Feuer der Sehnsucht - Claudia Mönius - E-Book

Feuer der Sehnsucht E-Book

Claudia Mönius

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Beschreibung

»Religion, entrümpelt um Machtanspruch und Manipulation, kann heilsam sein.« (Claudia Mönius)

Ist mein Glaube wirklich Schnee von gestern? Kann ich meine Sehnsucht nach Spiritualität leben, ohne mich zwischen scheinbar moderner Esoterik und altbacken wirkender christlicher Religion entscheiden zu müssen? Gibt es Religiosität jenseits von Kirche und wie kann ich sie in meinem Alltag leben?
Claudia Mönius holt Gottes- und Glaubenserfahrungen aus der gesellschaftlichen Tabuzone und regt zum Austausch über spirituelle Erfahrungen an. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der christlich-spirituellen Tradition – auch als Basis für Toleranz und Offenheit gegenüber Menschen mit anderem kulturellem und religiösem Hintergrund.

  • Damit Spiritualität lebt
  • Glaube und Freiheit haben miteinander zu tun
  • Alltagsrelevant und persönlich
  • Eine neue Spiritualität, die Überliefertes integriert und weitet
  • Mit einem Vorwort von Konstantin Wecker

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Seitenzahl: 410

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Claudia Mönius

Feuer der Sehnsucht

Spiritualität einfach leben

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Redaktion: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotiv: © dekzerphoto / shutterstock

ISBN 978-3-641-22549-0V001

www.gtvh.de

INHALT

Vorwort von Konstantin Wecker

Einführung

1. SEHNSUCHT NACH DEM »MEHR«

Schlichte Erfahrungen von erhabener Größe

Lassen

Dranbleiben

Eine lebendige Beziehung zum Göttlichen aufbauen

Religion als Ideallinie

Den eigenen Schatten integrieren und sich dem Ideal annähern

Rückbindung in individueller, zeitgemäßer Form

Glauben mit Herz und Verstand

Begegnung mit dem Göttlichen

In Beziehung treten

Entfaltete Weisheit

Kirche als freudvolle Botschafterin des Glaubens?

Zum allgemeinen Priestertum berufen

2. GOTT NEU BEGEGNEN IM GEBET

Dein Wille geschehe – oder doch lieber meiner?

Beten wirkt – wenn auch nicht immer so, wie wir es uns wünschen

Christliche Mantras – immer die gleiche Leier?

Plädoyer für eine neue Weiblichkeit

Hingabe an das Unfassbare

Sich das eigene Mantra zufallen lassen

Weite und Freiheit statt Haarspalterei

Coming-out als Beterin

Beten für andere?

Meditatives Beten

Präsent sein im kontemplativen Gebet

Haltepunkte der Besinnung

Eigene Rituale entwickeln

Pausenfüller-Gebete

Singend und tönend beten

Grenzenloses Singen

Beten in Bewegung

Einfach beten

Auf zu neuen Gotteserfahrungen!

3. IN DER HINGABE GOTT ERFAHREN

Schlendern und Verweilen

Was auch immer kommt, bleib im Vertrauen!

Sich der inneren Führung überlassen

Begegnungen in ungeahnten Bewusstseinsräumen

Zeugnis ablegen von einer besonderen Gotteserfahrung

Hinter der Angst: ein Bewusstseinsraum voller Überraschungen!

Erfüllung finden in selbstvergessener Hingabe

4. LEIDENSWEGE ALS WEGE ZU GOTT

Wo bitte geht’s zum Himmel?

Ein etwas anderes Weihnachten

Wenn’s ganz dick kommt: Bewusstsein auf Wanderschaft

Begegnung am archimedischen Punkt

Schräge Gestalten am Rande des Kreuzwegs

Wo aber Gefahr wächst …

Weitergehen mit Blick auf das Kreuz

Im Bewusstsein des Getragenseins

5. GOTT FINDEN AUF DEM TIEFSTEN GRUND

Sexueller Missbrauch: Verwirrung ohne Ende

Wurzelsuche

Vierzehn Engel um mich stehn

Spatz sucht Häschen

Dem Treiben ein Ende setzen

Ganz in der Tiefe

Unter dem Deckmantel des Schweigens

»Prävention« – das neue Deckmäntelchen?

Versuch eines Panoramablicks

»Nur für eine kleine Weile habe ich dich verlassen« (Jes 54,7)

»Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen« (Ps 30,12)

6. IN ZEICHEN UND WUNDERN GOTT ERAHNEN

Angst vor der Prä-Trans-Verwechslung?

Das Kreuz mit dem Kreuz

Den Urgrund des Seins mit allen Sinnen erfahren

Mit dem Vier-Quadranten-Modell unterwegs zum Sowohl-als-auch

Transrationaler Regenbogen

Die lange Suche nach dem Ausweg

»Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!«

Back to the roots: Wiedereintritt in die katholische Kirche

Der Befreiungsschlag

Zeit für ein Wunder

7. RELIGION LEBEN IN ALLER FREIHEIT

Dem Kosmos begegnen im Heiligen Spiel

Untergrundkirche hat es immer gegeben

Religion und Psychotherapie: Annäherung an den goldenen Kern

Sich von Gott berühren lassen in ungewohnten Bildern

EXKURS: EXERZITIEN – GOTT DIE CHANCE GEBEN DURCHZUDRINGEN

Begegnung in der eigenen inneren Tiefe

Alt und Neu: Heilsame Verbindungen

Einfach sprechen

Gemeinschaft, Intellekt und Sinnlichkeit

Statt eines Nachworts

Literatur

Anmerkungen

VORWORT

Bei unserem ersten Kontakt fragte mich Claudia Mönius, ob sie den Titel meines Büchleins »Dann denkt mit dem Herzen« für eine gleichnamige Kampagne verwenden dürfe. Sie wolle damit, so schrieb sie mir, einen Beitrag leisten zur Revolution des Bewusstseins, zu der ich auf der Bühne immer wieder aufrufe. Ich antwortete ihr, dass ich diese Worte von Petra Kelly habe und sie diese wiederum meines Wissens aus dem »Kleinen Prinzen«. An solchen Worten habe niemand irgendwelche Rechte bzw. wir alle hätten sie, so ermunterte und ermutigte ich zu der Aktion, die dann im Frühjahr 2017 tatsächlich stattfand.

»Revolution des Bewusstseins«, was meint das eigentlich und was können wir, was kann jede Einzelne und jeder Einzelne tun, um ihr näher zu kommen? Die Art von Revolution, die ich meine, kommt nicht mit Waffengewalt daher, im Gegenteil. Sie ist friedlich und getragen von gegenseitigem Respekt und der bewussten Entscheidung für einen würdevollen Umgang miteinander. Sie lässt uns die Verbundenheit mit allem und allen wieder spüren, eine Schneeflocke wieder als Wunder wahrnehmen, Dankbarkeit empfinden für unsere Wurzeln und die uns daraus erwachsenden Möglichkeiten. Revolution des Bewusstseins bringt mir die Erkenntnis, dass die Armut des anderen mit meinem Reichtum zu tun hat und dass die Fähigkeit zu bewusstem Verzicht eine der edelsten menschlichen Qualitäten ist und probater Gegenspieler zur allseits herrschenden Gier.

Die Revolution des Bewusstseins versetzt mich in eine innere Haltung, die Althergebrachtes nicht mehr ablehnt um des Ablehnens willen. Zugleich lässt sie mir die geistige Freiheit, aus einem geweiteten Blickwinkel heraus das Tradierte sich ins Neue hinein entfalten zu lassen. Solch (r-)evolutionäre Gedanken finden sich auch bei großen spirituellen Lehrern und Philosophen unserer Zeit, wie Willigis Jäger, David Steindl-Rast und Ken Wilber. Doch wie bringen wir ihre kluge Erkenntnis ins Hier und Jetzt, in unsere von Profitgier, Konsumwahn und angstgetriebener Menschenfeindlichkeit dominierte Gesellschaft? Klein, konkret und konsequent sind die Vorschläge und Ideen, die Claudia Mönius dazu entwickelt. Wie wäre es, wenn wir alle mittags um 12 Uhr die Hand aufs Herz legten, dabei für ein paar Atemzüge innehielten und einander einen Moment lang bewusst als menschliche Wesen wahrnähmen? Würde sich etwas verändern in dieser Welt? Ich meine ja. Es mag illusionär klingen, ganz sicher visionär, doch beginnt nicht jede Revolution mit einer Vision von einer anderen, einer besseren Welt? In diesem Sinne rufe ich auch Dir, liebe Leserin, lieber Leser, zu: »Auf geht’s – zur Revolution des Bewusstseins!«

Konstantin Wecker

EINFÜHRUNG

Mit diesem Buch wende ich mich an alle Suchenden und Sehnsüchtigen, die ebenso wie ich unter der derzeitigen Vorherrschaft von Wissenschaft, Wirtschaft und Materialismus leiden. Es richtet sich an alle, die sich nach Tiefe, nach den Dingen hinter den Dingen sehnen. An alle, die zu den Lernenden gehören, oder, um es mit Rainer Maria Rilke zu sagen, an alle, die es reizvoll finden, »die Fragen selbst liebzuhaben«. Es will dazu ermutigen, Wege des Fragens und Suchens fortzusetzen und geduldig und ausdauernd auch an großen, ungelösten Themen und Knoten »dranzubleiben«. Manchmal geht einem vielleicht erst ein Licht auf, wenn man längst nicht mehr daran glaubt.

Das Buch wendet sich besonders an diejenigen, die spüren, dass ein einsames Hinterfragen – gepaart mit dem Credo, man könne sich in allem ausschließlich auf das eigene Bauchgefühl verlassen – leicht zur persönlichen Nabelschau verkommt. Ich wende mich an die vielen Menschen, die ein tiefes Bedürfnis haben nach spiritueller Gemeinschaft, nach einem Leben in einer gemeinsamen Ausrichtung, die weder an der Oberfläche bleibt, noch sich in standardisierten, zu Floskeln verkommenen Ritualen erschöpft. Vor allem aber schreibe ich für Frauen und Männer, die als Christinnen und Christen1 innerhalb der Gemeinschaft Kirche, welcher Konfession auch immer, aufgewachsen sind, sich aber trotz ihrer spirituellen Wurzeln dort nicht mehr beheimatet fühlen, sei es, weil sie unerträgliche persönliche Erfahrungen machen mussten oder weil sie starre, lebensfeindliche Normen und Regularien nicht mehr mittragen können und wollen. Ich möchte einen Beitrag leisten zur Aufrechterhaltung christlich-spiritueller Traditionen, die in unserem Zeitalter Gefahr laufen unterzugehen, weil sie erstarrt sind und an ihrer lebendigen Weiterentwicklung gehindert werden. Ich möchte etwas weitergeben von dem Feuer, das in mir brennt und das sich immer wieder an sich selbst entzündet. Es ist das unauslöschliche Feuer meiner Liebe zum Urgrund des Seins, der sich uns im immerwährenden Christusbewusstsein offenbart hat, um uns unsere eigene Göttlichkeit vor Augen zu führen. Dabei zeige ich auch manche Schönheit der mir über meine Vorfahren und über die Institution Kirche überlieferten Gebets- und Ritualschätze katholischer Tradition auf.

Dieses Buch entstand auch aus dem Leiden an der Tatsache, dass es heute schon fast peinlich ist, katholisch zu sein. Machtmissbrauch, Gier und Erstarrung in Überkommenem haben zumindest in unseren Breitengraden und bei Frauen und Männern meiner Generation, also bei den in den 60er Jahren und später Geborenen, Kirche nahezu zur Bedeutungslosigkeit verkommen lassen. Als ich einen Ordensmann einmal fragte, ob es im Sinne eines Neuanfangs nicht besser wäre, das System katholische Kirche bräche zusammen, meinte er ernst und keineswegs polemisch: »Ich denke, es ist schon zusammengebrochen, man will es nur nicht wahrhaben.«

Es ist Zeit, höchste Zeit für einen Neuanfang. Für den Auftakt zu einer Spiritualität, die das Althergebrachte, uns Überlieferte dankbar annimmt und in der Verbindung mit Neuem in eine geistige und geistliche Weite führt, die uns alle beschenkt und befreit aufatmen lässt. Auf diesem Fundament können wir stehen, ohne fundamentalistisch zu sein. Im Gegenteil: Auf diesem Boden können wir Herz, Hirn und Hände weit öffnen für Menschen mit anderem kulturellem, religiösem und biografischem Hintergrund.

Schließlich wurde dieses Buch »sunder warumbe« (ohne Warum) geschrieben.2 Es wollte geschrieben werden, ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen. »Feuer der Sehnsucht« verlangt beim Lesen kein Durchhaltevermögen von der ersten bis zur letzten Seite. In dieses Buch kann man getrost hineinblättern und sich zu den Kapiteln führen lassen, die einen ansprechen und berühren. Apropos ansprechen: An einigen Stellen wende ich mich mit einem familiären »Du« direkt an die Leserinnen und Leser. Ich möchte damit weder Grenzen verletzen noch eine künstliche Pseudovertraulichkeit herstellen. Nach meinem Empfinden passt das distanziert wirkende »Sie« nicht zu den sehr persönlichen spirituellen Erfahrungen, über die ich schreibe.

So leichtgängig das Schreiben war, so steinig war der Weg bis zur Veröffentlichung dieses Buches. Ich danke meinen mich in diesem Projekt geduldig ermutigenden und bestärkenden Weggefährt*innen: Barbara Schaefer, Bettina Schlembach, Christel Kirchner, Eva Garnerus, Pater Karl Kern SJ und Dr. Wolfgang Bürner. Ohne Euch hätte ich nie den Langmut bewiesen, der nötig war, um mit meinem Manuskript beim fabelhaften Thomas Schmitz, Programmleiter im Gütersloher Verlagshaus, auf offene Ohren und ein ebenso offenes Herz zu treffen. Wie so oft das Beste zum Schluss: Nur dank der inneren und äußeren Sicherheit, die mein Mann Thomas mir gibt, konnte ich dieses Buch schreiben. Danke, dass ich bei Dir die bedingungslose Liebe erfahren darf, die ich mein Leben lang schmerzlich vermisste!

Claudia Mönius

1. SEHNSUCHT NACH DEM »MEHR«

»Denn ein Schiff erschaffen heißt nicht die Segel hissen, die Nägel schmieden, die Sterne lesen, sondern die Freude am Meer wachrufen.«

Antoine de Saint-Exupéry

Gehörst Du auch zu den Menschen, die in sich eine tiefe Sehnsucht spüren, eine Sehnsucht nach einem »Mehr«, die sich nicht mit Kommerz und Konsum, Party und Events, erlesenen Kunst- und Kulturveranstaltungen, ja, nicht einmal mit Leistung, Karriere und Erfolg stillen lässt? Oft begegne ich im Gespräch und in meinen Seminaren Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Frauen und Männern, die mir von diesem unbestimmten Gefühl berichten, das sich immer wieder und immer deutlicher zu Wort meldet, bis es sich beim besten Willen nicht mehr überhören beziehungsweise »überspüren« lässt. Die Sehnsucht wird drängender und schreit förmlich nach Erfüllung, doch viele Menschen wissen nicht, wohin dieser Ruf sie führen will. Mir scheint, er möchte oft in eine Richtung weisen, die derzeit nicht »en vogue« ist. Es ist die Sehnsucht nach einer gemeinsamen Wurzel, nach einem Ursprung, einer Quelle, aus der alles entspringt und in die alles wieder mündet. Diese Sehnsucht führt uns an einen Punkt außerhalb unseres kleinen Egos. Dort spüren wir, dass alles mit allem verbunden ist, und wir erkennen das Gefühl des Voneinander-Getrenntseins als Illusion. Zugleich liegt dieser Punkt in unserem Inneren – und das ist kein Widerspruch, wie wir noch sehen werden – und wartet nur darauf, wahrgenommen zu werden. Diesen Punkt, an dem alles zusammenfließt, und der zugleich ist und doch nicht ist, nenne ich persönlich Gott. Nun ist dies ein Begriff, der bei vielen Menschen so negativ besetzt ist, dass sie sofort die innere Jalousie herunterlassen, wenn man ihn ausspricht. Gott, Religion, Christentum, Kirche – alles wird in einen Topf geworfen: »Damit kann ich nichts anfangen!« Eine der Folgen ist, dass wir kaum noch über unsere Gotteserfahrungen und -begegnungen sprechen. Wer will schon gern als rückständig und konservativ gelten und sich belächeln lassen ob seiner spirituellen Ausrichtung? Dabei sind diese Erfahrungen so intensiv, so lebendig und von solcher Schönheit, dass es schade ist, wenn wir sie für uns behalten und nicht den Mut haben, sie mit anderen zu teilen.

Schlichte Erfahrungen von erhabener Größe

Es ist stets etwas Unmittelbares, das aus unserem tiefsten Inneren kommt und sich nach außen ergießen will. Es sind ungefilterte Gedanken; Worte, die sich gleichsam von selbst formieren, um Unbeschreibliches auszudrücken. Das ist das Seltsame an dem, woran ich Dich teilhaben lassen will: Wie kann ich etwas weitergeben, wenn es doch so unaussprechlich und unbeschreiblich ist? Der Maler gießt es in Farben, der Bildhauer meißelt es aus einem Stück Holz oder Stein heraus, der Töpfer lässt es sich drehend zwischen seinen Händen selbst erschaffen. Was aber macht der Schriftsteller? Wie beschreibt derjenige das Unbeschreibliche, der nichts hat außer den 26 Buchstaben, die er unterschiedlich anordnen und miteinander kombinieren kann? Niemand kann in dieser Welt die eigentliche Erfahrung abbilden, gleich mit welchem Material und welcher Technik er es versucht. Die Darstellung wird immer beschreibend bleiben, ein Bild, das dem, das es abbilden will, nie auch nur annähernd gerecht werden kann. Vielleicht ist es die Musik, die hier den meisten Spielraum hat, die größte Reichweite, um einzufangen, was sich immer entziehen wird. In der mystischen Ergriffenheit, im Berührtsein, im Fluss der Tränen mag vielleicht die größte Nähe zur Wirklichkeit, zu dem »immer ganz Anderen«, dem sich stets Entziehenden liegen. Ich jedoch muss mich begnügen mit dem ungenügenden Vokabular, das mir zur Verfügung steht, und mit dem Beschreiben eigener teils schöner, teils schmerzhafter Erlebnisse und Erfahrungen. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie mich auf die eine nicht wegzudiskutierende und von da an auch nicht mehr anzuzweifelnde letzte und tiefste Wahrheit verwiesen haben. Eine weitere Gemeinsamkeit weisen sie auf: Alles waren schlichte Erfahrungen, einfach und ergreifend, unmittelbar. Sie setzten keine in Seminaren erworbenen Kenntnisse voraus, keine langjährigen Studien, keine Lektüre von Fachbüchern. Es waren Geschenke, die ich völlig unvorbereitet, vielleicht auch unverdient, zumindest aber ohne Zutun meines Egos erhielt. »Gnade« wäre vielleicht ein aus der Mode gekommenes Wort dafür.

Lassen

Mein Beitrag dazu war eher ein Lassen denn ein Tun. Ich habe die Kanäle gereinigt, die Zugänge, durch die GEIST3 in uns einfließen kann. Das geschah wirklich mehr durch Weglassen oder zumindest Reduzieren: Fernsehen, Dauerberieselung durch Musik oder Wortbeiträge, Fachbücher, Lebensratgeber, oberflächliche Kontakte … Tatsächlich scheint mir in unserem modernen Zeitalter »Lassen« das probateste Mittel zu sein, wenn wir die sukzessive Zerstörung unserer Welt mit allem, was auf ihr noch lebendig und unverbraucht ist, aufhalten wollen. Mir kommt eine Fotokarte in den Sinn mit dem Bild einer im Liegestuhl dösenden Frau, die mit dem Spruch untertitelt ist: »Wie viel Unheil allein durch Nichtstun vermieden werden kann!« Mit einem Gesprächspartner überlegte ich im Gedankenspiel, was wohl passierte, wenn alle Menschen auf der Welt gleichzeitig eine Viertelstunde lang nichts täten, einfach nichts. Gut, in dieser Zeit würden keine Menschenleben gerettet, aber sicher würde insgesamt bei weitem weniger Leben vernichtet werden, als es derzeit überall der Fall ist. Wenn ich oft nicht recht weiß, wo es weitergeht, und alles stockt und voller Hindernisse zu sein scheint, frage ich »Was kann ich lassen?« statt »Was kann ich tun?«. Die Frage nach dem »Weniger« bringt mich dem »Mehr« näher.

Dranbleiben

So lade ich Dich nun ein, mir zu folgen auf meiner Reise zu ganz unterschiedlichen, immer aber unmittelbaren Gotteserfahrungen. Es sind meine ganz persönlichen Erfahrungen, und sie wollen Dir vermitteln: Um Gott zu begegnen, musst Du nichts wissen oder können, Du brauchst kein Seminar dafür zu buchen und auch nicht den Jakobsweg zu pilgern. Sei einfach nur offen, mische Dich möglichst wenig ein und lasse geschehen – im Vertrauen auf Deine eigene Wahrnehmung und darauf, dass Dein Leben sich weiter gut entfaltet, wenn Du Deine Sehnsucht nach dem »Mehr« als Wegweiser begreifst, dem Du zielsicher folgen darfst. Dieses »Zielsicher-Folgen« ist das Einzige, worauf es ankommt. Das gilt es wirklich zu tun, nicht zu lassen: dem Wegweiser unermüdlich folgen. Wie die Magier aus dem Morgenland unerschütterlich dem Stern vertrauten und ihren Weg an ihm ausrichteten. Mag es auch nur ein Mythos sein, ein heiliges Bild, so vermittelt es doch: Es geht ums Dranbleiben, ums Am-Ball-Bleiben, ums Weitergehen, Schritt für Schritt. Das verlangt Ausdauer, Kontinuität, Geduld. Man kann sich gut vorstellen, dass der Weg, den diese Weisen gingen, beschwerlich war. Aber sie haben durchgehalten, im festen Vertrauen darauf, dass dieser Stern, dem sie folgten, kein ihrer eigenen Phantasie entsprungenes Hirngespinst war, sondern ein Zeichen, dem es zu folgen galt, unbeirrt vom Geschwätz irgendwelcher Bedenkenträger, die sich über ihren festen Glauben und den damit verbundenen Weg lustig machten. Nicht nur um den Aufbruch ging es dabei, nicht nur darum, sich rufen zu lassen und loszugehen, sondern darum, durchzuhalten, den Weg fortzusetzen und am verheißenen Ziel zu vollenden. Auf unsere Zeit übertragen meint das: Irgendetwas muss ich schon tun, um diese Beziehung zu Gott, wie auch immer ich ihn für mich begreife, zu pflegen. Und damit meine ich keine von außen vorgegebenen Normen und Regeln, alles andere als das. Gott geht – und natürlich ist auch dies ein unvollkommenes Sprachbild – mit jeder und jedem einen eigenen Weg, und so wenig, wie ein Mensch dem anderen gleicht, so wenig gleichen sich diese Wege. Als ich mich im Jahr 2004 nach langer »Abstinenz« trotz aller Zweifel und Bedenken gegenüber der Institution zum Wiedereintritt in die katholische Kirche entschloss, besiegelte ich meine Unterschrift in einem feierlichen Gottesdienst. Im Anschluss daran rief mir der Jesuitenpater, der mich dabei begleitet hatte, zu: »Also, fangen wir an!« In dem Moment war ich perplex und dachte: Was soll das bedeuten? Ich bin doch jetzt wieder drin, was soll ich denn noch tun? Womit soll ich anfangen? Erst später begriff ich, dass Gotteserfahrungen eben keine Zufallsprodukte sind, die vom Himmel fallen, wann es ihnen gerade einfällt, sondern dass die Begegnung mit Gott einen bewussten Weg voraussetzt, einen Entschluss, einen Aufbruch, ein Weitergehen, eben ein »Dranbleiben«.

Erschrick jetzt bitte nicht und denke, ich will Dich »missionieren«, mitnichten. Ich selbst finde in den Ritualen dieser Kirche, egal welcher Konfession, nur noch selten etwas, was mich in meiner spirituellen Tiefe anspricht. Die Kirchenlandschaft erscheint mir eher wie eine Wüste, in der man ab und an einen wohltuenden Brunnen entdeckt und sich für die nächste einsame Wegetappe an seinem Wasser labt. Auch der Ruf dieses Priesters bezog sich damals nicht auf sonntägliche Gottesdienstbesuche. Vielmehr führte er mich zu einem Kollegen, der mich über Jahre hinweg auf meinem geistlichen Weg begleitete, mir das Meditieren beibrachte, mir zeigte, was die Kraft der Stille bedeutet, der an meiner Seite war, wenn es dunkel wurde und ich von jeder Gottesbindung gefühlt meilenweit entfernt war. Er nahm mir manch kindliche Illusion und so manches überkommene Gottesbild und schlug mir einen lebbaren Ersatz vor, der sich mit einem erwachsenen, vernunftgeprägten Bewusstsein vertrug. »Geistliche Begleitung« nennt sich diese Art der Weggefährtenschaft, die einem helfen kann, auf dem spirituellen Weg die Orientierung zu behalten. Willigis Jäger, ein großer spiritueller Lehrer unserer Zeit, wurde von einem Seminarteilnehmer einmal gefragt, ob man unbedingt geistliche Begleitung bräuchte. Verschmitzt lächelnd meinte der damals schon betagte Herr: »Nun, man kann auch versuchen, ohne Lehrer Geige spielen zu lernen. Es fragt sich nur, was dabei herauskommt.« Allerdings ist es heute nicht so leicht, einen geistlichen Begleiter zu finden, bei dem man gut aufgehoben ist. In einer Zeit, in der Spiritualität ein schier zur Bedeutungslosigkeit verkommenes Dasein im Schatten von Wirtschaftswachstum, Konsumwahn und Fortschrittsgläubigkeit fristet, sucht man die berühmte Stecknadel im Heuhaufen, wenn man nach einem qualifizierten geistlichen Begleiter sucht, der einem auf dem spirituellen Weg zumindest ein paar Schritte voraus ist und entsprechend nicht nur Lehrbuchwissen vermittelt, sondern Impulse aus seinem eigenen Erfahrungsschatz geben kann.

Eine lebendige Beziehung zum Göttlichen aufbauen

Auf dem geistlich-spirituellen Weg geht es nicht um eine Jagd nach Gotteserfahrungen, nicht um ein Sammeln außerordentlicher Events, die als positive Unterbrecher in einem rastlosen, getriebenen und von innerer Unruhe geprägten Alltag dienen. Vielmehr geht es um Aufbau und Pflege einer stabilen, tragfähigen Beziehung und genau wie im zwischenmenschlichen Bereich ist es dabei wohltuend, wenn von dem geliebten, sehnsüchtig erwarteten Du ab und an etwas zurückkommt. Ich glaube, wir sind dann auf dem richtigen Weg, wenn wir auf die Verbundenheit – und damit meine ich eine ganz persönliche, tiefe innere Verbundenheit – vertrauen und an ihr festhalten, auch wenn wir sie manchmal nicht spüren können. Wenn wir hingegen nie etwas davon spüren und nur stur an einem einmal eingeschlagenen Weg oder einer vorgegebenen Norm festhalten, lohnt es sich, genauer hinzuschauen, ob Gottes persönliche Beziehung zu uns nicht vielleicht eine ganz andere sein könnte, so wie dieser göttliche Grund eben immer »der ganz andere« ist, der sich unserem letzten Begreifen und Festschreibenwollen entzieht. Die zuvor beschriebene spirituelle Wüste ist die eine Seite der Medaille. Wenn wir sie umdrehen, sehen wir: Im Gegensatz zu den Generationen vor uns leben wir in einer Zeit ungeheurer Freiheit, die uns Raum lässt für eigene Erfahrungen. Ist es Fluch oder Segen, dass wir aus einer Fülle verschiedenster »Vorläufer« und Angebote diejenigen aussuchen dürfen, die uns am meisten ansprechen? War es Fluch oder Segen, dass es für die Generation unserer Eltern und Großeltern keine Alternative gab zu einem von der Kirche bis ins Detail vorgeschriebenen religiösen Leben? Ich glaube, die Antwort auf beide Fragen lautet: sowohl als auch. Es kann sich anfühlen wie ein Fluch und kann zu einem werden, dass wir keine klare Orientierung mehr vorgegeben bekommen und uns in unserer immer pluralistischer werdenden Gesellschaft unseren Weg mühsam selbst suchen müssen. Und doch ist es ein Segen, dass wir in dieser inneren Freiheit leben, unsere eigenen Gotteserfahrungen machen und selbst die Entscheidungen für unseren individuellen Weg treffen dürfen. Zugleich war es in den Zeiten, in denen unsere Eltern und Großeltern lebten und in zwei Weltkriegen so ungeheuer leidvolle Erfahrungen durchmachten, ein Segen, einen nicht anzuzweifelnden und in Frage zu stellenden religiösen Anker zu haben, dem man sich in vorgegebenen starren Ritualen zu nähern hatte. (Mit »Segen« in diesen Kriegen meine ich nicht die Rolle der Kirche, sondern den inneren Halt, den gläubige Menschen in ihrem oft recht einfachen, dafür aber klaren Gottesbild hatten.) Andererseits erwies sich das allzu enge Korsett, in das unsere Vorfahren gepresst waren, oftmals als Fluch. Wie viel Leid resultierte aus der Unfreiheit, aus der Leibfeindlichkeit, aus einer falsch verstandenen Opfer- und Selbstkasteiungshaltung, aus dem Verschieben von Lebensfreude und All-Einheitserfahrung ins sehnsüchtig erwartete und gebetsmühlenartig herbeigebetete Jenseits? Fromme Theologen prangern individuelle Wege heute gern als »Synkretismus« oder »selbstgebastelte Privatreligion« an. Die dahinterstehenden Ängste sind deutlich zu sehen: Eine von den Mitgliederzahlen und vom Ansehen her in unserer westlichen Gesellschaft mehr und mehr schwindende Kirche bangt um Macht, Einfluss und nicht zuletzt um Geld. Wo kommen wir denn hin, wenn sich jeder seinen eigenen Weg sucht und sich nicht mehr unterordnet?

Religion als Ideallinie

Eine andere Sorge teile ich: Wenn uns das Leitbild abhandenkommt und mit ihm klare Antworten auf die Frage nach Gut und Böse, nach Recht und Unrecht, wenn uns Anstand und Moral verlassen, weil wir den falschen Vorbildern nachjagen, dann wird es für unsere Gesellschaft und in ihr reichlich ungemütlich. Deshalb bin ich froh, dass es die christlichen Kirchen noch gibt, weil sie als Mahner unbequem sind in dieser von Kapitalismus und Gier geprägten Welt. Ich bin dankbar für einen Papst Franziskus, der zur Umkehr und Bewahrung der Schöpfung aufruft und altmodisch gewordene Begriffe wie »Barmherzigkeit« mit neuem Leben füllt. Genauso bin ich dankbar für einen evangelischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm, der im CSU-regierten Bayern für eine Flüchtlingspolitik der Nächstenliebe und des Miteinanders kämpft. Ich bin dankbar für die vielen kirchlichen Einrichtungen im Sozialwesen, seien es Krankenhäuser, Seniorenheime oder Kindertagesstätten. Mir ist sehr wohl bewusst, auch aus eigener leidvoller Erfahrung, dass die Zustände in diesen Institutionen oft schlimm sind. Doch das sind sie in anderen Einrichtungen auch, man werfe nur einen Blick in das ein oder andere Pflegeheim in privater oder kommunaler Trägerschaft. Überall sind Menschen am Werk, und damit ist Fehlbarkeit vorprogrammiert. Oft scheint mir, dass nicht der Einzelne selbst schuld an den Missständen ist, sondern dass ganze Systeme abdriften und die Beteiligten nicht mehr Herr ihrer Sinne sind, wenn sie innerhalb des Systems agieren. Umgekehrt aber habe ich selbst erfahren: Wenn der GEIST stimmt, aus dem heraus in einem Haus gehandelt wird, wenn die Ausrichtung passt und alles Tun davon bestimmt ist, dann können diese Institutionen wahre Perlen sein in einer Zeit, in der es genau an dieser Ausrichtung oft mangelt. »Die Ausrichtung kann auch bei Menschen stimmen, die nicht an Gott oder sonst eine allumfassende Macht glauben, sondern sich auf ethische Werte besinnen«, höre ich den Einwand. Das stimmt. Ich habe mit manch erklärtem Atheisten oder Nihilisten zu tun, dessen Verhalten bei weitem sozialer und barmherziger ist als das vieler Christ*innen. Dennoch glaube ich, dass gesamtgesellschaftlich der Verlust religiöser Überzeugungen auf Dauer gesehen ins Unheil führt. Wenn wir uns nur auf unsere eigenen moralischen Vorstellungen verlassen, besteht die Gefahr, dass diese dem Zeitgeist unterliegen und allmählich von uns unbemerkt verwässern und aufweichen. Ganz zu schweigen von unseren eigenen Schatten, die unbewusst unsere zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen und unser Handeln und die Art, wie wir miteinander umgehen, maßgeblich mitbestimmen. So unvollkommen gelebte Religion aufgrund menschlicher Schwäche und menschlichen Versagens oft sein mag, das Verdienst von Religion ist, dass sie uns eine Ideallinie vorgibt, an der wir uns orientieren können.

Den eigenen Schatten integrieren und sich dem Ideal annähern

Schon wieder höre ich wütenden Einspruch: »Wie kann es dann sein, dass im Namen von Religion oder im Namen eines wie auch immer kulturell tradierten Gottes seit Jahrtausenden gemordet wird? Wie kann es sein, dass Menschen verfolgt, gefoltert, in die Luft gesprengt werden um ihres Glaubens willen oder auf der Grundlage des Glaubens der Täter?« Immer öfter und lauter wird die Überzeugung geäußert, Religionen trügen Gewaltpotenzial in sich. Deshalb müsse die Menschheit sich künftig wieder auf ethische Werte wie Mitgefühl, Güte, Dankbarkeit etc. konzentrieren. Meiner Meinung nach ist das ein Trugschluss, der von einer falschen Annahme ausgeht. Nicht Religion an sich birgt Gewalt- und Konfliktpotenzial, sondern jede und jeder Einzelne von uns. Wir sehen es überall auf der Welt: bei Amokläufen, Raubüberfällen oder Cyberattacken, ja, selbst in den industriellen Schlachthöfen und auf den Vorstandsetagen manches Großkonzerns. Und wenn wir ganz ehrlich zu uns selbst sind und aufmerksam in uns hineinlauschen, dann nehmen wir ihn auch dort wahr: den fiesen kleinen Terroristen, der anderen ihren Erfolg nicht gönnt oder sich selbst als zu kurz gekommen und vom Leben benachteiligt fühlt. Würde man ihn aus seinem dunklen Verlies befreien, wo er vielleicht seit Kinder- oder Jugendtagen eingekerkert sitzt, wer weiß, ob er nicht wahllos um sich schlagen, morden und ein elendes Gemetzel anrichten würde. Nein, nicht die Religionen tragen Hass, Wut und jede Menge anderer negativ besetzter Gefühle in sich. Jeder, der den Koran oder das Alte Testament als Aufforderung zum Töten versteht, irrt und übersieht die historische Einordnung dieser althergebrachten Bücher. Wir selbst sind es, die wir dieses Gewaltpotenzial in uns tragen und nur zu gern bereit sind, uns aus eigener Frustration und Unzufriedenheit heraus vor irgendeinen gewalttätigen Karren spannen zu lassen, sei es der eines Kriegstreibers – und das kann auch das deutsche Verteidigungsministerium oder die NATO sein –, eines verirrten Glaubensanführers oder eines gnadenlos auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Wirtschaftssystems, dessen Vertreter mit Lug und Trug und ohne Rücksicht auf Verluste über Leichen gehen. Auch in einer allzu kritiklosen Annahme all der Bilder und oft verzerrten Ausschnitte, die uns die Massenmedien Tag für Tag in die Wohnzimmer und Büros, auf die Smartphones und Tablets schwemmen, drückt sich unsere Bereitschaft zu Hass und Gewalt aus. Wie verlockend ist es, alle angestaute eigene Unzufriedenheit, allen latent vorhandenen Kummer über erlittenes Unrecht oder eigenes Versagen auf ein allmählich und subtil aufgebautes Feindbild zu projizieren! Das erspart die Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen, die Annahme erreichter Grenzen, das »Ja« zu dem, was einem selbst versagt geblieben ist. Das biblische Bild vom »Sündenbock« rührt daher: Einmal im Jahr, vor dem Paschafest, warf das jüdische Volk all seine Sünden auf einen Bock, der dann unter Schimpf und Schande in die Wüste gejagt wurde. Nur allzu leicht lassen wir uns verleiten, andere zu unseren persönlichen Sündenböcken zu machen, und sei es nur, indem wir schlecht über sie reden und ihnen dadurch verbal Gewalt antun. Keiner kann sich ausnehmen aus diesem menschlichen Hang zu Gewalt, Angriff und Aggression. Wir alle haben ihn in uns, den potenziellen Vergewaltiger, den Massenmörder, die Terroristin. Mal mehr, mal weniger, und vor allem in Extremsituationen wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, mit dieser dunklen Seite in uns umzugehen und sie durch »Selbst-Verständnis« (im Wortsinn) und Annahme der eigenen Schatten im Zaum zu halten und zu bändigen. Der zeitgenössische amerikanische Philosoph Ken Wilber schreibt: »Und jede Entdeckung, obwohl manchmal schmerzlich, ist schließlich eine Freude, denn durch jede Entdeckung, dass ein Objekt da draußen in Wirklichkeit ein Aspekt des eigenen Selbst ist, werden Feinde in Freunde, Kriege in Tänze, Kämpfe in Spiele verwandelt.«4 Wenn wir anerkennen, dass Gewalt, die wir im Außen erleben, eine Entsprechung in unserem Inneren hat, die es anzuschauen und in etwas Friedvolles zu wandeln gilt, brauchen wir nicht mehr mit dem Finger auf andere zu zeigen und uns vor deren Gewaltpotenzial zu fürchten. Das meine ich keineswegs in dem Sinn, dass jeder selbst schuld daran ist, wenn er Gewalt erfährt. Im Gegenteil: Täter-Opfer-Umkehrungen im Sinne von »Die ist selber schuld, wenn sie vergewaltigt wird. Was muss sie auch einen so kurzen Rock tragen?« sind mir zutiefst zuwider. Es geht nicht um eine Eins-zu-eins-Entsprechung, nach der jeder Mensch im Außen das erlebt, was sein Inneres widerspiegelt, das wäre zynisch und angesichts so vieler unverschuldet in Not geratener Menschen überall auf der Welt haltlos und absurd. Was wir brauchen, ist ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge, und da stoßen wir allein oft an unsere Grenzen.

Deshalb brauchen wir gute Begleiter, die uns helfen können, das ans Licht zu holen, was unserem eigenen Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich ist. Wir brauchen einen liebevoll-distanzierten Blick von außen, der mutig, beherzt und dennoch mit Fingerspitzengefühl das ausleuchtet, was für unsere eigenen Augen im Schatten liegt. Nur wenn wir nach und nach unser Bewusstsein weiten und es uns gelingt, auch unsere dunklen Anteile anzunehmen und liebevoll zu umarmen, werden wir Mitgefühl und Verständnis für unsere Mitmenschen entwickeln können und für all das, was in ihnen noch unheil und erlösungsbedürftig ist. Je mehr wir unsere eigenen Schatten beleuchten und annehmen, desto weniger brauchen wir kollektive Schattenträger im Außen. Zugespitzt formuliert: Mit jedem inneren kleinen Terroristen, den ich durch liebevolles Umarmen dazu bringe, seine Wut in den dahinterliegenden Schmerz zu verwandeln und diesen in einem leider meist leidvollen Prozess abfließen zu lassen, trage ich dazu bei, dass die Welt friedvoller und sanfter wird, tatsächlich auch im Außen. Wir wollen es nicht wahrhaben und der Aufschrei und der Protest ist bei denen am größten, die ihre Wut am meisten verdrängen und sich selbst gern als Unschuldslamm oder als Opfer sehen: Ein Stück Hitler wohnt in jeder und jedem von uns, auch wenn wir uns für noch so sanftmütig, fromm oder moralisch unangreifbar halten. Genau deshalb brauchen wir mehr als selbstgesetzte ethische Prinzipien, die wir je nach Zeitgeist abwandeln oder unterschiedlich streng oder lax auslegen und handhaben können.

Rückbindung in individueller, zeitgemäßer Form

Wir brauchen re-ligio als Rückbindung im wahrsten Sinne des Wortes. Religion als Rückbindung an eine Ideallinie, von der wir uns mehr oder weniger entfernen können, die uns mal näherliegt und mal sehr fern und abstrakt erscheint, von der jedoch immer klar ist, dass sie das Ideal darstellt, an dem wir uns orientieren. Eine Messlatte, anhand derer ich selbst überprüfen und ablesen kann, wo ich stehe. So eine Messlatte kann ich nicht alle paar Jahre neu erfinden, sie ist in gewisser Weise statisch, sonst kann ich an ihr nichts mehr ablesen. Vom Inhalt her ist sie unveränderlich. Was jedoch flexibel sein muss, ist die Art der Darstellung. Was nutzt eine in Hieroglyphen dargestellte Skalierung, die heute kein Mensch mehr entziffern kann? Wir brauchen eine Anpassung in der Darstellung unserer Ideallinien, sonst erreichen sie niemanden mehr und verkommen zur Bedeutungslosigkeit. Religion, richtig verstanden und entrümpelt um Machtanspruch und Manipulation, kann eine solche Ideallinie sein, die uns wie ein Geländer durch unser Leben begleitet. Sie bleibt nicht stehen an der Begrenztheit zwischenmenschlicher Erfahrungen, sondern weist darüber hinaus auf etwas Reines, Vollkommenes, nach dem wir uns ausstrecken und auf das wir uns ausrichten können. Dabei geht es nicht um ein Vertagen von Glück und Erfüllung auf ein Leben nach diesem Dasein, eventuell sogar mit diffusen Ängsten vor einem wie auch immer gearteten Jüngsten Gericht, in dem uns die Leviten gelesen werden. Das alles sind überkommene Vorstellungen aus Zeiten, in denen die Menschen noch in höherem Maße als heute klein und abhängig gehalten werden sollten. Diesen entscheidenden Wandel haben viele Menschen geistig nicht realisiert oder nicht nachvollzogen. Viele sind steckengeblieben in ihrer kindlichen Vorstellung von einem strafenden Gott, der Tag und Nacht darüber wacht, dass sie auch ja keine Verfehlung begehen, und der jede kleinste Nachlässigkeit unbarmherzig in sein großes Sündenregister einträgt, begierig auf den Tag der großen Abrechnung, den er auch noch selbst festlegt. Wie traurig, dass bei so vielen Menschen dieses und ähnliche Schreckensbilder von Religion so tief eingebrannt sind! Wie schade, dass so oft die eigentliche Messlatte, die Ideallinie, mit dem verwechselt wird, was fehlbare Menschen daraus gemacht haben und leider oft auch heute noch daraus machen! Wir haben eine so wunderbare Religion – und da spreche ich vom Christentum, weil ich mich nur in dieser meiner spirituellen Heimat auskenne; es wird in anderen Religionen ähnlich sein – und sie ist aufgrund menschlichen Versagens und aufgrund vieler Missverständnisse auf dem Weg zur Bedeutungslosigkeit, zumindest in unseren westlichen »Zivilisationsgesellschaften«. Viele Menschen wurden tief verletzt durch unsinnige Normen und lebensfeindliche Vorschriften, durch Unverständnis und Unbarmherzigkeit. Durch allzu große Verletztheit und, wie ich glaube, aufgrund mangelnder Vorbilder, die einen überzeugenden Weg vorausgegangen sind, sind sie nicht mehr in der Lage zu differenzieren zwischen der lebensbejahenden Ideallinie und dem Horrorszenario, das für sie durch Menschenhand daraus geworden ist. Wie viel entgeht einem dadurch, was für wohltuende Erfahrungen von Sinnhaftigkeit und »Kosmos« im Sinne einer guten Ordnung, in der jedes Element genau am richtigen Platz ist, bleiben einem durch dieses Abgetrenntsein verwehrt? Wieder höre ich Einwände: »Es reicht, wenn ich meinem Gefühl vertraue. Das Göttliche ist in mir, und mein Bauchgefühl ist mein Wegweiser, der mich immerzu entlang der Ideallinie führt.« Aus meiner Sicht ist genau das ein großer Irrtum und mindestens ebenso schwerwiegend wie die andere extreme Haltung, nach der es überhaupt keine vollkommene Logik gibt, sondern alles ausschließlich auf Zufall beruht, ohne jeglichen Schöpfungsplan.

Glauben mit Herz und Verstand

Bleiben wir zunächst beim »Bauchgefühl« als dem göttlichen Ratschluss, nach dem es sich zu leben lohnt, wie heute viele meinen. Unsere Gefühle sind höchst wankelmütige Kameraden, die sich von verschiedenen Meinungen, Strömungen und innerpsychischen Prozessen beeinflussen lassen. Wehe dem, der eine Partnerschaft oder Ehe ausschließlich auf der Grundlage seiner Gefühle eingeht und nicht zusätzlich zur flüchtigen Verliebtheit eine glasklare Entscheidung mit seinem Verstand trifft! Zu meinen, man dürfe nicht auf den Kopf hören und nur der Bauch zähle, ist eine Verunglimpfung unserer Ratio, die sich dank der vielen Vorkämpfer spätestens seit der Zeit der Aufklärung mehr und mehr entfalten durfte. Aufklärung, Reformation, Modernisierung, Technisierung und schließlich Digitalisierung unserer Welt ließen das Pendel allerdings bald in die andere Richtung ausschlagen: Was nicht rational erklärt und empirisch belegt werden kann, wird kurzerhand negiert, selbst wenn unzählige Erfahrungen die Existenz bestimmter Zusammenhänge zweifelsfrei belegen. Genau die Verbindung aber ist es, die wir brauchen: Gefühl und Verstand, Intuition und Theorie, Wissen und Erfahrung. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf Tradiertes bei gleichzeitiger Weitung unseres Bewusstseins und unter Einbezug neuer, uns erst durch die Segnungen des modernen Zeitalters zugänglicher Erkenntnisse. Das gilt für die Medizin genauso wie für Bildung, für Politik ebenso wie für das Wirtschaftssystem. Und es gilt in besonderem Maße für Religion als uns über Generationen und Erdteile hinweg verbindende Ideallinie.

Begegnung mit dem Göttlichen

Religion, wie ich sie verstehe, meint schlicht: Begegnung mit Gott. Vielleicht denkst Du an dieser Stelle: »O je, jetzt wird es endgültig fromm!« Ich bitte Dich: Lies weiter! Wenn es für Dich einfacher ist, kannst Du für das Wort »Gott« auch einen anderen Begriff verwenden. Ersetze »Gott« getrost durch einen Namen oder ein Bild, das Dir mehr liegt. Manche tun sich leichter, wenn sie vom »Göttlichen« sprechen, weil ihnen »Gott« zu personalisiert erscheint. Frauen legen oft Wert auf die weibliche Form »Göttin«, um endlich das Bild vom im Himmel thronenden Patriarchen mit Rauschebart loszuwerden. Auch hier gilt: Jedes Entweder-oder ist nur eine Teilwahrheit; Gott ist immer ein Sowohl-als-auch und letztlich ein Alles-und-nichts. Um aus dieser Mann-Frau-Vorstellung herauszukommen, könnten wir auch einen neuen Begriff erfinden. Wie wäre es mit »Gottin«? Das ist zumindest ein Stolperstein, der uns vor Augen führt, dass diese unbegreifliche Vollkommenheit, über die wir sprechen, mit keinem uns geläufigen Wort zu beschreiben ist. Es kann auch eine Wortneuschöpfung sein, Hauptsache, sie rührt nicht an alte Verletzungen, Zwänge und Ängste. Ich selbst bleibe bei dem Begriff »Gott«, weil ich keine schlechten Erfahrungen und Erinnerungen damit verbinde und es mir glücklicherweise in mühevoller Kleinarbeit gelungen ist, Verletzendes und Schlimmes, das mir im kirchlichen Umfeld widerfahren ist, losgelöst zu sehen von der eigentlichen Quelle. Ach ja, »Quelle«, auch das ist ein möglicher Name für Gott, ebenso wie »Urgrund des Seins«. Darunter können sich viele Menschen eher etwas vorstellen, auf das man vertrauen kann und das dafür sorgt, dass man nicht ins Bodenlose fällt. Setze einfach ein, was für Dich passt, und mache Dir dabei klar, dass das Zeichen, also die Buchstabenkombination, die Du wählst, etwas anderes ist als das, was Du damit bezeichnest. Jedes Wort und jedes Sprachbild sind nur Hilfsmittel, damit wir überhaupt eine Möglichkeit haben, über die und mit der allumfassenden Wahrheit zu kommunizieren.

In Beziehung treten

Das Stichwort Kommunikation führt mich einen Schritt weiter beim Beschreiben meiner eigenen Gottesbeziehung, hin zu einem Punkt, an dem viele Menschen, die durchaus an einen tragenden Grund glauben, aussteigen. Gott ist für mich zwar keine Person, die irgendwo herumsitzt und über uns wacht, gleichwohl ist Gott aber ein Du, mit dem ich in Beziehung treten kann. Gott ist zugleich Leere, die mich umgibt und in die ich hineinlauschen kann, und lebendiges Gegenüber, das offen ist für den Austausch mit mir. »Gegenüber« ist dabei nicht räumlich zu verstehen; dieses Du ist neben mir und hinter mir und in mir und zugleich nirgendwo lokalisierbar. Merkst Du etwas? Wir kommen immer wieder zurück auf das Sowohl-als-auch. Dieses Du, das immer und überall ansprechbar ist, heißt für mich Christus. »Wie jetzt?«, höre ich fragen. »Erst Gott und jetzt kommt sie mit Christus daher.« Bitte lies weiter, es ist nichts Konservatives oder Rückständiges, das ich beschreiben möchte! Du kannst es auch »Christusenergie« oder »Christusbewusstsein« nennen. Für mich ist es ein nie versiegender Energiestrom, an dem ich jederzeit andocken kann und der die unsterbliche Seele dieses großartigen Jesus von Nazareth darstellt. In diesem Jesus Christus hat sich die göttliche Vollkommenheit inkarniert, damit wir wenigstens den Hauch einer Idee bekommen von dieser uns kaum zugänglichen unfassbaren Realität. Auch hier gilt: Es ist zugleich Mythos und Wirklichkeit; eine Wahrheit, die in anderen Kulturen und Religionen andere Ausprägungen und Formen annimmt und dadurch doch nicht weniger real ist. »Real« bedeutet im Spanischen »königlich«. In der Tat ist für mich die Beziehung zu Jesus Christus der Königsweg und meine größte und tiefste Liebesgeschichte.

Als ich vor fünf Jahren mit dem Mann zusammenkam, der inzwischen mein Ehemann ist, meinte eine Klosterschwester, ich müsse nun entscheiden, wer mein wahrer Geliebter sei. Ich glaube, sie irrt. Auch hier geht es nicht um ein Entweder-oder. Ich liebe meinen Mann von Herzen und bin glücklich und dankbar, mit ihm zusammen meinen Lebensweg weitergehen zu dürfen. Das schließt meine Liebe zu Christus absolut nicht aus; es sind zwei Liebesbeziehungen, die getrost nebeneinanderstehen können. Nein, es ist mehr. Als ich vor Jahren sehnsüchtig auf Partnersuche war, meinte jemand zu mir: »Sie sind ja schon zu zweit; Sie suchen den Dritten im Bunde!« Er meinte damit meine Christusbeziehung, die so innig und tief ist, dass klar war, es würde nur ein Partner in Frage kommen, der dies zumindest akzeptieren, besser noch mit mir teilen könnte. Was für ein Glück, dass ich den Mann gefunden habe, der mit mir diesen Königsweg beschreitet und mit mir im Bewusstsein unserer gemeinsamen Quelle lebt!

Entfaltete Weisheit

Ich sprach über Gott und über Jesus Christus. Du ahnst, was jetzt kommt: Ja, ich liebe es auch, mich mit dem Heiligen Geist zu verbinden. »Auch das noch!« Die sogenannte Dreifaltigkeit ist eines der Probleme, an dem auch tiefgläubige Christen zu knabbern haben. Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist, was soll das? Ich finde es gar nicht so schwer zu verstehen, wenn wir uns vor Augen halten, dass wir alle ein Splitter, ein Stückchen des All-Einen sind. Alles, restlos alles, hat sich aus dem Kosmos entfaltet, und so hat sich auch das Göttliche im wahrsten Sinn des Wortes »ent-faltet«, was ja im Begriff »Dreifaltigkeit« enthalten ist. Evolution ist nichts anderes als eine Auffaltung (oder Entfaltung) in verschiedene Ausprägungen desselben logos, derselben zugrundeliegenden Weisheit. So hat sich das All-Eine in uns alle »hinein entfaltet«, ohne selbst etwas von seiner Ganzheit, seiner Ordnung, seinem »Kosmos« einzubüßen. Vater, Sohn und Heiliger Geist verstehe ich als eine Art »Urauffaltung« in drei verschiedene Ausprägungen oder bildhafte Zustände. Das klingt komplizierter, als es vielleicht ist. In einer Predigt hörte ich vor Jahren einen einfachen und einleuchtenden Vergleich: Die Dreifaltigkeit sei vergleichbar mit den drei Aggregatszuständen von Wasser: Flüssigkeit, Dampf und Eis. Der Grundstoff ist derselbe, selbst das Mischungsverhältnis der Moleküle bleibt gleich, es ist immer H2O, nur eben in verschiedenen Zuständen.5 Das Bild deckt sich mit meiner Gebetserfahrung: Ich kann mit dem »Aggregatszustand«, der mir gerade besonders guttut, Verbindung aufnehmen. Ich weiß: Ich lande immer bei derselben Quelle, beim selben Ursprung allen Seins.

Dabei halte ich das für wesentlich, was Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens und Begründer der »Ignatianischen Exerzitien«6, die Unterscheidung der Geister nannte. Manch einer mag denken, es sei einerlei, welche Geister man ruft, man bekäme die Antworten immer gleichsam »von höchster Stelle«, und egal welche Methode man anwende und wessen Unterstützung man erbitte, es sei sowieso alles das Gleiche. Ich glaube, das ist ein Irrtum. Wenn ich sage, dass letztlich alles im All-Einen mündet, spreche ich nicht davon, dass jede Art von Ausrichtung ohne Umwege zu dieser höchsten all-einen Wahrheit führt. Jemand hat einmal in Bezug auf die Weltreligionen gesagt, Gott sei über verschiedene »Durchwahlen« erreichbar. Wenn wir in diesem anschaulichen Bild bleiben, bedeutet das aber auch, dass wir uns verwählen und bei einem Anschluss landen können, der nicht dem großen Ganzen dient, sondern ihm eher schadet. Ignatius hat sehr hilfreiche »Regeln zur Unterscheidung der Geister« entwickelt, die auch heute noch anwendbar sind, um herauszubekommen, ob die eigene innere Stimme einen auf den guten und förderlichen Weg führen will oder ob sich darin der Wolf im Schafspelz versteckt. Das Perfide ist: Je weiter wir voranschreiten auf unserem geistlichen beziehungsweise spirituellen Weg, desto geschickter und subtiler wird auch der GEIST, der uns am Weitergehen hindern und unsere Entfaltung bremsen will. Da heißt es: sehr fein hinspüren, im Kontakt mit anderen bleiben (Stichwort Schattenarbeit) und mit größtmöglicher Ehrlichkeit sich selbst gegenüber immer wieder hinterfragen, ob man wirklich vom »guten GEIST« geleitet wird. Das klingt anstrengend, ist es aber nicht, im Gegenteil: Eigentlich ist alles ganz leicht, wenn wir konsequent und treu in der Ausrichtung und in der Verbindung bleiben. Einer früheren geistlichen Begleiterin gegenüber erwähnte ich einmal, dass ich jeden Morgen eine bestimmte Pfingstsequenz bete, ein uraltes Gebet, das in der katholischen Kirche eben zu Pfingsten, wo es ja besonders um den Heiligen Geist geht, gebetet wird. Daraufhin meinte sie im Brustton der Überzeugung: »Dann brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen mehr über Ihre Ausrichtung machen, das wirkt den ganzen Tag!« Ich bete dieses Gebet bis heute nicht nur jeden Morgen, sondern auch vor jedem Termin mit Klient*innen zu Coaching und Beratung und vor jedem Seminar, das ich halte. Es ist meine Art von Ritual, um mich zu zentrieren, mich auf Ratsuchende einzustellen und sicherzugehen, dass meine Interventionen und das ganze Gespräch von der »richtigen« Quelle gespeist werden.

Zugleich hilft es mir, mein Ego zurückzunehmen und mir selbst zu verdeutlichen, dass nicht ich allein die Beraterin bin, sondern dass eine höhere Weisheit durch mich hindurchfließt und mich die richtigen Fragen stellen, aufmerksam zuhören, trösten, ermutigen, staunen oder auch schweigen lässt. Es ist sehr entlastend für mich zu wissen, dass ich nicht die »Macherin« bin, die weiß, worauf es ankommt, sondern Dienerin, die ihr Werk nur dann gut verrichten kann, wenn ihre Ausrichtung stimmt. Hier also mein Lieblingsgebet zum Heiligen Geist:

Komm herab, o Heil’ger Geist,

der die finstre Nacht zerreißt,

strahle Licht in diese Welt!

Komm, der alle Armen liebt,

komm, der gute Gaben gibt,

komm, der jedes Herz erhellt!

Höchster Tröster in der Zeit,

Gast, der Herz und Sinn erfreut,

köstlich Labsal in der Not.

In der Unrast schenkst du Ruh,

hauchst in Hitze Kühlung zu,

spendest Trost in Leid und Tod.

Komm, o du glückselig Licht,

fülle Herz und Angesicht,

dring bis auf der Seele Grund!

Ohne dein lebendig Weh’n,

kann im Menschen nichts bestehn,

kann nichts heil sein noch gesund.

Was befleckt ist, wasche rein,

Dürrem gieße Leben ein,

heile du, wo Krankheit quält!

Wärme du, was kalt und hart,

löse, was in sich erstarrt,

lenke, was den Weg verfehlt!

Gib dem Volk, das dir vertraut,

das auf deine Hilfe baut,

deine Gaben zum Geleit!

Lass es in der Zeit bestehn,

deines Heils Vollendung sehn

und der Freuden Ewigkeit,

Amen.

Mir ist noch kein menschliches Anliegen untergekommen, das sich nicht in diesen Zeilen wiederfände. So bete ich schon jeweils im Vorfeld einer Begegnung mit einem ratsuchenden Menschen für dessen Anliegen, noch ohne es zu kennen. Fällt Dir in dem Text etwas auf? Es ist vieles darin enthalten, was sich Menschen für sich und einander oft wünschen, ohne auf die Idee zu kommen, das »Gebet« zu nennen. Wie oft wünschen sich Menschen heute »Licht und Liebe«, und wie sehr sind diese Wünsche in diesem Gebet enthalten! Zwar wird die Liebe nicht explizit erwähnt, ist aber in den einzelnen konkreten Bitten überall enthalten. Vielleicht spüre ich diese besondere Energie und das Tröstliche in diesen Worten, weil ich mich darüber verbunden weiß mit meinen Ahninnen und Ahnen, die dieses Gebet auch schon seit Generationen gesprochen haben. Vielleicht verbindet mich der Text in der lateinischen Fassung als »Veni sancte spiritus« auch in der heutigen Zeit mit Christinnen und Christen auf der ganzen Welt und ich fühle mich dadurch gut eingebettet in ein Netz – oder neudeutsch gesagt, in eine »Community« – gläubiger Menschen. Natürlich kann man das Rad neu erfinden und sich neue Begriffe und Texte ausdenken, die für unsere Ohren möglicherweise zeitgemäßer klingen. Und doch empfinde ich gerade in einem so alten Gebet eine stärkere Kraft, ganz abgesehen von der Schönheit der malerischen Sprache.

Kirche als freudvolle Botschafterin des Glaubens?

Wenn ich manchmal die trostlos leer gewordenen Kirchen sehe, frage ich mich, wer wohl diesen reichen kulturellen Schatz einmal weiter überliefern soll, wenn es die Kirchen nicht mehr gibt oder höchstens noch Gottesdienste in einer an Zeitgeist und Jugendsprache orientierten Form, in die diese alten Gebete sich so gar nicht harmonisch einfügen wollen. Ach, das klingt grauenvoll konservativ, und wer mich nicht kennt, stellt sich vermutlich eine zugeknöpfte ältere Dame im dunkelblauen Faltenrock und mit klobigen Gesundheitsschuhen vor. Bin ich nicht! Ich habe sie ja auch so satt, diese drögen, langweiligen Gottesdienste mit trägem Orgelspiel, verkümmertem Gesang und schlimmstenfalls einer inhaltslosen und abgelesenen Predigt, deren Ende man kaum erwarten kann. Von daher gehöre ich auch nicht mehr zu den Menschen, die die Kirchenbänke bevölkern und fleißig zur Aufrechterhaltung der Tradition beitragen. Dabei haben wir eine so wunderbare, freudvolle Religion, und wir könnten uns in einer lebendigen Gemeinschaft von Gläubigen so sehr stärken wider alle Vereinzelung, Vereinsamung und Depression. Dass es möglich ist, zeigen mir die bereits erwähnten Oasen, die ich auf meiner langjährigen spirituellen Suche finden durfte und auch heute auf Reisen immer wieder finde. Eigentlich bin ich gar nicht sonderlich anspruchsvoll in dem, was ich von Kirche erwarte oder erhoffe. Der Gradmesser heißt für mich: Nach einem Gottesdienst sollte es mir besser gehen als vorher. Ich wünsche mir etwas, was mich stärkt und nicht etwa langweilt und schwächt. Ich werde mich nicht mit der Haltung in eine Messe quälen: »Na wir sind doch alle froh, wenn’s wieder vorbei ist!« Das mussten die Generationen vor uns über sich ergehen lassen und wir in Kindertagen vielleicht auch noch. Ich kenne viele Leute, die als Kinder gezwungen wurden, die langweiligsten Gottesdienste klaglos durchzustehen. Wen wundert es, dass aus ihnen Erwachsene wurden, die freiwillig keinen Fuß mehr in eine Kirche setzen, zumindest nicht in einen Gottesdienst.

Während ich das schreibe, spüre ich wieder die tiefe Sehnsucht nach diesem verbindenden Ritual, nach dem heiligen Spiel, das mir von Kindesbeinen an vertraut ist. Es könnte so einfach sein und so schön: ein paar alte Zöpfe abschneiden, althergebrachtes Gutes neu erklären, sodass die Sinnhaftigkeit wieder klar wird, sich auf die Zuhörer*innen beziehungsweise Mitfeiernden einstellen (den Charakter einer wirklichen gemeinsamen Feier spürt man oft überhaupt nicht mehr) und schließlich für mich das Wichtigste: Freude zeigen und verbreiten!7