüchern, rief am Montag seine Sekretärin bei mir an. Schöne Grüße vom Chef, er habe das nicht so gemeint und würde sich freuen, mich zum Gespräch im westdeutschen Headoffice zu begrüßen. Mein Flieger gehe am Mittwoch, das Ticket sei in Tegel hinterlegt, Flug und Hotel seien bereits bezahlt.

Ich ließ mich überrumpeln.

Für den Kommunisten entschuldige er sich, sagte der Direktor, und schmeichelte mir. Ich hätte schließlich herausragende Erfahrungen als Spediteur und kommerzieller Eisenbahner, nur das zähle. Gute Leute würden überall gebraucht.

Wie ich später erfuhr, hatte er bereits mit sieben seiner Landsleute gesprochen, die alle abgesagt hatten. Ich war der achte und letzte Kandidat, da musste er sich krumm machen.

Am 1. März 1990 schon sollte ich fliegen.

Ich sagte zu und kündigte in meinem DDR-Betrieb, wo ich, keineswegs überraschend, Hausverbot erhielt. Wäre ich an der Stelle des Generaldirektors gewesen, hätte ich vermutlich ebenso gehandelt. Dadurch aber hatte ich Zeit gewonnen, mich auf China vorzubereiten.

Was wusste ich über China?

Dass Mao die Kulturrevolution angezettelt hatte, die Sow­jetunion und die DDR nicht gerade gute Beziehungen mit der Volksrepublik unterhielten, Peking enge Kontakte mit den USA aufbaute, dass der DDR-Außenhandel billig Textilien importierte, unter anderen Herrenunterhosen, die für DDR-­Ärsche viel zu eng waren.

Ich versuchte mir auch zu erklären, warum China ein so schlechtes Ansehen in der Welt besaß. Das hing nicht allein mit dem 4. Juni 1989 zusammen. Schon vor diesem Datum hatte »der Westen« wenig nur mit »Rotchina« am Hut. Lag es allein am Antikommunismus, am tradierten Rassismus, der sich nicht nur vor der roten, sondern auch vor der »gelben Gefahr« fürchtete? War daran die christlich-abendländische Kultur Schuld? Die hatte ja auch die Kultur Nordamerikas und Australiens geprägt, und sie unterschied sich fundamental von der weitaus älteren chinesischen Kultur. China schaute auf über fünftausend Jahre zusammenhängende Zivilisationsgeschichte zurück und hatte die Menschheit mit einer Vielzahl von Entdeckungen und Erfindungen vorangebracht. Doch das zählte alles offenbar wenig aus »westlicher« Sicht, Europa war Maßstab und Nabel der Welt.

In den Monaten vor meiner Abreise ins Reich der Mitte frischte ich mein Schulenglisch auf und traf mich mit Mitarbeitern meines künftigen Arbeitgebers, die für China zuständig waren. Sie arbeiteten in verschiedenen Speditionsniederlassungen in der Bundesrepublik und in der Schweiz und betrachteten mich als Exoten. Ich sah ihnen an, was sie über mich dachten: Aha, aus dem Osten. Geht freiwillig nach China, wo Menschen von den Kommunisten auf der Straße erschossen werden. Der muss es ja nötig haben … Naja, lange wird der’s auch nicht machen.

Die ansonsten sehr höflichen Speditionsmitarbeiter gaben mir jede Chance, nichts von dem zu erfahren, was ich eventuell für meinen Job in China gebrauchen könnte. Sie behielten ihr Wissen für sich und gaben es nicht her. Das war eine ganz neue Erfahrung.

Der Flug wurde auf Ende März verschoben. Direktflüge von Berlin nach Peking gab es noch nicht. Ich flog nach ­London, von dort nach Hongkong und weiter in die chinesische Hauptstadt. Nach 34 Stunden traf ich dort ein. Grau war mein Gemüt, grau mein Gesicht, grau die Luft. Der Schweizer, der mich vom Flugplatz abholen sollte, war nicht erschienen, er hatte aber jemanden geschickt, der in der winzigen Empfangshalle, kaum größer als die in Tegel, ein Schild mit meinem Namen reckte. Er steuerte ein Shuttle des Hotels, in das er mich brachte.

Die Fahrt war der erste Kulturschock. Die zweispurige Straße mit breiten, staubigen Randstreifen teilten sich die Autos mit Radfahrern und Lastkarren. Sie wurde gesäumt von blattlosen, grauen Bäumen. Der Taxifahrer quälte den alten Toyota im vierten Gang im Schritttempo. In mir wuchs das Gefühl, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Umkehren, sagte ich mir. Nach schier unendlich langer Fahrt erreichten wir die Stadt. Mein Gefühl verdichtete sich. Im Hotel empfing mich der überaus höfliche Direktor, ein Manager aus Hongkong. Er zeigte mir mein Apartment und lud mich zu meinem ersten wirklich chinesischen Essen ein. Das versöhnte mich ein wenig, das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung begann zu schwinden, aber es blieb.

Mein Vorgänger begrüßte mich mit der rhetorischen Frage: »Wie gefällt Ihnen Peking?«

Ich winkte ab. »Ich fliege wieder zurück. Alles grau hier – ich liebe die Natur. Außer dem Hoteldirektor spricht niemand Englisch, ich verstehe kein Wort Chinesisch …«

Der Schweizer nickte verständnisvoll. Mir war jetzt klar, weshalb er vorzeitig und das schon nach einem Jahr seine Zelte hier abbrach.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Büro.«

Es befand sich in einem einzigen Geschäftshaus für ausländische Firmenvertreter. Es handelte sich um ein ehemaliges Hotel. Der Fußbodenbelag, vormals gewiss sehr schön, war ausgeblichen und wies zahllose Brandflecken von ausgetretenen Zigaretten auf. An manchen Stellen lösten sich die Blumentapeten von den Wänden, in den Ecken warteten Spucknäpfe auf ihre Benutzung.

Alles sehr anheimelnd und einladend.

Das Büro, ein Apartment mit Bad, entsprach ganz dem Charakter des Hauses. Das Bad selbst war, bis auf die Dusche, zugestellt mit nicht mehr brauchbaren Hotelmöbeln. Und unter der Brause stand eine Chinesin. Der Schweizer erklärte mir, dass dies die Sekretärin sei, sie habe in ihrer Wohnung, wie die meisten Chinesen, kein Bad. Und oft auch kein warmes Wasser.

Frisch geduscht, mit einem Strahlen im Gesicht, begrüßte mich meine künftige Mitarbeiterin, Frau Shen, in einem besseren Englisch, als ich es sprach. Der zweiter Mitarbeiter, Herr Yin, traf wenig später mit dem Fahrrad ein. Ein junger aufgeschlossener Mann, voller Tatendrang und mit dem Willen, die Welt zu erobern, wie ich schon bald merkte.

Nun hatte ich vier Wochen Zeit, von meinem Vorgänger und meinen beiden Mitarbeitern zu lernen, wie »das China­geschäft« für eine deutsche Speditionsfirma in einer lokalen Repräsentanz so lief. Vieles war nicht neu für mich. Ich wusste, dass eine Repräsentanz kommerziell selbst nicht tätig werden durfte, sie agierte als Liaison-Vertretung, d.h. sie bahnte Verträge an. Unser Partner war das zentrale Büro der staatliche Spedition der VR China. Diese Institution war sehr darauf bedacht, dass wir keinerlei direkte Kontakte zu chinesischen Industriebetrieben aufnahmen, nicht einmal fürs Marketing. Natürlich durften wir auch nicht mit lokalen Niederlassungen der Speditionsorganisation kooperieren. Bei Verstößen, so hieß es warnend, würde die Repräsentanz geschlossen werden.

Die wöchentliche Arbeitszeit erstreckte sich über sechs Tage, aber meine zwei Mitarbeiter würden nur fünf Tage anwesend sein, da sie jeweils samstags politisch geschult würden, erklärten sie mir.

Das also war der Rahmen, in welchem ich mich künftig bewegen sollte.

Mein erster Besuch galt unserem Partner Sinotrans, der Gastgeber-Organisation: gesonderter Zugang zu Verhandlungsräumen, diese schlicht, ein Tisch, sechs Stühle. Auf dem Tisch chinesische Teetassen mit Untersetzer und Deckel, eine große Thermosflasche mit heißem Wasser.

»Nihao.« Ein älterer Herr und ein jüngerer sowie eine junge Dame mit wunderschönen langen schwarzen Haaren begrüßten mich. »Sie kommen aus der DDR, haben bei Deutrans gearbeitet?«

Ich nickte.

»Oh, wir kennen einen Herren, der war vor zwei Jahren hier. Er hat für den DDR-Außenhandel die Textilverladungen mit uns organisiert.«

»Ja, ich weiß, das war mein Direktor«, antwortete ich.

»Gut«, lächelte der Alte. »Dann sind wir auch Freunde. Alte Freunde: lăo péngyou.«

Ich wunderte mich. Das ging aber schnell und leicht, dachte ich erfreut …

Mein Vorgänger stellte später klar: Der ältere Herr sei der Parteisekretär gewesen, der spräche kaum Englisch. Das war mir nicht entgangen. Der jüngere sei so etwas wie ein Schriftführer und Frau Zhang die Fachfrau. Nach dem Treffen mit mir würden alle drei einen Bericht schreiben, vor allem da­rüber, wie ich aufgetreten sei. Da ich aus dem Osten komme, sozusagen aus dem gleichen Stall, also ein alter Freund sei, dürfte das höchst unproblematisch sein.

Ich nickte. Natürlich, bei Deutrans war es ähnlich, wir unterschieden auch zwischen SW und NSW, dem sozialistischen und dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Die Kollegen aus unserer Welt behandelten wir auch anders, das waren welche von uns. Die anderen waren die anderen.

Und genau das war der Vorteil, den sich mein neuer Chef mit mir eingekauft hatte: In seiner Vorstellung war ich einer »von denen«. Damit hatte er gegenüber den konkurrierenden Speditionsfirmen aus der BRD die Nase vorn.

Ich war folglich auch mit den Gepflogenheiten vertraut, die glichen den mir bekannten: An Treffen mit Vertretern aus westlichen Ländern nahmen stets zwei Personen teil, ­Geschenke anzunehmen war verboten, interne Informationen wurden nicht ausgeplaudert, danach wurde ein schriftlicher Bericht gefertigt.

Über den Schweizer wurde geschrieben, weshalb er meinte, mich darauf hinweisen zu müssen, dass auch über mich dreifach berichtet werden würde. Da irrte er. Ich war ein »alter Freund aus einem Bruderland«. Da waren solche Regeln verabschiedet. Ich grinste innerlich.

So gewann ich schnell wirkliche Freunde, mit denen ich Möglichkeiten der Erweiterung unserer Geschäftsbeziehungen und neue Transportvarianten erörtern konnte.

Zur Festigung der Beziehungen konnte ich selbst Einladungen zu Arbeitsessen aussprechen, die auch ohne Pro­bleme angenommen werden durften. Allerdings machte ich dabei einen Fehler. Ich überließ meinen Freunden von Sinotrans die Wahl des Menüs. Damals war für die meisten Chinesen ein Essen in einem Sterne-Hotel ein großes Erlebnis, deshalb bestellten sie immer das, was für sie etwas Besonderes war. Ich musste natürlich auch davon essen. Ihre Delikatesse waren Seegurken – gekocht, gedünstet, gebraten. Ich habe nach dieser Phase nie wieder diese fetten, Würmern nicht unähnlichen Seewalzen verzehrt.

Frau Shen und Herr Yin mussten jeden Samstag zur politischen Schulung. Auch das war mir vertraut. Wir kannten das FDJ-Studienjahr, als SED-Mitglieder das Parteilehrjahr, und die parteilosen Gewerkschaftsmitglieder besuchten die Schulen der sozialistischen Arbeit. Ich konnte also verstehen, womit sich meine beiden Mitarbeiter am Wochenende beschäftigten und half ihnen dabei, den Marxismus zu verstehen. Auch bei tagespolitischen Fragen konnte ich ihnen sachdienliche Hinweise geben. Gelernt war eben gelernt.

Ein wichtiges Thema für sie war der Untergang der DDR und die sich anbahnende Übernahme durch die Bundesrepublik, überhaupt: Warum musste der Sozialismus in Europa krachen gehen? Vor allem Herr Yin war daran interessiert. Er war, wie schon erwähnt, ein sehr ehrgeiziger und damit für diese Zeit sehr typischer Chinese. Er war begierig zu ­lernen und sprach ein perfektes Englisch mit US-amerikanischen Akzent, obwohl er das nur an der Universität gelernt hatte. Yin war offen für alle transporttechnischen und ökonomischen Fragen. Meine Fachbücher für Eisenbahntransporte und Seeschifffahrt arbeitete er abends, nach zehn bis zwölf Arbeitsstunden durch und löcherte mich anderntags mit tausenden Fragen. Ich war begeistert. So etwas hatte ich in meinem bisherigen Berufsleben noch nie erlebt und hier in China auch nicht erwartet. In den westdeutschen Niederlassungen hatte man mich gewarnt: Die Chinesen sind faul, sie brauchen den Druck und die Anleitung von uns Europäern. Von wegen.

Nach wenigen Wochen schon war Herr Yin ein wichtiger Partner für mich, der kreativ Wege fand, die bestehenden Limitierungen für Repräsentanzen legal zu umgehen.

Der Slogan »Baue eine auf das Lernen orientierte Gesellschaft«, der uns von roten Transparenten entgegensprang, hatte offenkundig gefruchtet, der Funke war übergesprungen. Das Lernen war zu einer Grundhaltung in China geworden. Stellte ich später neue Mitarbeiter ein, hörte ich fast immer: »Ich bin ein guter Lerner.«

Diese Einstellung teilten einfache Landarbeiter mit politischen Funktionären. Selbst die Führung hielt regelmäßig politische Schulungen ab, sie nannten das »Kollektives Lernen des Politbüros«. Niemals erklärte einer, er habe genug Wissen erworben und müsse nun nichts mehr lernen. Wer lernte, offenbarte nicht Unwissen, sondern demonstrierte, dass er seinen Horizont erweitern wollte.

Manche westliche Besucher Chinas wunderten sich, entrüsteten sich mitunter, weshalb die Kinder in der Schule hart rangenommen wurden. Die Zöglinge nahmen nicht nur am Unterricht ihrer Klasse teil, sondern besuchten auch Stunden in anderen Klassen. Ihre Eltern wollten, dass ihre Kinder mehr lernten als sie, weil Lernen direkt mit einem besseren Leben in der Zukunft verbunden sein würde. In Europa, zumindest in Deutschland, gehören Studierende aus Vietnam oder China meist zu den Besten ihrer Jahrgänge. Weil sie eine positive Einstellung zum Lernen haben.

Einen Fehler zu machen wird nicht als tragisch angesehen. Daraus kann gelernt werden. Trial und Error, Versuch und Fehler gehören zum Lernen. Das gilt für den Einzelnen wie für die ganze Gesellschaft. Ein Staat kann in der heutigen Welt nur erfolgreich bestehen, wenn die Regierung aus der sich ändernden Umwelt lernt und sich neu anpasst, schrieb Prof. Zhang Weiwei, einer der namhaften chinesischen Politikwissenschaftler, der an der Fudan-Universität in Shanghai lehrt. Das schien dieses Volk mehrheitlich verinnerlicht zu haben.

Die ersten Wochen in Peking waren für mich ein Wechselbad der Gefühle. So erschreckend meine Eindrücke am ersten Tag waren, so angenehm und positiv waren meine Begegnungen mit den Menschen, den Mitarbeitern und Geschäftspartnern, dem Personal im Hotel und den Leuten auf der Straße. Die Zeit verging wie im Fluge. So viele neue Eindrücke, Überraschungen, Fragen, neue Menschen, andere Menschen. Wie denken sie? Da ich vorher nicht viel über China wusste, war ich offen für alles. Ich akkumulierte Eindrücke und glaubte nach den ersten Wochen China zu kennen.

Während einer Bierrunde im Freundschaftshotel lachten alle meine Partner über meine Feststellung, darüber schreiben zu wollen. »Nach einem Monat glaubst du, ein Buch über China schreiben zu können«, sagte einer. »Nach einem Jahr weißt du, es reicht gerade für einen Artikel. Und nach vielen Jahren wird dir bewusst, dass du eigentlich gar nichts über China weißt.«

Nach 27 Jahren muss ich mir eingestehen: Der Mann hatte recht. Wir Nichtchinesen – ob wir nun Chinesisch sprechen oder nicht – schauen immer nur durch ein Fenster nach China hinein. Und auch jetzt, während ich schreibe, fürchte ich, an den Chinesen vorbeizuschreiben.

Pekings Straßennetz war 1990 noch nicht ausgebaut. Es gab allerdings auch keine Staus, da der Autoverkehr im Wesentlichen aus Dienstwagen und Fahrzeugen von Ausländern ­bestand. Dafür klingelten überall Fahrräder, deren Benutzer das Privileg freier Straßen nutzten. Auch ich hatte einen kleinen Zusammenstoß mit einem Radfahrer. Unweit unseres Hotels fuhr er vor mein Auto und ließ sich fallen. Gewiss war ich allein schuld, schließlich war ich Ausländer und fuhr Auto. Herrn Yin vermittelte, und schon bald sah der Radfahrer ein, dass sein Versuch gescheitert war. Er lachte verlegen, wir luden ihn in ein chinesisches Nudelrestaurant ein. Jahrelang ließ mich der Radfahrer grüßen, einmal lud er mich sogar zum Drachensteigen ein.

Meine Mitarbeiter, auch Besucher von chinesischen Firmen in unserem Büro, trugen nach meiner Beobachtung ziemlich viel Kleidung, insbesondere dicke Unterhosen und -hemden aus gestrickter Wolle. Schon nach kurzer Zeit entledigten sie sich sehr diskret ihrer Wäsche. Der Grund wurde mir schließlich bald bewusst. In ihren Wohnungen und in den meisten Geschäftsräumen war es sehr kühl. Das lag an den oft schlechten Heizungen. Im Sommer wunderte ich mich, dass die Mitarbeiter bis abends spät blieben. Der Grund, wie ich erfuhr, war die Klimaanlage, die Privatwohnungen besaßen keine. Außerdem war es nicht üblich, den Arbeitsplatz vor dem Chef zu verlassen. Wenn der Chef bis spät Überstunden machte, mussten es die Mitarbeiter auch. Dieses Prinzip gilt übrigens noch immer.

Es gab nur zwei Geschäfte in denen man Lebensmittel kaufen konnte, die für europäische Mägen verträglich waren – im Freundschaftshotel und dem Freundschafts-Store. (Einrichtungen dieser Art trugen alle den Zusatz »Freundschaft« – sie waren in den fünfziger Jahren entstanden, als einige Tausend sowjetische Spezialisten, eben: die Freunde, in China arbeiteten. Als diese das Land verlassen mussten und die Freundschaft endete, blieb die Bezeichnungen für diese Läden.) Die Versorgung mit Wurst, Käse, Butter und Brot, schwarz oder weiß, war eine gewaltige Herausforderung. Darum waren die wöchentlichen Besuche der Expats in einer der deutschsprachigen Botschaften sehr beliebt. »Expat« hießen früher die Emigranten, nun nannte man alle ausländischen Mitarbeiter von internationalen Firmen so. Anfang der neunziger Jahre gab es noch relativ wenige Expats in China, die meisten in Peking und Shanghai, auf dem Land kaum welche. Wir fielen natürlich auf und waren gefragte Fotoobjekte. Besonders gefragt waren blonde Frauen und blonde Kinder.

Einmal war ich mit meiner späteren chinesischen Ehefrau im offenen Wagen – dem damals verbreiteten Army-Peking-Jeep – auf der Insel Hainan unterwegs. Abseits der Hauptstraße gab es fast nur schmale, unbefestigte Wege, die die Dörfer verbanden. In einer der Siedlungen musste ich vor einer Gruppe spielender Kinder stoppen. Sie blickten auf, sahen mich und liefen schreiend davon. Meine Begleiterin klärte mich sehr verlegen auf: Die Kinder hatten vermutlich noch nie eine »Langnase« gesehen.

Ähnliches wiederholte sich einige Wochen später. Ich besuchte die Familie eines Mitarbeiters. Oma und Opa aus einem Dorf in Südchina waren da, seine Frau und ihre Tochter, keine drei Jahre alt. Als sie mich erblickte, brach sie in panikartige Schreikrämpfe aus. Erst nachdem ich den Raum verlassen hatte, beruhigte sich das Kind. Mein Mitarbeiter entschuldigte sich und erklärte es damit, dass ihre Tochter die meiste Zeit bei ihren Großeltern lebe, die ihr Dorf nunmehr zum ersten Mal verlassen hätten. Sie seien liebenswerte, aber ungebildete Menschen und Analphabeten und hätten gelegentlich der Tochter gedroht, dass sie der »weiße Teufel« hole, wenn sie nicht artig sei. Und nun war dieser durch die Tür gekommen …

Ich tröstete ihn mit dem Hinweis, dass in Deutschland jahrhundertelang Kindern mit dem »Schwarzen Mann« gedroht worden sei.

Ausländer riefen bei den Chinesen allerdings nicht nur Schrecken, sondern auch Zuneigung hervor. Sie galten gemeinhin als kultiviert und höflich, insbesondere die ­Chinesinnen schätzten ihr gutes Benehmen. Die Regierung tat dies auch, weil sie das allgemeine Kulturniveau des ­ganzen Volkes heben wollte; sie förderte die Anerkennung der Ausländer, weil sie auf deren positives Beispiel setzte. Das war mit Privilegien verbunden, die ich durchaus schätzte. Wollten Ausländer einen Tempel, ein Museum oder eine Behörde besuchen, an deren Eingang eine Schlange stand, wurden sie vorbei geleitet, sie mussten nicht warten. Ausländer wurden auch in Restaurants bevorzugt bedient.

In den ersten Jahren meines Aufenthaltes erfuhr ich nie eine unhöfliche Behandlung oder gar Diskriminierung. Im Gegenteil. Stoppte mich die Verkehrspolizei wegen eines Verstoßes, wurde zwar meine Fahrerlaubnis kontrolliert, doch man wünschte mir eine »Gute Fahrt« und beließ es bei einem Lächeln. Nur einmal musste ich mich dem chinesischen Verkehrserziehungsprogramm unterwerfen. Weil ich irrtümlich in einer Einbahnstraße in der falschen Richtung unterwegs gewesen war, wurde ich zu einer Strafe verdonnert: Ich musste mit einer roten Armbinde einem Polizisten assistieren und Fußgänger an der Kreuzung bei Rot stoppen. Da ich aber als verkehrsregelnde Langnase für Aufsehen und Heiterkeit sorgte, dauerte meine Verkehrserziehung nur wenige Minuten, dann durfte ich die Armbinde abstreifen.

In den folgenden Jahren änderte sich alles sehr rasch. Es kamen immer mehr Ausländer, und nicht alle waren sehr fein. Es setzte Gewöhnung auf beiden Seiten ein. Heute unterscheiden die Chinesen kaum noch. Aber rassistische Entgleisungen gibt es weit weniger als in anderen Ländern.

Überall, auch in China, dreht sich alles ums Geld

Wie auf Kuba, das hatte ich bei früheren Reisen erfahren, gab es in der Volksrepublik eine spezielle Währung. Damit wollte man den Devisenverkehr besser kontrollieren und die nationale Währung schützen. Mit den Foreign Exchange Certificates (FEC) bezahlte man als Ausländer alle Geschäftskosten einschließlich der Ausgaben für Lebensmittel in den speziellen Friendship Stores. Die Freundschaftsläden erinnerten mich an die Intershops in der DDR, in denen mit Forum-Schecks gezahlt worden war. In allen für Ausländer zugelassenen Hotels und Bankfilialen konnte man D-Mark und US-Dollar gegen FEC tauschen oder diese retournieren. Die Ausfuhr der FEC war nicht erlaubt, aber auch sinnlos, da diese Währung außerhalb Chinas de facto wertlos war.

Auf diese Weise hatte die Bank of China in der Tat eine komplette Übersicht über den Import von Devisen beim Reise- und Geschäftsverkehr.

Da man mit dem FEC die objektiv begrenzten Zug- und Flugtickets bevorzugt kaufen konnte, waren besonders vor den chinesischen Reisefeiertagen zum Neujahrsfest im Februar, am 1. Mai und 1. Oktober die FEC auch bei Chinesen gefragt. Teure Geschenke wie importierte Genussmittel, Luxusartikel und Kosmetika, die es nur in den Freundschaftsläden gab, trieben die Nachfrage nach FEC auch in die Höhe. Um jedoch den illegalen Handel zu unterbinden, war der Umtausch außerhalb der zugelassenen Hotels und Bankfilialen streng verboten und wurde geahndet, wenn es publik wurde.

Der normale, staatlich sanktionierte Kurs lag bei 1 zu 1,6, bei inoffiziellem Tausch auf der Straße bei 1 zu 4.

Ich ließ mich auf den illegalen Umtausch nicht ein, da ich als in China akkreditierter Geschäftsmann nicht in Konflikt mit dem Staat geraten wollte. Außerdem steckte noch die DDR in mir: Was untersagt war, unterließ man. Man beschiss nicht den Staat, den man nicht als Gegner, sondern als den eigenen betrachtete. Dem griff man nicht in die Tasche.

Die Bedeutung und den hohen Wert des FEC lernte ich bei einer Begebenheit sogar schätzen. Als privilegierter Ausländer verbrachte ich die Freizeit oft mit meinesgleichen in Erholungszentren der Fünf-Sterne-Hotels. Ich war darum Mitglied des Fitness-Clubs im Shangrila Hotel geworden. Mindestens drei Mal in der Woche besuchte ich den Club nach der Bürozeit, um für den nächsten Marathonlauf zu trainieren. Eines Abends fand ich auf der Zufahrt zum Hotel ein Bündel FEC-Scheine im Wert von zehntausend Yuan, das waren umgerechnet mehr als sechstausend Dollar – damals in China ein Vermögen. Ich lieferte die Scheine beim Hotelmanagement ab – und wurde mitleidig belächelt. Nicht von den Chinesen, sondern von den ausländischen Managern, die mich für töricht hielten, als sie davon hörten.

Ich reiste unmittelbar danach dienstlich für etwa eine Woche in die Mongolei, fuhr nach der Rückkehr nicht gleich ins Büro, sondern suchte ein Restaurant auf, in dem man europäisch speisen konnte. Nach dem fetten mongolischen Hammelfleisch in unterschiedlichen Zuständen wollte ich mich mit einem guten Steak belohnen. Darum traf ich um einige Stunden später als angekündigt im Büro ein. Ich wurde dort aufgeregt von meinen Mitarbeitern begrüßt, seit Stunden werde ich von einem General und dessen Gefolge erwartet, sagten sie. Ich erschrak. Vor Jahresfrist war ich an der chinesisch-russischen Grenze beim Joggen verhaftet worden – kam da jetzt was nach?

Entschlossen betrat ich mit meiner Sekretärin mein Büro. Ein General mit Uniform und Orden saß in meinem Stuhl. Er sprang auf, umarmte mich, schüttelte meine Hand, redete und redete. Ich verstand nichts. Meine Sekretärin übersetzte: Er danke dafür, dass ich ihm, dem Militärkommandeur der Provinz Ningxia, den Kopf und den Dienstgrad gerettet habe. Das Ausländergeld, das ich gefunden und an der Rezeption abgegeben hatte, war ihm – vermutlich beim Aussteigen aus dem Auto – aus seiner Tasche gerutscht. Es war bestimmt zur Finanzierung eines Empfangs für eine ausländische Militärdelegation.

Der überglückliche General überreichte mir eine Messingtafel, »Dank dem edlen Goldfinder, der für Andere Opfer bringt«. Ich sei ein ausländischer Léi Fēng. (Das war ein selbstloser, bescheidener Soldat, der mit 21 Jahren von einem Telegrafenmast erschlagen worden war, als er einen LKW einwies. Als vorbildlicher Soldat wurde er postum zum Vorbild erklärt und 1963 eine landesweite Kampagne nach ihm benannt: »Vom Genossen Léi Fēng lernen.«)

Ich könne, wenn ich Hilfe benötige, immer auf ihn und die Volksbefreiungsarmee zählen, versicherte der General, als er sich hochgestimmt von mir verabschiedete.

Diese Begebenheit trug dazu bei, mich etwas mehr mit den Fragen der Währungswirtschaft Chinas zu beschäftigen.

Das koloniale Verhalten der Westmächte im 19. und 20. Jahrhundert hatte nachhaltige Spuren bei den Chinesen hinterlassen, darunter eben das verständliche Bemühen, nach dem von Deng 1978 eingeleiteten Kurswechsel die vollständige Hoheit über die eigene Währung zu erlangen.

In den ersten Jahren der Volksrepublik schien man die Abhängigkeit von fremden Währungen noch zu unterschätzen, es fehlten auch die Erfahrungen im Außenhandel. Man importierte zu viele Waren, was eine galoppierende Inflation verursachte. Erst mit den Reformen Ende der siebziger Jahre wurde die eigene Währung unter Kontrolle genommen und durch einen künstlich niedrig gehaltenen festen Wechselkurs stabilisiert. Gleichzeitig wurde die Ein- und Ausfuhr der Devisen mit der Einführung des FEC im Jahr 1980 reguliert.