Feindin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 1 - Andrea Storm - E-Book

Feindin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 1 E-Book

Andrea Storm

0,0

Beschreibung

Angelsachsen im 9. Jahrhundert Bei einem brutalen Überfall der dänischen Wikinger auf ein angelsächsisches Dorf wird Thyra Danebod gefangen genommen. Voller Hass auf ihre Entführer lehnt Thyra sich gegen die brutalen und mordenden Nordmänner auf. Doch ihrem neuen Leben auf dem Wasser und dem Dänenhäuptling Gorm kann sie nicht entkommen. Thyra beginnt, die Sprache, die fremden Gebräuche und die Lebensart des Seefahrervolks zu verstehen. Auch Gorm kann sie immer mehr abgewinnen. Doch kann die Liebe einer Gefangenen zu einem groben Berserker bestehen? Auf der abenteuerlichen Reise im Drachenboot lernt sie die Fremde kennen, und während die Nordmänner unerbittlich um Macht, Reichtum und Ehre streiten, kämpft Thyra für ihre Freiheit, Liebe und schließlich ihre eigene Identität. Gehört sie an die Seite ihrer Entführer oder an den Hof des angelsächsischen Königs Alfred des Großen? Ein packender und authentischer Roman, der die altnordische Sprache der Wikinger aufleben lässt und sich endlich den weniger beachteten Wikingerfrauen widmet. Gorm und Thyra begründen als erster König und erste, bis heute verehrte Königin den Aufstieg des dänischen Königreichs: die Jelling-Dynastie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 588

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Weißland 892 – Oxfordshire an der Themse

Dieser Tag ist der, vor dem sich jeder fürchtet und doch insgeheim den Wunsch ausspricht, er möge geschehen.

Es ist der letzte Tag vom alten und der erste Tag des neuen Lebens.

»Das wird Ärger geben«, murmelte Thyra und genoss den Duft der Narzissen. Sie lächelte versonnen und pustete sich eine Biene vom Gesicht.

»Verschwinde«, fauchte sie, kratzte die harte Erde energisch mit der Harke auf und zog die Unkräuter aus dem Blumenbeet. Sehnsuchtsvoll blickte sie von der ungeliebten Arbeit auf und sah in die blühenden Kronen der Obstbäume.

Die dunkle Erde trocknete unter den Fingernägeln, während die Sonne auf der Haut brannte. Den breitkrempigen Strohhut hatte sie am Anfang der Gartenarbeit mit einem gezielten Wurf in die Zweige des Apfelbaumes geworfen. Da hing er nun, zwischen den ersten zarten rosa-weißen Blüten, umschwärmt von Bienen. Thyra streckte das Gesicht der Sonne entgegen, genoss die Wärme und das Licht nach dem langen, kalten Winter in Wessex.

»Thyra!«

Der Schrei ließ ihren Körper zusammenzucken. Unwillkürlich biss sie die Zähne zusammen.

»Thyra!«

Wieder diese durchdringende Stimme.

Bedächtig erhob Thyra sich, denn sie wollte vor dieser verhassten Frau nicht knien. Nur das nicht!

»Wo ist der Hut?«, giftete die näherkommende dürre Person.

Thyra seufzte, rollte mit ihren Augen und deutete mit einer nachlässigen Handbewegung über die Schulter in die Blütenkrone des Apfelbaumes. Sie ahnte die kommende niederprasselnde Wortlawine.

»Thyra von Wessex!«, keifte die Hofmeisterin, doch dann folgte – Stille.

Kein Ärger. Kein Wortgewitter. Diese Frau war unberechenbar. Thyra richtete alle Sinne auf die Frau mit der schrillen Stimme. Gebannt stand sie im Blütenregen an den Stamm gelehnt und wartete.

Nichts!

Totenstille.

Argwöhnisch beobachtete Thyra Ethelgiva durch die Baumreihen des Obstbaumgartens. Dort stand sie. Still und bewegungslos.

Die Hofmeisterin horchte. Was Thyra auffiel, war die Blässe ihres sonst so rosigen Gesichtes. Kaum hob sich der flache Brustkorb. Nur schwach atmete Ethelgiva den Frühlingsduft ein.

»Bienen, nichts als Bienengesumm.« Thyra zog verärgert eine Grimasse, schlug schwarze Sandbrocken aus der Schürze und schüttelte den grob gewebten Leinenrock, den sie bei der Gartenarbeit trug.

»Diese dumme, dürre Frau. Dort steht sie. Die Angst vor einem Geräusch, das aus der Ferne kommt, lähmt sie.« Missmutig blinzelte Thyra hinauf zu ihrem goldschimmernden Strohhut. Er baumelte zwischen den zierlichen Blüten im Geäst.

»Unerreichbar!« Berechnend warf Thyra einen Blick auf Ethelgiva. Diese stand immer noch wie angewurzelt. Ein kraftvoller Wurf mit der kurzstieligen Harke und der wertvolle Strohhut segelte voller Anmut zur Erde. Zusammen mit unzähligen Blütenblättern.

Entschlossen packte Thyra den Sonnenhut, presste ihn auf ihr zerzaustes Haar und schritt zielstrebig zur Hofmeisterin. Trotzig stellte sie sich neben Ethelgiva und umfasste hinter ihrem Rücken das Handgelenk.

So stand sie, wartete, seufzte und langweilte sich.

Kein Vogel flog. Kein Wind kühlte. Nur azurblauer Himmel und Sonne.

»Was ist dort?«, schnaufte Thyra gereizt.

»Still!«

»Ich höre ni…«

Ethelgivas Hand schnellte hoch und beendete abrupt die Frage.

Jetzt hörte es auch Thyra.

»Was ist das?« Abenteuerlustig strahlten ihre Augen.

»Schwerter«, murmelte Ethelgiva leise, fast fragend.

Ein sanfter Wind trug ihnen den hellen Klang von schlagendem Metall und das Sirren von Klingen entgegen.

»Schwerter! Endlich eine Abwechslung von diesem täglichen Einerlei.«

Doch dann! Dieser grässliche Schrei. Angstvoll und schmerzverzerrt.

Ein fremdländischer Ruf. Männerstimmen.

Jetzt horchte auch Thyra mit klopfendem Herzen.

Ein rauer Ruf. Eine kurze harte Antwort.

Fragend blickte Thyra zur Hofmeisterin. Ihr frostiger Blick erstickte die Worte, bevor sie die Kehle verließen. Das Entsetzen in ihren Augen erzählte Grausames! Etwas Erlebtes, das Ethelgiva an Schreckliches erinnerte!

Abgehackte Schreie. Männergebrüll. Ein Vogelschwarm flatterte auf. Eine Staubwolke verschleierte den schmalen Sandweg zum Haus. Raschelnde Blätter im Wind.

Thyras Nackenhaare stellten sich warnend auf.

Die Hofmeisterin stand starr. War nicht ansprechbar.

»Kommt!«

Energisch packte Thyra die dürre Frau. Zerrte sie zum Gartentor. Die Röcke flogen und sie erreichten den Eingang des steinernen Wirtschaftsgebäudes. Allein, dass Ethelgiva dieses mit sich geschehen ließ, versetzte Thyra in allerhöchste Alarmbereitschaft.

Mit ihrem Körper lehnte sie sich gegen die schwere Eichenholztür. Diese gab knarrend nach. Thyra blickte gehetzt durch den Raum.

»Niemand zu sehen. Nicht verwunderlich.« Murmelnd ließ sie ihren Blick über die Gartengeräte, Fässer, Körbe und Kleidung gleiten. Eilig wollte Thyra weiter. Doch plötzlich kam Leben in die starre Gestalt.

»Lasst mich augenblicklich los!« Ethelgiva riss sich frei.

Grinsend sah Thyra in das herrische Gesicht.

»Na endlich, alles beim Alten.«

Die Hofmeisterin schüttelte sich voller Abscheu und strich mit der Hand angewidert über die Stelle, an der dieser Adelsabkömmling sie berührt hatte. »Ungezogenes Balg«, empörte sie sich und gewann schlagartig ihre Fassung zurück. »Ihr dürft das Lächeln aus dem Gesicht entfernen.«

Den Rücken gerade und die mickrige Brust herausgestreckt, schritt Ethelgiva durch die nächste Tür in den Nebenraum. Hier lagerten stinkende Essensreste in der Drangtonne und verschämt in der Ecke stand der Notdurfteimer. Der durfte aber nur im Winter benutzt werden. Und nur nachts, wenn der eisige Nordwind den Gestank des vom Haus entfernten Aborthäuschens fortwehte.

Ein aufsehenerregender Luxus.

Thyra folgte in einigem Abstand. Sie fanden Solvor, die Magd. Sie wusch das Geschirr im Holzbottich und der Duft von frisch gebackenem Brot waberte durch die Luft. Die Magd buk die körnigen Brote im steinernen Ofen unter den Linden am Flussufer der Themse. Erstaunt blickte die dicke Frau von ihrer Arbeit auf, kümmerte sich aber nicht weiter um die Frauen. Sie kannte die Launen der Hofmeisterin genau und stellte keine Fragen.

Thyra lächelte Solvor verwegen an, während sie vorüber schritten. Griff mit flinken Fingern in den Brotkorb und brach einen heißen Kanten vom köstlichen Laib. Die rundliche Magd mit den kräftig roten Händen zwinkerte ihr heimlich zu.

Geschickt verschwand die Beute in Thyras Schürzentasche. Der Duft des Brotes, vermengt mit dem Aroma der Erde, haftete jetzt an ihren Händen. Sie freute sich über ihre Beute und folgte der Hofmeisterin.

»Beorhtric«, befahl Ethelgiva herrisch. Keine Antwort. »Beorhtric!« Abermals zitierte sie den Bewirtschafter des Hauses herbei. Doch der Mann schien verschwunden. Eilig rauschte sie durch die offene Eingangstür hinaus und stieß fast mit dem dicken Knecht zusammen. Ethelgiva schüttelte sich unbewusst. Beinahe hätte sie einen Mann berührt und die warme, verschwitzte Haut gespürt. Ein Schauder des Ekels lief über ihren verdorrten Körper.

»Beorhtric, was sind das für Geräusche?«, fragte sie mit eiserner Stimme.

Der ältere Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und antwortete lapidar: »Kampfgeräusche. Eindeutig Kampfgeräusche, Todesschreie und das Klingen von Schwertern.«

Bedächtig drehte sich der dicke Mann mit den roten Ohren zur Hofmeisterin.

»Barbaren kämpfen am Fluss.«

»Sie vergießen Blut am Wasser.« Ethelgiva erstickte fast an ihren Worten und Beorhtric hörte die Panik in ihrer Stimme deutlich heraus. Er mochte diese Frau in seinem Haus nicht und konnte die Schadenfreude in seinen Augen nicht unterdrücken, als er brummte: »Wikinger. Vermute ich.«

Er wand sich der Geräuschquelle zu.

»Wikinger!«, kreischte Ethelgiva und fing am gesamten Körper an zu zittern. Thyra sah es und fühlte fast Mitleid.

»Wir müssen weg!«, ordnete Ethelgiva bebend an. »Sofort!« Sie packte Thyra.

»Beorhtric. Hole Solvor. Wir müssen verschwinden«, befahl Ethelgiva, was ihr von Thyra einige Bewunderung entgegenbrachte. Die Angst steigerte sich in Panik. Dennoch behielt ihr Verstand die Oberhand und verlor selbst jetzt nicht seine Souveränität. Ethelgiva wartete nicht auf die Alten, sondern rannte ohne zu zögern fort vom Fluss. So schnell sie konnte, weg vom Kampfgeschehen.

»Widerliches Weib«, knurrte Beorhtric und trottete seelenruhig davon.

Der Staub waberte über den Weg und zeigte deutlich den Weg der flüchtenden Frauen. Ethelgiva schnaufte und ihr Gesicht wurde dunkelrot.

»Wir können uns doch ins hohe, trockene Gras legen«, Schweiß perlte auf Thyras Stirn, »und uns dort verstecken.«

»Vor den Wikingern? Diesen Mördern? Im Gras verstecken!« Ethelgiva lachte irre. »Nie!« Schnaufend beugte sie ihren Oberkörper vor. »Diese Berserker finden uns und bringen uns um. Der Weg bringt uns in Windeseile ins Landesinnere«, keuchte sie atemlos. »Wir müssen – weg. Schnell – weg – von diesen Barbaren. Thyra!«, kreischte sie. »Beeilt Euch! Ihr habt keine Ahnung! Das sind Mörder. Blutrünstige Berserker! Wikinger!«

Beim Wort Wikinger würgte Ethelgiva haltlos.

»Lauft! Lauft! Sonst werden sie uns töten und vorher …!« Sie starrte zum Fluss. »Oh lieber Gott, beschütze uns!« Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt und Thyra ahnte ihre Gedanken, denn auf der blassen, faltenreichen Haut erkannte sie jede brutale Einzelheit aus ihrer Vergangenheit.

Ethelgiva hatte recht mit den grauenvollen Geschichten vom Kampf der Wikinger.

Dass die Berserker den Menschen, egal welchen Alters, die Leiber aufschnitten, die Kehlen durchtrennten und die einzelnen Gliedmaßen der Getöteten zu Hügeln aufschichteten. Arm auf Arm, Bein auf Bein, Schädel auf Schädel!

Thyras Schritte verlangsamten sich. Ihre untrainierten Lungen keuchten. Sie erkannte Solvor und Beorhtric. Weit zurück – in einer Staubwolke.

»Beeilt euch!«, brüllte Thyra den beiden Alten durch den Staub zu, die Hände zu einem Trichter vor ihre schweißbedeckten Lippen geformt. Hustend beugte sie sich vornüber, während die Sandkörner ihre Kehle trockneten. Als sie sich aufrichtete, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen.

Hinter den beiden Alten tauchten sie auf.

Groß. Barbarisch. Die blutbespritzten Gesichter von langen, zotteligen Bärten verdeckt. Bärte, zu Zöpfen geflochten. Das Haar abstehend. Wild. Ungepflegt.

Vermengt mit dem rot glänzendem Saft getöteter Angelsachsen. Fast nackt, nur Blut und Erde auf den schweißglänzenden Körpern. In den Pranken hielten sie Eisenschwerter. Sie glänzten im Licht der Sonne. Thyra würgte und ahnte, in welche Leiber sie die scharfen Klingen eintauchen würden.

Starr vor Entsetzen konnte sie ihre Augen nicht von den Kriegern wenden. Auf den Köpfen trugen sie lederne Kappen. Die Brust verteidigten sie mit Lederwesten. Thyra wollte gerade ihre Hand schützend über ihre Augen heben, um besser sehen zu können, als ihr Ethelgiva eine schallende Ohrfeige gab.

»Hört mir endlich zu!«, brüllte sie Thyra ins Ohr. »Wenn Ihr nicht von allen Barbaren vergewaltigt und danach grausam hingerichtet werden wollt – dann lauft! Lauft!«

Ohne weiter nachzudenken, lief Thyra, so schnell es die Röcke erlaubten, den Pfad entlang.

Sie stürmte davon. Sie sah sich nicht um! Thyra nahm irrwitzigerweise an, den schnaufenden, warmen Atem der Hofmeisterin im Genick zu spüren.

Thyra rannte, rannte, rannte.

Hörte die Todesschreie von Solvor und Beorhtric. Wollte stehen bleiben. Ihnen zu Hilfe eilen. Doch der treibende Atem in ihrem Nacken brannte. Der Staub klebte trocken im Mund und mit pfeifenden Tönen blieb sie endlich still stehen. Das Seitenstechen im Körper zwang quälend zur Pause.

»Ich kann nicht mehr. Bitte. Ethelgiva. Lasst uns etwas verschnaufen.« Thyra beugte sich weit vornüber, um den Stichen unter den Rippen aus dem Wege zu gehen. Von dem Lauf zitterten die Knie. Vor ihren Augen tanzten wirre bunte Punkte.

»Ethelgiva?«

Keine Antwort.

»Ethelgiva?«

Ihre Angst verstärkte sich, als die Hofmeisterin nicht antwortete. Langsam richtete sie sich auf und blickte sich um. Ihre Kehle weigerte sich, weiter den notwendigen Sauerstoff in die stechenden Lungen zu pumpen. Ethelgiva war nicht da! Zurückgeblieben im Staub auf dem Weg.

»Wo ist sie?«

Das gleißende Sonnenlicht blendete. Thyra hob die Hand zum Schutz und versuchte, durch die aufgewirbelte Sandwolke die Menschen darin zu entdecken. Sie war noch nicht so weit gelaufen, wie sie gehofft hatte.

Schreie. Nichts als schmerzverzerrte Schreie – und Ethelgiva, Solvor und Beorhtric waren die Opfer dieser blutrünstigen, grausamen, mordenden Barbaren!

Weitab blökte eine Kuh. Vögel zwitscherten vergnügt. Eine Taube gurrte lockend und tanzte verliebt auf dem Ast einer Buche. Der Wind strich über ihre verschwitzte Haut und kühlte angenehm.

Doch Thyra hatte nur Augen für die Eisenschwerter, die sich in die lebenden Leiber der Menschen bohrten, die ihr die Familie ersetzt hatten.

Sie sah, wie glänzendes, rotes Blut von den Klingen auf die noch zuckenden Körper und in den trockenen Staub auf dem Weg tropfte. Erkannte aus der Distanz die Todesfratzen. Sie sah die gefletschten Zähne und die Schwerter der Wikingerbarbaren in der Sonne blitzen.

Thyra schluckte. Einer dieser Männer hob seinen Blick. Starrte sie an. Todbringend, gierig – lüstern.

Das Haar stand dem grobschlächtigen Krieger vom Schädel ab und Thyra sah, wie er mit der schimmernden Zunge über seine Lippen fuhr!

Der Wikinger hob seinen Kopf und wischte mit dem Handrücken seiner Schwerthand den Schweiß von der Stirn. Musterte erregt die in der absinkenden Staubwolke stehende Frau.

»Es lohnt sich nicht für dich, fortzulaufen. Bleib stehen, Weib. Es wird dir gefallen«, gierte der Berserker lachend. Das war ein Versprechen an diese Angeln-Frau. Diese eine wollte er besteigen.

‚Ein perfekter Tag für die Schenkel dieser Frau!‘

Der Tod, die Schreie. Geistesabwesend fuhr er mit dem Finger durch das frische Blut der Getöteten, welches an seiner Schwertklinge klebte.

‚Der beißende Geruch von Angst, Schweiß, Blut. Danach ein Weib für meinen Schwanz.‘

Sofort schwoll sein Glied an und ohne es zu merken, griff er mit seiner linken Hand zum Geschlecht und rieb es.

Thyra folgte mit den Augen den Bewegungen des Barbaren und erkannte schockiert seine Absicht.

»Du willst mich besteigen.« Ihr stockte der Atem.

Nicht einen Augenblick zögerte sie mehr! Sie hatte alles gesehen! Den Tod von Ethelgiva. Solvors abgetrennte Brüste. Den offenen, blutglänzenden Leib von Beorhtric. Nie würde Thyra den Anblick vergessen, wie genüsslich langsam der Wikingerkrieger das bluttriefende Schwert aus den warmen Körpern zog.

Sie rannte wie nie zuvor in ihrem Leben. Staub wirbelte auf. Die Zweige der Büsche am Wegesrand peitschten Thyra in das Gesicht und stachelten sie zum stürmischen Lauf an. Sie spürte den Wind. Der Schweiß brannte in den Augen. Doch der Wald stand weit entfernt. Steine bohrten sich in die Fußsohlen. Sie hörte das Brüllen des Barbaren. Thyra stolperte. Keuchte. Seitenstiche quälten.

»Angeln-Frau.«

Diese zimperlichen Weiber! Sollten endlich einen richtigen Mann in sich spüren!

Laut brüllte der Mörder: »Landmanna baestr, lids forungi, ek veit einn, ek sar hangistaz sina!«1 Blitzschnell setzte er ihr nach.

Verschwommen sah sie die grüne Wand des Waldes. Sie rang nach Luft. Würgte und rannte. Ihre Beine flogen über die Erde. Die Röcke zerrten an den Waden. Thyra floh vor dem Jäger!

Sie sah sich nicht um. Wusste, wenn dieser Wilde sie packte, war sie verloren. Sie hörte sein wütendes Gebrüll. Hörte die mörderische Stimme.

»Schneller«, feuerte sie sich an, »bald, bald erreiche ich den Wald. Bald!«

»Grroaahh!«

Thyra erlaubte es sich nicht, sich umzusehen. Sie sah nur eine grüne, verschwommene Farbe.

»Grroaahh!«

Panik schnürte den Magen zu. Ihr klarer Verstand – vom Schlachtruf vernichtet. Endlich streiften die Zweige der Büsche am Waldrand ihre Haut. Versperrten den Weg. Schnaufend und nach Atemluft ringend, blieb sie kurz stehen. Sie sah nichts mehr!

Sie benötigte Augenblicke. Augenblicke, die sie nicht besaß!

Thyra warf einen Blick zurück! Da stand er! Ein Raubtier mit wehenden Haaren und blutverschmiertem Schwert. Warum war der Koloss so schnell?

Sie schluckte gehetzt ihre aufsteigende Panik herunter, durchbrach das Unterholz. Die trockenen Zweige knackten. Der Eichelhäher warnte. Thyra rannte – fiel.

»Verdammte Röcke.« Ihre erstickte Stimme verriet Angst. Mit zitternden Fingern nestelte sie an den Bändern der Röcke. Dann – abermals dieser Ruf.

»Grroaahh. Ek sar hangistaz sina!«2

Er war nah! Viel zu nah!

»Keine Zeit für Röcke!« Fieberhaft sah sie sich um. Ihre Augen gewöhnten sich ans Dämmerlicht. Sie brauchte nur kurz. Sie kannte den Wald.

»Zum Dachsbau.« Nervös ging ihr Blick durch die Büsche. »Wo ist er?«

Geschickt sprang sie über pilzüberwucherte Baumstämme, bahnte sich einen Weg durch mannshohen Adlerfarn, zerriss ihre Röcke an den Dornenbüschen der Brombeere. Ein Kaninchenloch stoppte die Flucht. Mit ersticktem Schrei stürzte Thyra. Geräuschlos lag sie auf den trockenen Blättern, krallte die Hände in den Waldboden. Lauschte keuchend.

Thyra hörte ihn nicht. Sie roch ihn!

So nah war er!

Quälend langsam, kaum hörbar griff sie mit den Händen das verdorrte Laub, legte es auf ihren Körper. Doch die Unterseite der nassen Blätter glänzte dunkler.

‚Wohin?‘

Es war zu spät! Sein Gestank kam immer näher. Sie roch seinen Schweiß. Er trug den Eisengeruch des Blutes und die Erinnerung daran. Thyra presste die Augen zusammen. Sie lag nur zur Hälfte unter dem feuchten Blattwerk. Da trat er wenige Schritte neben sie, seinen Blick suchend über den Waldboden gleitend.

Thyra drückte sich flach in die Erde. Der Farn legte die filigranen Wedel mit seinen vom Wind wiegenden Schatten schützend über ihren Körper. Der Wikinger war keine Körperlänge entfernt.

Sie atmete nicht. Ihre Beine zitterten vom Lauf und Panik verbrüderte sich mit Angst.

»Ek drepa sina!«,3 knurrte die bösartige Stimme des Mörders. Suchend schlich er umher.

Thyra atmete nicht.

Er ging vorbei! Sein Gestank hing in der Luft. Zögernd schob sie den Blätterhaufen fort. Dort stand er! Deutlich sah sie den Schweiß auf seinem Rücken. Das wirre Haar fiel über die Schultern. Am Ledergurt steckte das blutverschmierte Schwert.

In gebückter Haltung schlich sie in entgegengesetzter Richtung fort. Sie hörte seine grässliche Stimme und konnte ihren Beinen nicht befehlen, in gemäßigtem Tempo zu bleiben. Zuerst lief sie stockend schneller. Doch dann rannte sie wie nie zuvor. Das Rascheln der Blätter war ein Lockruf in den Ohren des Kriegers.

»Grroaahh!«

Der Wikinger entdeckte Thyra. Sein Schlachtruf war fürchterlich.

»Der Dachsbau! Ich muss dahin! Wo ist er? Dieser verdammte Kriegsschrei. Er vertreibt meinen Verstand!«

Im Lauf schürzte sie die Röcke. Ihre Füße trommelten über den Waldboden, während die Tiere flohen. Doch es war nicht die Flucht der Waldbewohner, die das Knacken der trockenen Äste und Zweige hervorrief. Der Wikinger brach sich todsicher seinen Weg.

Endlich sah sie die Löcher des Baues, den die Dächsin für die Welpen gegraben hatte. Ohne zu zögern, warf Thyra sich auf die Erde und zwängte sich mit den Füßen voran in die schmale Öffnung. Steine und Wurzeln rissen blutige Wunden. Sie merkte es nicht. Der Gartenrock schob sich bauschig am Körper hinauf und entwickelte auf ihren Hüften eine unförmige Wulst. Thyra wimmerte.

Immer tiefer drückte sie sich in den Dachsbau, grub ihre Handballen in den Waldboden, schob die Erde zurück. Mit den Beinen war sie schon im Bau. Sie steckte fest. Ihre Brüste bildeten zusammen mit der Schulter ein unüberwindbares Hindernis in dem kleinen, engen Loch. Thyra knirschte mit den Zähnen, drückte die Hände gegen die Erde. Sie wollte tiefer in die dunkle Bodenlosigkeit des Dachsbaues verschwinden. Ihr hochgeschobener Rock gab endlich seinen Widerstand auf und mit einem Ruck glitt Thyra nach unten, hinab in die Höhle.

»Nur noch die Schultern und der Kopf. Dann bin ich in Sicherheit!« Thyra stöhnte leise. Hörte nicht seine schleichenden Schritte. Roch nicht die Gefahr, die über ihr lauerte. Sah die Fratze des Grauens nicht.

Mit einem wutschnaubenden Grinsen schnappte der Wikinger mit seiner vom Kampf verschmierten Hand zu.

»Ek sar hangistaz sina«, grinste er zornig, packte die Frau am Genick und zog den Kopf an den Haaren in die Höhe.

»Ek sar hangistaz sina.«

Gierig presste der Wikinger seine Lippen auf den Mund der Gefangenen.

Er stand über Thyra gebeugt. Salziger, brauner Schweiß lief seine Kehle herunter. Tropfte auf Thyras Haut.

Sie atmete nicht.

Ihr anregender Duft nach Angst und Erde berauschte die Sinne des Wikingers. Eine würzige Mischung. Genau, wie er es mochte. Erstarrt blickte Thyra dem Bärtigen in das lüsterne Gesicht.

Grausam packte er zu und zog die Geisel an den Haaren aus dem Dachsbau.

Sie schrie! Schlug mit den Armen! Lässig drückte er seine Beute auf die Knie. Lachte rau. Exakt das, was er nach einem blutigen Gemetzel brauchte. Ein wehrhaftes Weib für seinen Schwanz. Er wollte sie gleich! Hier! Auf dem Waldboden! Die Frau schrie. Er lachte. Rieb lüstern seinen steifen Penis.

Thyra sah mit Entsetzen, dass er an Umfang gewann. »Ich beiße ihn dir ab!«, fauchte sie. »Wage es und ich fresse deinen Schwanz zum Frühstück.« Ihre Augen funkelten. »Ahhh!« Sie griff sich an den Kopf.

Grob zog er Thyra an den Haaren auf die Füße, presste ihr einen feuchten, lüsternen Kuss auf die Lippen. Sie schmeckte sein Blut.

Der Berserker war unersättlich. Lachend und voller Zorn und Stolz betrachtete er sein Opfer.

»Wenn du mich berührst, wird mein Onkel, der König, dir den Kopf abschlagen!«

»Ek hangistaz«, grunzte er und rieb mit der blutigen Hand seinen steifen Schwanz.

Verächtlich blickte Thyra ihn an. Doch lachend stieß er die Frau mit einem Schlag zu Boden und kniete sich auf sein Weib. Umständlich nestelte er an der Hose und zeigte sein prächtiges Glied. Entsetzt riss Thyra die Augen auf. Roch den strengen Moschusduft. Ihre Lippen zitterten. Der Wikinger lachte erfreut, sah ihr blasses Gesicht und warf die Hose komplett fort. Sofort fummelte er an ihren Röcken. Schob sie hoch.

Das war zu viel!

»Verschwinde! Runter von mir!« Sie buckelte und drehte sich unter seinem Körper hervor. Richtete ihren Oberkörper auf. Wollte weg.

Der Wikinger lachte dröhnend. Was für ein Prachtweib!

Die Reaktion der Angeln-Frau stachelte ihn an.

Sehr sogar.

Kaltherzig starrte Thyra ihm in die Augen. Blickte kurz auf seine Mannespracht und packte unbarmherzig mit einer Hand seinen steifen Penis, krümmte diesen am Schaft heftig nach unten und schlug mit der anderen zu. Sein steifes Glied knickte brutal – mit einem heftigen Ruck – um!

Das prachtvolle Glied verlor seinen Stand nach dieser bestialischen Biegung. Der Schwellkörper riss im Inneren und das monströse Brüllen des Wikingers erfüllte das Blätterdach des Waldes, verstärkt durch den peitschenden Knall.

Thyra hatte seinen Penis gebrochen und sah mit einem zufriedenen Grinsen in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Schlapp hing sein vorher so stolz aufragender Schwanz am Bein herab. Hellrotes Blut tropfte aus dem winzigen Loch der Eichel auf das tote Laub.

Bedächtig hob Thyra ihren Blick. Und obwohl ihre Beine noch unter ihm lagen, sah sie ihn hochmütig und drohend an. Ganz langsam zog über das Gesicht des Mannes eine fürchterliche, unmenschliche Maske.

Es begann mit einem Zucken am Mundwinkel, zog hinauf zum mörderischen Blick der Augen. Thyra sah es und schlagartig wurde ihr klar: Sie hatte seine Männlichkeit zerstört. Den Krieger kastriert! Schlapp baumelte sein faltiges Glied neben den Hoden am Bein herunter. Ein blauschwarzer Bluterguss leuchtete auf und wuchs dort, wo das Gewebe peitschend zerriss. Der Riss im Penis schwoll beulenartig an.

Es sollte das letzte Mal sein, dass er anschwoll!

Er würde nie wieder einer Frau die Beine spreizen und seinen Schwanz in sie rammen.

Sie sah den Schlag nicht. Die Wucht schleuderte ihren Kopf zur Erde. Das Ohr pochte. Der Berserker trommelte mit den Fäusten auf ihren Schädel, packte ihr Hemd und zerriss es mit einem Ruck. Der Stoff klaffte auseinander und die filigrane, durchscheinende Hemdspitze zeigte schimmernd ihre Brüste.

Halbnackt lag Thyra vor ihm im Dreck. Unbarmherzig lächelte er, legte die Hände zart streichelnd auf ihre prallen Rundungen. Liebkoste mit den Daumen ihre Brustwarzen.

Thyra keuchte entsetzt.

Dann drückte er gnadenlos zu.

»Ek hangistaz, ek drepa sina.«4

Sie funkelte ihn an. »Ich bin nicht dein Weib! Ich werde dir die Augen ausstechen und dann …«, Thyra knirschte vor Schmerz mit den Zähnen, »… bist du – ein blinder Kastrat!«

Der Wikinger drückte zu. Vor Schmerz wölbte Thyra den Rücken. Krallte die Finger in den Waldboden. Grub panisch in der Erde. Suchte nach einem Stück Holz, einem Stein, nach irgendetwas. Trommelte mit den Füßen.

»Ek drepa sina.«

Mordlüstern löste er seine Hand von einer Brust und legte diese fast schmeichelnd um ihren Hals. Umfasste mit der schwieligen Hand ihre Kehle – und drückte zu.

Thyra riss ihre Augen auf und prügelte auf ihn ein. Wollte mit ihren verdreckten Fingern seine Augen ausstechen. Doch ihre Arme waren zu kurz. Er hielt sie mit Leichtigkeit auf Abstand. Thyra rang nach Atem. Warf ihren Kopf hin und her. Packte seinen Arm und wollte ihn wegdrücken.

Er lachte nur rau.

Sie drehte sich unter seinem Gewicht und stieß ihr Knie in seinen Bauch. Zog mit den Fingernägeln blutige Risse in seinen behaarten Arm. Sein Blut zeichnete irrwitzige Spuren und tropfte warm auf ihre Haut. Sie zerrte an seiner Hand um ihren Hals. Zerriss dabei nur ihre Kette. Eilig umkrallte Thyra diese, packte einen seiner Finger und bog ihn weit nach hinten. Sie drückte und entfernte seine Hand schleppend von ihrem Hals.

Plötzlich konnte sie atmen! Sie keuchte und würgte. Er hatte sie losgelassen!

Urplötzlich!

Ihr wurde schwarz vor Augen. Bewusstlos lag sie im Dreck. Erst nach geraumer Zeit kam sie zu sich und erblickte den halbnackten Mann über sich stehend. Immer noch baumelte sein winziger, merkwürdig geformter Penis am Bein herab. Er dachte nicht daran, sein Geschlecht zu bedecken. In einer Hand hielt er ihre Kette und betrachtete zornesfunkelnd den Anhänger. Allmählich wanderte sein hämischer Blick zu der Frau vor ihm auf dem Boden. Diese Frau hatte ihn kastriert, sein Glied gebrochen! Nie wieder würde er seinen Schwanz für eine Frau benutzen können. Sein Volk würde ihn verspotten. Denn eine Frau, noch nicht einmal ein Knabe, hatte ihn mit nur einem Handgriff entmannt.

Seine Zähne mahlten vor unbändigem Zorn. Doch ihre Zukunft würde jetzt weitaus grausamer werden als diese Vergewaltigung. Sie war von Adel. Der Anhänger in seiner Hand zeigte es deutlich. Erst allmählich gewann sein Verstand die Oberhand zurück.

»Wenn ich dich töte, bist du wertlos.« Grob packte er die Angeln-Frau und zog sie in die Höhe. Jetzt war sie seine Geisel. Sein Pfand für seinen Reichtum. »Du kommst mit. Ich verkaufe dich jetzt an jeden, der auf dir reiten will. Jeder Mann soll dich auf sein Lager ziehen und dir, Weib, zeigen, wo der Platz einer Geisel ist.«

* * *

Der Weg zurück auf dem staubigen Feldweg war eine einzige Qual. Der Wikinger konnte vor Schmerzen kaum aufrecht gehen und benutzte seine Geisel als willkommenen Krückstock. Fest krallte sich seine Hand in ihre Schulter und unbarmherzig legte er sein ganzes Gewicht darauf.

Thyra litt schweigend. Sie beobachtete, wie der Penis, den er notdürftig bedeckte, immer groteskere Formen und Farben annahm. Ohne dass ihre Mimik es verriet, blitzte kurz heroischer Stolz über ihren Sieg, den sie über diesen brutalen Mann errungen hatte, auf.

Nur langsam kamen sie vorwärts und Thyra kannte die Leichen. Menschen, die ihr bisheriges Leben bestimmt hatten. Ein Mann hockte am Wegesrand neben den Opfern und schlug mit der Hand die herbei summenden Fliegen beiseite. Sie krabbelten in die unterschiedlichsten Körperöffnungen der Ermordeten und legten ihre gelblich-weißen Eier ins Fleisch.

Die Sonne brannte.

Die Leichen von Ethelgiva, Solvor und Beorhtric rochen nach frischem Blut und aufgerissenen Innereien. Der Gestank des Todes war heftig. Thyra kniff die Nase zu und wandte speiübel den Blick ab. Tränen rannen über ihre Wangen.

»Filaga«, brummte der am Wegesrand Sitzende. »Skati hva-t ger-a pù so lang-aed?«5 Er deutete mit einem anzüglichen Blick auf die Frau, die der Wikinger wie ein Schaf vor sich hertrieb.

»Ek drepa pair«,6knurrte Hafr und warf dem Kumpan die Kette mit dem Wappen zu. Geschickt fing der sie und besah sich den vielsagenden Anhänger. Thyra beobachtete ihn. Sah, wie der Wikinger erstaunt die buschigen Augenbrauen anhob und die Augen aufriss. Mit einem anzüglichen Grinsen auf den Lippen pfiff er und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Plötzlich fiel sein Blick auf die riesige Beule des Kameraden. Er runzelte spöttisch die Stirn und warf seinem Freund einen fragenden Blick zu.

Thyra stand neben den Leichen ihrer Freunde und der Hofmeisterin. Hunderte grün-schwarz glänzende Fleischfliegen krabbelten auf dem blutigen Fleisch und flogen summend auf, als ihr Häscher vor Schmerz neben der Toten zusammenbrach.

Thyra wich erschrocken zurück.

»Ek mun drepa konu þessa!«,7 keuchte er, legte die Hände auf sein untaugliches Geschlecht und presste die Augen zusammen. Der schwebende Staub umrahmte die Körper wie Nebel.

Der andere musterte Thyra grinsend, während seine Spöttelei keine Scham kannte. Er zeigte auf die drei Toten.

»Dóu þeir í Weißland.«8

Er grinste und bohrte mit der Schwertspitze in Solvors Leib. Thyra schluckte. Sie beobachtete, wie sich die Gedärme bewegten.

»Hafr var einn af inum beztum mönnum í landi ok helt hann úti liðit.«9Er schüttelte den Kopf. Sah betrübt auf die Angeln-Frau. Sie hatte ihr Leben verwirkt. Wäre sie Hafr doch gefügig gewesen.

»Hafr mun hefna á þér grimmliga!«,10knurrte er kopfschüttelnd und zog das Schwert aus dem Fleisch.

Thyra verstand kein Wort. Ihre salzigen Tränen tropften auf Solvor. Sie beugte sich über das verstaubte Gesicht und schloss mit zittrigen Fingern die starren Augen. Nahm die Fetzen der Bluse und legte diese notdürftig über den geschlachteten Körper. Die großen Brüste der Frau lagen zerhackt am Wegesrand. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, die Brüste aufzuheben und diese zu Solvor zu legen.

»Ich bete zu deinem Gott, dass er dir auf deinem Weg beisteht«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Dann brach sie Haselnusszweige und legte diese sanft auf Solvors Brüste am Wegesrand.

Einige Zweige legte sie auf den offenen Brustkorb von Beorhtric. Dann ging sie zu Ethelgiva. Sie entdeckte zu ihrem Erstaunen keinen entsetzten Ausdruck auf dem blassen Gesicht der Hofmeisterin. Sie schien zufrieden, mit einem Lächeln auf den Lippen, gestorben zu sein.

Apathisch stand Thyra neben den Toten und blickte zum Wikinger.

Er steckte sein Schwert in die Schwertscheide und wuchtete ohne Schwierigkeiten seinen Kriegskameraden über die Schulter. Er stierte nur einmal drohend zu Thyra und deutete ihr mit einem Kopfnicken an, dass sie vor ihm zu gehen hatte. Sie zuckte kurz zusammen und ging dann den Weg zurück, den sie vor Kurzem in Panik entlanggerannt war. Sie wollte fliehen! Doch wohin? Die Wikinger hatten vermutlich mit ihrer Streitmacht den kompletten Landstrich überfallen.

Die Menschen, die sie liebte und kannte, – lagen kalt im Staub. Vertrockneten im Sonnenschein. Eifrige Insekten krabbelten über die Leichen. Saugten Blut und vermehrten sich. Ihre Eier würden sich in wenigen Tagen durchs faulende Fleisch fressen und sich zu einem wimmelnden, weißen, krabbelnden Madenmeer entwickeln.

Thyra ging mit den Fremden.

»Ich werde ihnen erzählen, wer ich bin. Irgendwer wird schon meine Sprache sprechen. Schließlich ist das Siegel bekannt! Denn ich bin die jüngste Tochter des Königs Ethelred von Wessex und Kent und meine Mutter ist Königin Wulfthryth. Was soll mir schon geschehen? Denn mein Vater ist der ältere Bruder von König Alfred.«

* * *

Das kleine Dorf in Oxfordshire, im Königreich Wessex von Weißland, war nur wenige hundert Schritte von der Themse entfernt. Ein urwüchsiger Wald aus Eichenbäumen lag in einem sanft abfallenden Tal und suchte sich einen Weg hinauf zu den grünen Hügeln, wo hunderte Krähen in den Baumkronen der uralten Kiefern nisteten. Dort schlugen die Dorfbewohner ihr Holz zum Bau der kleinen Fischerboote, Häuser und für ihr Feuerholz im verschneiten Winter.

Die Rinder, Schafe und Ziegen auf den Weiden grasten friedlich. Das satte Grunzen der Säue und Ferkel versprach Reichtum im Herbst. Am Ufer des Flusses hingen Fischernetze an langen Gestellen. Die kleinen Häuser mit ihren Gärten und Obstbäumen lagen dicht aneinandergedrängt und normalerweise kräuselte Rauch aus den Schornsteinen den Himmel hinauf.

Die Flussnähe dieser ungeschützten Dörfer war für die Nordmänner perfekt für einen Überraschungsangriff.

Zügig marschierte die Dreiergruppe dem Dorf entgegen. Von Weitem erblickte Thyra Drachenschiffe am Ufer der Themse. Sie sah groß gewachsene Männer mit zerzausten Haaren und vom Kampf verdreckten Gesichtern. Sie hatten weder Hemden noch Mäntel. Die Nordmänner trugen Umhänge und warfen diese über die Schulter, so waren die Hände frei für den Kampf. Zusätzlich baumelten am Gürtel ein Beil, ein Dolch und das Schwert.

Hochgewachsene Frauen in fremdländischer Kleidung bewegten sich selbstbewusst und frei im Dorf.

Thyra verlangsamte ihr Tempo und erntete einen derben Stoß. Der Krieger grunzte und zeigte mit verärgertem Kopfnicken, dass sie zügig vorwärtszugehen hatte. Sie verzog das Gesicht, tat wie befohlen und hörte hinter sich den Getragenen gequält stöhnen.

Einige Fischerhäuser brannten und verwandelten sich zu Staub und Asche. Glänzten vom Ruß verkohlt. Verbrannt stinkende Gerippe. Der üble Geruch kroch brennend in ihre Nase. Doch es lag noch etwas Fremdes im beißenden Duft. Etwas Süßliches, fast Aromatisches! Thyra rümpfte die Nase. Schnüffelte. Konnte den Geruch nicht deuten. Sie stolperte und erhielt einen derben Stoß. Boshaft drehte sie sich um und warf dem Nordmann einen wütenden Blick zu. Der lachte lauthals, als er ihren Gesichtsausdruck erkannte, und schubste sie erneut.

»Du verdammter Fremdling! Büßen wirst du für diese Grobheit«, fauchte Thyra und schritt jetzt zügig voran. Bei jedem Schritt erhob sich unter ihren Fußsohlen eine bauchige Staubwolke. Fremd wirkte die vertraute Stadt. Hinter einer Baumreihe reihten sich viele Käfige. Mächtige Käfige! Ihre Augen wurden immer größer, je näher sie den Bäumen kamen. Ungläubig fiel ihre Kinnlade herab. In den Käfigen kauerten, standen und lagen – Menschen! Zielstrebig erreichte die Dreiergruppe die Gehege.

»Du wirst nicht!«, meinte sie noch.

Der Nordmann deutete in einen Käfig.

»Doch, er wird!«, stellte Thyra fest und blieb abrupt stehen.

»Djöfulskona, ek mun kyrkja þik með höndum mínum, ef þú eigi ferr í brott. Farþú í brott!«11

Thyra betrachtete äußerlich gelangweilt den Krieger. Ignorierte sein zorniges Gesicht.

»Ich gehe nicht!«, antwortete sie schnippisch.

»Grroaahh!«

Augenblicklich stellten sich vor Angst ihre Nackenhaare auf.

»Faru-brot!«,12 schnaubte er wutentbrannt. Packte mit der freien Hand ihren Nacken und drückte zu.

»Ich – werde – nicht – gehen!«, presste Thyra mit Mühe, mit erstickter Stimme hervor.

»Grroaahh!« Der Kampfruf ließ nichts Gutes ahnen und er kniff noch härter zu.

»Ich …!« Vor Schmerz fiel Thyra auf die Knie – kapitulierte – und ging nun doch.

»Ich hasse dich!«, zischte sie und jaulte: »Ich verklage dich beim König. Ich – Auuu!«

So schritt das merkwürdige Gespann zu den Käfigen. Ein Wikinger, getragen von einem anderen, der eine gebückte und zeternde Angeln-Frau vor sich herschob.

Thyra schielte nach vorn, um zu erkennen, wer in den Käfigen hockte und erkannte die Gesichter der Eingepferchten.

Dort stand der Krämer mit seinem sonst so verschlagenen Blick. Neben ihm die hochschwangere Frau des Fischers. An dessen Seite die Raufbolde des Dorfes. Die pubertären Jungen – standen jetzt alle artig und brav, mit ängstlichen Augen an den Rockzipfeln ihrer Mütter. Doch die Väter der Kinder starrten Thyra hasserfüllt an.

»Dort kommt sie, die Tochter Ethelreds und Nichte des jetzigen Königs Alfred«, knurrte der Fischer. »Ihr haben wir es zu verdanken, dass sie uns überfallen. Uns töten. Unser Land vernichten und unsere Häuser abbrennen.«

Zustimmendes Gemurmel übertönte den Wind.

»Das ist nicht wahr«, krächzte Thyra. Der Wikinger drückte fest ihr Genick. Sie fiel auf die Knie.

»Die Wikinger wollen unsere Reichtümer und die Herrschaft übers Land«, stichelte der Fischer.

»Aber sie ist doch eine von uns! Eine Angeln-Frau!«, wagte ein Bauer einzuwenden.

»Sie ist eine Adlige!«, fauchte der Fischer. »Keine von uns!«

Zustimmendes Gemurmel.

Thyra drehte ihren Kopf. Der Wikinger lockerte den Griff.

»Hvern fangaðir þú?«13

»Getr Hafr eigi gengið lengri?«14

Lauthals wurde ihr Treiber mit der schweren Last auf der Schulter begrüßt.

»Ho filaga!«,15 riefen sie ihm grölend zu und gingen den Rückkehrern entgegen.

Sie musterten die Frau und wandten sich an ihren Gefährten. In dieser fremd klingenden Sprache empfingen sie ihn, schlugen ihre kräftigen Hände auf die Schulter des Trägers und derbe auf den breiten Rücken des Getragenen. Der fluchte lauthals. Er erntete volltönendes Lachen und wurde auf seine Füße gestellt. Doch sofort fiel er, von irrsinnigen Schmerzen geplagt, auf die Knie.

»Das nimmt keinen guten Anfang! Diese Geschichte wird am Lagerfeuer mit Spott erzählt werden.« Sie biss sich auf die Lippen.

»Kein Fluchtweg.« Thyras Stimme klang verächtlich. »Überall Nordmänner!«

Eine Wikingerin packte die Fremde und nahm sie mit. Der Weg führte an Brandruinen vorbei, entlang der Dorfquelle. Leichenteile hingen über dem Brunnenrand. Zur Rechten säumte das schwarze Gerippe der heiligen Dorflinde den Weg. Blattlos, mit verkohlter Rinde ragten rauchende Arme hilflos sterbend in den Himmel.

Sprachlos betrachtete Thyra den verwüsteten Ort. Sie erkannte zu Beginn nicht die tiefschwarzen Gebilde, die aus den Fenstern hingen und in den geöffneten Türen den Weg versperrten. Die Toten lagen in Gärten zwischen duftenden Blumen, bei den grasenden Ziegen, in den Hühnerställen, unter den Hufen der Rinder. Einige Leichen qualmten noch, während andere nur starr und mahnend ihre Extremitäten von sich streckten. Der süßliche Geruch, der diesen Ort schwängerte, war widerlich.

Endlich verstand ihr Gehirn, was ihre Sinne schon lange wussten!

»Verbrannte Körper! Verkohltes Fleisch!« Ihr Magen verkrampfte, als sie die schwarzen Gebilde mit den Bewohnern des Hauses in Einklang brachte und erahnte, wessen Körper starr und drohend hervorragten.

»Ist das der Wagenradmacher? Der kräftige Wagenradmacher! Seine riesigen Hände ragen verkrampft in den Himmel. Und der schmale Leib neben ihm? Seine Frau? Und dort – das Kind!«

Der Inhalt ihres Magens quetschte sich durch die Speiseröhre hinauf durch den Hals. Noch bevor sie ihr Ziel erreichten, brach der kümmerliche Inhalt heraus und platschte in den Staub.

Die Wikingerfrau schnaubte verächtlich, drückte Thyras Oberarm noch fester. Thyra wischte ihre feuchten Lippen am Ärmel ihres Kleides ab und stolperte voran. Mit dem säuerlichen Geschmack im Mund erreichten sie die Käfige und die Überlebenden.

»So viele Gefangene«, flüsterte sie erschüttert.

Die Eingesperrten sagten kein Wort. Zornige, von Trauer durchflutete, hasserfüllte Blicke trafen die Nichte des Königs.

Plötzlich bekam sie einen kräftigen Stoß und Thyra stolperte in den Käfig. Ihre Gedanken hingen an Ethelgiva, Solvor und Beorhtric. Mit gesenktem Kopf schlich sie zur Käfigwand und glitt an den rauen Holzstäben herab. Mit angewinkelten Beinen hockte Thyra auf der Erde, wickelte ihre Arme um Kopf und Knie und weinte. Sie wollte nichts hören, nichts sehen und – nicht reden.

»Lasst mich alle in Ruhe!«

Sie hörte nicht das gleichmäßige Plätschern der Themse an den Bordwänden der Kriegsschiffe. Nicht das flüsternde Knarren der Planken und das Surren der Seile. Nicht das Möwengeschrei und das Knurren der Hunde, die ihre Zähne in die Überreste der Toten schlugen und sich um die saftigsten Fleischbrocken stritten.

Unbeherrscht drückte Thyra ihre Finger auf die Ohrmuscheln. Denn auch die harschen Befehle der Fremden sollten ihren Verstand nicht erreichen. Nicht die fremd klingende Sprache und nicht die Schmerzensschreie der Opfer!

Nichts.

Doch dann zuckte dieser blitzende Schreck wie Feuer durch jede Faser ihres Körpers.

»Bitte nicht!«

Unbewusst bewegte sich ihre Hand. Die Welt der Sinne kam zurück und bestürzt betrachtete Thyra eingehend die rechte Hand. Die Hand, die den Wikinger kastriert und besiegt hatte.

Besiegt?

»Nichts zu sehen.«

Erleichtert zischte der Atem heraus. Dennoch bewegte sich ihre Hand fragend zur Nase. Zögernd schnüffelte sie. Sofort prallte ihr Gesicht zurück. Ganz deutlich roch Thyra den Duft des Fremden. Seinen Samen – und noch etwas anderes! Scharf und eindringlich!

Blutleer presste Thyra die Lippen aufeinander. Rieb fanatisch mit dem Staub die Hände. Immer wieder! Bis sie, rot und angeschwollen, nicht mehr nach dem Mann rochen, der sie missbrauchen und sein Glied in sie hineinstoßen wollte.

Die blutverschmierten Dorfleute standen unter Schock. Erde und Dreck, Blut und Asche klebten auf der Kleidung, der Haut und in den Haaren. Auf den Gesichtern der Kinder und Frauen zogen getrocknete Tränen salzige Bahnen über die Wangen.

Der Fassmacher kauerte mit einem merkwürdig verdrehten Arm in einer Ecke. Aus einem Ohr sickerte hellrotes Blut, während seine zerfaserten Wunden zu trocknen anfingen.

»He«, flüsterte Thyra. Versuchte, einen Bauern mit erstickter Stimme auf sich aufmerksam zu machen, der sie mit leblosen Augen anstarrte.

Der aufgerissene Schnitt seines Oberschenkels legte blassgraue Knochensplitter frei. In der schwärzlichen Blutlache der klaffenden Wunde schwärmten summend fette, blau glänzende Fleischfliegen und krabbelten fleißig über ihre soeben gelegten Eier.

Thyra schluckte.

Die Krabbeltiere leckten mit schwarzen Rüsseln begierig den süßlich roten Saft. Bald würden scharenweise Maden aus der eitrigen Wunde krabbeln und köstliches Menschenfleisch fressen!

»Hast du Schmerzen?« Sie konnte nicht zu ihm gehen. Zu viele Verletzte lagen verstreut über den Käfigboden.

Er schüttelte kaum merklich seinen Kopf.

In ihren Augen schwammen Tränen.

»So sieht also Krieg aus!«

Sie schloss die Augen. Wollte das Leid nicht sehen. Presste den Rücken gegen die Holzstäbe, denn sie hatte kein Vertrauen mehr zu ihren zitternden Beinen.

Stumm drehte Thyra sich vom eigenen Volk fort. Starrte nichtssagend durch die mit Splittern durchsetzten Holzstäbe aufs Schlachtfeld und beobachtete stoisch die Feinde. Jede Kleinigkeit sollte sich in ihr Gedächtnis brennen.

Wie sie lebten. Welche Kleidung sie trugen. Was sie aßen und zu welchen Göttern sie beteten. Wo ihre Toten schliefen und die Kinder aufwuchsen. Wie die Wikinger ihre Frauen behandelten – diese Barbaren – die Mörder ihres Volkes.

Um diese Feindesmacht zu besiegen, wollte, musste sie diese Fremdlinge kennen. Besser kennenlernen als ihre engsten Freunde!

Die Nacht kam schnell.

Sie war kalt, feucht, schwarz und zerrte an den Nerven. Doch die Nordmänner kümmerten sich nicht um die Käfigmenschen.

Kein Wasser. Kein Brot. Keine Decken.

Die Notdurft verrichteten die Dorfbewohner verschämt in den Ecken der Pferche. Müde, hungrig, durstig, erniedrigt und teils schwerstverletzt kauerten sie im Dreck. Stoisch die einen – andere, mit Tränen verschmierten und verdreckten Gesichtern eher zornig und hasserfüllt. Sie wollten nicht um die Toten trauern.

Thyras Füße schmerzten, die Augen tränten. Nach dieser langen Zeit verlangte ihr Körper Ruhe und Schlaf.

»Ich lege mich nicht in diesen Dreck.« Sie beobachtete die knisternden Lagerfeuer mit den orangeroten, herrlich warmen Flammen. Bemerkte, dass Frauen die eigenen Verletzten versorgten und Mahlzeiten zubereiteten. Stumm zählte Thyra die Anzahl der Wikinger und der Wikingerinnen im Lager. Sie kam auf siebenundvierzig Männer und sieben Frauen.

»Das sind nicht viele. Einige von denen liegen tot oder verletzt im Dorf. Fünfzig oder sechzig Wikinger. Vielleicht? Ungewiss, ob die verwundeten Eindringlinge sterben.«

Der Wind trug ihr die fremden Stimmen zu. Grübelnd biss sie sich auf die Lippen.

»Diese Krieger kommen doch niemals mit nur sechzig Mann über die von Ungeheuern beherrschte Nordsee!«

Ihre Gedanken überschlugen sich.

»Und dann landen sie nur hier in Oxfordshire?« Skeptisch wanderte ihr Blick zu den Drachenschiffen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Von so einem bedeutungslosen Angriff auf eine Stadt ohne Reichtümer hatten weder Ethelgiva noch die herumwandernden Geschichtenerzähler berichtet!

»Die Nordmänner werden Wessex überrennen. Es werden viele Schiffe sein!« Sie biss sich auf die Lippen. Fröstelnd atmete Thyra die kalte Nachtluft ein. »Die Wikinger sind, wenn sie jetzt hier in Oxfordshire sind, sicher auch längst in Ludúnir16.«

Kreidebleich verstand sie erst jetzt, nachdem das Gesagte ihr Gehör erreicht hatte, den Umfang dieser Überfälle. »Die Nordmänner sind in Ludúnir.« Sie runzelte grübelnd die Stirn und versuchte, sich an die Orte zu erinnern, die an der Küste der Themse zwischen Oxfordshire und London lagen.

»Slough liegt am Ufer. Reading und Oxford sind lohnende Ziele!«

Vor Entsetzen schrie sie auf und schlug schnell die Hand vor den Mund. Sie starrte in die Nacht und ignorierte alle fragenden Blicke.

»Es werden viele, viele Wikingerschiffe sein und noch viel mehr bestialische Nordmänner«, murmelte sie tonlos. Den Rest traute sie sich noch nicht einmal auszusprechen. Nur ihre Gedanken flüsterten grausam.

‚Es wird unzählige Tote geben! Frauen und Kinder. Die Männer des Königs, die Bauern auf dem Land, die Fischer am Fluss.‘

Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie sich das Grauen vorstellte. Ihre Schwestern und ihre Brüder. Unter Umständen waren sie schon den Schwertern dieser nordischen Bluthunde zum Opfer gefallen und tot. Oder – wie sie! Eine Geisel!

Von den Lagerfeuern drang der derbe Fluch eines Nordmannes herüber. Sie sah den Mann nicht, denn die Dunkelheit fraß das Licht.

Thyra schärfte ihr Gehör. Erkannte im Schein des Feuers Gesichter, beobachtete Bewegungen und Gesten. Sie lernte! Lernte in diesen langen Wochen der Gefangenschaft die urtümliche Sprache der Nordmänner und studierte deren Verhalten.

Doch sie hasste es!

Es war eine unheimliche, windstille Nacht nach dem Massaker. Das Stöhnen der Verletzten, leises Gemurmel und ersticktes Weinen durchbrachen die Düsternis. Thyra beobachtete Fledermäuse, wie sie lautlos über die Liegenden huschten. Ab und an verdeckten Wolken die silberhelle Mondsichel. Vor Müdigkeit schwankend, stand sie auf den Beinen. Schloss die Augen. Der Schlaf umgarnte den Verstand. Flüsterte, liebkoste, wollte, dass sie Aufmerksamkeit verlor. Die Müdigkeit erlahmten die Muskeln und ganz langsam, aber beständig, erlosch ihr Wille.

Starr blickte sie mit verschwommenem Blick in die lockenden Flammen. Drückte den Rücken gegen die Stäbe. Hörte das Flüstern einer Frau, die einem Verwundeten Wasser anbot. Doch die Augenlider wurden schwer und schwerer. Ihr Kopf fiel kaum merklich gegen das Gitter, fast sanft. Ein Kauz flog mit klagendem Ruf am Flussufer entlang.

Erschrocken richtete Thyra sich auf, schluckte. Riss weit die Augen auf. Sie wollte nicht schlafen!

Abermals lief eine Gestalt durch die Menge der schlafenden Nordmänner. Sie richtete ihren Blick starr auf den schlurfenden Menschen. Er verschwand hinter dem Gebüsch. Bald hörte sie es plätschern und genussvolles Stöhnen. Sie sah schemenhaft, wie er an seiner Hose herumnestelte.

Nichts geschah in dieser Nacht.

Nach der verheerenden Schlacht waren alle, Krieger wie Gefangene, erschöpft, müde und innerlich zerrissen. Irgendwann schlossen sich Thyras Augenlider und ohne es zu merken, fiel ihr Körper kraftlos in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ihr Kopf drückte gegen die grob verarbeiteten, unregelmäßigen Holzstäbe. Die Muskeln ihrer Beine versagten und ganz langsam rutschte sie an den Streben herab. Sie zerkratzten die Haut im Gesicht und sie spürte es nicht. Die blutigen Schnitte trockneten im lauen Nachtwind und hinterließen eine bizarre Spur.

Nebelschwaden vom Fluss zogen feuchtkalt über die Schlafenden und die Toten, wanderten über die Felder und trafen auf den schwarz verbrannten Ort. Tautropfen glänzten schillernd im schwachen Licht. Fröstelnd erwachte das Leben und alle standen mit steifen und durchgefrorenen Gliedmaßen auf. Die Gefangenen schlugen wärmend die Arme um ihre Leiber, während die Wikinger sich in ihre Decken hüllten. Der Atem trug Nebelschwaden aus den Mündern und Thyra, die auf dem harten Boden liegend, zögernd erwachte, zitterte vor Kälte.

»Feuer.« Murmelnd setzte sie sich auf. »Doch nicht für uns.«

Sonnenstrahlen durchbrachen glitzernd die feuchtkalte Nebelwand. Heimlich wischte Thyra Tränen vom Gesicht, riss die getrockneten Kratzer auf und verschmierte das Blut mit dem rußigen Staub zur monströsen Grimasse. Stöhnend schob sie sich am Gitter hoch, bewegte Arme und Beine und ganz langsam kam die Beweglichkeit zurück.

Einen Moment später bohrte ihr jemand seinen Finger in den Rücken und befahl sie gestikulierend zum Ausgang des Käfigs!

»Þá er einnhverr maðr, er ætlar að tala við þik«,17 schnarrte die Stimme.

Erschrocken blieb Thyra bewegungslos stehen, bis der fordernde Finger erneut und mit Nachdruck zwischen ihre Rippen drückte.

»Strax!«18 Der schneidende Befehl.

Langsam drehte Thyra den Kopf und blickte in das bärtige Gesicht einesblonden Mannes. Er trug eine enge, lange Hose und ein rotbraunes, knielanges Hemd und war durch einen Umhang gegen die morgendliche Kälte geschützt. Er musste ein wohlhabender Wikinger sein, denn die obere Tunika aus der Wolle der Skuddenschafe war besetzt mit edlem Zobelpelz. An den Füßen trug er kurzschäftige Stiefel aus Ziegenleder.

»Ich gehe nicht!«

Der Nordmann grinste hämisch und forderte Thyra nun mit Nachdruck auf, zum Ausgang zu gehen. Irritiert sah sie ihn an.

»Was wollt Ihr?«, knurrte sie mürrisch und dachte: ‚Warum gerade ich? Es gibt hier schönere Frauen! Mit üppigen Brüsten und einladenden Schößen.‘

Lauernd sah sie sich um, biss ihre Zähne nervös aufeinander und folgte zögernd der Anweisung. Mit beiden Händen griff sie zum Rocksaum und bahnte sich vorsichtig, über schlafende Kinder hinweg, einen Weg zur Gittertür. Der Wikinger wartete dort, packte sie fest am Arm und zog sie heraus.

Thyra hörte die Gefangenen noch leise murmeln, bevor sie mit dem Wikinger im dichten, grauen Nebel verschwand. Der Dunst schluckte jeden Umriss und dämpfte jeden Laut. Selbst die eigenen Schritte hörte sie kaum. Ihre Sinne waren zum Zerreißen gespannt und vor purer Nervosität zitterten ihre Beine.

Mit einem Seitenblick schielte sie zum Nordmann. Er war groß, kräftig und eine friedfertige Ruhe ging von ihm aus, sodass Thyra sich bei diesem Feind fast geborgen fühlte. Das wiederum versetzte sie schlagartig in eine solche Panik, dass sie ihre Füße nicht mehr bewegte und stolperte.

»Hmpf.« Der Nordmann knurrte, packte die Geisel energischer, zog sie fort und ignorierte den spitzen Protestschrei.

Thyra hörte Schnarchlaute, das Flüstern einer Frau und eine brummende Antwort. Der Lichtschein eines Feuers durchdrang das nasse Grau und plötzlich stoppten sie. Thyra stand im gedämpften Lichtkegel, dessen Wärme sie dankbar annahm. Der Nordmann spürte ihren zitternden Körper und musterte mit hochgezogener Augenbraue die dünne Geisel.

»Ist das die Frau?«

»Ja, Gnupas. Sie ist es«, grinste der Bärtige. »Diesem Weib gehören die kräftigen Hände, die Hafr zum Ochsen gemacht haben.«

Sein Grinsen wurde breiter. Kleine Fältchen bildeten sich um die Augen.

»Finde heraus, ob sie die Besitzerin des Amulettes ist oder ob sie es gestohlen hat.«

Gnupas sah Gorm herausfordernd an. »Habe ich dich jemals enttäuscht?«

»Ich muss wissen, ob ihr dieses Amulett gehört. Ob sie ein Mitglied der königlichen Familie ist.«

Gnupas betrachtete die englische Frau.

»Ihr Benehmen deutete darauf hin. Aber ich werde dir in Kürze Genaueres sagen. Sie könnte auch eine Hofmeisterin sein.«

Gorm nickte.

»Und unsere Bemühungen wären vergebens und der Tribut dahin!«

Die alte Frau schüttelte sinnierend ihren grauhaarigen Kopf, während Gorm weitersprach: »Eine Tributzahlung vom König für eine Hofmeisterin zu fordern, ist sinnlos und überaus schlecht für weitere Verhandlungen!«

»Stimmt«, krächzte die Alte mit belegter Stimme und kniete sich stöhnend vors knisternde Feuer. Ohne auf die Zwei zu achten, streute sie getrocknete Blätter und Blüten in einen Topf mit kochendem Wasser und beobachtete, wie diese vom brodelnden Wasser in die Tiefe gerissen wurden. Starr blickte sie in den Strudel, während sie mit der Hand andeutete, dass Thyra sich zu ihr knien sollte.

Thyra war sich nicht sicher und sah fragend zum Bärtigen. Grunzend gab er ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie der Handbewegung zu folgen hatte. Verärgert über den Ungehorsam, musterte Gnupas die Angeln-Frau und zeigte energisch an, dass diese Geisel sich ans Feuer zu setzen hatte.

Als Thyra immer noch zögerte, drückte der Wikinger Thyras Schulter herunter und knurrte: »Du sollst dich zu Gnupas setzen. Sofort!«

Widerwillig beugte sich Thyra dem Druck. Sie hatte Angst. Bodenlose Angst! Dennoch, niemand sollte sie, Thyra, die jüngste Tochter des Königs Ethelred von Wessex und seiner Frau Wulfthryth, einen Feigling nennen oder erkennen, dass sie sich fürchtete!

Mit zitternden Beinen kniete sie sich neben die Wikingerin ans Feuer und sah die Alte herausfordernd an.

Doch die Wikingerfrau kümmerte sich nicht um die gefangene Angeln-Frau, sondern roch am Tee, krümelte einige getrocknete Wurzeln in den Sud, schürte in Seelenruhe die Glut und schnupperte erneut.

Thyras linkes Knie drückte auf spitze Steine und diese bohrten sich schmerzhaft ins Fleisch. Doch sie bewegte sich nicht! Erst nach vielen, unendlich langen Augenblicken drehte die Alte ihr Gesicht musternd zur Angeln-Frau. Gnupas schmunzelte, kurz bevor sie die Gefangene ansprach.

»Du bist also die Frau, die mit einem Handstreich Hafr zum Ochsen machte!«

Thyra starrte stur ins Feuer. Diese Sprache!

‚Was will die Frau?‘

Gnupas rührte den Sud stoisch mit dem Holzlöffel. »Hafr, von einer dürren Frau kastriert!«

Gnupas schüttelte immer noch ungläubig den grauen Kopf. Der Blick wanderte zu Thyras gepflegten Händen mit den schmalen Fingern.

»Hafr wird zum Gespött der Krieger.« Ihr Tonfall war ernst und zum ersten Mal blickte Thyra die Wikingerfrau offen an. »Du hast dir einen starken Feind für dein gesamtes Leben geschaffen!«

Thyra erahnte den Sinn und die Ernsthaftigkeit hinter den unverständlichen Worten.

Plötzlich bückte sich die Wikingerin und ergriff ohne Vorwarnung Thyras Hände. Thyra erstarrte. Doch die Frau besah sich nur ihre Hände, drehte sie und befühlte die Innenflächen. Sanft glitten Gnupas Fingerspitzen darüber. Thyra zuckte erschrocken. Zog die Hände aber nicht fort und war erstaunt über die sanfte Berührung.

»Deine Hände sind ungewöhnlich zart. Sie sind schmutzig. Dennoch nicht verhornt.«

Blitzschnell beugte sie sich hinab und roch an Thyras Händen. Erschrocken zog Thyra sie fort. Doch das wissende Lächeln der Frau machte ihr deutlich, dass sie jetzt alles wusste!

Gnupas griff in den ledernen Beutel und zog einen grün schimmernden Stein heraus. Sie drehte und umschmeichelte ihn.

»Ich konnte die Markierung, die Hafr hinterließ, riechen. Auch deinen Schweiß und die Erde, die daran haftet. Doch mit dieser Erde wirst du seine Ausdünstungen nicht entfernen können.«

Sie hielt kurz inne und umschloss den Mineralstein fast liebevoll.

»Hier.« Sie reichte Thyra das Gestein. »Nimm diesen Stein und reinige damit deine Hände. Du hast diesen Mann für alle Frauen unbrauchbar gemacht. Von diesem Zeitpunkt an werden seine Gedanken und sein Verstand kasteit und ins Verderben gelenkt. Reibe den heiligen Stein mit deiner Haut. Überlasse ihm den Duft und sein Sekret. Ansonsten werden deine Hände für immer mit ihm verbunden bleiben!«

Gnupas musterte Thyra erwartungsvoll.

»Kein Mann wird deinen Händen sonst je wieder Vertrauen schenken.« Die Alte grinste. »Die Männer werden vor Angst erstarren und was vorher groß und kräftig ist, wird in deiner Nähe zu einem erbärmlichen Würmchen zusammen schrumpeln.«

»Hmpf«, grunzte es aus dem Nebelgrau und Thyra drehte sich erschrocken um. Versuchte die dichte, vom Feuerschein orange-goldene Nebelwand mit ihren Augen zu durchbrechen.

»Der Bärtige ist noch da«, flüsterte sie von Grauen gepackt und presste die Lippen zusammen. Er hockte in einiger Entfernung auf einem Baumstamm und wartete auf ein Zeichen von Gnupas.

Gnupas Mundwinkel zuckten feixend.

»Krieger haben immer Angst um den Wurm, der zwischen ihren Beinen baumelt.«

Thyra griff blitzschnell den Stein aus der Hand der Wikingerin. Kein Wort hatte sie verstanden. Nichts! Diese Sprache war ihr so fremd wie die Sitten und Gebräuche. Außerdem roch diese alte Frau merkwürdig!

»Was ist?«, forderte die Alte eindringlich.

Erstaunt riss Thyra ihre Augen auf und sah, wie die alte Wikingerin auffordernd ihre Hände rieb, als ob sie den Stein liebkoste. Sie fragte sich nicht, warum sie diesen Stein mit ihren Händen umschmeicheln sollte. Welcher Zauber in ihm wohnte? Sie tat einfach, wie ihr geheißen, und als sie das erfreute Gesicht der runzeligen Frau sah, wusste Thyra, sie tat das Richtige.

»Hmpf.«

Wieder hörte Thyra den Bärtigen, aber dieses Mal klang es irgendwie – anders?

Ein scheues Lächeln glitt über ihr Gesicht. Der Stein fühlte sich warm an. Er war so glatt geschliffen, dass nur kleine Erhöhungen fühlbar waren. Sie streichelte und wärmte den Stein, während die Wikingerfrau den Tee im Topf mit einem hölzernen Löffel rührte. Entspannt setzte Gnupas sich zurück und grub mit der linken Hand tief in den Taschen ihres Kleides. Lauernd und mit Bedacht zog Gnupas eine Kette aus den Tiefen ihres Gewandes hervor. Thyra sah es – und erschrak. Das war ihre Kette! Mit ihrem Amulett, das der Nordmann ihr wutentbrannt vom Hals gerissen hatte.

Zischend sog sie die kalte Luft durch die Zähne.

»Mein Medaillon!«, fauchte sie gereizt und Gnupas lächelte tückisch.

Dies war das Zeichen des Erkennens. Gnupas jubilierte. Es ist die Kette der Angeln-Frau!

Thyra sah ihr Relief nur allzu deutlich im Schein des rot glühenden Feuers schimmern. Die goldene Scheibe, die an den Rändern schlangenförmige Vertiefungen aufwies, zeigte das Symbol der königlichen Familie.

Das Siegel einer Königstochter!

‚Sie wissen, wer ich bin!‘, schoss es Thyra durch den Kopf. ‚Ist es gut? Oder …?‘ Vor ihren Augen drehten sich wirre, farbenfrohe Punkte. Ihr Blick jagte über die Flammen. Dort stand niemand. Und hinter ihr?

‚Nein, da auch nicht!‘, zischte es durch ihre Gedanken. ‚Der Wikinger ist weit entfernt!‘

Gnupas beobachtete die hektischen Bewegungen der Gefangenen.

»Ich weiß, wer du bist. Noch brauchst du dich nicht zu fürchten«, raunte die Wikingerin und beugte sich vor. Durchdringend musterte sie die Angeln-Frau. »Noch nicht.«

Thyra ahnte den Wortlaut.

»Du bist also eine Tochter von Ethelred.« Ein Grinsen zog über das faltige Gesicht der ehemals schönen Frau. »Eine Königstochter!«

Thyra riss erschrocken ihre Augen auf. Sie verstand! Auch wenn die Alte den Namen ihres Vaters mit einem merkwürdigen Akzent aussprach. Diese Frau aus dem Norden war nicht dumm.

Thyra fixierte ihr Medaillon. Tänzelnd pendelte es an den goldenen Kettengliedern hin und her. Wie hypnotisiert starrte sie auf das funkelnde Metall und erkannte, dass ihre Eitelkeit sie verraten hatte. Zornig über ihre Dummheit presste sie ihre Lippen zusammen.

Ein Lächeln umspielte den wissenden Mund der Alten. Behutsam glitt das Geschmeide in ihre Tasche und bedächtig reichte sie der Königstochter einen Becher heißen Tee, nahm sich ebenso einen und genoss, laut schlürfend, das bittere Gebräu.

Thyra blickte in ihren Becher und beobachtete die Blattfetzen, welche sich am Grund des Trinkbechers ansiedelten und ließ sorgenvoll ihre Gedanken schweifen.

»Nichts wisst ihr!« Ihre Worte waren nicht mehr als ein Zischen.

Aufhorchend drehte die Alte den Kopf.

Zum wiederholten Mal starrte Thyra in ihren Becher, wo die Kräuterfetzen im goldenen Wasser tanzten. Hypnotisiert befand sie sich plötzlich in einer anderen Welt.

Ihr Vater, König Ethelred der Erste von Wessex, war der Sohn Ethelwulfs von Wessex. Ihre Mutter Wulfthryth lebte nach dem Tod des Mannes einsam im Kloster, abgeschieden von der Welt, ihren Kindern und der Familie.

Und ihr Vater – ihr Vater war schon lange tot! Gestorben in der Schlacht von Merton am 23. April 871. Erschlagen, als sie ein Jahr war! Er schaffte es nicht, dem Ansturm der Wikinger in seinem Land zu trotzen. Am 4. Januar 871 verlor König Ethelred der I. von Wessex die Schlacht gegen die dänische Invasionsarmee in der Schlacht von Reading. Seine Armee erlitt durch die grausamen Krieger in diesem Kampf größte Verluste.

Das erzählten ihr jedenfalls ihre Brüder mit stolz geschwellter Brust. Außerdem erzählten sie ihr, der jüngeren Schwester, die ihren Vater nicht kannte, vom Sieg des Vaters kurz darauf in Ashdown gegen die brutalen Wikinger. Allerdings war jetzt ihr Onkel Alfred, der vorherige Secundarius, König. Der Bruder ihres Vaters bestieg den Thron, obwohl Ethelred zwei Söhne hatte! Die rechtlichen Thronerben! Doch in der Zeit der heftigen Wikingerangriffe waren Ethelreds Söhne noch zu jung für dieses Amt.

‚Aber Vater wird nach seinem gewaltsamen Tod vom Volk als Heiliger verehrt‘, dachte Thyra stolz.

Traurig zuckte sie mit den Schultern.

‚Nur von der Kirche wird er nicht als Schutzheiliger geehrt.‘

Jetzt herrschte ihr Onkel. Sie presste ihre Kiefer aufeinander. Alfred war ein starker und unnachgiebiger, aber charismatischer König.

Das englische Volk nannte ihn Alfred den Großen!

Thyra seufzte und nahm einen Schluck des bitteren Gebräus. Angewidert verzog sie das Gesicht, doch Gnupas lächelte verschlagen.

‚Trink, Mädchen! Trink!‘, befahlen Gnupas’ Gedanken und suchten einen Weg zum Geist der Angeln-Frau. Gnupas registrierte den nach innen gewandten Blick der dünnen Frau und wusste, dass sich ihre Vergangenheit in die Gegenwart katapultierte.

Thyra war eine angelsächsische Prinzessin. Eine Tochter von Ethelred und Wulf-thryth.

Sie seufzte und flüsterte: »Ich bin fast wertlos. Ich leiste Alfred nur wertvolle Dienste, wenn er mich für seine machthungrigen Zwecke an einen Adligen mit umfangreichen Gütern verheiraten kann.« Ihr wurde übel. »Nur, um seinen Hunger auf noch mehr Land, mehr Geld und mehr politischen Einfluss zu stillen.«

Sie atmete zitternd ein. Sie war für ein langweiliges Leben an der Seite eines fetten, gierigen, langnäsigen, blassen, alten Mannes bestimmt.

Unwillkürlich schüttelte Thyra sich. Allerdings erging es ihren Schwestern ebenso! Deren Aufgabe war es, viele starke Söhne zu gebären, die den Ehegatten und den König erfreuten, um seine Herrschaft zu sichern.

So sah auch ihre Zukunft aus!

Die Kette in der Hand der Wikingerin erzählte, wer sie war!

Das duftende Harz in den Holzscheiten knackte in der Hitze des Feuers. Die ältere Frau legte einige Scheite nach und beobachtete über den Becherrand die Angeln-Frau, während sie den Tee in kleinen Schlucken genoss.

Thyra dachte an ihre Brüder und die Geschichten, die sie ihr erzählt hatten.

Dass die Wikingerangriffe erst im Jahr 878 unterblieben, nachdem die Dänen bei Edington eine schwere Niederlage von den Angelsachsen eingesteckt hatten. Eine Forderung der unzähligen Friedensvereinbarungen war, dass der große Wikingerkönig Guthrum sich taufen ließ und seinen heidnischen Göttern abschwor. Guthrum durfte fortan nur dem christlichen Gott dienen.

Jedes Mal, wenn ihre Brüder diese Stelle der Geschichte erreichten, schüttelten sie sich aus vor Lachen. Kämpften mit ihren Holzschwertern und keuchend brüllten sie: »Und ab sofort unterblieben die tödlichen Angriffe der Wikingerhorden!« Mit einer anmutigen Verbeugung verneigten sich ihre beiden Brüder vor der jüngeren Schwester Thyra.

»Einundzwanzig Jahre hatten wir Frieden«, murmelte Thyra erschüttert. »Bis jetzt! Bis zum Jahre 892.«

Sie nahm einen Schluck vom nur noch lauwarmen Tee.

Die Zeit verrann. Alfred hatte aufgerüstet. Thyra dachte an die geladenen Aristokraten an der königlichen Tafel. Sie hörte Alfreds unerschrockene Anhänger tönen. Ihre Verwandten sangen Lieder auf des Königs kluge Taten und reimten heroische Verse auf sein militärisches Geschick. Alfred ließ Festungen bauen und rüstete sein Reich gegen die kämpferische, skandinavische Armee. Er ließ an den Ufern der Themse leistungsstarke, umfangreiche Kriegsflotten Stellungen beziehen, deren Boote sich nach kurzer Zeit meilenweit am Ufer entlang erstreckten. So weit das Auge reichte, sah das Volk der Angelsachsen die Masten und Segel der imposanten Kriegsschiffe auf der Themse im Wind segeln.

»Wir dachten, der Frieden währt ewig.« Thyras Blick versteinerte. »Doch jetzt sitze ich als Geisel der Nordmänner an deren Feuer und trinke dieses Gebräu.« Skeptisch starrte sie in den fast leeren Becher. »Und bin ihren teuflischen Handlungen ausgeliefert. Wir fühlten uns sicher. Kein Angelsachse glaubte an die Gefahr eines Überfalles. Unser Volk ist zu arglos!« Sie schüttelte flüchtig ihren Kopf. »So sicher«, flüsterte sie, sodass die skandinavische Frau ihren Kopf hob und sie fragend ansah.

»Aber ihr werdet verlieren und getötet werden!«, sagte Thyra jetzt laut, mit erhobenem Kopf und heroischem Blick zur alten Frau. »Alfred hat Vorkehrungen getroffen. Er wird euch erneut vernichten!«

Die Wikingerfrau hob verwundert den Kopf und musterte Thyra fragend. Doch die Königstochter lächelte nur sinnierend und trank den Rest des Tees.

* * *

Es wurde ein langer, langer Tag. Sie saß wieder mit den Dorfbewohnern im Käfig und starrte durch die Stäbe. Argwöhnisch war sie von ihren Mitgefangenen beäugt worden, als sie am frühen Vormittag wieder zu ihnen gesperrt worden war.

Thyra hatte die misstrauischen Blicke ignoriert, sich an den gewohnten Platz gestellt und beobachtete seither die Nordmänner.