Kriegerin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 2 - Andrea Storm - E-Book

Kriegerin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 2 E-Book

Andrea Storm

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Beschreibung

Färöer-Inseln im 9. Jahrhundert: Nur knapp entkommt die Flotte des Wikingerhäuptlings Gorm mit seiner Geliebten Thyra den ersten Winterstürmen und erreicht den Archipel des ersten Siedlers. Thyras Freiheit ist nah, die nordischen Göttinnen prophezeien ihr eine mächtige Zukunft. Sie lässt sich zur Kriegerin ausbilden, kämpft hart. Doch Intrigen, geprägt von Eifersucht, Machtgelüsten und Brutalität drohen alles zu vernichten … In diesem ergreifenden zweiten Teil ihrer Trilogie über die Jelling-Dynastie macht Andrea Storm die Welt der Wikinger authentisch erlebbar und widmet sich den in der Forschung wenig beachteten Wikinger-Kriegerinnen. Gorm und Thyra begründeten als erstes Paar den Aufstieg des dänischen Königreichs. Der erste Teil der Jelling-Dynastie "Feindin der Wikinger" ist im acabus Verlag unter der ISBN 9783862828067 erschienen.

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ANDREA STORM

KRIEGERINDERWIKINGER

Die Jelling-Dynastie

Band 2

Historischer Roman

Storm, Andrea : Kriegerin der Wikinger. Die Jelling-Dynastie. Band 2. Hamburg, acabus ­Verlag 2022

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-86282-829-6

PDF-ISBN: 978-3-86282-828-9

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-86282-827-2

Lektorat: Sarah Weber

Umschlaggestaltung: © Stephanie Gauger, Agentur Guter Punkt, München

Umschlagmotiv: Hintergrund © rdonar/iStock/Getty Images Plus; Berge © weise_maxim/AdobeStock; Rahmen © Epic Fantasy Maps/AdobeStock; Körper Frau © VJ Dunraven/AdobeStock; © Yuriy Seleznev/Adobe­Stock; Narwale © John Finch/Getty Images Plus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Sei gewarnt vor dem innigen Wunsch,

dein Traum möge in Erfüllung gehen.

Er könnte Wirklichkeit werden

und dein Leben für immer verändern.

Inhalt

„Kriegerin der Wikinger“

„Epilog“

„Glossar“

„Berufe auf der dreki und Schlafgenossen ­(húdfadfélagar)“

„Besatzung der dreki, dem Wikingerschiff“

„Historie Thyra und Gorm“

„Historischer Kontext“

„Die Wikingervölker der einzelnen nordischen ­Länder“

„Die styrimannr (Schiffsführer) der dänischen ­Wikingerflotte“

„Die Hierarchie des Wikingervolkes“

„Kriegsschiffe (herskip) der Drachenflotte“

„Nachschlagewerke für die Romane der ­Jelling-Dynastie“

„Danke“

„Die Autorin“

Kriegerin der Wikinger

»Ich tausche das weibliche Gewand der Wikingerin gegen ein männliches und beginne das Leben einer het-ja, einer Kriegerin!«

»Was murmelst du?«

Erschrocken drehte Thyra sich um. Gorm stand hinter ihr und stemmte sich auf dem schwankenden Kriegsschiff gegen den Sturm. Der Wind verfing sich in seinem Umhang und Regen peitschte ihm ins Gesicht.

»Ich?« Unbehaglich starrte Thyra den verzerrten Wellenbergen des tosenden Meeres entgegen.

»Nichts!«

Thyra drückte ihren Körper fest gegen den Holzmast des dänischen Drachenschiffes und ließ, über den Bug der dreki hinweg, die angreifenden Nordseewellen nicht aus den Augen.

Schaumkronen und Algen flogen übers Deck. Sie verschmierten die Holzplanken, während das Meer sich mit den schweren Tropfen der vom Sturmwind verzerrten Wolken vereinte. Thyra wiederholte voller Angst vor dem Tod durch Ertrinken und den Dämonen, die unter dem Schiffsrumpf auf die Seefahrer lauerten, ihr Versprechen.

»Het-ja1, Kriegerin. Ich werde eine het-ja!«

Die schaumige Meeresgischt trieb der Wind in dicken gelbweißen Flocken übers Deck. Das Drachenschiff glitt übers Wellenmeer und Thyra umklammerte den grün-schmierigen Mast. Ihre Hände glitten ab. Die Holzplanken boten keinen Halt.

Angewidert schluckte sie den sauer aufsteigenden Mageninhalt herunter. Über ihren Kopf blähte sich das dunkelrote Segel und argwöhnisch lugte Thyra zur Fock.

»Ich hoffe, du bleibst, wo du bist«, murmelte sie, umarmte den Mast und wartete ergeben auf irgendein Ende.

Das Wikingerschiff kämpfte gegen die brutalen Unbilden und schob sich vom Wind getrieben, die gigantischen Wellen hinauf.

»Gleich«, schluckte Thyra, während sie zusah, wie die dreki die rasende Fahrt ins abgrundtiefe Wellental aufnahm. Sie starrte in den schwarzblauen, wirbelnden Abgrund. »Ooooohhh!«

Sie spürte, wie der Drache auf dem Wellengipfel tanzte, schlingerte und fühlte den erneuten Angriff des Windes. Den Druck. Die Kraft. Das ungebändigte wilde Wesen. Entsetzt beobachtete Thyra, wie das Rahsegel den Sturmwind einfing. Die Bö hob die Luvseite2 der dreki aus der Gischt und legte das Schiff knirschend auf die andere.

»Verkleinert das Segel«, brüllte Ongull, der Steuermann, und sah sorgenvoll zum Purpursegel, wie es sich der Leeseite der brodelnden Wasseroberfläche gefährlich näherte.

»Schneller verdammt! Beeilt euch! Oder wollt ihr ins Leichengefolge unserer Meeresgöttin Rán treten und auf dem Meeresgrund Muscheln und Knochen der Toten sammeln? Der Sturm drückt unser Schiff längsseits!«

»Weib! Verschwinde!« Thyra wurde grob angefahren und vom Mast weggezerrt.

Sie stolperte zum freien Platz einer Ruderbank und umklammerte die Reling, nachdem sie sich auf das Holz gesetzt hatte.

»Der Wind kommt zu stark aus Nordwesten«, brüllte Gorm Ongull zu. »Viel zu früh für die Jahreszeit.«

»Brecher!«, schrie jemand. Jeder Ascomanni3 auf der dreki umklammerte augenblicklich einen hoffentlich festen Gegenstand.

Der Wind drückte das Langschiff und tauchte auf der Leeseite das purpurfarbene Segel ins Meer.

»Verdammt!«, brüllte Ongull. »Wollt ihr, dass wir alle den Meeresboden küssen? Rafft das Segel! Schneller!«

Schwerfällig schob sich die dreki aus dem abgrundtiefen Meeresloch. Eiskaltes Salzwasser strömte in unregelmäßigen Kaskaden vom Leinensegel über die Seefahrer, hinein ins Schiff.

»Bei Odin!«, murmelte Gorm, der Häuptling der Ascomanni mit skeptischem Blick auf die Wellenberge. »Lass das Segel nicht reißen und Ocker, Fett und Teer ihm helfen, das Wasser ablaufen zu lassen.«

Die Segelmacher Galti, Asroor und Oli bekamen Unterstützung von Snoorri und Bror um das Hauptsegel zu reffen und es aus dem Wind zu nehmen.

»Das wird auch Zeit«, knurrte Siguror und trat mit gerunzelter Stirn an Gorms Seite. »Der Orkan erhöht den Druck aufs Masttop.«

»Macht schon! Beeilt euch!«, brüllte Gorm. Sorgenvoll warf er einen Blick zur goldenen vedrviti4, die sich hoch oben am Mast den Launen des Sturmes hinwarf.

»Wenn der Wind zulegt, können wir nur noch die Rahe absenken.« Siguror schüttelte das Wasser aus seinem triefenden Haar.

»Beeilt euch!«, brüllte Gorm scharf.

»Refft das Segel. Jetzt! Langsam«, gab Ongull den Rhythmus vor. »Fasst an jedem Ende gleichzeitig an!«

Die Wikinger hingen in den Seilen und zogen abwechselnd, rhythmisch und kraftvoll das Tau, das durch viele Löcher an den verstärkten Rändern des Segels führte. Galti und Asroor standen mit den Männern Richtung Bug und zogen kraftvoll.

Ongull stand abseits und gab mit ausgestreckten Armen Anweisungen.

»Jetzt!«

Sofort hörten Galti und Asroor mit dem Ziehen auf und hielten das triefend nasse Tau locker in den Händen. Sie spürten wie Oli, Snoorri, Broddr mit den anderen Ascomanni vom Heck aus am Seil zogen.

»Jetzt«, taktierte Ongull und sofort legten Galti, Asroor und acht zusätzliche Wikinger sich in den nassen Tampen.

Die Männer zogen abwechselnd das Seil von vorn nach hinten und von hinten nach vorn. Und ganz allmählich fing das durchnässte Purpursegel an, sich in Falten auf die Decksplanken zu legen.

»Weiter«, befahl Ongull. »Langsam. Ruhig. Schwenkt die Rahe.«

»Brecher!«, dröhnte der Warnruf übers Deck.

»Festhalten! Lasst die Seile nicht los! Die Rahe darf nicht seitwärts schwenken!«

Thyra umklammerte verzweifelt die Reling, während die Welle schmerzhaft auf ihren Körper prallte. Sie zerschmetterte alles, was sich ihr schutzlos entgegenstellte.

»Boah!«, stieß Thyra schreiend ihren angehaltenen Atem aus und blickte in die furchtlosen Gesichter der Wikinger.

Das stechend kalte Wasser floss ab. Jeder stemmte sich gegen die Strömung auf den rutschigen Planken und versuchte, irgendwo Halt zu bekommen. Schnell refften die erfahrenen Seemänner die purpurne Rahe und legten es eilig längsseits zum Deck. Mit geübten Handgriffen befestigten sie das schwere Leinen.

Grinsend zwinkerte Gorm seinem Freund Siguror zu und meinte zungenfertig: »Hast du je gezweifelt, dass unsere Landsleute dies nicht schaffen könnten?«

»Ich?« Siguror schüttelte das Salzwasser aus seinem langen, mittlerweile zotteligen Haar. »Nie!« Seine Augen funkelten belustigt.

Thyra wurde von ihrem Platz verwiesen, sodass sie auf allen Vieren zum Mast krabbelte, während sich an der Reling ein Nordmann niederließ.

Wind, Meer und Regen schlugen erbarmungslos ein, zerrten an jeden skinnklaedi5 und auch an deren Gemütern. Wieder tänzelte das Langschiff auf dem Gipfel einer Wellenklippe. Es stürzte rasend schnell vornüber nach unten. Der Drachenkopf tauchte ins tiefe Meer.

Thyra spürte Gorm nicht. Zu sehr war ihr Verstand auf das aufbrausende Meer fixiert. Er stand hinter ihr, umarmte sie schützend und drückte sie mit seinem Körper gegen den Mast.

Gorm kannte diese ersten Herbststürme. Wie der Wind mit dem Meer spielend raufte und brüllte, wie kämpfende Wikingerhorden, die über den Feind herfielen. Die dreki tanzte auf der Welle und Gorms Blick glitt kurz suchend über den Horizont.

»Stryk-r!«,6 rief er. »Stryk-r, ich empfange dich!«

Er fühlte, wie die dreki kippte und grinste.

»Komm, Drache, zeige dem Gott des Meeres, was ein Ascomanni ist!

Die dreki fiel.

Gorm presste seinen Körper gegen die Frau in seinen Armen und schützte Thyra mit seinem Körper, während er den Mast umklammerte.

Thyra hörte das Holz der dreki knirschen. Die Männer hatten ihre Riemen7 eingezogen und kauerten auf ihren Sitzkisten.

Bleich öffnete sie die Augen, um sofort einer dämonischen Welle ins Gesicht zu sehen.

»Wann ist der Sturm endlich vorbei? Wann?« Jammernd vergrub sie ihr Gesicht in ihren Armen und unterdrückte ein seekrankes Würgen.

Plötzlich fühlte sie etwas. Ihr Puls schlug schneller und ihre Knie zitterten. Langsam drehte sie sich um und sah in Gorms lächelnde Augen.

»Seit wann stehst du hinter mir?«

»Schon eine ganze Weile.«

»Ich hasse diesen Sturm!«, zischte Thyra zornig und schluckte den nach oben strebenden Mageninhalt hastig herunter. »Wann lässt dieser schreckliche Wind nach?«

»Halte durch.« Er strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Er wird es auch.«

»Ich dachte, Wikinger fahren nicht bei Sturm auf dem Meer.«

Gorm grinste. »Machen wir auch nicht!« Er spöttelte und verfolgte begeistert die Fahrt der dreki ins nächste Wellental. Die Bugspitze tauchte bodenlos ins graubraune Wasserlabyrinth der Meeresgöttin.

»Meistens.«

»Aha. Meistens! Und was ist das jetzt?«

Gorm grinste Thyra an, während die dreki erneut auf dem Gipfel einer Welle tanzte.

»Jetzt?«, brüllte er und lachte dem Wind ins Gesicht. »Jetzt ist die Ausnahme!«

Tief stürzte das Schiff und Thyra umklammerte mit geschlossenen Augen, angefüllt mit Todesahnung den Mast. Sie war glücklich, seine kräftigen Arme schützend um ihren Körper zu wissen. Und dann – dann spürte sie nur noch Wasser!

Das Meerwasser war grausam kalt und überall! Das Salzwasser durchdrang die Kleidung, leckte rau über ihre Haut, kühlte sie aus und rann über die Holzbodenplanken zurück zum Ursprung. Thyra konnte nichts sehen. Nicht atmen. Sie fühlte nur stechendes Salz auf der Haut, in ihren Augen, in Mund und Nase.

Eine Riesenwelle hatte das Langschiff überrollt und drückte es unter die Meeresoberfläche. Die dreki tauchte. Sie schwebte im Totenreich der Meeresgöttin Rán.

›Das Meer hat uns verschluckt!‹

Thyra wollte atmen, doch sie wusste, das wäre ihr Tod! Hemmungslos schlug sie mit dem Kopf hin und her. Sie versteifte gequält alle Muskeln, krallte sich fest.

›Ich will atmen! Atmen!‹, schrien ihre Gedanken.

Sie fühlte, wie Gorm sich gegen ihren Körper presste. Plötzlich lag seine raue Hand auf ihrem Gesicht. Er drückte ihr Mund und Nase zu. Sie wusste, es war richtig und doch wehrte sie sich.

›Ich will atmen! Atmen! Ich brauche Luft!‹

Sie ließ den Mast los und krallte ihre Finger in seinen Arm, zog und zerrte. Sie schlug ihren Kopf hin und her. Glaubte voller Angst, wahnsinnig zu werden.

Der Tod zog sie ins dämonische Tor zur Hölle.

Gorm hielt sie und drückte unbarmherzig zu.

Die dreki schaukelte und wippte. Sie quälte sich schwerfällig in wiegenden Bewegungen an die Wasseroberfläche und wurde in den tosenden Herbstwind katapultiert.

Thyra hörte Gorms Schrei, noch bevor sie ihren ersten Atemzug tat.

»Dreki! Kämpfe wie ein Ascomanni!« Gorm nahm seine Hand von Thyras Gesicht.

Thyra riss ihren Mund auf und füllte ihre Lunge mit der herrlich salzigen, kalten, lebensspendenden Luft. Sie schnappte danach, wie ein Fisch an Land, während ihre Beine versagten und sie bewusstlos am Stamm herunterrutschte. Doch Gorm hielt sie.

»Sind noch alle an Bord?«, rief er und blickte fordernd in Sigurors Richtung.

»Weiß nicht!«

Thyra blinzelten sich das Salz von den Augenlidern.

»Kannst du dich alleine halten?«, fragte Gorm besorgt und streichelte ihr Gesicht.

Sie sah ihn an, nickte und umklammerte mit jedem Körperteil den Mast.

»Du zählst die Männer zur Linken unserer dreki«, befahl er Siguror und zählte die Männer zur rechten Flanke.

»Ongull, Ulkell, Tanni, Styrmir, Afaldr, Geiri, Hallgeirr, Eirikr, Njal, Kali, Knut, Fargrim.« Er stutzte kurz. »Gestr?« Doch dann fiel es ihm ein. Gestr war tot. Gestorben nach dem Kielholen. »… und Ketill.«

Siguror überschlug die Seeleute zur linken Relingseite.

»Bergfin, Gizur, Einar, Arnthor, Ulf, Aalakr, Broddr, Vester, Orlyg, Gunnar, Konall, Eirikr, Agmundr, Hafr.« Er sah zu Gorm, der zählte noch.

Der Sturm grinste ihnen ins Gesicht und Siguror stieß seine Faust gegen den Wind und die tosende See.

»Sturmwind! Wir sind Ascomanni! Wir sind Krieger!«

Gorm blickte grinsend zu Siguror, dem das Wasser von beiden Bartzöpfen tropfte. Er nickte ihm zu.

»Alle an Bord.«

»Die Götter fordern uns heraus!«

»Ja, Rán spielt mit uns.«

Sie beobachteten die unruhige Kimmung.

»Der Orkan ist bösartig.«

»Zusammen mit Gjalp, ihrer launenhaften Tochter«, ergänzte Siguror grimmig, während er sich an die Bordwand krallte. Prustend schüttelten beide das Salzwasser aus den Haaren. »Sie versucht, es ihrer Mutter gleich zu tun.«

»Gjalp scheint eine gelehrige Schülerin zu sein!«, brüllte Gorm Siguror ins Ohr.

Der Wind spielte mit den schwarzen Wellenungetümen, formte sein bösartiges Gesicht und grinste allen fletschend entgegen.

»Hat sich etwas gelöst?«

»Alles festgezurrt. Selbst die Tiere«, griente er und warf einen schnellen Blick auf die am Boden liegenden Pferde.

Erneut kam eine Welle.

»Diese Brecher sind riesig.« Stirnrunzelnd schätzte Gorm die Giganten. »Zwanzig Meter, vielleicht!«

Siguror taxierte die Wellenberge.

»Oder höher. So ein Unwetter habe ich noch nie erlebt! Wir sollten Rán ein Blutopfer anbieten!«

»Jetzt?«, spuckte Gorm und rieb sich den Bart.

»Am Abend könnte es zu spät sein. Dann könnte unsere Flotte schon mit Seeungeheuern, Fischen und Krabben auf dem Meeresgrund tanzen.«

Lachend schlug Gorm seinem Königsdrengir Siguror auf die Schulter und brüllte gegen den Sturm. »Du könntest recht haben. Lass uns unser bestes Pferd dem Meer übergeben, damit wir Rán und Gjalp in ihrem Wahn besänftigen können.«

»Aalakr!«, rief Siguror. »Aalakr! Nimm Broddr und Ulf zur Hilfe und schneide unser bestes Pferd von den Seilen.«

Erstaunt rieb Aalakr sich das salzige Wasser aus den Augen. Doch dann blinzelte er verstehend und nickte aufgeregt. Ungestüm tickte er Ulf, der vor ihm saß, auf die Schulter und deutete zu den Pferden. Dann drehte er sich zu Broddr um und befahl in knappen Worten: »Nimm dein schärfstes Messer und komm mit.«

Broddr sah Aalakr entrüstet an. »Ich habe nur scharfe Messer«, knurrte er mürrisch und stand auf.

Siguror und Gorm standen bereits bei den Pferden.

»Welches?«, fragte Gorm.

»Fifa.« Aalakr deutete auf die braune Stute. »Sie ist unser schnellstes Pferd und gebärt die talentiertesten Fohlen.«

»Broddr«, entschied Gorm und deutete auf die fest zusammengeschnürte Stute. »Schneide ihr in Ráns Namen und im Namen ihrer Tochter Gjalp die Kehle durch, so dass ihr Blut den Durst unserer Meeresgöttinnen stillen möge und das warme Fleisch den Hunger von Thor, dem stärksten aller Götter bändigt und er das Unwetter besänftigt.«

Kaum sprach Gorm die Worte aus, stach Broddr tief in die Halsschlagader der treuen Stute mit den großen braunen Augen. Sie stöhnte nicht einmal, so schnell ging es. Das schäumende Meereswasser entzog ihr gierig das rote dampfende Blut und sog es durch die Ritzen der Holzplanken in die Tiefe.

»Ulf, Aalakr.« Broddr knurrte in seinen langen Bart und stellte sich breitbeinig aufs schwankende Schiff. »Jetzt! Lasst uns die Stute Fifa den Göttern übergeben.«

Gemeinsam mit Orlyg und Gunnar wuchteten sie den warmen, leblosen Pferdekadaver über die Reling, ins tosende Meer.

»Mögen die Götter unser Geschenk annehmen«, rief Gorm voller Inbrunst, der nur kurz auf den Wellen schwimmenden Stute zu. Der nächste Brecher rollte heran und das Pferd sank lautlos ins Totenreich, hinunter in die bodenlose schwarze Tiefsee.

»Festhalten!«, schrie Siguror gerade noch und umklammerte den Hals eines schwarzen Wallachs, der mit aufgerissenen Augen, zusammen mit den anderen Pferden, festgezurrt in der Mitte des Schiffes auf den Planken lag.

Gorm sah es und grinste.

»Deiner Liebsten wird es nicht gefallen, wenn du Männerfreundschaften so intensiv pflegst.«

Er erntete einen vernichtenden Blick, dann griff Gorm eilig in die Seile. Der Brecher überspülte mit ungeheurer Wucht das Deck. Seine Beine wurden weggespült. Das Seil, an dem er sich festhielt, schlingerte und Gorm rutschte übers Deck zu schlittern an.

»Verdammt! Falsches Seil!«, fluchte er und rutschte über die rauen Decksplanken, prallte gegen die an den Füßen festgeschraubten Sitzkisten und stieß schließlich Aalakrs Beine fort.

»Hmpf«, stöhnte der große Wikinger. Er fiel, griff ins Leere, packte schließlich mit einer Hand Gorms Gewänder, und während die dreki ächzte und stöhnte, schlingerten nun beide Männer über die Decksplanken. Das Langschiff schnellte die Wellenklippe hinab und schmetterte beide gegen die Bordwand.

»Hmpf.« Aalakr verzog sein Gesicht.

»Grrrh. Verdammt!«, fluchte Gorm.

»Möge Thor unsere Stute schnell aufnehmen und unsere rachsüchtigen Göttinnen besänftigen.«

Aalakr rappelte sich eilig auf, bevor der nächste Wellenberg von der dreki erklommen wurde.

»Wenn Rán es schon versteht, unseren Häuptling von den Beinen zu schlagen …«

»Das war eine Welle«, ächzte Gorm.

»Eben«, kam von Aalakr die vernichtende Antwort.

Gorms Blick wanderte zu Thyra. Pitschnass hockte sie am Fuße des Mastes und umklammerte das Holz mit Armen und Beinen. Leichenblass sah sie in seine Richtung.

Gorms Mundwinkel zuckten nach oben.

»Tapferes Weib.«

Gorm sah, wie Siguror den breiten Hals des Wallachs losließ.

»War er gut?«, rief er anzüglich gegen den Wind.

»Was Besseres kann es nicht geben. Ich werde Sjöfn, unserer Liebesgöttin, ein Opfer bringen müssen.«

»Das wirst du. Du wirst ihr aber etwas ganz Besonderes bieten müssen. Sonst wirst du auf ewig mit dem Wallach dein Lager teilen müssen!«

»Unsere Liebesgöttin wird meine Verzweiflungstat verstehen. Sjöfn ist sehr verständnisvoll.«

»Welle!«

Der Warnruf von Ongull, dem Steuermann, kam gerade noch rechtzeitig.

Thyra stöhnte und mit einem Blick zu den schwarzen Wolken schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel.

»Bitte, lass diese schreckliche Fahrt bald ein Ende haben und …«

Ein Brecher prallte gegen das Schiff.

Die Männer kämpften gegen die Urgewalten. Das keltische Meer forderte alles von ihnen.

Thyra zitterte, saß auf den Planken, umklammerte mit allen Gliedmaßen den Mast und merkte nicht, wie der Griff ihrer Hände erlahmte. Wieder krachte eine Welle übers Deck.

Sie war müde, erschöpft und hoffnungslos.

Ihr Kopf lehnte am Segelmast. Sie konnte und wollte nicht mehr denken, nicht mehr fluchen und nicht mehr beten. Ihre Kräfte schrumpften und eine wunderbare Müdigkeit legte sich wie ein warmes, friedliches Betttuch über ihren Körper.

»Schlafen. Endlich schlafen.«

Langsam fielen ihre Augen zu.

Die nächste Welle.

Wie ein streichelnder Liebhaber zog das Wasser ihre Beine sanft vom Mast und lockte sie über die Decksplanken. Der Griff ihrer Hände löste sich. Sie segelte ins Reich der Träume. Zitterte nur vor Erschöpfung und Kälte. Aber diese friedliche Ruhe war einfach nur erlösend. Bis der nächste Brecher sie mitriss.

Ihre Tunika und der nasse, mit Meerwasser vollgesogene Umhang drückten sie bleischwer nieder.

»Mir ist so kalt«, murmelte Thyra, während sie kraftlos schlingernd über die Decksplanken rutschte. »So kalt.«

Die dreki wanderte erneut einen Wellenberg hinauf.

Sie stieß gegen eine, am Boden verankerte Seekiste.

»Thraell8!« Konall packte zu. Fest umklammerte er ihren Rocksaum.

Thyra drehte und bewegte ihren Körper in der Strömung. Sie sah in grotesker Weise ruhig und gelassen in das besorgte Gesicht des Wikingers.

»Grrrh«, knurrte Konall mit zusammengebissenen Zähnen.

Seine Hände waren steif vor Kälte. Der Schmerz stach durch die Muskeln seines Armes, sodass er langsam vom Holz der Reling rutschte. Jeder Muskel bis zum Bersten angespannt.

»Thyra.«

Zähnefletschend rissen seine Finger ein Loch in den Stoff. Er sah in ihr Gesicht und erkannte, dass sie ihn nicht mehr wahrnahm.

Der nächste Brecher.

»Eirikr!«, rief er.

Der Wind trug seine Worte, denn Eirikr hob fragend den Kopf und griff in den langen Haarschopf der Sklavin.

»Ahhh.« Thyra verzog das Gesicht, wehrte sich aber nicht. Sie war im Land der Träume und wunderte sich über die Schmerzen, obwohl der Rest ihres Körpers so wunderbar gefühllos war. Langsam betastete sie ihren Kopf.

»Thyra!«, brüllte Konall.

Der Stoff riss.

»Thyra!«

Sie glitt ihm aus den Fingern. Mit dem Sog des Wassers drehten sich Arme und Beine, verfingen sich, in den zusammen gezurrten Pferdebeinen und drehten sich kurz darauf aus dem Beinknäuel wieder hinaus.

»Wer quält mich so grässlich?« Ihre Kopfhaut schmerzte. »Au, lass mich los.«

»Ich kann sie nicht halten!«, brüllte Eirikr verzweifelt. Ein erneuter Schwall überschüttete die Menschen an Bord.

Die nassen Haare glitten ihm durch die Finger. Thyra hob die Arme und fand endlich den Ursprung des Schmerzes. Irgendjemand krallte so unerschütterlich wie der Biss eines tollwütigen Hundes seine Hände in ihre Haare.

»Was soll das? Lass mich los!«

Sie würgte. Das Salzwasser fand seinen Weg aus ihrem Magen hinaus. Thyra brach den Mageninhalt aus und fühlte sich elendig.

»Warum quälst du mich so?«, jammerte sie mit geschlossenen Augen und umklammerte Eirikrs Handgelenk.

Die dreki schoss in rasender Fahrt hinab ins Wellental und stieß abgrundtief mit dem Drachenkopf ins Meer.

»Thraell!« Eirikr spürte, wie sie ihm entglitt, und blickte entsetzt auf das lose Haarbüschel in seiner Hand.

Allmählich kämpfte sich das Drachenschiff den nächsten Hügel hinauf. Es ächzte und stöhnte, kämpfte und arbeitete.

Ein zweites Mal landete Thyra auf dem weichen Pferdebauch und öffnete erstaunt die Augen. Verwirrt drehte sie den Kopf.

»Pferde?«

Sie rutschte weiter. Prallte gegen die Seekiste von Agmundr und versuchte, diese zu greifen.

»Oh nein!«

Ihre Hand rutschte ab. Sie schlitterte fort. Agmundr griff beherzt zu und wollte die Sklavin fassen. Das Schiff schlingerte und auch sein Griff ging ins Leere.

Entsetzt erkannte Thyra, dass sie genau aufs Heck zusteuerte.

Genauso entsetzt wie Kalman!

Kalman saß zur rechten Seite des Hecks und hielt das Steuerruder fest in seinen großen Händen. Er versuchte, das Langschiff auf Kurs zu halten. Er hatte diese schreckliche, dumme Frau schon die gesamte Zeit im Auge. Beobachtete, wie sie hin und her schlingerte.

»Weib, pass auf, wohin du schleuderst! Reiß mir nicht das Ruder aus der Hand!«

Die dreki knarrte, während sie sich dem Wellenberg hinauf arbeitete. Thyra riss ihre Augen auf. Das Salz brannte. Tränen liefen übers Gesicht.

»Oh nein!«

Thyra war der Meinung, sie hätte geschrien. Doch es war nur ein Flüstern. Ihr Körper prallte gegen einen festen und dennoch nachgiebigen Gegenstand.

Thyra blickte genau in die skrupellosen Augen von Hafr.

»Hallo, meine Kleine«, knurrte er bösartig und zynisch grinsten seine Lippen. »Du landest direkt in meinem Schoß. Was für ein Zufall! Den Schoß, den du kastriertest.«

Sein Lächeln verschwand und Hass und Bosheit zeichneten sich auf seinen Gesichtszügen ab.

»Welch glückliche Fügung der Götter.«

»Hafr.«

Thyra dachte augenblicklich an ihre erste Begegnung mit ihm. Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild, wie er auf ihr lag. Sie gierig und lüsternd angrinste. Mit gezielten Handgriffen den Rock hochschob und sich einen Weg für seinen steifen Penis bahnte, um in sie einzudringen und zu vergewaltigen.

Entsetzt presste Thyra die Augenlider zusammen.

›Diese Erinnerung kann ich jetzt nicht gebrauchen! Nicht jetzt!‹

»Kleine Schlampe«, raunte Hafr mit tiefer Stimme, packte ihre Taille und setzte Thyra breitbeinig auf seinen Schoß. »Spürst du das?« Er drückte sie fest auf seinen schlaffen Penis.

»Hafr!«, keuchte Thyra angewidert, drehte ihr Gesicht zur Seite und stemmte die Hände gegen seinen Brustkorb.

»Spürst du das?«, zischte er zornig und voller Hass presste Hafr die Sklavin noch inniger gegen seinen Körper.

Thyra schnaubte und dachte sarkastisch: ›Was soll ich da spüren?‹

»Wehre dich nur, fál-a9!«, schnaubte Hafr gefährlich. »Du hast mein Leben ruiniert. Du hast mich mit einer Hand kastriert! Meinen Schwanz abgeknickt und mich vor jedem Ascomanni im gesamten Reich erniedrigt. Du hast mir meinen Schwanz und meine Lust genommen.«

Thyra spürte seine kalten, nassen Lippen an ihrem Ohr und seinen ekelerregenden warmen Atem am Hals und im Nacken. Der Angstschauer rieselte an ihrer Wirbelsäule entlang.

›Er bringt mich um und wirft mich über Bord. Nun wird er doch mein Henker!‹

»Keuche nur.« Er packte ihre linke Brust.

Unermüdlich tobte der Orkan und Thyra starrte plötzlich in Gorms wütendes Gesicht. Stocksteif stand er am Segelmast und beobachtete das Geschehen.

»Welle!« Ein Warnruf von Ongull.

Thyra warf sich zur Seite, rutschte dem hohen Heck entgegen und prallte gegen die Reling.

»Grmpf. Ahh!«

Ihr Schädel brummte und vor ihren geschlossenen Augenlidern flimmerten glitzernd bunte Lichter.

»Welle. Welle«, wisperte sie, wie um sich zu ermahnen, schnellstens einen Halt auf dem tanzenden Wikingerschiff zu suchen. Ein Pferd wieherte, zu ihrer Rechten erklang ein unterdrücktes Stöhnen, Holz knirschte.

Thyra griff blindlings zu. Sie fühlte Beine und hörte einen derben Fluch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hob sie ihre Arme, schob sich an Kalman, dem Rudermann, der sie brutal wegdrückte, vorbei und ergriff den Querbalken vor dem Heck.

Sie hörte Kalman fluchen.

»Verdammtes Weib! Verschwinde! Wie soll ich das Ruder halten bei diesem Sturm?«

Mit den Füßen stemmte Thyra sich gegen die Holzwand und drückte ihren Körper mit letzter Kraft in die enge Spitze des Hecks. Sie sah das dunkle Wellental, erblickte kurz den Horizont mit seinen grauschwarzen, vom Wind zerfetzten Wolken und erkannte die weißschäumende Gischt. Sie schluckte und in rasender Fahrt ging es hinab, in das Reich der leidenschaftlichen, nach leblosen Menschenkörpern gierenden Meeresgöttinnen.

»Wie spät ist es?«, fragte Thyra plötzlich unbeteiligt. »Haben wir den Abend bald erreicht? Wo ist die Sonne?«

Das Langschiff schoss in die Tiefe.

»Nicht loslassen! Kämpfe! Kämpfe! Sonst wirst du nie eine het-ja! Nie an König Alfred Rache üben.«

›Und nie mehr in Gorms Armen liegen‹, vervollständigte Thyra in Gedanken.

»Waaass?«, schrie sie entgeistert, als die Welle sie wieder freigab. »Was habe ich da gedacht?«

Sie spuckte Salzwasser und suchte angespannt Gorm.

»Wo ist er?« Unruhig wanderte ihr Blick durch die Reihen der Ascomanni. Die Wikinger saßen jeweils zu ihrer rechten und linken Seite im Langschiff.

Die runden Schilde steckten zum Schutz vor dem Wind, Wasser und feindlichen Pfeilen in langen Schlitzen an den hölzernen Bordwänden. Wo sie sich berührten, entstand ein eingebuchtetes Dreieck, dort hatten die Schiffszimmerer Riemenpforten gebohrt, die bei Sturm mit Kappen geschlossen wurden. Einige Wikinger ritzten Figuren oder Tiere auf die hölzernen Verschlusskappen, die ihren Göttern oder ihren Frauen in Haitabu ähnelten.

Durch diese Löcher steckten alle Seefahrer nun ihre Riemen. Im Takt beugten alle ihre Oberkörper nach vorne, um kraftvoll die Ruder durch das unruhige Meer zu ziehen. Das Schiff musste unbedingt gerade zu den Wellen getrieben werden.

Wieder und wieder erfüllte ihr tiefes Stöhnen das Deck.

»Riemen einholen«, tönte befehlend Ongulls Ruf.

Augenblicklich holten alle Männer ihre Ruder ein und verschlossen die Riemenpforten mit den Verschlusskappen, bevor noch mehr Wasser eindrang.

»Wurde auch Zeit«, hörte Thyra Isleifr grummeln. »Konnte den Riemen kaum noch gegen die Wasserschläge halten.«

»Hatte auch Schwierigkeiten«, meinte Agmundr ruhig, legte den Riemen zu seiner Rechten ab und zurrte ihn mit einem Lederriemen fest. »Der Sturm tobt mit aller Macht!«

Thyra sah zur Mitte des Schiffes.

Dort lagen die Pferde hinter dem Mast vor dem kleinen Beiboot. Die Hühnerkäfige waren allerdings nicht mehr zu sehen.

»Die wurden verschluckt von den Meeresungeheuern«, murmelte Thyra und suchte weiter. Sie sah Siguror und erkannte, wie er gestikulierend Befehle verteilte.

»Wo ist er? Wo ist Gorm?«

Von Neuem begann der Tanz auf dem Gipfel der Wellenberge und die rasende Fahrt in den tiefdunklen Abgrund.

Thyra schloss die Augen. Sie konnte fühlen, wie das hölzerne Boot mit dem Meer stritt. Beinahe konnte sie den Wind brüllen hören: »Kämpfe mit mir! Bist du bereit für deinen Untergang?«

Während das Wasser schmeichelnd über die ausgekühlte Haut lief und raunend lockte: »Komme mit mir. Ich zeige dir mein Unterwasserreich.«

»Ihr bekommt mich nicht!«, zischte Thyra zwischen zusammen­gebissenen Zähnen.

»Bist du in Ordnung?«

»Was?« Irritiert blinzelte sie das Salzwasser fort und traute ihren Ohren nicht.

»Bist du verletzt?«

»Was? Wo bist du?«

»Hier. Kannst du dich noch festhalten?«

Thyra schüttelte ihren Kopf. Sie sah Gorm nicht und konnte dennoch seine Stimme hören.

»Der Schlag auf meinen Schädel bringt meinen Verstand durcheinander. Ich höre schon Stimmen!«

»Bist du unversehrt?«

»Gorm!« Perplex öffnete Thyra ihre Augen und blickte in seine grauen Augen.

Voller Freude ließ sie den Querbalken los und fiel ihm freudestrahlend um den Hals.

»Du lebst! Das Meer hat dich nicht verschluckt!«

»Was sollte ich auch sonst tun?«, lachte Gorm und beobachtete aus dem Augenwinkel den Orkan. »Schließlich bin ich der styrimannr10.«

»Ja«, fiel Thyra in sein Lachen ein. »Schließlich bist du der Häuptling und kannst nicht über Bord gehen.«

»Das kann ich nicht.«

Er musterte die Dünung, drückte Thyra mit seinem Körper in die Enge des Hecks und wartete den Brecher ab.

»Du bleibst hier«, befahl er und ging mit schwankendem Schritt zur Mitte des Schiffes. Dort stand er breitbeinig und sicher. Er hatte das Segel und seine Männer im Blick. Gleichzeitig gab er Kalman am Ruder und Ongull, dem Steuermann, Befehle.

Thyra betrachtete den Häuptling der Ascomanni. Dort stand er. Er war für die gesamte Mannschaft sichtbar. Ein unnachgiebiger, kantiger Fels in der Brandung. Kompromisslos, kräftig, mutig.

Zitternd schloss Thyra ihre Augen.

»Ich liebe ihn. Verdammt!«

Unerwartet flatterte ihr Körper vom Hals abwärts über den Bauch hinunter bis zu den Zehen.

»Was soll das werden? Ich bin seine Sklavin. Er ein styrimannr, ein Dänenhäuptling.«

Hastig warf sie einen Blick zu Hafr und erschrak bodenlos. Lauernd beobachtete er Thyra aus bösartigen Augen.

»Ich kriege dich, jederzeit.«

Thyra stemmte ihre Hände gegen den nächsten Brecher am Querbalken und drückte die Beine gegen die Bordwand. Dann sah sie herausfordernd in die Augen ihres Feindes Hafr. In seinen Augen loderte flammender Hass.

Spöttisch zog Thyra ihre Mundwinkel nach oben.

»Dich zerbreche ich mit einer Hand«, sagte sie ruhig und zeigte Hafr, wie sie sein Glied umknickte und diesen Krieger entmannte.

»Groaah!«, brüllte Hafr unbeherrscht. Er sprang auf und wollte sich augenblicklich auf Thyra stürzen. Doch das tosende Meer war in diesem Augenblick Thyras Verbündeter und schleuderte Hafr zurück auf seine Sitzkiste.

»Mit einer Hand.«

Das magere Tageslicht verschwand hinter den Wellenungeheuern und eine gefährliche Dunkelheit legte sich über das Meer und die Menschen der Schiffsflotte. Kein Sonnenlicht erhellte die Wellenberge. Die Sterne und der Mond wurden von grauschwarzen Wolkenfeldern gnadenlos verdeckt. Gorm stand hinter dem aufgeblähten Segel und presste seine Kiefer so fest aufeinander, dass die Wangenmuskeln zuckend hervortraten.

»Das sieht nicht gut aus«, meinte Siguror, der neben Gorm trat.

»Hmmh.«

»Die Götter spielen mit uns.« Breitbeinig stand Siguror neben seinem Häuptling und schützte sich vor der nächsten Welle.

»Unsere Götter spielen ein dämonisches Spiel.«

Er sah sich auf dem Wellengipfel um, bevor das Tageslicht hinter dem Horizont verschwand.

»Konntest du die anderen Schiffe sehen?«

»Manchmal.« Siguror schüttelte sich das Wasser aus den Haaren.

»Ich sah die ulfr elfar11 vor einiger Zeit und die faxi byrjar12.«

Siguror blickte Gorm sorgenvoll an.

»Israuor auf der hárknifr13 habe ich seit dem Morgengrauen nicht gesehen. Nur Bror auf seiner ormr in langi14 und die gammr15 mit Yngvarr und Briningr liegen noch mit uns auf einer Höhe.«

»Die gullbringa16 ist ein gutes Schiff. Und Briningr ein erfahrener Seemann. Und was ist mit Nereior und seiner vargr hafs17? Hast du sie gesehen?«

Siguror kratzte seinen Bart und spuckte auf die Decksplanken.

»Einmal … Au verdammt!«, brummte er bösartig, als ein Riemen gegen sein Bein schleuderte. Er sah Hallgeirr zornig an. Doch der würdigte den Königsdrengir mit keinem Blick. Hallgeirr zurrte seine Sitzkiste fester und stemmte sich gegen den nächsten Brecher.

»Das werde ich beim nächsten thing18 ansprechen.«

»Was?«

Gorm sah zum Horizont und versuchte, die Wikingerflotte zu orten.

»Dass die Riemen besser verzurrt werden.«

»Mach das. Kannst du den Nordstern sehen?«

Siguror folgte seinem Blick und legte den Kopf in den Nacken. Der Mond zeigte sich schwach hinter einer Wolke.

»Nein«, murmelte er stoisch.

Doch plötzlich riss Siguror seinen Arm hoch und zeigte hi­nauf zum löchrigen Wolkenvorhang.

»Sie reißt auf! Die Wolkendecke reißt auf! Der Sturm legt sich!«

Strahlend und mit volltönender Stimme fing Siguror unvermittelt an zu singen.

»Der Wind ist grimmig heute Nacht.

Er schüttelt das weiße Haar der See.

Ich fürchte keine wilden Wikingerhorden,

die segeln über die stille See.

Der aufgeblähte Nordwind zerzaust das Meer,

er verschont niemanden!

Zerkratzt uns mit seinem grausamen Schnabel,

deshalb kamen sie, unsere Götter.

Yeah hoh.«

Ungestüm stemmte Siguror seine Hände in die Hüfte und stampfte tanzend über die hölzernen Planken, während sein volltönender Bariton erklang:

»Drei Götter kommen.

Yeah hoh!

Der Stärkste von ihnen ist Thor,

Odins und Jorunns Sohn.

Yeah hoh!

Zusammen mit Rán,

Unserer grausamen Göttin der Stürme und Wasserstrudel,

Und mit Gjalp, ihrer eifersüchtigen Tochter.

Sie spielen und lachen,

Während wir tanzen mit unseren Drachen.

Wir tanzen wie ein Blatt im Wind,

Auf den Wellen der zornigen See.

Yeah hoh.

Thor und Rán schlagen ihre Schenkel,

und Gjalp wirbelt über den Meeresgrund.

Sie toben, bis die Wellen sich überschlagen.

Und wir kämpfen mit der See.

Wir kämpfen gegen den Sturm,

Und kämpfen gegen die Ungeheuer,

die aus der Tiefe ans Tageslicht steigen.

Yeah hoh!«

Mit lauter Inbrunst sang Siguror gegen den Wind und die Ascomanni fielen in seinen Gesang mit ein.

»Wir opfern und kämpfen!

Yeah hoh.

Wir befahren die Keltische See.

Yeah hoh.

Und siegen.

Yeah hoh.

Und siegen!«

Laut schwangen die tiefen Männerstimmen über die aufgebrachten Meereswellen und endlich, aus weiter Entfernung, hörte Gorm die singende Antwort eines Drachenbootes.

Er grinste und sagte nur: »Wikinger! Tapfere Krieger! Sobald die Sterne des Himmels befreit sind, gehen wir an Land.«

»So soll es sein.«

»So soll es sein«, murmelte Gorm und hoffte, dass die Schiffe seiner Flotte diesen Sturm überlebten.

Erschöpft hockte Thyra im Heck und starrte mit leerem Blick auf die Männer. Ihr Körper war eiskalt, die Glieder erstarrt und mit schmerzenden Fingern umklammerte sie den Querbalken.

»Wann hört es auf? Wann hört dieser mörderische Sturm auf?«

Sie schloss die Augen und apathisch schleuderte ihr Kopf hin und her.

Plötzlich hörte sie dröhnende, tiefe singende Männerstimmen.

»Werd ich jetzt auch noch verrückt! Können Meeresungeheurer singen?«

Sie äugte ängstlich über die Reling. Ein entsetztes Schaudern kribbelte auf ihrer Haut, während sie an die grauenhaften Erzählungen von gefräßigen Untieren mit tentakelhaften Armen, verschleimten Mäulern und mit langen braunen Zähnen dachte.

Sie zwang sich, genauer hinzuhören.

»Das sind keine Ungeheuer! Das sind Wikinger! Sie singen! Diese Männer singen!«

Ein vorsichtiges Lächeln zog über ihr Gesicht. »Sie singen! Dieses verrückte Seefahrervolk lacht singend den Sturm aus.« Verblüfft flammte ein Hoffnungsschimmer auf. »Dieses Schiff wird nicht kentern! Wir erreichen das Ufer und werden nicht gefressen!«

»Yeah hoh!«

Thyra hörte die Wikinger brüllen und langsam flüsternd fiel sie in den Gesang mit ein.

»Yeah hoh«, wiederholte sie den Refrain. »Yeah hoh.«

In der Nacht legte sich der Sturm. Sterne glühten schimmernde Löcher in den tiefschwarzen Nachthimmel und Wolkenfetzen streiften die Mondsichel.

»Der Mond nimmt zu. In wenigen Tagen wird er uns mit vollem Gesicht anstrahlen«, verdeutlichte Gorm und prüfte den Wind.

»Wir müssen vorher unser Ziel erreichen. Die Herbststürme setzen dieses Jahr früher ein und ich will mich nicht bei Vollmond mit den Göttern auf dem Meer unterhalten.«

»Ich auch nicht. Rán und Gjalp lachen und tanzen mit Thor, während sie mit den Drachenschiffen und unserem Leben spielen.« Siguror schüttelte sich unwillkürlich.

»Das war knapp.« Gorm lehnte sich an die Reling und blickte zur im Schatten liegenden Küste. »Wir sind während des Sturmes in einer wahnwitzigen Geschwindigkeit um die Landzunge von Ost-Anglia gefahren. In der nächsten geschützten Bucht werden wir vor Anker gehen. Sende den anderen Schiffen das Signal.«

Siguror nickte und gab Tanni mit einem Blick zu verstehen, dass er zu ihm kommen sollte.

Tanni erhob sich von seiner Sitzkiste und schüttelte sich wie ein nasser Hund, bevor er zu Gorm und Siguror ging.

»Entzünde ein Feuer. Nimm deinen Bogen und schieße es sichtbar in den Nachthimmel. Gebe unserer Drachenflotte das Signal zum Ankern an der Küste.«

Tanni nickte und machte sich an seine Aufgabe.

Die Dunkelheit legte sich wie eine schwarze Decke über die jetzt sanften Wellen des keltischen Meeres, als surrend der erste brennende Pfeil in den Nachthimmel flog.

Thyra legte ihren Kopf staunend in den Nacken.

»Ein Feuerpfeil.«

Wieder hörte sie ein Zischen, nur wenige Augenblicke später schwirrte ein zweiter Funken sprühender Feuerball durch die Luft.

»Was hat das zu bedeuten?«

Aufmerksam beobachtete sie die Seeleute und suchte die Silhouette des Häuptlings, bis sie ihn neben dem Königsdrengir entdeckte.

»Das ist ein Signal!«, erkannte Thyra und suchte am Horizont die dunklen Umrisse der Küste nach den Schiffen der Kriegsflotte. »Wie weit sind die Feuersignale zu sehen?«

Staunend wartete Thyra wie alle anderen, ungeduldig auf eine Antwort.

Der dritte Feuerpfeil zischte in den Himmel.

Kein Laut rang aus den Kehlen der Ascomanni. Nicht eine fragende Stimme erhob sich. Langsam wurde Thyra ungeduldig und beobachtete, wie Gorm einen Arm hob.

Sofort zischte ein vierter Pfeil in den Himmel.

»Er will wissen, ob die anderen noch leben.«

Sie dachte an Aesa und die vielen anderen, die auf den Drachenschiffen in den Norden fuhren.

»Aesa, bitte lebe!«

Die grauenhafte Erinnerung an eine verwesende Wasserleiche schob sich vor Thyras inneres Auge. Sie schluckte und würgte.

»Bitte! Lebe!«

»Wo sind sie?«, hörte Thyra Ketill flüstern. »Sie müssten die Signale doch sehen!«

»Sie müssen erst das Feuer an Bord entzünden«, raunte Fargrim, der zwei Plätze vor Ketill saß. »Wenn alles nass ist, wird es schwierig.«

»Da!«, brüllte Knut, dessen Auge als sjónarvördr19 geschult übers Meer sehen konnte. »Ein Feuerpfeil!«

Ein erleichtertes Murmeln rollte über das Deck.

»Ein Drachenschiff hat diesen Todesritt im Sturm überlebt«, sagte Gorm leise.

»Eines!«, zischte Siguror besorgt und starrte in die jetzt lautlose Nacht.

»Da! Ein zweiter Pfeil!«, rief Bergfin aufgeregt auf der Backbordseite. »Und ein dritter!«

»Drei Schiffe«, zählte Gorm.

»Vier!«, nachdenklich kräuselte Siguror die Stirn. »Vier Schiffe.«

»Von sieben.«

»Von sieben.«

»Steure die Küste an und lass Tanni in regelmäßigen Abständen weitere Feuerpfeile abschießen. Alle sollen sehen, wohin ich sie führe.«

»Gut.«

Siguror ließ Gorm allein. Er kannte seinen Häuptling. Gorm wollte jetzt Zeit und Ruhe, er musste seine Gedanken ordnen.

Thyra ließ die Zwei nicht aus den Augen.

»Riemen raus!«, brüllte Ongull herrisch.

Thyra zuckte zusammen. Sofort polterten die Riemen auf die Decksplanken und mehrstimmig kräftige Flüche unterbrachen das nachdenkliche Schweigen.

»Verdammt! Pass doch auf«, schnauzte Ketill. »Du arbeitest wie ein Anfänger!«

»Was bin ich?« Mit puterrotem Kopf drehte Ulkell sich um.

»Ein Anfänger! Und bald über Bord, wenn du mich nochmal mit dem Riemen schlägst!«

»Noch ein Wort und ich schmeiße euch beide ins Meer!«, drohte Ongull, drehte sich um und befahl: »Riemen in die Löcher.«

Aufmerksam beobachtete er die Männer. Eilig drehten die Wikinger die Verschlusskappen aus den Riemenpforten und schoben die Ruder durch die Öffnung der Bordwand.

»Fertig?«, schallte Ongulls Ruf übers Deck.

»Fertig«, kam dröhnend die vielstimmige Antwort.

»Alle in Position.«

Das Poltern verstummte und Thyra staunte über die Geschwindigkeit und die Präzision, mit der jeder Befehl ausgeführt wurde.

»Pult«, donnerte Ongulls Stimme.

Das tiefe Stöhnen aus unzähligen Männerkehlen, das schlurfende Geräusch der Holzriemen und das sanfte Plätschern der Ruderblätter auf der Wasseroberfläche übten seltsamerweise eine beruhigende Wirkung auf sie aus.

»Pult.«

Behäbig setzte das Langschiff sich in Bewegung, nur jetzt war es kein Spielball von Wind und Wellen.

»Wir fahren zur Küste!«, erkannte Thyra erleichtert und plumpste auf den Hintern. »Ich werde nie wieder auf einem Schiff zur See fahren! Nie wieder! Eher würde ich Monate über staubige Erde kriechen.«

Sie hatte es nur geflüstert und erschrak heftigst, als Hafr ihr zynisch zuzischte:

»Du willst kriechen?«

Thyra starrte mit aufgerissenen Augen in sein vor Hass verzerrtes Gesicht.

»Du darfst den Staub vor meinen Füßen fressen. Kurz bevor ich dir den Hals umdrehe.«

Thyra schluckte, drückte ihren Rücken durch, setzte sich aufrecht hin und fixierte herausfordernd Hafr.

»Du wirst es nicht erleben, dass ich vor dir krieche und kapituliere! Nie werde ich vor deinen Füßen liegen! Oder hast du es vergessen?«, forderte Thyra Hafr feindselig heraus und machte mit der Hand die eine – bestimmte – abknickende Bewegung.

Hafr brüllte vor Zorn, blieb aber auf seiner Sitzkiste hocken. Denn die Bestrafung durch Gorm, wenn er jetzt seinen Platz verlassen würde, wäre fürchterlicher als die Rache, die er sich in seinen grausamsten Träumen ausmalte und herbeisehnte. Dann sah er Thyra in seiner Erinnerung, wie er auf ihr lag und sie sich unter ihm wand und wehrte. Es erregte ihn ungemein. Er sah den aufgewühlten Waldboden unter dem fast nackten Körper dieser Frau und wollte in sie eindringen und sie vergewaltigen, als er ihre kleine Hand an seinem Bauch entlang wandern fühlte.

›Du lüsternes Biest!‹, grinste er noch. Und dann dieser unbändige Schmerz! So heftig und qualvoll, dass er sämtliche Sinne ausfüllte!

Diese Hexe hatte seinen Schwanz abgeknickt. Ihm wurde vor Schmerz speiübel. Sein kräftiger Körper brach auf der unter ihm liegenden Frau zusammen. Er roch ihren erregenden Duft, fühlte ihre Wärme, spürte den feuchten Schweiß auf seiner Haut – und würgte.

Hafr erlebte jede Nacht diesen grässlichen Alptraum.

Das Nächste, an das er sich erinnerte, waren die spöttischen Gesichter seiner Kameraden. Wie sie sich über ihn beugten, als er auf der Erde lag. Sich über die Art seiner Verletzung erkundigten und sich mit lächelnd anzüglichen Worten abwandten.

Das würde er nie vergessen!

Niemals!

Diese Gesichter! Der Spott! Diese Erniedrigung!

Dieses Biest hatte ihn zum Gespött sämtlicher Ascomanni gemacht. Hafr hörte die Stimmen, welche an den Lagerfeuern flüsternd von einem Ohr zum anderen flogen.

»Diese dürre Angeln-Frau hat ihn entmannt. Mit einer Hand. Hast du gesehen, wie klein sie ist?«

Hafr sah Thyra im Heck sitzen. Klein, nass – und mit so stolzem Blick.

»Groah«, brüllte er wutverzerrt und zog mit aller Kraft am Riemen. »Du willst mich herausfordern. Du willst mich kielholen lassen. So einfach wirst du mich nicht los.«

Thyra hob ihr Kinn und sah ihren Feind drohend an.

»Du wirst es nicht schaffen, mich in eine Falle laufen zu lassen!«, fauchte Hafr ihr zu.

»Nicht?« Spöttisch zog Thyra eine Augenbraue hoch.

»Groah!«, brüllte Hafr erneut und seine Adern am Hals und an den Schläfen traten blau pochend hervor.

Thyra lehnte sich zitternd zurück.

»Dir zeige ich meine Angst nicht. Du wirst mein erster Sieg als het-ja sein«, versprach sie sich.

* * *

Es war windstill in der Bucht.

Nichts erinnerte mehr an den gewaltigen Orkan und die stürmische Fahrt übers keltische Meer.

Auf dem Wasser spiegelte sich das letzte Funkeln der Sterne. Der Morgen graute und Thyra sah, wie die Drachenschiffe mit kräftigen, gleichmäßigen Ruderschlägen in die Bucht fuhren.

»Ist Aesa dabei?« Thyra dachte an die Heilerin. »Wo ist die faxi byrjar?« Suchend glitt Thyras Blick über die Bucht. Glühend schob die Sonne ihre rotgoldenen Strahlen über den Rand des Horizonts und warf glänzende Lichter auf die jetzt sanften Wellen.

Thyra stand am Schiffsgeländer und starrte zum Horizont.

»Als ob das Meer nur sanft und lieblich sein könnte«, brummte leise jemand hinter ihr.

Erschrocken drehte sie ihren Kopf und sah in Hallgeirrs Gesicht.

»Das Meer ist tückisch. Hast du die faxi byrjar schon entdeckt?«

Überrascht musterte Hallgeirr Thyra. »Die faxi byrjar?«

»Hmmm.«

Mit gerunzelter Stirn kniff Hallgeirr seine Augen zusammen und versuchte, die Schiffe zu identifizieren.

»Da fährt die ulfr elfar, die gullbringa. Hmmh?« Fragend scheuerte er mit der Hand durch seinen Bart. »Da liegen noch zwei. Etwas weiter draußen!«

»Kannst du erkennen, welche es sind?«

Skeptisch sah Hallgeirr Thyra an. »Warum willst du es wissen?«

Erschrocken zuckte Thyra mit den Augenlidern und versuchte, ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bekommen.

»Nur so.«

»Nur so. Aha.« Hallgeirr glaubte ihr kein Wort.

»Ich will die Drachenboote besser unterscheiden können«, log Thyra, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Du willst also unsere Drachenboote kennenlernen?« Hallgeirr unterzog Thyra einem prüfenden Blick.

»Wenn ich eine von euch werden will, muss ich alles über eure Kultur, euer Leben und eure Arbeit lernen.« Herausfordernd sah sie den Wikinger an, dem es unter ihrem eindringlichen Blick mulmig wurde. »So ist es doch?«

»So ist es! Aber du bist eine thraell. Ohne Rechte, mit unendlich vielen Pflichten – und ohne Rang.«

»Oh!«

»Ja, oh!« Hallgeirr stützte sich mit den Armen auf der Balustrade ab. »In deinem Land warst du eine reiche, angesehene und adlige Frau. Bei uns ist es anders. Bei uns bist du eine Sklavin – von deinem königlichen Onkel Alfred verstoßen. Du hast keinen Rang, kein Land und kein Gold. Noch nicht einmal Silber, Glasperlen oder Bernstein! Außerdem bist du eine Frau.«

»Das will ich ja wohl hoffen!«, warf sie zynisch dazwischen.

»Frauen sind weniger wert als ein Pferd.«

»Hmpf«, grunzte Thyra.

»Ein einfaches Pferd kostet dreihundert Gramm Silber.

Und …!«

»… und eine Sklavin?«

»Zweihundertundvier Gramm.«

»Das wird zu schaffen sein.«

»Eine Frau verdient kaum Silber.«

»Ich schon!«, schnaubte Thyra herausfordernd, sodass Hallgeirr sie stirnrunzelnd betrachtete und nach einer kurzen Weile raunte: »Das glaube ich dir.«

»Gut.«

»Und du willst eine von uns werden?«, prüfte Hallgeirr, ohne sie anzusehen.

»Will ich.«

»Das wird ein langer und schwerer Weg.«

»Ich habe keine Angst.«

»Nur wenige haben es je geschafft sich aus der Sklaverei zu befreien«, murmelte er sinnierend.

»Ich werde eine sein!«

Erstaunt stellte Hallgeirr sich aufrecht hin und sah diese sture Frau neugierig an. »Wie willst du das schaffen?«

»Ich werde eine het-ja!« Selbstbewusst sah Thyra den Krieger an, der in schallendes Gelächter ausbrach.

»Was? Du zartes Weib willst eine het-ja werden? Eine Kriegerin der Wikinger?«

Beleidigt baute Thyra sich vor ihm auf und stemmte empört ihre Fäuste in die Taille.

»Ich werde eine het-ja! Und niemand wird mich davon abhalten!«

Hallgeirr begriff, während er die dünne Frau musterte, wie ernst es Thyra war.

»Du willst also eine het-ja der Ascomanni werden? Weißt du eigentlich, was das bedeutet?«

»Nein.«

»Du wirst kämpfen müssen.«

»Ach nein.« Spöttisch hob Thyra ihre Augenbrauen.

»Du wirst töten, Blut riechen, Gedärme herausquellen sehen.«

»Ich habe schon Tiere ausgeweidet. Ich weiß, wie das riecht.« Scharf forderte sie Hallgeirr heraus. Sie wusste auch nicht, warum sie das tat. Er war ihr Freund!

»Du wirst in sterbende Augen sehen, den Atem und den Schweiß deiner Feinde riechen. Der Gedanke über das Leben, welches sie vor ihrem Tod führten, wird dich quälen. Ob sie Familie, Frau und Kinder hatten? Ob sie ihr Feld bestellten? Als Fischer, Händler oder Handwerker ihr Silber verdienten? Welche Ideen ihr Leben bereicherten. Diese vorwurfsvollen Augen werden dich in deinen Träumen verfolgen. Sie werden dich anklagen und fragen: Warum hast du mich getötet? Mir mein Leben genommen?«

Ruhig sah Hallgeirr Thyra an, die wortlos vor ihm stand.

»Wirst du damit leben können?«

»Ich werde eine het-ja!«

»Gut«, meinte Hallgeirr lapidar und umfasste die hölzerne Brüstung.

»Gut? Einfach – gut?«

Fassungslos sah sie in Hallgeirrs grinsendes Gesicht.

»Du wählst das Leben einer het-ja. Du weißt, was du willst. Dann werde ich dir helfen.«

Langsam wand er sein Gesicht ab und sah über die taghelle Bucht. Die orangeroten Sonnenstrahlen brachen in den winzigen Wellen.

»Du willst …«

»Da kommt die faxi byrjar«, unterbrach er Thyra und zeigte zum Horizont. »Du wirst Aesa bald sehen können.«

Thyra schnappte nach Luft und wollte gerade etwas erwidern, als sie Broddr lautstark brüllen hörte.

»Bindet die Pferde los. Sie müssen endlich stehen, verdammt!«

Neugierig drehten Thyra und Hallgeirr sich um und sahen dem Spektakel an Bord interessiert zu.

»Gleich keilt der Braune aus«, raunte Hallgeirr Thyra augenzwinkernd zu.

»Meinst du? Ich bin für den Schimmel.«

»Was?« Scheinbar empört beugte Hallgeirr sich zu Thyra hinab und sah ihr ins Gesicht. »Du bezweifelst meine Kompetenz!«

»Würde ich nie wagen. Schließlich bist du ein großer, angesehener Ascomanni!«, gluckste sie vergnügt und fing schallend zu lachen an, als der Schimmel Agmundr einen Schlag mit dem Hinterhuf auf den Oberschenkel platzierte.

Hallgeirr tat, als ob er es nicht gesehen hätte.

»Die faxi byrjar ankert genau neben uns.«

»Waaas!« Thyra drehte sich rasch um und versuchte, Aesa an Bord auszumachen.

»Kannst du sie sehen?«

»Nein. Cuaran kann ich sehen und seinen Königsdrengir. Außerdem scheint die faxi byrjar gut durch den Orkan gekommen zu sein. Ich erkenne keine Schäden.«

»Siehst du sie?«

»Ich sehe sie nicht!«, fauchte Hallgeirr, sodass Thyra erstaunt aufblickte und ihn musterte.

So barsch kannte sie Hallgeirr nicht. Doch dann beobachtete Thyra, wie seine großen Hände sich um das Holz der Reling krallten, und schalt sich augenblicklich für ihre Ungeduld.

›Ich Dummkopf‹, dachte Thyra und biss sich auf die Lippen. ›Er liebt sie. Hallgeirr liebt Aesa und ich habe nicht daran gedacht.‹

»Sei unbesorgt, ich werde es niemandem erzählen«, flüsterte Thyra.

»Was sagtest du?«

Thyra schluckte und sah den Mann fest in die Augen.

»Ich werde es niemandem sagen.«

»Was wirst du niemandem sagen?«

»Dass du Aesa liebst«, flüsterte Thyra noch leiser.

Hallgeirr riss die Augen auf, fing sich aber schnell wieder.

»Du hast geschworen zu schweigen!«, kniff er lauernd die Augen zusammen.

»Ich, ich …«, stotterte Thyra. »Ich sage es ja nur dir. Ich habe euch zusammen gesehen. Wie ihr Blicke austauscht und wie eure Hände zittern, wenn ihr nur beieinandersteht.«

»So«, knurrte Hallgeirr berechnend. »Das hast du also gesehen?«

»Euer Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Ich werde es niemandem erzählen. Nur – wenn ich es sehe, können es auch andere erkennen.«

Hallgeirr stellte sich aufrecht hin und starrte übers Meer. Thyra betrachtete den Mann und störte ihn nicht.

»Ich habe in der Heimat Frau und Kinder. Es darf nicht sein! Unsere Liebe darf nicht sein und niemand darf es erfahren!« Eindringlich sah er Thyra an.

»Ich werde dein Geheimnis mit in mein Grab nehmen. Du bist ein Freund. Genauso wie Aesa meine Freundin ist.«

»Het-ja«, sagte Hallgeirr nur und ging an seine Arbeit.

»Ja, het-ja«, flüsterte Thyra und sah zweifelnd über das flache Wasser der Bucht. »Schaffe ich es, eine Kriegerin zu werden? Mich aus der Sklaverei zu befreien?«

Der Wind trocknete ihr Haar und feine weiße Salzkristalle blieben darauf zurück. Nachdenklich strich Thyra die wirren, verklebten Strähnen aus dem Gesicht.

»Habe ich eine Wahl?«

Die Sonne brannte durch das verkrustete Salz, heiß auf die Drachenschiffe in der muschelförmigen Bucht. Die Kriegsschiffe der dänischen Flotte liefen im Laufe des Vormittags ein und dümpelten wie zur Erholung auf dem Wasser, welches sich jetzt friedlich zeigte.

Rán und Gjalp schafften es während dieses Orkans nicht, ein Drachenschiff zu sich ins Totenreich zu ziehen. Doch sie lauerten. Sie schwammen geduldig zwischen den Algen und Steinen des Meeresgrundes, immer mit wachem Blick nach oben durch das schimmernde Wasser, ins silbrige Licht. Sie konnten warten, wirklich sehr lange warten.

Die Drachenboote ankerten nebeneinander und Thyra musste die dreki reinigen. Wütend schabte sie die Pferdescheiße in einen Eimer und schüttete sie über Bord. »Noch bin ich eine Sklavin. Noch ist diese Arbeit angemessen. Doch wartet nur, bald werde ich eine het-ja sein.« Sie ließ ihren Blick über die ormr in langi, die gammr und die harknifr schweifen und erkannte, dass sie schwer beschädigt waren. »Wie meine Hände«, murmelte sie und betrachtete eingehend die blutenden Hautfetzen. »Dann wird meine Hand nur noch den Griff des Schwertes halten und nicht mehr den stinkenden Stiel dieser Schaufel. Und diese Arbeit ist nur der Anfang für meinen Aufstieg und den Sieg über diesen verdammten, hinterhältigen, verlogenen, bösartigen Onkel – König – Alfred.«

Der geborstene Mast der ormr in langi ruhte auf der Reling und die Splitter bröckelten immer wieder sanft wie rieselnder Schnee ins Wasser. Das Heckruder hing in Fetzen am Rumpf und schabte am Holz. Auf der gammr streichelte das zerfetzte Segel die Planken und schabte das trocknende Meeressalz zusammen und der harknifr fehlte ihre Galionsfigur.

»Verdammt! Pass doch auf!«, fluchte Orlyg, als Vester, der Koch, ihm seinen hudarketill20 auf den Zehenspitzen platzierte.

»Nimm deinen Fuß zur Seite«, schnauzte Vester und achtete nicht auf den übel gelaunten Zimmermann.

»Bergfin, Gizur«, hörte Thyra Gorm rufen. »Ich will einen Bericht über die Schäden.« Weit beugte er sich über die Reling. »Heute Abend, bei mir, am Feuer. Knut und Fargrim, ihr geht an Land, zur Felsenspitze der Mündung, sucht einen Aussichtsplatz. Haltet nach angelsächsischen Feinden Ausschau. Ihr werdet dort länger lagern. Nehmt húdfat21, sall-ad-r22, drykkr23 und brau-d24 mit.«

Knut und Fargrim nickten zustimmend.

Die dreki ankerte in der Nähe des Ufers, sodass Knut und Fargrim ohne zu zögern mit ihren Waffen und dem Gepäck über Bord sprangen. Sie wateten schnaufend über den weißen Sand der flach auslaufenden Küste an Land. Innerhalb kürzester Zeit verschlangen gewaltige Baumriesen und mannshoher, wuchernder Farn die beiden Wikinger.

Möwen schrien. Unzählige Kormorane standen in langen Reihen auf schwimmenden Baumleichen und trockneten mit weitausgebreiteten Schwingen ihr Gefieder. Thyra beobachtete im klaren Wasser silbrig schillernde Fischschwärme. Auf dem Meeresgrund gaben rotbraune, teils geborstene Findlinge auf weißem Sand, an deren Stein sich Muscheln, Seepocken und Seesterne klammerten, und grüne, lange, sich in der wechselnden Drift paarende, filigrane Algen festhielten, einen bizarren Anblick. Fasziniert starrte Thyra auf die im Strom treibenden Wasserpflanzen und entdeckte faustgroße Krabben, die gemächlich auf dem körnigen Sand liefen und über Zweige, Steine und Muscheln kletterten.

Der Wind streichelte ihre Haut und auf eine eigenartige Art zufrieden, legte Thyra den Kopf in den Nacken und blickte hi­nauf zum strahlend blauen Himmel. Kormorane jagten Fische in Konkurrenz zum Seeadler. Der Adler stieß herunter und krallte sich den Fisch und flog mit der zappelnden Beute fort.

Ihr Magen knurrte. Missmutig starrte sie auf ihren Bauch. Dann abrupt zu den Fässern mit dem gesalzenen Fisch und zu Vester, dem Koch. Etwas weiter streifte ihr Blick Gorm und blieb an ihm hängen.

Nervös biss Thyra sich auf die Lippen.

»Die gemeinsame Zeit, die wir zusammen erlebten, war gestohlen.«

Doch die Erinnerung an diese magischen Momente, in denen sie in Gorms Armen lag, seine Zärtlichkeiten, seine Blicke und diese erregende Leidenschaft genoss, überwältigten die Gegenwart.

»Gestohlene Zeit«, flüsterte sie und umarmte sich selbst. Wie um das Gefühl zurückzuholen, als sie seine muskulösen Arme und seine Wärme um ihren Körper spürte.

»Er ist ein Führer der dänischen Ascomanni. Gorm muss eine Frau aus seinem Volk heiraten. Kann nie eine Angelsächsin, eine thraell zur Gemahlin nehmen.«

Ihr wurde speiübel bei diesen Worten.

»Gestohlene Zeit«, wiederholte Thyra kaum hörbar. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Hunger verflog augenblicklich. Keinen Bissen würde sie mehr essen können.

Gorm schritt übers Deck.

»Prüft den Mast«, rief er Hallgeirr und Eirikr zu.

»Wie sieht das Segel aus? Hat es Risse? Sind die Taue in Ordnung?«, fragte er Oli, der gehetzt seiner Arbeit nachging.

»Das Segel hat einen Riss. Wir prüfen jetzt den Rest«, nuschelte er und rannte fort.

»Ahhh!«, brüllte Oli und fiel polternd der Länge nach auf die Planken. Mit verzerrtem Gesicht setzte er sich auf und scheuerte sein Fußgelenk. »Welcher Trottel hat seinen Riemen nicht gesichert?« Grimmig sah er sich um. Doch keiner beachtete ihn.

»Wieder diese herumliegenden Riemen«, schüttelte Siguror den Kopf. »Wir werden ein thing abhalten müssen.«

»Unbedingt«, brummelte Gorm und rief Kalman zu: »Ist das Steuerruder beschädigt?«

»Alles ist, wie es sein soll.« Kalman grinste und klopfte mit der Hand aufs Ruder. »Sie war wie eine Geliebte zu mir.«

Gorm und Siguror schmunzelten.

»So eine Geliebte hätte ich auch gerne«, feixte Siguror.

Gorm musterte Siguror schräg von der Seite.

»So ein Liebchen ist leidenschaftlich. Mit so einem Feuerweib wirst du nicht fertig. Im Sturm wird sie dich herausfordern und schließlich schmeißt sie dich aus dem Lager und du liegst außerhalb der Bettfelle auf der kalten Erde.«

»Wenn sie dann noch unter mir liegt«, schmunzelte Siguror.

»So ist es!« Gorm schlug Siguror lachend auf die Schulter. »Wie sehen unsere Taue aus? Sind sie alle noch an Bord oder hat Rán sie als Tribut gefordert?«

Siguror blickte hoch zur goldenen vedrviti, die sich funkelnd im lauen Wind drehte.

»Ulkell zählt sie gerade. Da kommt er.«

»Drei Seile hat der Orkan von Bord gerissen. Aber unsere Seilmacher Josurr und Boovarr drehen schon neue. Torkel bewachte unser Ankertau wirklich gut. Es ist an Bord und die Seile fürs Segel auch.«

Ulkells schmale Lippen erkannte durch seinen dichten schon etwas grauen Bart kaum jemand. Dann grinste er und Gorm starrte fasziniert auf seine weißen Zähne.

»Wo ist Ongull schon wieder?« Gorms Blick ging fragend über die Köpfe.

Ulkell hob einen Arm und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger ans Ufer. »Dort! Er brauchte unbedingt eine Abkühlung. Außerdem stank er. Es ist kein Spaß mit einem Mann in einem húdfatléger25 zu liegen, wenn der andere stinkt.«

»Der arme Ongull«, stichelt Siguror mit ernster Miene. »Dann wird er dich wohl ins Wasser werfen müssen.«

»Pah!«, prustete Ulkell und machte sich an die Arbeit.

Die Sonne zog ihre Bahn. Saugte jegliche Feuchtigkeit und hinterließ auf der Kleidung, der Haut, den Schiffen und der Ladung bizarre weißglitzernde Salzbilder.

»Komm mit.« Grob wurde Thyra gepackt.

»Aua, lass los!«

»Weib. Sei nicht störrisch und komm mit«, knurrte Tindr, der Bernsteinschleifer. »Wir gehen alle von Bord.«

»Ich komme ja schon.« Sie pulte Tindrs Finger pedantisch, einem nach dem anderen von ihrem Arm, indem sie mit dem kleinen Finger anfing und alle fünf qualvoll nach oben bog.

»Lass endlich los! Ich kann allein gehen!«

»Seit wann hat eine Sklavin etwas zu sagen?« Herablassend kam Tindr näher, berührte mit seiner Nase fast ihr Gesicht, sodass sie in seinen Augen den Zorn flackern sehen konnte.

»Lass sie«, hörte Thyra plötzlich Gorms Stimme hinter ihrem Rücken und ein Wonneschauer lief prickelnd über ihre Haut.

›Das muss ich mir abgewöhnen! Selbst nur auf den Klang seiner Stimme reagiert meine Haut. Verräterischer Körper!‹, dachte sie, während Tindr seine Hand von ihrem Arm nahm.

Gorm sah Tindr nur an und der verschwand rückwärtsgehend und ging an Land.

Thyra stellte sich eilig mittschiffs, hinter das kopfüber liegende Beiboot. Überall wurde gearbeitet.

»Verschwinde, Weib!«, wurde sie grob angefahren. »Du stehst im Weg.«

Mit aufgerissenen Augen stolperte Thyra rückwärts gegen einen herumstehenden Ascomanni.

»Sklaven, die ihren niederen Rang nicht kennen, sind zu nichts zu gebrauchen.«

»Weiber schon!«, lachte ein anderer.

Hastig drehte Thyra sich um und suchte den Sprecher in der Menge. Doch er war schon verschwunden. Sie beobachtete drei Wikinger, die das Beiboot über die Reling wuchteten und darin mehrere zwei Meter hohe und sehr schlanke Fässer mit Lebensmittel verstauten.

»Weib!«, befahl Ulkell ärgerlich. Er versuchte, einen Überblick über das chaotische Treiben zu behalten. »Verschwinde von Bord.«

»Verschwinden? Wohin?«

»Wohin?«, lachte Njal derb. »Thyra, nichts einfacher als das!«

Überschwänglich packte er die Sklavin und warf Thyra wie einen Mehlsack über die Schulter.

»Hej.« Thyra trommelte mit geballten Fäusten auf seinen Rücken. Sie zappelte wild mit den Beinen. »Lass mich sofort runter!«

»Du willst runter?«

Allein diese Frage hätte Thyra zusammen mit dem Gelächter der anderen warnen müssen. Doch sie war zu wütend.

»Sofort!«

»Lass sie runter. Das wird ihr gefallen!« Die Horde wollte sich ausschütten vor Lachen und brüllten johlend.

Stirnrunzelnd hob Thyra kurz den Kopf und erkannte für Sekunden die spitzbübischen, vertrauten Gesichter. Njal packte sie an der Hüfte. Sie wurde stutzig. Irgendetwas lief falsch. Grundlegend! Nur – was?

»Njal, bitte.« Thyra hörte mit den Schlägen auf und verlegte sich aufs Betteln. »Stell mich auf den Boden.«

»Sicher doch«, meinte Njal und ging vor. Thyra spürte sein glucksendes Lachen durch ihren Bauch.

»Njal. Wir sind doch Freunde. Nicht wahr?«

»Gerade drum.«

»Dann lass mich runter.«

»Jetzt?« Njal blickte sich amüsiert um.

»Jetzt!«, kam die vielstimmige Antwort.

Thyra klappte ihren Mund zu und blickte skeptisch in die feixenden Gesichter der Männer. Sie spannte sämtliche Muskeln an.

»Njal?«, knurrte Thyra lauernd. »Njal! Du machst doch jetzt nichts Falsches?«

»Bestimmt nicht!«, lachte er, packte sie wie einen Spielball fest an den Hüften und hob sie von seiner Schulter.

»Danke, Njal.« Thyra lächelte ihn entwaffnend an und erwartete, dass ihre Füße den Decksboden berührten.

Doch nichts!

Bodenlose Tiefe!

Ungläubig starrte sie an sich herunter und keuchte. »Wasser!«

Erstarrt stierte Thyra wütend in Njals lachendes Gesicht. Er hielt Thyra mit Leichtigkeit über Bord.

»Das wirst du nicht tun! Das wagst …«

»Doch!«, lachte Njal und ließ los.

Der Fall von der Brüstung ins kalte Wasser war kurz.

Kein Schrei quetschte sich aus ihrer Kehle. Platschend tauchte Thyra ein. Sie strampelte mit Armen und Beinen und stieß prustend das verschluckte Wasser aus.

»Ich bringe dich um!«

»Na Mädel. Wie ist das Bad?« Spottend lehnte Ulkell sich amüsiert lachend über die Reling. »Ist das Wasser warm?«

Wütend starrte Thyra zur dreki hinauf, legte sich schwimmend auf den Rücken und betrachtete, während sie mit den Beinen paddelte, die bärtige Wikingerschar, die wie grölende Seehunde über die Bordwand hingen.

»Gut. Erfrischend«, höhnte Thyra, tauchte den Kopf ins Wasser und versprach leise und zynisch, mit geschlossenen Augen: »Mein lieber, großer, kräftiger Njal, das wirst du mir büßen. Euch stinkender Horde würde ein Bad auch nicht schaden!«

Sie hörte ein meuterndes Gegröle und schwamm noch schneller, bevor einer der Männer auf die Idee kam über Bord zu springen um sie zu verfolgen.