Fern von Aleppo - Faisal Hamdo - E-Book

Fern von Aleppo E-Book

Faisal Hamdo

0,0

Beschreibung

Hamburg ist seine neue Heimat. Seit drei Jahren lebt und arbeitet Faisal Hamdo in der Hansestadt, nachdem ihm 2014, mit Anfang Zwanzig, die Flucht aus dem syrischen Aleppo gelungen war. Seitdem taucht er mit großer Neugier und Offenheit ein in die Lebens- und Arbeitswelt in Deutschland. Er erzählt von seiner Faszination für die deutsche Sprache, seinem Staunen über das innige Verhältnis der Deutschen zu ihren Haustieren oder über seine erste Begegnung mit dem Humor Loriots. Manches bleibt ihm in Deutschland unverständlich, wie der Alkoholkonsum oder die mediale Präsenz von Sexualität. Und über die Trauer um die, die er verloren hat oder die er in Syrien zurücklassen musste, hilft keine noch so gelungene Integration hinweg. Indem Faisal Hamdo die Erfahrungen in Hamburg mit seinem Leben in Syrien vergleicht, lernt der deutsche Leser den syrischen Alltag kennen und versteht zugleich besser, welchen Herausforderungen ein junger Mann aus ärmlich-patriarchalischen Strukturen in unserer Gesellschaft gegenübersteht. Voller Humor und berührender Lebensklugheit spricht er davon, wie das Leben sich anfühlt: mit einem Teil von Kopf und Herz in der umkämpften syrischen Heimat und einem anderen in der neuen Heimat Deutschland.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 272

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Vom Euphrat an die Elbe
1. Schnee in Aleppo
2. Als mein Opa zum König wurde
3. Von Ost-Aleppo nach Westberlin
4. Die Ziege meiner Mutter
5. Mein Männerleben als »Jungfrau«
6. Glühwein zum Ramadan
7. Sieben Kerzen für Leyla
8. Die Uhr meines Vaters
9. Bismarck sei Dank
10. Amtsdeutsch für Ausländer
11. Händeschütteln in der Sauna
12. Loriot für Araber
13. Von Gebetsteppichen und Yogamatten
14. Mein Silvester 2015
15. Vom Glück, Steuern zu zahlen
16. Sonntag ist Wahltag
17. Der Westen fing in Kiew an
18. Anruf aus Aleppo
Wie Syrien zu mir kam
Anhang
Über die Autoren

Für alle, die ich im Krieg verloren habe, insbesondere meine kleinen Patienten.

Für meine Mutter, die mir gezeigt hat, dass die Liebe die größte Macht der Welt ist.

Für meinen Vater, der mich stark gemacht und mir beigebracht hat, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt.

Für meine Geschwister, ihre Partner und für meine Nichten und Neffen: Ihr seid mein Reichtum.

Vom Euphrat an die Elbe

Warum ich Deutschland danken möchte

Ich bin keine Berühmtheit. Weder in Syrien noch in Deutschland. Ich gehöre zu jener namenlosen Masse junger Menschen, die ab 2011 auf die Straßen gingen, um in Sprechchören für ein besseres Leben zu demonstrieren. Ich war gerade 22 Jahre alt geworden. Einige verrückte Wochen lang glaubte ich wie ein kleines Kind daran, dass unsere Politiker endlich im Interesse ihres Volkes handeln würden. So saß ich noch im Juni 2011 im Innenhof der Uni von Aleppo und lauschte zusammen mit meinen Kommilitonen der Rede unseres Staatschefs, der uns Hoffnungen auf Reformen machte – um sie im nächsten Zuge brutal zunichtezumachen. Wir hockten nebeneinander auf dem von der Sonne aufgeheizten Zementboden: Sunniten neben Schiiten, Kurden neben Christen, Studentinnen mit Jeans neben solchen mit Kopftuch oder Schleier – alles junge Syrer. Noch ahnten wir nicht, dass demnächst das große Morden beginnen sollte. Im Namen des syrischen Volkes sollten unversöhnliche Kämpfe geführt werden, die bis heute für endloses Leid und blutige Schlagzeilen sorgen.

Wir, die jungen Syrer, die sich für die Hoffnungsträger des Landes hielten, wussten im Frühsommer 2011 noch nicht, was wir alles aufs Spiel setzten. Die meisten von uns würden ihr Zuhause verlieren, andere ihre Familie und wieder andere das eigene Leben. Wie Tausende anderer junger syrischer Frauen und Männer erlebte ich, wie sich unsere Demonstrationen für mehr Demokratie und Wohlstand in verzweifelte Proteste gegen die Willkür der Regierung verwandelten. Um anschließend zu erleben, wie diese die eigene Bevölkerung zum Abschuss freigab.

Die Mitglieder meiner Familie sowie der Großteil meiner Bekannten zählen statistisch zur offiziellen Zielscheibe des staatlichen Terrors. Warum?, frage ich mich bis heute. Liegt es nur daran, dass wir der sunnitischen Bevölkerung angehören, die seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge unserer Herrscher ist? Oder liegt es an der Logik der Kriegstreiber? Braucht man Sündenböcke, um den eigenen Machtanspruch zu legitimieren? Auf jeden Fall war es wohl einfach Pech, dass ich 1989 als Sunnit in Syrien geboren wurde.

Gleichzeitig hatte ich riesiges Glück: Ich bin nicht in den Gefängnissen des Geheimdienstes verhört worden, ich musste keinen Dienst an der Waffe leisten, weder für das Regime noch für seine Gegner. Meine Eltern und auch alle Geschwister sind noch am Leben. Ich konnte aus Syrien fliehen, bevor der Krieg mich endgültig einholte, und ich habe in Deutschland eine zweite Heimat gefunden. Mittlerweile kann ich hier sogar meinen Beruf als Physiotherapeut ausüben. Ich bin ein Sonntagskind, wie man auf Deutsch sagt.

Es sind noch nicht einmal drei Jahre, dass ich hier leben darf. Wie ich zu diesem Privileg gekommen bin, möchte ich in diesem Buch erzählen. Aber auch von den Verpflichtungen und Fragen, die ein solches Glück mit sich bringt. Ich möchte meinen Lesern die Denkweise und die Erfahrungen eines jungen syrischen Einwanderers näherbringen.

Ich hoffe, dass das Buch ein paar Fragen beantworten kann, die viele Deutsche an uns Geflüchtete haben, wie zum Beispiel: Kann man arabischer Muslim sein und trotzdem weltoffen, gebildet und tolerant? Ist es möglich, in ärmlich-patriarchalen Strukturen aufgewachsen zu sein und trotzdem die Werte der Demokratie zu respektieren und zu leben? Kann jemand aus einem Land mit Sommertemperaturen von bis zu 45 Grad wirklich fleißig und leistungsorientiert sein? Muss jemand, der aus einem Kriegsgebiet flieht und Traumatisches erlebt hat, unbedingt eine tickende Zeitbombe sein?

Und mich hat interessiert, warum so viele von »uns« Geflüchteten nach Deutschland wollen. Was finden wir hier, außer Wohlstand und Arbeit? Und wie können wir Einwanderer dieses Land aktiv mitgestalten? Denn es hilft weder unseren Gastgebern noch uns selbst, sich in Vorurteilen einzumauern.

Ich habe in den letzten drei Jahren viele unvergessliche Erfahrungen gemacht und zahllose Gespräche mit deutschen Bekannten und Helfern, mit Arbeitskollegen und Patienten geführt. Wir haben voneinander profitiert: Sie konnten mir meine Fragen in Bezug auf Deutschland und den Westen beantworten, und ich konnte ihnen meine Sicht auf die syrische Tragödie schildern. Dank dieses Austausches gelingt es mir heute besser, Deutschland zu verstehen.

Nicht viele meiner syrischen Landsleute haben diesen privilegierten Zugang zur deutschen Gesellschaft. Deswegen verstehe ich mich auch als Mittler zwischen den Welten. Ich bin in der glücklichen Position, anderen helfen zu dürfen. Als ehrenamtlicher Begleiter versuche ich, Neuankömmlingen aus Syrien und dem arabischen Raum zu erklären, wie das Leben hier funktioniert. Durch sie erlebe ich meinen eigenen Kulturschock des Anfangs wieder, zusammen mit ihnen lache ich über die Tücken der deutschen Sprache und schmunzele über manche Eigenheiten der »Einheimischen«. Auch davon handelt dieses Buch.

»Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum?«, mit diesen Fragen beginnt eine der bekanntesten Kindersendungen im Nachkriegsdeutschland, wie ich in einem Integrationskurs gelernt habe. Ich mag besonders die folgende Zeile: »Wer nicht fragt, bleibt dumm.«

Ohne meine deutschen Freunde wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt allen Menschen, die mir hier in meiner neuen Heimat die Kraft und den Glauben an mich selbst gegeben haben, ganz besonders meinen Hamburger Gasteltern. Mein Dank geht auch an meine Co-Autorin Elena Pirin. Und ohne die großzügige Unterstützung meiner Freunde aus Hamburg und Berlin, die ihre Herzen und Häuser für mich und meine Brüder öffneten, hätte ich Deutschland nie erreicht. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass wir hier in Sicherheit leben können und vorerst eine Zukunftsperspektive haben. Dank der intensiven Kontakte zu unseren Helfern und Unterstützern schafften wir es, uns in dieser unbekannten neuen Welt zu orientieren. Ich möchte die Stunden, in denen uns meine Gasteltern und deren Freunde auf diverse Ämter begleiteten, nicht zählen. Es kommen sicher einige Arbeitstage zusammen.

Auch etwas anderes, besonders Wichtiges kommt hinzu: Dank der vielen Gespräche und Diskussionen, der privaten Einladungen und Unternehmungen konnten wir – die Gebrüder Hamdo – in kurzer Zeit die hiesige Lebensart kennenlernen. Das war der beste Integrationskurs meines Lebens und sicher einer der Gründe dafür, dass mein Deutsch mittlerweile recht gut fließt.

Ich kann noch nicht sagen, ob wir ein Beispiel für gelungene Integration sind – die Zukunft wird das zeigen. Ich kann nur möglichst vielen jungen Einwanderern solch schöne menschliche Begegnungen wünschen! Gute Taten tragen irgendwann reiche Früchte, daran glaube ich fest – nicht nur, weil ich ein gläubiger Muslim bin.

Faisal Hamdo

Hamburg, im Januar 2018

1. Schnee in Aleppo

»Woher kommst du?«, frage ich meistens, wenn ich jemanden kennenlerne. Wenn ich selbst danach gefragt werde, zucke ich allerdings zusammen, denn ich stamme aus der traurigen Berühmtheit Aleppo. Die Stadt, in der ich aufgewachsen und zur Schule gegangen bin, in der ich studiert und gearbeitet, in der ich geliebt und von einer eigenen Familie geträumt habe – sie existiert in dieser Form nur noch in meinen Erinnerungen und Albträumen.

Als ich Syrien im Sommer 2014 verließ, ahnte ich nicht, dass mein Heimatort zwei Jahre später zum Synonym für die Hölle werden würde. Heute ist Ost-Aleppo eine Ruinen- und Geisterstadt, die ich nur via YouTube oder Facebook besuchen kann. Die meisten Menschen, die ich dort kannte, sind geflüchtet oder tot.

Laut Wikipedia hatte Aleppo-Stadt im Jahre 2005 etwa 2,5 Millionen Einwohner; die Region beherbergte über 3,1 Millionen Menschen. Wie viele dort heute noch leben, weiß nur Gott.

Ich sitze trocken und sicher in Deutschland. Manchmal schaue ich mir – allein oder zusammen mit meinen drei Brüdern – auf Google Earth das Fleckchen Erde an, auf dem unser Familienhaus stand. Auf diesem Luftbild ist das Haus noch zu sehen, das unser Vater in den frühen 1980er-Jahren mit eigenen Händen zu bauen begann. Auf der anderen Straßenseite erkennt man das Grundstück, das wir kurz vor dem Krieg gekauft hatten, um dort ein zweites Haus zu errichten, für die Familie eines meiner Brüder.

Auf dem Satellitenbild ahnt man unsere Dachterrasse, auf der wir im Sommer unter den Sternen schliefen. Den Innenhof, in dem ich mit meinem Neffen Fußball spielte, sieht man nicht. Er existiert also nur noch in meinen Erinnerungen – denn das Haus und die Straße gibt es wahrscheinlich nicht mehr, berichteten jedenfalls unsere Nachbarn.

Wegen der Fotos von Aleppo ist mein Laptop das Kostbarste, was ich besitze. Und ich wünschte, ich hätte dort jeden Ort, an dem ich einmal war, fotografiert. Dass ich es nicht getan habe, ist aus heutiger Sicht ein unverzeihliches Versäumnis, denn ich hatte schon Anfang 2010 ein Handy. Warum habe ich so selten das Krankenhaus fotografiert, in dem ich nach meinem Studium ein Jahr lang als Physiotherapeut gearbeitet habe? Ich besitze nur ein einziges Gruppenfoto meiner Abteilung. Aber wie sollte ich ahnen, dass dieses Krankenhaus im Stadtteil al Schaar im Herbst 2012 von Fassbomben zerstört werden würde? Ich danke dem Zufall, dass ich damals nicht dort war und verschont blieb, aber ich bin untröstlich darüber, dass ausgerechnet die junge Assistenzärztin, die bei dem Bombenangriff starb, nicht auf dem Abteilungsfoto zu sehen ist. Wir hatten zusammen eine Fortbildung an der Uni belegt und waren dabei, uns anzufreunden. Es ist erschreckend, wie schnell man die Gesichtszüge eines Menschen vergisst.

Mein Laptop beherbergt auch die wenigen, kostbaren Fotos von meiner Verlobten und mir – darunter eines von unserem Ausflug zur Zitadelle von Aleppo. Die imposante mittelalterliche Festung, die ich manchmal mit Kommilitonen und Freunden besuchte, steht heute nur noch teilweise. In vergangenen Zeiten hatte sie verschiedenen Herrschern als Palast oder Militärstützpunkt gedient; im 20. Jahrhundert wurde sie dann für Touristen geöffnet. Jetzt patrouillieren dort Regierungstruppen und blicken von oben auf die weitgehend zerstörte Altstadt. Dass die Zitadelle und die weltberühmte Altstadt Aleppos unter dem Schutz der UNESCO stehen, hat dem Weltkulturerbe wenig genützt.

Auch die prächtige Umayyaden-Moschee hätte ich häufiger fotografieren sollen, bevor sie zum Schlachtfeld der Regierungstruppen und der Aufständischen verkam. Unser Haus lag am Rande der Stadt und war mindestens anderthalb Stunden Busfahrt vom historischen Zentrum entfernt. Unsere Mutter ließ es sich jedoch nicht nehmen, gelegentlich zu dieser heiligen Stätte zu fahren, um dort zu beten. Manch eine Krankheit oder Prüfung von uns Kindern ist dank ihrer Gebete glücklich ausgegangen. Meine Eltern leben mittlerweile Hunderte von Kilometern von Aleppo entfernt, in Jordanien. In welcher Moschee meine Mutter jetzt betet, wenn sie große Sorgen hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es besser ist, dass sie die Umayyaden-Moschee momentan nicht sehen kann – der Anblick der Verwüstung würde ihr das Herz brechen.

Ich frage mich, welche der Orte, die ich kenne, noch heil sind. Vielleicht gibt es noch den benachbarten Gemüsegarten, in dem meine Mutter manchmal aushalf, um ein paar Lira zu verdienen. Wahrscheinlich stehen auch die teuren Villen noch, die mein Vater zusammen mit uns Söhnen innen verputzt und mit Fliesen ausgelegt hat. Vielleicht existiert sogar noch der Pool, den wir für einen saudischen Kaufmann in dessen Garten gefliest haben. Ob seine Familie in der Hitze der letzten Sommer darin Abkühlung gefunden hat?

Syrien sei ein sehr schönes Land, hatten wir in der Schule gelernt. Man könne bei uns wunderbar Urlaub machen. Man könne im Mittelmeer baden, in Gebirgen wandern, jahrtausendealte Heiligtümer besuchen und sogar Ski fahren – auf beinahe syrischem Boden: Auf den von Israel besetzten Golanhöhen kann man herrliche Pisten hinuntersausen, gleich jenseits der heutigen syrischen Grenze. Man kann auf dem Berg Hemron seinen Après-Ski-Drink nehmen, bei klarem Wetter den Blick auf das nur 40 Kilometer entfernte Damaskus genießen. Heute würde man dort allerdings fernes Kampfgetöse hören.

Um Weihnachten 2016 entdeckte ich im Internet Bilder der verschneiten Ruinen in meiner Heimatstadt. Ich dankte Gott, dass ich den blutgetränkten Schnee von Aleppo nicht erleben musste. Gleichzeitig fühlte ich mich endlos schuldig, dass ich nicht vor Ort war, um den frierenden, obdachlosen und verletzten Menschen zu helfen. So geht es, denke ich, Millionen von geflüchteten Syrern.

Als ich 2009 meinen ersten Schnee und meine erste Schneeballschlacht auf unserer Dachterrasse erlebte, hätte ich im Traum nicht daran gedacht, dass ich eines Tages den Schnee im Harz in meinen eigenen Händen halten würde. Kurz vor Neujahr 2017 hatte ich einen Traum: Mein Neffe und ich bauten auf unserem Dach einen Schneemann. Neben uns lagen die Skier bereit, mit denen wir bald in den Winterurlaub aufbrechen würden. Nicht in den Harz. Sondern in die syrischen Berge.

2. Als mein Opa zum König wurde

Einen der ersten deutschen Begriffe, den ich gelernt habe, ist Altenheim. Damals ahnte ich nicht, wie wichtig dieses Wort für mich noch werden würde. Zudem konnte ich mir nur wenig darunter vorstellen, denn in Syrien existierten so gut wie keine Alten- oder, politisch korrekt, Seniorenheime. In Aleppo, einer Millionenstadt, zählte man alles in allem vier sogenannte Seniorenhäuser, aber ich kenne niemanden, der dort seine Eltern oder Großeltern »abgegeben« hat.

Umso unvergesslicher sind mir meine ersten Tage als Aushilfspfleger in einem Hamburger Pflegeheim. Ich sehe immer noch die zierliche Dame aus Zimmer 211 vor mir. Jedes Mal, wenn ich zu ihr kam, um sie beim Essen oder bei der Pflege zu unterstützen, fand ich sie weinend vor. Das ging vielleicht zwei Tage so. Jedes Mal fragte ich: »Warum weinen Sie?«, aber ich bekam keine Antwort. Irgendwann wandte sie sich immer ab und blickte aus dem Fenster; ich sah nur noch ihr feines Profil. Und spürte ihre Traurigkeit.

An einem Tag im Februar 2015 – es war kalt, aber sonnig, ein Tag zum Spazierengehen – sah sie wieder nach draußen, und ihre Tränen flossen erneut. Aber diesmal sagte sie: »Meine Tochter kommt nicht.«

Mein Deutsch war noch ziemlich holprig, aber ich versuchte, sie zu trösten. »Na ja, sie kommt bestimmt bald, das Wochenende ist noch nicht vorbei.«

»Nein, sie kommt nicht«, sagte sie.

»Sie wohnt sicher weit weg«, nahm ich die unbekannte Tochter in Schutz.

»Nein«, schüttelte die Dame ihre weißen Haare. »Sie wohnt in einem Vorort von Hamburg.«

»Vielleicht ist sie beruflich verhindert?« Ich gab nicht auf.

»Sie ist schon Rentnerin.«

»Oder sie muss auf Ihre Enkelkinder aufpassen?«, machte ich einen letzten Vorschlag.

»Ach was. Sie hat keine Kinder.«

Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte, außer: »Wollen wir kurz spazieren gehen? Ich könnte Ihren Rollstuhl schieben, und wir drehen eine kleine Runde durch den Park.« Sie stimmte sofort zu. Es war erstaunlich, wie schnell sich ihre Laune besserte. Die alte Dame wollte einfach nur an die frische Luft, und das in Gesellschaft.

Ob mein syrischer Großvater in den letzten Jahren seines Lebens viel an der frischen Luft war, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass es ihm ganz sicher nicht an Gesellschaft mangelte. Als Opa mit neunzig bei uns zu Hause starb, war er schon ziemlich »durch den Wind«. Ich kann mich gut an den Tag erinnern, als Djudu zu uns zog. Unser Haus war noch nicht zu Ende gebaut, es hatte damals drei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine kleine Küche. Wir waren aber acht Kinder, also mussten wir zusammenrücken. Opa bekam einen eigenen Raum, in dem er immer zusammen mit jemandem aus der Familie übernachtete, der sich um ihn kümmerte. Das waren entweder meine älteren Geschwister, meine Eltern oder eine der Tanten und Onkel. Die Erwachsenen wechselten sich ab und halfen ihm – egal, ob man ihn auf die Toilette begleiten, waschen oder füttern musste.

Unser Vater hatte uns erklärt, dass der Opa schon alt sei und unsere Hilfe brauche. Es war eine Selbstverständlichkeit, ein ungeschriebenes Gesetz: Als eines von sieben Geschwistern war jetzt unser Vater mit der Pflege an der Reihe, und damit auch unsere Familie.

Großmutter war in unserem Dorf geblieben, um sich um das Haus und die Schafe zu kümmern. Dieses Dorf hatte mein beduinischer Ururgroßvater einst den Franzosen abgekauft. Dort, am Rande der Wüste, unweit des Euphrats, war Großvaters Reich, dort war er ein König der Wüste, auf Arabisch ein Badja. Drei seiner Söhne lebten mit ihren Familien in der Nachbarschaft. Der König der Wüste hatte sein eigenes Lehmhaus, seinen Garten und eine Vielzahl von Enkelkindern. Fast jeden Abend saßen seine Angehörigen bei ihm. Es wurde zusammen gegessen und erzählt. Je älter meine Großeltern wurden, desto öfter übernahmen die Schwiegertöchter und Töchter das Kochen. Wenn Oma und Opa mal einen Abend zu zweit verbringen wollten, wurde das Essen zu ihnen gebracht.

Und nun zog der König der Wüste bei uns ein, weil er »durch den Wind« war. Für mich, den zehnjährigen Enkel, war Djudu immer ein starker Mann gewesen. In seiner Kindheit hatte er noch als Nomade gelebt, wusste alles und konnte tolle, spannende Geschichten erzählen. Es war für mich das Größte, seinen Erzählungen zu lauschen. Bei Besuchen hatte er früher immer Geschenke mitgebracht. Aus meiner kindlichen Sicht ging dies nun alles verloren. Ich habe in der Zeit viel um meinen Großvater geweint.

Heute glaube ich allerdings, dass mein Opa ziemliches Glück hatte. Er blieb nie allein und war weiterhin gut ins Familienleben eingebunden. Da waren nicht nur meine Mutter, mein Vater, meine Geschwister und ich. Auch die andere Großmutter unterstützte oft meine Mutter. Jeden Tag kamen Tanten und Onkel, um Djudu zu besuchen. Sie blieben oft mehrere Tage und haben dann nur mit einer Decke auf dem Fußboden geschlafen.

Interessanterweise hat keiner davon geredet, dass Opa dement sei oder krank. Für uns war der Großvater einfach »durch den Wind«, das gehörte in Syrien zum Alter dazu.

Wenn viele Familienmitglieder bei der Pflege eines Menschen mit Demenz mithelfen, hat das große Vorteile: Die Arbeit verteilt sich auf mehrere Schultern, und der Verwandte bleibt am sozialen Leben beteiligt. Opa bekam mit, was uns bewegte, und er war vor allem in den Tagesablauf eingebunden. Aber auch wir Kinder erfuhren, was Pflege bedeutet, und mussten zur Entlastung unserer Mutter kleine Aufgaben übernehmen. Wir erlebten unmittelbar, wie der Generationenvertrag funktioniert. In einem Pflegeheim gehen all diese Aspekte verloren.

Andererseits will ich die Pflege innerhalb der eigenen Familie nicht romantisieren. Wenn ich als Physiotherapeut mit einem dementen Patienten Übungen mache und geduldig immer wieder erkläre, was wir gerade tun, denke ich oft an meinen Großvater. Waren meine Eltern auch geduldig mit ihm? Der Vorteil eines Heims ist ja, dass die Begleitung professionell erfolgt. In Familien ist das oft nicht möglich. Als mein Großvater begann, sonderbare Geschichten zu erzählen, haben wir Kinder über ihn gelacht, und die Erwachsenen wussten auch nicht, wie sie damit umgehen sollten. Ich bin davon überzeugt, dass mein Großvater das wahrgenommen hat. Die Mitarbeiter eines Heims hingegen haben die Kompetenz, mit dem sich ändernden Verhalten umzugehen und den Dementen in seinem Handeln zu verstehen.

Im Pflegeheim in Deutschland werden Menschen mit Demenz mobilisiert und angeregt, möglichst alles selbst zu machen. Das finde ich sehr wichtig. Bei uns in Syrien ist ein alter und kranker Mensch dagegen wie ein greiser König: Ihm werden alle Wünsche von den Augen abgelesen und erfüllt. Selbst wenn er allein trinken wollte – der Becher wird ihm zum Mund geführt. Von der früheren Selbstständigkeit des Menschen bleibt aus falsch verstandener Fürsorge nichts mehr übrig.

Natürlich gab es auch in Syrien Menschen ohne Ehepartner und Kinder. Wer hat sich um sie gekümmert? Meistens die Nachbarn. In unserer Straße zum Beispiel lebte ein hilfsbedürftiges älteres Ehepaar, das weder Kinder noch Verwandte hatte. Die ganze Straße hat nach den beiden geschaut. Jeden Tag kochte jemand anderes das Essen für die beiden, machte die Wohnung sauber und erledigte, was so anfiel. Meine Mutter natürlich auch. Die Gesellschaft nahm sich also dieser Menschen an. Wäre deren Zahl allerdings stark gestiegen, hätte die Hilfsbereitschaft sicher bald abgenommen. Und natürlich sprechen wir von Syrien vor dem Krieg. Ich möchte nicht wissen, wie viele alte, verletzte und vereinsamte Menschen heute durch Aleppo oder andere syrische Städte irren.

Ich betrachte es als ein Glück, hier in Deutschland mit älteren Menschen arbeiten zu dürfen. Viele meiner Patienten im Klinikalltag sind hochbetagt, einige sind dement. Auch bei meinen Hausbesuchen als Physiotherapeut oder Altenbetreuer habe ich viel Kontakt zu älteren Menschen. Man kann von ihnen viel lernen, auch über die deutsche Gesellschaft. So mögen es die meisten Patienten hierzulande nicht, berührt zu werden, anders als bei uns in Syrien. Dort war es normal, jemanden an die Hand zu nehmen oder auch mal zu umarmen, wenn er oder sie traurig war. Den älteren Menschen hier ist es offenbar sehr wichtig, zu zeigen, dass sie noch selbstständig sind.

Ich frage mich, ob das einer der Gründe ist, warum hier so viele Angst vor dem Alter haben. Alter wird offenbar negativ bewertet. In Syrien hingegen bringen wir dem Alter sehr viel Respekt entgegen. Alt sein wird mit Würde assoziiert. Die betagten Menschen werden von den Jüngeren bedient und genießen es. Deutsche hingegen wollen lieber alles alleine machen und finden es schrecklich, wenn sie der Hilfe bedürfen. Sollte ich das Glück haben, eine eigene Familie zu gründen, würde ich am Ende meines Lebens gern in einer häuslichen Umgebung gepflegt werden. Aber wer weiß, wie ich im Alter darüber denke!

3. Von Ost-Aleppo nach Westberlin

Als die Berliner Mauer fiel, war ich gerade mal ein paar Monate alt.

25 Jahre später, im Herbst 2014, stand ich, der Geflüchtete, am Brandenburger Tor und durfte die beeindruckende Lichtinstallation entlang der ehemaligen Mauer fotografieren. »Lichtgrenze«, was für ein schöner neudeutscher Begriff, der zu Recht zum Wort des Jahres 2014 gewählt wurde!

Ich war gerade von Hamburg nach Berlin gezogen, weil das Leben in den neuen Bundesländern günstiger als in der Hansestadt war und die Sprachkurse erschwinglicher. Ich hatte mich außerdem bei einigen Online-Job-Portalen registriert. Bis heute bekomme ich Angebote aus dieser Berliner Zeit: mehr oder weniger lukrative Tätigkeiten als Umzugshelfer, Gartenarbeiter oder Katzensitter. Die Jobs, die ich tatsächlich fand, kamen aber vorwiegend durch »Vitamin B« zustande. Dank der Kontakte meiner Freunde durfte ich – der Sohn eines syrischen Bauarbeiters – die eine oder andere Baustelle hierzulande kennenlernen. Dadurch lernte ich nicht nur den Reichtum der polnischen Kraftausdrücke kennen, sondern auch viele Sehenswürdigkeiten der deutschen Hauptstadt. Bis heute frage ich mich allerdings, warum die Komische Oper diesen komischen Namen trägt.

Besonders gern denke ich an meinen Job als Sitter für Lea zurück. Lea war allerdings weder Katze noch Hund, sondern eine fröhliche dreizehnjährige junge Dame. Mit dem Downsyndrom geboren, brauchte die Familie jemanden, der das Mädchen von der Schule abholte und anschließend ein bis zwei Stunden mit ihr verbrachte. Offenbar wirkte ich qualifiziert genug für diese Aufgabe. Die Tatsache, dass ich in Syrien Kinder mit Behinderung therapeutisch betreut hatte, war dabei sicherlich hilfreich.

Es war eine spannende Erfahrung und eine gute Möglichkeit für mich, mein Deutsch zu verbessern. Lea war stolz darauf, mir etwas beibringen zu können. Zum Beispiel, dass es der und nicht die Apfel hieß und das und nicht die Mädchen. Oder dass »Mensch ärgere Dich nicht« ein Spiel ist und keine Aufforderung.

Ich staunte, wie fit und selbstständig dieses Mädchen war. Offenbar ging sie auf eine gute Schule. Allerdings musste sie keine blaue Uniform tragen wie ich in ihrem Alter. Auch musste sie morgens keinen Appell vor dem Porträt von Angela Merkel abhalten und kein Loblied auf den Bundespräsidenten singen. Besonders beeindruckend fand ich, dass Lea Schwimmunterricht hatte und trotz ihrer Einschränkungen schon im tiefen Becken schwimmen konnte, anders als ich damals. In den deutschen Schulen bekam man also etwas Nützliches beigebracht – etwas, das man fürs Leben braucht.

Lea ging damals in die 7. Klasse. An das, was ich in der 7. Klasse lernen musste, erinnere ich mich nur sehr ungern. Meine Lieblingsfächer waren Chemie und Anatomie, später arabische Literatur. Am meisten hasste ich »Syrische Nationalerziehung«. Chemie hatten wir zweimal die Woche, das »Regierungsfach« dreimal, jedes Jahr in einer aktualisierten Version. Wenn die Halbjahresklausuren nahten, kam ich in einen echten Gewissenskonflikt. Sollte ich wirklich alle Zitate unseres verstorbenen und »unsterblichen« Führers Hafiz al-Assad auswendig lernen und danach die berühmten Worte seines noch sehr lebendigen Sohnes? Oder sollte ich meine kostbare Zeit in die Vorbereitung der Chemie- und Matheklausuren investieren?

Mein Hauptproblem war, dass ich – wie alle anderen auch – die »Regierungsbibel« sterbenslangweilig fand. Ich konnte mir die unzähligen heroischen Ereignisse und großen Worte einfach nicht merken. Ich hasste es, auf dem heißen oder kalten Schulhof zu stehen und auf die vom Direktor gebrüllte Frage »Wer ist unser Präsident für immer und ewig?« im Chor zu antworten: »Das ist unser ewig lebender Präsident Hafiz al-Assad!«

Wie gern hätte ich etwas mehr über den berühmten arabischen Gelehrten ibn Sina erfahren oder Texte von al-Kawākibī oder ibn Hayyān gelesen. Aber Pauken musste sein, denn es wäre wirklich nicht gut gewesen, im »Regierungsfach« durchzufallen.

Offenbar konnte ich trotzdem genug Chemie und Anatomie lernen, um mein Studium als Physiotherapeut abzuschließen, das dann sogar in Deutschland anerkannt wurde.

Aleppo, September 2012. Ich stehe vor dem Krankenhaus, in dem ich seit Ausbruch des Krieges als Freiwilliger arbeite. Eine dunkle Rauchwolke steigt zum Himmel. Ich komme gerade vom Hausbesuch bei einem der vielen Verletzten, der eine Armprothese brauchte. Ich weiß nicht, was dieser Rauch bedeutet. Wurde unser Krankenhaus bombardiert? Es heißt neuerdings, dass Krankenhäuser ein beliebtes Ziel der Kampfjets des Regimes seien. Während ich losrenne, höre ich mich reden: »War das eine Bombe? Sind meine Freunde tot? Nein, die Rauchwolke scheint von woanders zu kommen.« Und tatsächlich: Sie steigt aus einem der Mehrfamilienhäuser neben dem Krankenhaus auf. Wahrscheinlich eine Rakete oder eine Fassbombe.

Ich gehe ins Krankenhaus und entdecke die vielen Verwundeten; die meisten liegen auf dem Boden. Der Anblick ist schrecklich und macht mich traurig und wütend. Aber es gibt keine Zeit zu verlieren. Gerade jetzt muss man funktionieren. Die Ärzte müssen schnell entscheiden, wem sie zuerst helfen, wenn sie überhaupt helfen können.

Ein Suzuki-Pick-up bringt die nächsten Opfer des Angriffs. Wir müssen die Verletzten am Haupteingang von der Ladefläche ins Krankenhaus tragen. Ich nehme einen kleinen Jungen auf den Arm, er ist höchstens zehn Jahre alt. Er weint und ruft: »Mama, Mama, wo bist du?« Er ist voller Blut; ich habe Angst, dass er schwer verletzt ist. Seine Familie ist noch auf der Ladefläche. Der Vater ist bewusstlos, ihm fehlt ein Bein. Die Mutter des Kindes liegt neben dem Mann. Ohne Kopf. Die Geschwister – alle tot.

Täglich müssen wir solche Szenen erleben. Jeden Tag wächst die Zahl der Menschen, die sich sehnlichst eine Arm- oder Beinprothese wünschen. Manche brauchen beides. Ist dies das Ergebnis unserer friedlichen Revolution?

Wie schnell der Krieg zum Alltag wurde und alle Pläne durchkreuzte! Erst ein Jahr zuvor, 2011, hatte ich meine erste Stelle als Kinder-Physiotherapeut angetreten, bei einem Verein, der von einer Schweizer Hilfsorganisation finanziert wurde. Das Konzept, die Therapie behinderter Kinder zu dezentralisieren, gefiel mir. Damit die kleinen Patienten nicht jedes Mal in die Großstadt gefahren werden mussten, wurden Behandlungszentren auf dem Land eingerichtet. Wir Therapeuten fuhren aufs Land, um vor Ort mit den Kindern und ihren Familien zu arbeiten.

Die Ausstattung unserer bescheidenen Praxisräume konnte nicht mit dem Standard deutscher Praxen mithalten. Aber wir waren stolz auf unsere Sprossenwand, auf das kleine Trampolin, auf die zwei bunten Sitzbälle. Besonders beliebt war bei den Kindern das pinkfarbene Hüpfpferd, auf dem sogar die Jungs gern ritten.

Ich mochte meinen Job als reisender Therapeut. Nicht nur wegen der Arbeit mit den Kleinen, sondern auch wegen der Gespräche mit ihren Eltern. Denn der Beginn meiner Tätigkeit fiel mit den Protesten in Syrien zusammen.

Jeden Montag seit Juli 2011 fanden friedliche, aber lebhafte Demonstrationen statt, an denen ich manchmal teilnahm. Wenn ich eine solche Montagsdemo besuchte, blieb ich über Nacht im Therapiezentrum oder kam bei der Familie eines Patienten unter, denn es war zu gefährlich, noch am selben Abend nach Aleppo zurückzufahren. Bei einer Militärkontrolle wäre ich sofort unter Verdacht geraten, zu den »Volksverrätern« zu gehören.

Die Diskussionen mit den Familien meiner kleinen Patienten waren eine Art Barometer für die Stimmung in der Bevölkerung. Und die Stimmung hier, westlich von Aleppo, war am Gären. Nicht umsonst hat das Regime ein halbes Jahr später das Polizeirevier in dieser Kleinstadt auflösen lassen – ein Zeichen dafür, dass der Ort als »Terroristennest« zum Abschuss freigegeben war. Ein paar Tage später fielen die Bomben. Zweimal die Woche fuhr ich mit dem Kleinbus in dieses Städtchen, über ein Jahr lang. Seit dem Sommer 2011 hatte sich die Fahrtzeit verlängert, denn es gab zwei neue Checkpoints, an denen wir kontrolliert wurden. Unzählige Male blieb mein Herz stehen, wenn der Wachposten sich vor unserem Kleinbus aufbaute, die Beifahrertür öffnete und mit bewegungsloser Miene die Hand ausstreckte und forderte: »Alle Personalausweise zu mir.«

Der Passagier hinter dem Beifahrer musste alle Ausweise einsammeln und dem Soldaten aushändigen. Gesichter wurden gemustert, Namen gerufen, jedes zweite Mal wurde einer der Reisenden herausgewunken. Was mit ihnen geschah, erfuhr man nicht, denn der Bus setzte sich danach wieder in Bewegung.

An einem solchen Checkpoint zwischen Ost-Aleppo und dem reichen Westen der Stadt ist mein Cousin Tarik verschwunden. Er ist bis heute unauffindbar – zur Verzweiflung seiner Frau, seiner zwei Kinder und seiner Eltern.

Auch aus einem anderen Grund wäre es nicht gut gewesen, bei diesen Fahrten zwischen Aleppo und dem Umland herausgefischt zu werden. Ich hatte noch nicht beim Militär gedient und mich auch nicht vorschriftsmäßig bei der zuständigen Behörde abgemeldet. Somit galt ich als Fahnenflüchtiger und wäre bei jeder gründlichen Kontrolle zum Militär eingezogen oder ins Gefängnis gesteckt worden.

Dass ich nicht namentlich aufgerufen wurde, lag vielleicht auch daran, dass der Geburtsort, der in meinem Ausweis stand, noch unter der Kontrolle der Regierung stand. Hätte in meinem »Perso« zum Beispiel Mare’ oder Dar Ta’izzah gestanden, wo damals viele Demos stattfanden, wäre ich mit Sicherheit aus dem Bus herausgebrüllt worden: »Her mit dir, du Esel, du Affe!«

Solche klangvollen Anreden waren schon immer das Markenzeichen unserer Volksarmee gewesen. Jeder junge Rekrut musste sich an derlei Nettigkeiten gewöhnen, das gehörte zum Ritual der Entwürdigung.

Bis heute geht es mir so, dass ich beim Besteigen eines Busses – zum Beispiel nach Berlin – instinktiv nach dem »sichersten« Platz suche. Es gibt keinen Grund, in Deutschland etwas zu befürchten. Weder mein Flüchtlingsstatus noch meine Arbeitserlaubnis lassen Fragen offen. Trotzdem wird es dauern, bis sich dieser Reflex, bloß nicht aufzufallen, wieder legt.

Einer der Wachposten hätte auch mein Cousin Mussa sein können. Doch zum Glück war mein Lieblingsvetter zu dieser Zeit in Damaskus stationiert. Er war wie ein Bruder für mich. Da er seinen Vater vor vielen Jahren verloren hatte, waren wir seine zweite Familie.

»Wir werden alle Terroristen besiegen«, sagte er jedes Mal, wenn jemand aus der Familie mit ihm telefonierte. Mussa erweckte nicht den Anschein, dass er wirklich wusste, was in seinem Syrien los war. Und unser Vater wollte auf keinen Fall, dass man seinen geliebten Neffen am Telefon über die Lage aufklärte. Die Angst, belauscht zu werden, saß zu tief. Vater erinnerte sich nur zu gut an die blutige Niederschlagung der Aufstände in Hama, Homs und Aleppo Anfang der 1980er-Jahre. Trotzdem hatte er es nicht für möglich gehalten, dass Homs bald wieder das Ziel staatlichen Terrors sein würde – und etwas später auch unsere Stadt.

Für meinen weisen Vater hatten auch die Wände Ohren. In seiner Gegenwart durften wir keine »revolutionsfreundlichen« TV-Sender schauen, wie zum Beispiel Al Jazeera, France 24 oder Deutsche Welle-Arabic. Er wollte keinen Besuch vom Geheimdienst bekommen. Wir Söhne fanden seine Vorsicht damals übertrieben.

Frühsommer 2012. Ich bin unterwegs zu meinem Cousin Mussa. Ich möchte ihn überreden, aus der Kaserne zu fliehen. Noch weiß ich nicht, ob es mir gelingen wird, mit ihm persönlich zu sprechen. Mein Vater und meine Tante wissen nichts von meinen Plänen; die Familie will nicht, dass Mussa irgendein Risiko auf sich nimmt.

Die Busfahrt von Aleppo nach Damaskus dauert normalerweise fünf bis sechs Stunden; jetzt sind es wegen der Umwege zehn. Wir meiden die sogenannten »heißen« Orte. Wir passieren Stadtteile, die das Regime »zurückerobert« hat, so wie in Homs oder in Idlib. Diese Fahrt öffnet mir noch mehr die Augen dafür, was in Syrien seit unserem »Frühling« vor sich geht. Ich fahre zum zweiten Mal in meinem Leben nach Damaskus, durchquere mein Land und entdecke überall verbrannte Erde: Die zurückeroberten Stadtteile liegen in Schutt und Asche. Bis heute sprayen die Regierungssoldaten mit Vergnügen an die Mauern der besiegten Orte: »Entweder Assad oder verbrannte Erde«.