Fiehlunas Reise - Fiehluna Assungwa - E-Book

Fiehlunas Reise E-Book

Fiehluna Assungwa

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Beschreibung

Die bewegende Lebensgeschichte einer jungen Frau. Von Kamerun nach Deutschland. Fiehluna wächst mit ihrem sehr strengen Vater und vielen Geschwistern in Kamerun auf. Nicht nur ist er der ganzen Familie gegenüber gewalttätig, sondern er hält sie auch als Gefangene. Sein Jähzorn kennt keine Grenzen. Doch das hält Fiehluna nicht davon ab, sich heimlich mit Freunden zu treffen und wie ein ganz normales Mädchen aufzuwachsen. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihr Vater die falsche Erziehungsmethode anwendet, sie will ihn stoppen. Als Fiehluna 18 Jahre alt ist, stellt sie sich schließlich gegen ihren Vater.

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2017

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FIEHLUNA

Fiehlunas Reise

Fiehluna Assungwa, geboren 1981 in Kamerun, hat Betriebswirtschaftslehre studiert, wohnt und arbeitet seit 2002 in Deutschland.

Fiehluna schildert Ereignisse, die sich wirklich zugetragen haben. Um ihre Privatsphäre zu schützen, werden alle Namen geändert.

© 2017 Fiehluna Assungwa

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-3634-8

Hardcover:

978-3-7439-3635-5

e-Book:

978-3-7439-3636-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors un-­‐ zulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Ver-­‐ vielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

FIEHLUNA Assungwa

Fiehlunas Reise

Eine wahre Geschichte von Mut und Überlebenskampf

Dieses Buch ist all jenen Menschen gewidmet, die auf einer ähnlichen Lebensreise sind.

INHALT

VERLASSEN

HILDA MUSS AUS DEM WEG GERÄUMT WERDEN

VATERS DRITTE FRAU

DAS ERSTE WIEDERSEHEN MIT MUTTER NACH VIER JAHREN

UMZUG NACH NKAMBE

TRADITIONELLE HEILER

MEINE WUNDBEHANDLUNG

PATRICK HAT VIER AUGEN

DIE GROßE LIEBE

BRUSTBÜGELN

HEXENJAGD

POLITISCHE UNRUHEN

KLASSE 3C

MEINE SELBSTGEMACHTEN BINDEN

DIE OBDACH SUCHENDEN KINDER

MEINE NEUE SCHULUNIFORM

ER IST GENAU MEIN TYP

WILLKOMMEN IN MʹMOUCK FOSEMONDI

OHNE VORSPIEL, BITTE

MEIN SPORTLEHRER

FLIEGE ICH JETZT VON DER SCHULE?

MEINE LEHRBÜCHER

ICH FINDE SCHON MEINEN WEG

ICH SITZE ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN

MIR IST GANZ ÜBEL VOR ANGST

DER EINGRIFF

SEINE TREULOSIGKEIT TRIFFT MICH HART

LIEBER ECHTE FREUNDE ALS VIEL GELD

VERTRAUENSMANGEL

DIE KRASSE VERSÖHNUNG

LIEBESCHAOS

VATERS PFLICHT

DIE FLUCHT

GUTEN MORGEN DOUALA

KABAH

MEIN STUDIUM

ARBEITSMARKT

KANN ICH MICH TRENNEN?

ALLES ODER NICHTS

DIE FLUT

DIE NEUE SUCHE

DIEBSTÄHLE

WAS KOSTET EIN REISEPASS?

GUTE NACHT KAMERUN

Verlassen

Es ist 6 Uhr morgens. Meine Geschwister machen sich fertig, um das Haus zu verlassen, sie müssen in die Schule. Meine Schwester Sandy drängt und fordert die anderen auf, sich zu beeilen. Sie ist die Älteste und übernimmt wie gewöhnlich die Mutterrolle, wenn es nötig ist. Sandy ist ein sehr vernünftiges und verantwortungsbewusstes Mädchen, das sich immer gut um uns kümmert, wenn Mutter nicht bei uns ist. An diesem Morgen ist meine Mutter aber da.

Obwohl ich erst vier Jahre alt bin, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Das ist kein Tag wie jeder andere. Mutter ist sehr traurig. Ich sehe es ihr an, und ich fühle es. Sie drückt mich lange an sich, hält mich fest und streichelt mich zärtlich. Als sie sich wiederaufrichtet, sehe ich den Schmerz in ihren Augen und bekomme Angst. Ich habe die gepackten Koffer gesehen und gehört, dass sie eine Freundin zu uns gebeten hat. Sie will uns verlassen. Meine kleine Schwester Hilda schaut auf mich herab. Mutter trägt sie in einem Tuch auf dem Rücken, sie wird Hilda mitnehmen. Wir anderen bleiben zurück. Mutter beginnt zu beten. Ihre Augen sind feucht, immer wieder verstummt sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Schließlich versagt ihr die Stimme. Sie schluchzt und weint minutenlang - so sehr, dass ich glaube, sie sei krank.

„Mama, hast du Schmerzen?“, frage ich sie und greife mit meiner kleinen Hand nach ihren Fingern. Sie schaut mich an, versucht zu lächeln und schüttelt den Kopf.

„Nein“, antwortet sie. „Es ist alles gut.“ Ich glaube ihr nicht. Ich weiß, dass etwas geschehen ist, wie so oft in den letzten Monaten. Woche für Woche habe ich sie weinen gesehen. Sie hat es nie vor uns zu verbergen versucht, es wäre auch sinnlos gewesen.

Selbst ich habe längst begriffen, was in unserer Familie vor sich ging. Meine älteren Geschwister wissen ohnehin Bescheid. Aber an diesem Morgen weint sie aus einem anderen Grund. „Gott sei mit euch“, sagt sie mit tränenerstickter Stimme zu uns allen. Dann nimmt sie mich noch einmal ganz fest in den Arm. „Ich mache das hier wirklich nicht gerne, meine Kleine, aber ich habe keine andere Wahl, ich muss es tun.“ Sie sieht mir fest in die Augen, „ich muss euch jetzt verlassen“, ihre Hände zittern, ich kann es fühlen. „Ihr seid immer in meinem Herzen, denn ich liebe euch über alles, vergesst das niemals. Ich liebe euch. Daran wird sich nie etwas ändern. Aber ich muss gehen und mir ein besseres Leben suchen. Ich kann so nicht mehr weitermachen.“ Sie geht zu ihren Koffern. „Ich werde euch regelmäßig besuchen. Das verspreche ich.“ Wieder schluchzt sie, als sie jeden von uns noch einmal ansieht. „Das ist ein Versprechen!“, wiederholt sie noch einmal. Erst in diesem Moment wird mir klar, dass sie wirklich gehen wird. Ich laufe zu ihr und klammere mich an ihre Hand. Ich halte sie, fest entschlossen, sie nicht mehr loszulassen.

„Mama, wohin gehst du?“, rufe ich weinend. „Hat Vater dich wieder geschlagen? Er ist doch gar nicht da. Ich habe nichts gehört. Letzte Nacht ist doch nichts passiert. Hat er dir etwas getan?“ Meine Mutter versucht ganz vorsichtig, meine Hand von der ihren zu lösen. Sie redet beruhigend auf mich ein, aber ich kann sie nicht verstehen. Ich weine und rufe immer wieder verzweifelt nach ihr, obwohl sie direkt vor mir steht. „Mama! Mama!“ Als sie sich aus meinem Griff befreit hat, fasse ich ihr Kleid und ziehe mit aller Kraft daran. „Mama! Nein! Du darfst nicht gehen!“ Sie geht hinaus auf die Terrasse, wo ihre Freundin bereits wartet. Ich hänge an ihr und versuche, sie aufzuhalten.

„Cecilia, es ist Zeit“, sagt ihre Freundin. „Wir müssen los.“ Die Freundin sieht mich an, es ist ein Blick voller Mitleid und Verständnis. Sie weiß, was in mir vorgeht. „Wir sollten uns wirklich beeilen“, fügt die Freundin hinzu. Ich verstehe sie nicht. Wieso tut sie mir das an? Wieso nimmt sie mir meine Mutter weg, obwohl sie sieht, wie ich weine?

„Mama, nein!“, schreie ich und stürze mich erneut auf meine Mutter, aber ihre Freundin hält mich fest. Nun weinen auch meine Geschwister. Sandy drückt mich an sich, als Mutter davonfährt. Wir alle schreien, obwohl es sinnlos ist. Selbst als das Auto bereits außer Sichtweite ist, stehen wir noch da und rufen nach ihr. Man hört uns in der ganzen Nachbarschaft, aber niemand kommt vorbei. Die Leute sind solchen Lärm von uns gewöhnt.

Bei uns zu Hause gab es ständig Streit, die Nachbarn haben uns jeden Tag brüllen und weinen gehört. Oft haben sie sogar sehen können, wie Mutter geschlagen worden ist. Am Anfang hat der eine oder andere noch versucht, meine Mutter in Schutz zu nehmen. Vater hat jedem, der es gewagt hat, sich für meine Mutter einzusetzen, mit der Polizei gedroht. Für ihn sind das Familienangelegenheiten, in die sich die Nachbarn nicht einzumischen haben. Das ist seine Privatsphäre, und die haben sie gefälligst zu respektieren. Andernfalls wird er sie anzeigen. Die Nachbarn lassen ihn jetzt in Ruhe und überlassen meine Mutter schweren Herzens ihrem gewalttätigen Ehemann. Sie alle wissen, dass es sinnlos ist, sich mit meinem Vater anzulegen. Er ist reich. Und wer in Kamerun Geld hat, bekommt, was er will - auch von der Polizei. Hätte einer der Nachbarn die Polizei angerufen, wären diese nicht gekommen. Sie hätten nur meinem Vater Bescheid gesagt und ihm den Namen des Anrufers genannt. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Ihn selbst anzeigen, hätte auch nichts genutzt. Das Gesetzt erlaubt Körperstrafe in Familien. Damals auch noch in allen Schulen. Des Öfteren werden Opfer wie Denunzianten und Verräter behandelt. Meine Mutter hält es an diesem Morgen des Jahres 1985 nicht mehr aus. Sie ist mit ihrer Kraft am Ende, sieben Mal schon hat sie uns verlassen, sieben Mal ist sie vor meinem Vater davongelaufen. Immer hat er sie wieder zurückgebracht, manchmal erst nach drei oder vier Wochen, aber jedes Mal ist sie zurückgekehrt.

„Mutter kommt nicht wieder“, sagt meine Schwester Sandy an diesem Nachmittag zu mir, als wir aus der Schule zurück sind. „Vater darf nichts davon erfahren, hörst du? Kein Wort.“ Ich nicke. Natürlich werde ich tun, was Sandy sagt. Sie ist diejenige, die sich um mich und meine Geschwister kümmert, ich habe es nie anders kennen gelernt. Meine Mutter ist sehr oft krank gewesen. Oft ist sie wochenlang nicht in der Lage gewesen, sich um uns zu kümmern, dann hat Sandy sie unterstützt. Sie ist dreizehn Jahre alt, aber für mich ist sie wie eine Mutter. Um 15 Uhr kommt mein Vater von der Arbeit. Kaum ist er im Haus, höre ich seine Stimme.

„Wieso steht kein Essen auf dem Tisch? Wo ist eure Mutter? Wo ist Hilda?“, brüllt er wie ein Wahnsinniger. „Cecilia!“

„Mutter ist nicht da“, sagt Sandy vorsichtig. „Sie hat nichts gekocht. Vielleicht ist sie ins Krankenhaus gefahren, seit gestern geht es ihr nicht gut.“

„Das glaubst du doch selbst nicht!“, schreit mein Vater. Er ist außer sich vor Wut. „Und wo ist Hilda?“

„Mutter muss sie mit ins Krankenhaus genommen haben. Ich habe sie nicht gesehen, als ich aus der Schule gekommen bin.“ Sandys Stimme klingt ruhig, als sie meinen Vater anlügt.

„Du bist genauso verrückt wie deine Mutter!“, tobt mein Vater. „Du lügst doch wie gedruckt! Sag die Wahrheit! Sofort!“ Sandy schweigt, mein Vater verliert völlig die Beherrschung. Natürlich weiß er auch so, was geschehen ist. Er braucht Sandy nicht weiter zu fragen. Sie wird Mutter nicht verraten, das hat sie noch nie getan. Vater weiß das, deswegen schreit er noch lauter. Ich sehe Sandy an, voller Angst. Auch sie fürchtet sich. Dennoch gibt mir ihr Schweigen Kraft.

Vaters zweite Frau Pauline sitzt die ganze Zeit in ihrer Wohnung und hört, wie mein Vater brüllt. Es interessiert sie nicht, es hat sie nie interessiert, was bei uns in der Wohnung geschieht. Sie ist hochschwanger und ganz mit sich selbst beschäftigt. Seit Pauline im Haus ist, haben sich die Probleme zwischen meinen Eltern vervielfacht. Vater verbringt so viel Zeit bei ihr wie möglich. Für uns bleibt kaum etwas übrig. Er will nicht einmal mehr bei uns essen. Vater hat Angst, dass meine Mutter ihn vergiften könnte. Das ist lächerlich, aber ihm ist es bitter ernst damit. Er zwingt meine Mutter, von allem zu kosten, was sie auf den Tisch stellt. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man beinahe darüber lachen. Er nimmt einen Löffel oder eine Gabel und rührt in jeder Schüssel herum, alles wird gründlich vermischt, dann muss Mutter probieren. Immer wieder und wieder. Erst wenn sie das getan hat, isst auch er. Dieses demütigende Schauspiel wiederholt sich jeden Tag.

In Kamerun ist es normal, dass jede Frau jeden Tag für ihren Mann kocht und ihm das Essen serviert. Es spielt keine Rolle, wie viele Frauen er hat. Für meinen Vater steht also jeden Tag sowohl bei uns als auch bei Pauline Essen bereit, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Natürlich isst er bei Pauline zuerst, obwohl meine Mutter eine viel bessere Köchin ist als sie. Aber darum geht es ihm nicht. Sie ist jung und hübsch, und er will ihr damit zeigen, dass er sie mag. Er macht ihr jeden Tag eine Freude damit und versucht, meine Mutter eifersüchtig zu machen. Es ist nur eine weitere Demütigung für sie. Mein Vater will meiner Mutter auf diese Weise zeigen, dass Pauline seine Favoritin ist und nicht sie. Deswegen isst er bei seiner zweiten Frau voller Freude und Begeisterung, bei meiner Mutter tut er so, als müsste er um sein Leben fürchten.

Meine Mutter tut mir jedes Mal unendlich leid. Es ist beschämend für sie, mit ansehen zu müssen, wie mein Vater Pauline bei jeder Gelegenheit zeigt, dass er in sie verliebt ist. Pauline hat es von Anfang an genossen, sie trägt ihre Liebe zu meinem Vater ganz offen und demonstrativ zur Schau, besonders, wenn meine Mutter in der Nähe ist. Und das ist sehr oft der Fall, schließlich wohnen wir im selben Haus. Wenn Pauline zu uns kommt, dann nur, um Ärger zu machen. Wegen ihr wird meine Mutter von Vater misshandelt. Sie belügt meinen Vater und intrigiert gegen meine Mutter, mein Vater ist aber unfähig, es zu erkennen. Er liebt seine zweite Frau und ist blind vor Hass und Abscheu gegen meine Mutter. Egal was auch immer sie tut oder sagt, um ihre Unschuld zu beweisen, es interessiert ihn nicht. Und wenn sie ihm Beweise vorlegt, schaut er absichtlich weg.

„Die Wahrheit wird früher oder später ans Licht kommen“, sagt meine Mutter immer. „Eines Tages muss er sie sehen. Ich bin unschuldig und Gott weiß es. Vielleicht wird es dann schon zu spät sein, aber er wird die Wahrheit erkennen.“

Dieser Wunsch meiner Mutter geht nicht in Erfüllung. Selbst als Pauline Kerosin in Mutters Essen mischt, will er nicht an Mutters Unschuld glauben. Er glaubt allen Ernstes, sie wolle ihn vergiften und schlägt sie grün und blau. Sein Jähzorn ist grenzenlos, und meine Mutter bekommt das Meiste davon ab. An diesem Tag ist es besonders schlimm. Seither muss sie das Essen, das sie für ihn zubereitet, verkosten. Er nennt Mutter eine Mörderin und hält ihr jeden Tag vor, sie trachte ihm nach dem Leben. Es kümmert ihn nicht mehr, wie es ihr geht, ob sie leidet oder krank ist. Er ignoriert ihre Trauer ebenso wie ihre Freundlichkeit. Ihm ist es einerlei, ob sie depressiv ist oder fröhlich. Er behandelt sie immer gleich. Das Einzige, was ihn interessiert, ist ihr Gehorsam. Sie muss nur dafür sorgen, dass er uns Kinder jederzeit sehen und, wann immer er möchte, über sie verfügen und sie kontrollieren kann. Meine Mutter betrachtet er als sein Eigentum.

„Ist eure Mutter schon wieder auf Männerjagd gegangen?“, schreit er außer sich vor Zorn. „Wo ist mein Kind? Ich habe es ihr gesagt: Nicht mit meiner Tochter! Ich habe es ihr ausdrücklich gesagt!“

Mein Vater geht auf und ab und fuchtelt mit den Armen. Seine Augen funkeln vor Hass. Er sieht uns an, dann durchsucht er die Wohnung. Sein Atem geht schwer, er keucht wie ein Langstreckenläufer, nicht aus Erschöpfung oder Resignation, sondern aus Wut. Als er Mutters Schlafzimmer betritt, fällt ihm sofort auf, dass ihre Koffer nicht mehr da sind. Er reißt die Türen ihres Kleiderschranks auf, alle Kleider sind weg. Mein Vater brüllt wie ein Löwe und wirft voller Zorn die Türen zu. Es hört sich an wie ein Pistolenschuss, ein fürchterlicher Knall.

„Wo ist sie?“, schreit er hysterisch, anscheinend weiß er es wirklich nicht, wir schweigen. Ich sehe zu Sandy hinüber: Sie ist nervös, aber antwortet unserem Vater nicht. Sie wird Mutter nie verraten. Egal, was passiert. „Die Hure hat meine Tochter zu ihren Männern mitgenommen!“, brüllt er und sieht dabei Sandy an, als wollte er ihr die Schuld dafür geben, doch Sandy zuckt nicht mit der Wimper.

„Meine Tochter gehört nicht auf den Strich! Wie oft muss ich das noch sagen?“ Wieder wartet er auf eine Antwort von uns, die nicht kommt. „Sobald eure Mutter das Haus verlässt, lässt sie sich mit jedem Mann ein, der ihr über den Weg läuft. Jawohl! Jeder der will, kann sie haben, und sie glaubt, dass die Männer sie haben wollen. Sie denkt, sie ist jung und hübsch. Was bildet sie sich denn ein? Sie belügt sich selbst, dabei braucht sie doch nur in den Spiegel zu schauen. Ihr Gesicht ist voller Falten, ihr Bauch ist alt und runzlig. Welcher Mann will so eine Frau haben? Keiner! Absolut keiner! Deswegen muss sie auch auf den Strich gehen. Einen anständigen Mann findet sie doch nicht.“ Mein Vater keucht vor Aufregung. „Aber nicht mit meinem Kind! Ich werde dieser Frau jetzt eine Lektion erteilen. Sie hat wohl vergessen, mit wem sie es zu tun hat.“ Er richtet sich auf, macht sich so groß wie möglich und streckt kampfeslustig das Kinn vor. „Nicht mit mir, Madam! Nicht mit Peter Assungwa!“ Dann verlässt er das Haus und eilt in Richtung Tor davon. „Sandy, kümmere dich um deine Geschwister. Ich bin gleich wieder da“, ruft er im Gehen meiner Schwester zu. Dann ist er verschwunden.

Pauline traut ihren Augen nicht, als sie ihn einfach so davonlaufen sieht. „Mein Mann!“, kreischt sie. „Mach dir doch wegen dieser Frau keine Sorgen. Lass sie gehen, sie ist doch nicht wichtig, denk an uns. Ich habe für dich gekocht, komm und esse, ruh dich aus, du hattest einen anstrengenden Tag. Mein Schatz, komm zurück, ich brauche dich doch.“ Aber er hört nicht auf sie. Ohne sich nach ihr umzudrehen, verlässt er das Haus. Pauline ist erst überrascht, dann wütend. Mein Vater hat immer auf sie gehört, seit dem Tag, als er sie ins Haus gebracht hat. Wahrscheinlich hat sie gedacht, dass es immer so sein würde. In diesem Moment muss sie erkennen, dass sie sich getäuscht hat. Sie wirkt traurig, als sie in die Wohnung zurückkehrt, aber ihre Fäuste sind geballt. Wir sehen den Zorn, der trotz aller Enttäuschung in ihrem Blick liegt, und wir hören ihre Worte. „Lass dich doch nicht von dieser bösen Frau in Verlegenheit bringen“, stößt sie hervor. Sie spricht mit sich selbst, nicht mit uns, doch wir verstehen jedes Wort. Es vergehen Stunden, bis mein Vater wieder nach Hause kommt. Er wirkt müde und frustriert, seine Stimme klingt noch immer gereizt, als er wissen will, ob wir schon etwas gegessen haben. Wir sagen ihm, dass Sandy etwas für uns gekocht hat, und wünschen ihm eine gute Nacht, dann wir gehen schlafen.

„Sandy“, sagt mein Vater am nächsten Morgen zu meiner Schwester. „Du bist jetzt verantwortlich für deine Geschwister. Hier hast du Geld für Essen, und das ist für den Notfall, wenn einer von euch krank wird und Medikamente braucht oder zum Arzt muss. Ich muss gehen und eure Mutter suchen. Ich will wissen, wohin sie mein Kind gebracht hat. Gestern habe ich überall in der Stadt nach ihr gesucht, aber keiner weiß, wo sich diese Hure versteckt hat. Sie hat mein Kind!“, wieder wird er wütend. „Ich werde ihr eine Lektion erteilen, die sie so schnell nicht wieder vergisst. Diese Verrückte hat mein Kind mitgenommen, mein Baby!“

In dieser Nacht geht Vater nicht zu Pauline, er schläft einige Stunden im Bett meiner Mutter. Die meiste Zeit ist er wach. Immer wieder kommt er in unsere Schlafzimmer, betrachtet uns schweigend und geht wieder. Wir stellen uns schlafend, zumindest versuchen wir es, bis wir es nicht mehr aushalten und die Augen gerade so weit öffnen, dass wir erkennen können, ob er noch dasteht oder nicht. Keiner von uns weiß, was das zu bedeuten hat. Niemand schläft in dieser Nacht. Wir hören, wie er im Wohnzimmer auf und ab geht, aber es brennt kein Licht. Mein Vater steht bald im dunklen Wohnzimmer. Wahrscheinlich denkt er nach, er denkt an Mutter, und daran, was er machen wird, wenn er sie findet. Bei dem Gedanken bekomme ich es mit der Angst zu tun und verkrieche mich unter der Bettdecke. Als er am nächsten Tag das Haus verlässt, sagt er noch einmal, dass Sandy für uns verantwortlich ist. Ich bin überrascht, normalerweise hätte er uns in so einer Situation Pauline anvertrauen müssen.

Das ist in Kamerun eigentlich üblich, wenn ein Mann mehr als eine Frau hat. Die zweite Frau wird automatisch zur Ersatzmutter für die Kinder der ersten Frau, sobald diese nicht im Haus ist. Aber Vater, der sonst immer großen Wert auf Traditionen legt, will davon nichts wissen. Vielleicht macht er es, weil er weiß, dass Mutter und Pauline sich noch nie gemocht haben. Vielleicht glaubt er, Pauline ist nicht gut zu uns, wenn sie allein mit uns ist. Sie hat sich Mutter noch nie untergeordnet. Eine Mutter ist die erste Frau, sie ist älter und weiß mehr, aber Pauline hat sich von Anfang an nie etwas sagen lassen. Für sie sind Mutter und sie selbst nur Ehefrauen ein und desselben Mannes, und haben deswegen ihrer Meinung nach die gleichen Rechte. Doch das stimmt nicht, und sie weiß es, davon bin ich überzeugt. Sie will einfach nur, dass es so ist, sie will nicht die zweite Frau sein, die sich meiner Mutter in irgendeiner Weise unterordnen muss. Dem Gesetz zufolge muss sie das ohnehin nicht. Es spielt keine Rolle mehr, ob man nur traditionell oder standesamtlich heiratet.

Die traditionelle Hochzeit findet meist ein paar Tage vor oder nach der standesamtlichen Hochzeit und der kirchlichen Hochzeit statt. Manchmal reicht allein die traditionelle Hochzeit aus. Eine Zeremonie, in der die Braut offiziell von ihrer Familie an den Mann übergeben wird, ereignet sich meistens in der Familie der Braut. Die Brautfamilie bekommt den Brautpreis. Wie hoch dieser ist, hängt von beiden Familien ab. Manche verlangen eine hohe Geldsumme, andere materielle Dinge wie Land, Autos, manche lassen den Bräutigam einem Familienmitglied die Schulbildung finanzieren. Bevor beide Familien sich über den Brautpreis einigen, wird gehandelt. Je nachdem, welche Qualitäten die Braut mitbringt: Es geht beispielsweise um Schönheit, Bildung, Charakter. Anwesend sind Männer aus beiden Familien. Die Braut ist nie dabei. Nach der Brautpreiseinigung wird ordentlich gefeiert. Es gibt unter anderem traditionelle Hochzeitstänze, Witze, Theaterstücke, Essen. Da Kamerun fast 300 verschiedene Volksgruppen hat, wird die traditionelle Hochzeit in jeder Volksgruppe anders gefeiert.

Im Fall einer traditionellen oder der standesamtlichen Hochzeit ist Polygamie erlaubt, und die Frauen sind hier offiziell gleichberechtigt. Die Meinung der Kirche ist in beiden Fällen nicht wichtig. Sie verbietet die Polygamie. Also heiratet ein Mann in Kamerun entweder traditionell oder standesamtlich, wenn er mehr als eine Frau heiraten will. Bei einer amtlichen Hochzeit, muss die Frau schriftlich bestätigen, dass sie mit der Polygamie einverstanden ist, wenn sie sie will. Fast alle Ehefrauen wählen die Polygamie. Wer sich nicht dazu bereit erklärt, gilt als schlechte Frau. Es heißt, sie bringe Schande über sich und ihre Familie. Selbst wenn ein Ehemann respektiert, dass seine Gattin die Polygamie ablehnt, ist ihr Ruf ruiniert und das Verhältnis zur Familie ihres Ehemannes dauerhaft zerrüttet. In der Polygamie bleibt es allein dem Mann überlassen, wie viele Frauen er heiraten will. Es gibt keine Einschränkungen. In Kamerun glauben noch heute die meisten Leute, dass ein Mann die Möglichkeit haben muss, so viele Frauen zu heiraten, wie er sich leisten kann. Denn Frauen kosten viel Geld. Wer sich viele Frauen leisten kann, ist ein gemachter Mann und genießt hohes Ansehen, weil jeder auf den ersten Blick erkennt, wie wohlhabend und erfolgreich er ist. Wer nur traditionell heiratet, geht deshalb fest davon aus, dass der Mann sich mit mehreren Frauen vermählen wird. Oft werden die Frauen nicht gefragt, ihre Einwilligung in die Polygamie wird stillschweigend vorausgesetzt.

Zwei Tage später kommt Vater mit Hilda auf dem Arm zurück, Polizeibeamte begleiten ihn. Als wohlhabendem Bauingenieur ist es für ihn ein Leichtes, die Beamten dazu zu bringen, ihm bei der Suche nach meiner Mutter behilflich zu sein. „Ich habe mein Kind gefunden“, verkündet er mit einer Mischung aus Stolz und Trotz. „Diese Hure hat es tatsächlich mit auf den Strich genommen.“ Keiner von uns sagt etwas, doch er redet weiter. „Als ich in Buea ankam, hat meine Tochter in einem Abwasserkanal gesessen und mit stinkenden Abfällen gespielt, während eure Mutter auf den Strich gegangen ist. Dafür wird sie bezahlen!“ Mein Vater brüllt schon wieder wie ein Löwe. „Dafür wird sie bezahlen!“

An diesem Tag lässt er Pauline links liegen und kümmert sich nur um Hilda. Am nächsten Morgen fährt er zum Einkaufen. Er kann nicht verhindern, dass Hilda unsere Mutter vermisst. Aber er kann sie beruhigen, indem er ihr alles bietet, was ihr Herz begehrt. Vater behandelt ab diesem Tag meine kleine Schwester wie eine Königin. Pauline ist nicht mehr wichtig, sie steht daneben, sieht ihm zu, wie er Hilda an sich drückt, und schaut ihn an, als würde sie ihren eigenen Augen nicht trauen. Was mit Mutter ist, will Vater uns nicht sagen. Wenn einer von uns etwas wissen will, fängt er an zu schreien und beschimpft meine Mutter auf unflätigste Art und Weise.

Erst Jahre später werde ich erfahren, was passiert ist an diesem Tag. Meine Mutter wird mir sagen, dass mein Vater in Begleitung von acht Polizeibeamten in das Dorf meiner Großeltern gekommen ist. Sie haben meinen Großeltern so lange mit Gefängnis gedroht, bis diese gesagt haben, wo sich meine Mutter aufhält. Mutter wurde verhaftet, nach Bamenda gebracht und in die Untersuchungshaft gesteckt. Hilda hat man ihr einfach weggenommen. Dann ist Vater zu ihr gegangen und hat sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie kommt zurück zu ihm und bleibt bei uns, ihren Kindern, oder sie geht und fängt ein neues Leben an, allerdings ohne Kontakt zu uns aufzunehmen. Er hat wohl gedacht, dass sie nachgeben würde, aber Mutter hat sich entschieden, uns zu verlassen, es fiel ihr unsagbar schwer, aber sie konnte nicht anders. Vater war natürlich wütend und hat sie einfach im Stich gelassen. Aber unsere Bekannten haben von der Sache erfahren und Geld gesammelt und zwei angesehene Geschäftsleute aus der Gegend zur Polizei geschickt. So kam es, dass meine Mutter nach zehn Tagen Untersuchungshaft wieder freigelassen wurde. Ich weiß nicht, ob Vater eine Ahnung davon hat, wie Mutter freigekommen ist, ich kann es mir nicht vorstellen. Wenn er es wüsste, würde er den beiden Männern sehr wahrscheinlich etwas antun.

Hilda muss aus dem Weg geräumt werden

Nachdem allen klar geworden ist, dass Mutter nicht mehrzurückkehren wird, versuchen wir, ohne sie in ein normales Alltagsleben zurückzufinden. Sandy kümmert sich um uns und tritt wie immer an die Stelle unserer Mutter. Pauline mischt sich nur von Zeit zu Zeit ein. Wir lassen sie gewähren, sie macht es ohnehin nur widerwillig, weil sie keine andere Wahl hat. Vater arbeitet nur noch halbtags. An manchen Tagen bleibt er sogar zu Hause. Dann kümmert er sich zusammen mit seiner Mutter um uns, die schon kurz nach Mutters Abreise zu uns gekommen ist. Sie ist es, die dafür sorgt, dass alles so läuft, wie es laufen soll. Großmutter achtet darauf, dass wir auch weiterhin ein normales Familienleben führen. Mein Vater ist zufrieden. So kann er sich voll und ganz auf Hilda konzentrieren, seinen Liebling.

Sie ist oft krank in dieser Zeit, weshalb sie ständig Medikamente bekommt. Eines Tages ist Sandy gerade dabei, die Sirup-Flasche zu öffnen, als wir von der Schule nach Hause kommen. Rasch laufen wir zu ihr. Das Medikament ist sehr süß und schmeckt lecker. Jeder von uns hofft darauf, dass er den Löffel ablecken darf, sobald Hilda ihre Medizin eingenommen hat. Aber Sandy wirft uns einen eigenartigen Blick zu und schüttelt den Kopf.

„Irgendetwas stimmt nicht“, sagt sie, nachdem sie an der Flasche gerochen hat. Sie legt die Stirn in Falten und denkt nach, dann riecht sie noch einmal an der Flasche. Sie hebt sie hoch und sieht sich aufmerksam die Flüssigkeit an. „Sieht eigenartig aus“, stellt sie fest. „Probiere mal!“ Sie gießt ein wenig Sirup auf den Löffel und lässt Felicitas davon kosten. Wir alle probieren ein wenig, der Sirup schmeckt seltsam, Sandy hat Recht. „Wir warten, bis Vater kommt. Er soll entscheiden, ob Hilda die Medizin einnehmen darf oder nicht“, entscheidet Sandy. Wir stimmen alle zu.

Als Vater von der Arbeit zurückkommt, sagt ihm Sandy sofort Bescheid. Er verlangt nach der Flasche, öffnet sie, riecht daran, probiert ein wenig, und verzieht angeekelt das Gesicht.

„Da hat jemand Kerosin in die Flasche gegossen!“ Seine Stimme ist voller Zorn. Er wird laut, sein Gesicht rötet sich. Er schaut jeden Einzelnen von uns an. Nicht so, als wollte er uns beschuldigen, aber er ist fest entschlossen, den Täter ausfindig zu machen. Vater hat sofort einen Verdacht, doch er braucht Beweise. Also ruft er alle, die im Haus wohnen zusammen. Auch die drei Familien, die in unserem Haus Wohnungen gemietet haben, müssen erscheinen. Vater kommt ohne Umschweife zur Sache. Die Reaktionen der Anwesenden fallen ziemlich unterschiedlich aus. Die meisten finden es einfach nur „total krank“ und fragen sich, wie man so etwas nur machen kann. Welcher Mensch ist zu so etwas fähig? Es gibt aber auch welche, die denken, es könnte sich um einen Irrtum handeln. Ist es wirklich sicher, dass etwas unter die Medizin gemischt wurde? Vater lässt sich von solchen Einwänden nicht beeindrucken. Er bleibt dabei.

Hildas Medizin steht immer über dem Kaminofen im Wohnzimmer, und das wird nie verschlossen. Theoretisch könnte es also jeder gewesen sein, der Zugang zum Haus hat. Die Leute reagieren entsetzt auf diesen versteckten Vorwurf und streiten vehement ab, etwas damit zu tun zu haben. Da verliert Vater die Geduld. Er will am nächsten Tag zum Voodoo-Doktor gehen.

„Er wird mir sagen, wer das getan hat“, sagt mein Vater drohend. „Und ihr könnt sicher sein, dass der Schuldige nicht ungestraft davonkommen wird!“ Die Anwesenden nicken und sind einverstanden, es regt sich keinerlei Widerspruch. Also macht sich Vater am nächsten Tag mit allen Erwachsenen, die im Haus wohnen, auf den Weg zum Voodoo-Doktor. Später erzählen sie uns, wie der Besuch verlaufen ist. In Vaters großem Land-Rover haben alle Platz. Nach fünfzehn Minuten bittet Pauline meinen Vater, anzuhalten. Sie verspürt ein ganz dringendes Bedürfnis. Vater hält an und Pauline verschwindet in einem großen Maisfeld am Straßenrand. Die anderen sitzen da und warten. 15 Minuten vergehen. Dann ist allen klar, dass etwas nicht in Ordnung ist. Vater befiehlt, auszusteigen und das Maisfeld nach Pauline zu durchsuchen, aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Alle sind fassungslos, als sie davon erfahren. Keiner von ihnen spricht es laut aus, aber alle wissen in diesem Augenblick, was passiert ist: Pauline hat das Kerosin unter die Medizin gemischt. Vater verliert kein Wort darüber.

Als Pauline zurückkehrt, herrscht Totenstille im Haus. Wir alle betrachten sie wortlos. Auch Vater schweigt. Er sieht sie an, sie erwidert seinen Blick. Keine Erklärung, keine Entschuldigung, keine Rechtfertigung. Als sie den Raum verlassen hat, können wir Vater ansehen, wie es in ihm brodelt. Ihm ist klargeworden, was Pauline für ein Mensch ist. Ob er an all die abstrusen Lügen gedacht hat, mit der Pauline ihn gegen meine Mutter aufgehetzt hat, weiß ich nicht. Aber ich sehe in seinem Gesicht, dass er über etwas nachdenkt. Seit diesem Tag isst er nicht mehr bei Pauline. Er geht ihr, so gut er kann, aus dem Weg und schläft fast nur noch bei uns in der Wohnung. Seine Liebe zu Pauline ist erloschen, das merkt jeder. Er versucht nicht einmal, es zu vertuschen. Selbst als Pauline kurze Zeit später erneut einen Sohn zur Welt bringt, ändert er seine Einstellung ihr gegenüber nicht mehr. Vater gehen andere Dinge durch den Kopf. Er braucht eine Ersatzmutter für uns. Pauline kommt dafür nach dem Vorfall mit Hildas Medizin nicht mehr in Frage. Deshalb will er noch einmal heiraten.

Vaters dritte Frau

Angelina ist eine wirklich schöne Frau: groß, mit heller Haut und wundervollen Zähnen. Sie hat eine traumhafte Figur, lange, gerade Beine und ein bezauberndes Gesicht. Sie sitzt lachend bei meiner Tante und meiner Großmutter und unterhält sich über alltägliche Dinge. Ich gehe zu den Frauen und begrüße sie herzlich. Angelina schenkt mir ein herzliches Lächeln. Ich mag sie vom ersten Moment an.

„Oma!“ Es ist die Stimme meines Vaters, er meint mich. Mein Vater nennt mich Oma, weil ich Fiehluna heiße, wie seine Großmutter. Und so wenig, wie er seine Großmutter je mit ihrem Namen angesprochen hat, nennt er mich bei meinem. Es ist nicht scherzhaft gemeint, sondern respektvoll. „Oma!“, ruft er noch einmal. „Komm!“ Ich gehorche. „Hier ist meine neue Frau“, sagt er zu mir und meinen Geschwistern, „sie wird von nun an eure Mutter sein. Respektiert und achtet sie. Verstanden?“

„Ja!“, antworten wir im Chor. Mir ist ein wenig komisch zumute, es kommt überraschend für mich. Ich habe kaum Zeit gehabt, mich an den Gedanken zu gewöhnen, eine neue Mutter zu bekommen. Sie sieht auf den ersten Blick gar nicht wie eine Frau aus, die meine Mutter sein könnte. Angelina ist nicht viel größer als meine Schwester. Sandy wirkt mit ihren 13 Jahren neben Angelina keineswegs klein und kindlich. Ich stehe da und habe den Eindruck, eine neue Schwester vor mir zu haben. Aber Angelina ist die Frau meines Vaters und somit meine neue Mutter.

Pauline begegnet ihr vom ersten Augenblick an voller Abscheu und Widerwillen. Sie ist eifersüchtig, nicht zuletzt, weil wir uns so gut mit Angelina verstehen. Wir alle lieben sie mit jedem Tag mehr, den sie bei uns ist. Sie ist freundlich und warmherzig, verständnisvoll und hilfsbereit, so wie eine Mutter sein sollte. Pauline sieht es und verzieht ihr Gesicht zu einer hämischen Grimasse. Sie sucht nach Möglichkeiten, Angelina das Leben zur Hölle zu machen. Aber wir haben sielängst gewarnt. Angelina ist eine von uns, wir sind ein Team und helfen uns gegenseitig. Pauline kommt nicht dagegen an. Sie sieht es und will es nicht wahrhaben. Wenn sie Angelina und Hilda zusammen sieht, dreht sie sich um und geht weg. Dass wir alle zum ersten Mal seit Mutters Abreise wieder richtig glücklich sind, lässt Pauline keine Ruhe. Sie zieht sich immer mehr zurück. K keiner weiß, was in ihrem Kopf vorgeht.

Eines Nachts hört mein Vater Oliver schreien. Er schaut auf die Uhr, es ist 2 Uhr am Morgen. Das Kind schreit ohne Unterbrechung. Mein Vater wundert sich, warum Pauline nichts dagegen unternimmt. Also nimmt er seinen Schlüssel und geht in ihre Wohnung, um nach dem Rechten zu sehen. Er findet Oliver schreiend in seinem Bett. Von Pauline weit und breit keine Spur. Sofort werden wir alle von meinem Vater geweckt, er klingelt sogar die Mieter aus den Betten. Dann erzählt er uns, was er gerade gesehen hat. Er ist außer sich. Mein Vater will die Ehe mit Pauline auflösen. Wir alle, seine Kinder und die Mieter, sollen seine Zeugen sein. Er will, dass wir bestätigen, dass Pauline eine schlechte Frau ist. Vater kann sich nicht so einfach scheiden lassen, er muss einen plausiblen Grund nennen, und den hat er nun. Vor allem, als er hinter dem Haus eine Leiter entdeckt und eine andere im Wohnzimmer. Pauline muss über das Dach geklettert sein und so das Haus verlassen haben. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen und niemanden aufwecken. Vater nimmt die Leiter im Wohnzimmer weg und sagt uns, wir sollen still sein. Mitten in der Nacht stehen wir schweigend beisammen und warten im Dunklen auf Pauline.

Es dauert fast zwei Stunden, bis wir endlich Geräusche auf dem Dach hören. Es ist tatsächlich Pauline. Mit ihrem sechs Monate alten Sohn auf dem Rücken geht sie morgens um 4 Uhr über das Dach unseres Hauses. Keiner von uns hätte das für möglich gehalten, aber wir alle sehen es mit eigenen Augen. Nun steht sie da oben und weiß nicht, wie sie ohne Leiter herunterkommen soll. Bis zum Boden sind es gut und gerne vier Meter. Es dauert eine Weile, bis ihr klar wird, was geschehen ist. Als sie endlich merkt, dass sie beobachtet wird, nimmt sie rasch ihren Sohn aus dem Tragetuch und drückt ihn an sich. Mein Vater tut so, als wüsste er nicht, wer sie ist.

„Da ist er!“, schreit er so laut, dass alle zusammenzucken. Er deutet mit der ausgestreckten Hand auf Pauline. „Da steht der Einbrecher, auf meinem Dach ist ein Einbrecher. Kommt schnell, und helft mir.“ Er schreit immer lauter. „Wenn du dich bewegst, schieße ich!“

„Ich bin es!“, ruft sie ängstlich. „Pauline. Nicht schießen!“

„Pauline? Was machst du um diese Zeit auf dem Dach? Woher kommst du eigentlich? Wo treibst du dich um diese Zeit mit meinem Kind herum?“

„Ich war Mongwin fangen“, erklärt t Pauline und hebt eine Flasche in die Höhe, in der sich tatsächlich einige dieser Insekten befinden. Ihr ist klar, dass mein Vater nun nur noch wütender werden wird, aber sie weiß sich nicht anders zu helfen. Vater hat uns allen ausdrücklich verboten, Mongwin zu fangen.

Dieses Insekt ist eine Delikatesse in Kamerun und wird vor allem in der Weihnachtszeit gerne gefangen. Man jagt diese Insekten zumeist nachts, manche Leute sind stundenlang unterwegs und fangen Dutzende davon, die sie dann tagsüber verkaufen oder selbst verzehren. Gebraten schmeckt Mongwin wirklich hervorragend, aber meinem Vater ist das in diesem Augenblick egal.

„Bist du verrückt?“, schreit er. „Bleib stehen, wo du bist, das kann doch nicht wahr sein! Rühr dich nicht von der Stelle! Hörst du? Ich hole jetzt deinen Onkel, er soll sehen, was du nachts treibst. Ich will, dass er dich da oben mit eigenen Augen sehen kann.“ Vater macht sich tatsächlich auf den Weg zu Paulines Onkel. Diese hat aber nicht vor, darauf zu warten, dass ihr Onkel sie dort oben stehen sieht, und macht Anstalten, vom Dach zu springen. Wir alle trauen unseren Augen nicht, doch sie meint es ernst. Sie wirft ohne zu Zögern ihr Kind zu uns herunter und springt. Patrick landet sicher in den Armen einer Frau. Auch Pauline übersteht den Sprung unverletzt. Als Vater davon hört, ist er ebenso sprachlos wie ihr Onkel. Nach diesem Vorfall fordert Vater Pauline mehrfach auf, zu ihren Eltern zurückzukehren. Sie weigert sich, noch will sie nicht. Vater wird wütend, doch Pauline wehrt sich. Es kommt immer wieder zu Prügeleien zwischen den beiden. Sogar mit Patrick auf dem Rücken lässt sie sich auf Auseinandersetzungen mit meinem Vater ein. Es ist ihr anscheinend vollkommen egal, ob ihr Sohn auf den Boden fällt. Sein Geschrei stört sie nicht. Sie schreit noch lauter und übertönt das Weinen ihres verängstigten Sohnes. Alles, was sie in die Hände bekommt, wirft sie nach meinem Vater. Sie ist wie eine Furie, ihre schrille Stimme ist in der ganzen Nachbarschaft zu hören.

Dass die Nachbarn reden, stört sie nicht, sie hetzt sie ohnehin die ganze Zeit gegen meinen Vater auf. Tagein, tagaus läuft sie durch die Nachbarschaft und erzählt Lügen und Halbwahrheiten. Sobald sie hört, wie mein Vater etwas Negatives über jemanden sagt, läuft sie los und erzählt es dem Betreffenden. Sie ist stundenlang unterwegs. Irgendwann muss sie erkennen, dass es sinnlos ist. Pauline gibt auf und geht zurück zu ihren Eltern. Sie nimmt ihren jüngsten Sohn, Patrick, mit, aber mein Vater holt ihn vier Jahre später wieder zu uns. Nach allem, was passiert ist, gibt es niemanden, der dagegen protestiert. Auch Sandy sagt nichts dazu. Ihr ist die Erleichterung über den Paulines Weggang deutlich anzusehen. Sie sagt mir nicht, wieso es sie so sehr freut, und ich will sie nicht danach fragen. Irgendwie erscheint es mir nicht richtig, ich freue mich einfach über ihre gute Laune.

Das erste Wiedersehen mit Mutter nach vier Jahren

Eines Tages ist Sandy besonders fröhlich. Schon am frühen Morgen strahlt sie über das ganze Gesicht. Ständig ist sie unterwegs, besucht die Nachbarn, macht Besorgungen, plaudert mit Verwandten. Mir kommt das Ganze mit der Zeit doch recht merkwürdig vor.

„Was hast du denn?“, frage ich neugierig.

„Wir gehen zu Mami Peter“, antwortet sie.

„Warum denn?“ „Wir besuchen sie.“ Ich bin alles andere als begeistert. Diese Nachbarin züchtet Geflügel, das sie von vier aggressiven Hunden bewachen lässt. Seit mich einer der Hunde am Bein verletzt hat, habe ich Angst vor ihnen und meide das Haus dieser Frau. Entsprechend mulmig ist mir zumute, als wir uns auf den Weg machen, daran kann auch Sandys gute Laune nichts ändern. Als wir nur noch wenige Meter von dem Haus entfernt sind, kommt plötzlich eine Frau mit ausgebreiteten Armen auf uns zugelaufen. Ich weiß nicht, wer sie ist. Sie ist sehr hübsch und sehr elegant gekleidet. Erst als sie mich an sich drückt, wird mir klar, dass es unsere Mutter ist. Mir steht der Mund offen, sekundenlang stehe ich reglos da und bekomme kein Wort heraus. Ich kann es einfach nicht glauben, doch sie ist es wirklich.

„Mama!“, rufe ich, so laut ich kann, und werfe mich ihr an den Hals. Es ist das erste Mal seit vier Jahren, dass ich sie wiedersehe. Sie hat sich sehr verändert, aber ich würde sie unter einer Million Menschen wiedererkennen. Sie ist meine Mutter, ich habe jeden Tag an sie gedacht, jede Stunde habe ich ihr Gesicht vor mir gesehen und ihre Stimme gehört. Ich habe nichts vergessen und erinnere mich an alles, an den Klang ihrer Stimme, an ihr Lachen, an ihr Weinen. Sie schluchzt wie an dem Tag, als sie uns verlassen hat, nur, dass sie jetzt glücklich ist. Ich klebe an ihr wie eine Klette und will sie nie wieder loslassen.

„Mama, bleibst du bei uns?“, frage ich und halte sie fest, als sie sich von mir lösen will, um auch die anderen zu umarmen.

„Nein, mein Schatz, ich bin nur zu Besuch hier“, antwortet sie und drückt Hilda an sich, aber meine Schwester reagiert kaum: Sie hat unsere Mutter nie richtig gekannt. Mutter hat mit so einer Reaktion gerechnet. Es macht sie traurig, aber sie versteht es. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Wie geht es meinen Engeln? Kommt, lasst uns kuscheln!“ Wir stehen da, umarmen uns und weinen. Keiner achtet auf die Zeit, es ist einfach nur schön. Ich könnte ewig so dastehen. Dieser Moment dürfte nie zu Ende gehen.

„Die Kinder müssen zurück. Cecilia, lass sie gehen“, fordert die Nachbarin sie auf. „Ihr Vater kommt gleich von der Arbeit zurück. Du weißt, was er mit Angelina tun wird, wenn er erfährt, dass sie dich hier besucht haben. Du darfst sie eigentlich gar nicht sehen. Das weißt du.“ Meine Mutter nickt. Sie sieht bekümmert aus.

„Du hast Recht“, sagt sie. Mutter verabschiedet sich von jedem von uns mit Tränen in den Augen, auch von Hilda, die nur „Tschüss, Mama!“ sagt und als Einzige nicht weint. Immerhin erinnert sie sich jetzt wieder daran, wie ihre Mutter aussieht. Ich will, dass meine Mutter bleibt, doch es ist unmöglich. Kaum sind wir zu Hause angekommen, kehrt auch schon mein Vater von der Arbeit zurück. Als er wissen will, was wir den Tag über gemacht haben, erklären wir wie mit einer Stimme, dass wir den ganzen Tag zu Hause waren. Er hört es und ist zufrieden. Mein Vater hat keinen Grund, uns nicht zu glauben. Wir benehmen uns wie an jedem anderen Tag auch. Das Zusammenleben mit unserem Vater hat uns schlau gemacht. Wir wissen sehr gut, wie wir etwas vor ihm verbergen können.

So ist es auch an dem Tag, an dem er sich mit Mutter trifft. Gleich am frühen Morgen verbietet er uns allen völlig überraschend, in die Schule zu gehen. Wir dürfen nicht einmal mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielen. Einen Grund nennt er nicht. Auch Angelinas Fragen werden nicht beantwortet. Von unserer Mutter haben wir später erfahren, dass er uns den Schulbesuch nur verboten hat, um zu verhindern, dass wir ihr über den Weg laufen. Sie hat ihn kontaktiert, bevor sie nach Bamenda gekommen ist. Meine Eltern treffen sich in einer Kneipe, weil Vater es ablehnt, ins Haus von Mutters Bruder zu kommen. Er glaubt, ihre Familie habe sie dazu überredet, ihn zu verlassen, deswegen will er mit ihnen nichts mehr zu tun haben. Als sie in der Kneipe sitzen, fordert er sie erneut auf, zu ihm zurückzukehren. Mutter lehnt wieder ab, worauf er ihr noch einmal untersagt, Kontakt zu uns aufzunehmen. Sie bittet ihn, uns nur einmal in die Arme schließen zu dürfen. Auch das lehnt er ab. Für meine Mutter ist das keine Überraschung, sie hat es geahnt und deswegen schon vorher mit den Nachbarn Kontakt aufgenommen. Ohne deren Hilfe wäre es nicht möglich gewesen, uns zu sehen.

Vater glaubt immer noch, sie erpressen zu können. Als sie an diesem Tag in der Kneipe sagt, sie wolle ihren Teil dazu beitragen, dass meine Schwester Sandy im kommenden Jahr eine Privatschule besuchen könne, schüttelt er nur den Kopf. Unter dem Vorwand, er wisse nicht, woher das Geld stamme, weist er ihr Angebot zurück. Wenn sie Sandy helfen wolle, solle sie zurückkommen. Damit ist das Thema für Mutter erledigt, und Vater denkt, er hätte sich durchgesetzt. Er hat keine Ahnung. An dem Tag, an dem wir unsere Mutter nach vier Jahren endlich wieder sehen, trifft sie sich am Vormittag mit Angelina. Mutter weiß, dass sie uns ohne deren Hilfe nie zu Gesicht bekommen wird. Sie sagt ihr ganz direkt und offen die Wahrheit, und Angelina ist sofort mit Allem einverstanden. Sie ist zwar noch sehr jung, aber sie kann sich vorstellen, was es für eine Mutter bedeutet, ihre Kinder nicht sehen zu dürfen. Angelina ist für uns nicht nur Mutterersatz, sondern auch eine wirklich gute Freundin.

Wäre Pauline noch bei uns gewesen, hätten wir unsere Mutter nie wiedergesehen. Mutter weiß das und ist froh, als sie erfährt, was zwischen Vater und Pauline vorgefallen ist. Vater ahnt nicht einmal, dass wir an diesem Tag Mutter begegnet sind. Auch von den anderen Treffen, die seither regelmäßig jeden Dezember stattfinden, erfährt er nichts.

Umzug nach Nkambe

Seit zwei Jahren wohnt Angelina nun bei uns. Sie ist für mich und meine Geschwister Freundin und Mutter zugleich. Angelina spielt mit uns Dotching, Sizo, Talaba und Reresin. Sie nimmt sich immer sehr viel Zeit für jeden einzelnen von uns. Obwohl inzwischen ihr erster Sohn geboren ist, er heißt Mike. Mein Vater sieht ihn nur selten. Man hat ihn nach Nkambe versetzt, dort baut er eine neue Brücke.

„In einem Monat ziehen wir nach Nkambe“, sagt Vater eines Tages, als er von der Arbeit nach Hause kommt. „Dort kommt ihr in eine neue Schule.“ Felicitas und Sandy sind davon gar nicht begeistert. Sie haben viele Freunde in Bamenda und wollen die Stadt auf gar keinen Fall verlassen. Sie gehen zu meinem Vater und sagen ihm, dass sie gerne bleiben würden. Es ist unser Haus. Vater könnte regelmäßig vorbeikommen und sie besuchen. Doch er will nichts davon wissen.

„Das kommt gar nicht in Frage!“, schreit er und schüttelt wütend den Kopf. „Ich lasse meine Kinder nicht alleine in Bamenda zurück. Geht in eure Zimmer. Sofort! Ich will so etwas nie wieder hören. Ihr seid erst 15 und 13 Jahre alt. Das kommt überhaupt nicht in Frage." Sie gehorchen.

An dem Tag, an dem wir Bamenda verlassen, kommt morgens ein LKW von Vaters Firma vorbei. Der Fahrer und zwei Männer laden unsere Möbel auf. Wir haben schon unsere Koffer gepackt und stehen daneben und schauen den Männern bei ihrer Arbeit zu. Als alles verstaut ist, fahren sie los. Wir bleiben mit unseren Koffern zurück. Zwei Tage später fahren wir mit Vaters Auto nach Nkambe.

Die Reise dorthin dauert zwölf Stunden. Es ist eine beschwerliche Fahrt. Wir machen viele Stopps. Das erste Mal halten wir in Santah, danach in Nde an. Dort zeigt uns Vater die Nde-Tee-Plantage. Die Nde-Plantage ist der größte Tee-Produzent der Provinz. Wir trinken zu Hause nur diesen Tee. Aber niemand von uns hat sich je vorstellen können, wie eine Teepflanze aussieht und wie Tee hergestellt wird. Ich finde es sehr beeindruckend und schaue mir alles sehr aufmerksam und genau an. Vater erzählt mir und meinen Geschwistern nebenher die Geschichte der Firma und der Plantage. Doch wir müssen weiter. Als Nächstes erreichen wir das Bansoh-Krankenhaus. Es ist eines der größten Krankenhäuser im Nordwesten von Kamerun. Einige der besten Ärzte des Landes arbeiten dort. Einige Stunden später sehen wir den Jakiri-Berg vor uns aufragen. Er ist der höchste Berg im Nordwesten des Landes.

Alle 90 Minuten kühlt Vater den Motor mit kaltem Wasser und lässt den Wagen eine Viertelstunde stehen. Doch irgendwann geht es gar nicht mehr weiter. Unser Auto bleibt einfach stehen. Wir steigen alle aus und schieben. Aber der Berg ist hoch, und es geht steil hinauf, obwohl wir erst am Fuß des Berges sind. Bald ist unser Wasservorrat erschöpft. Vater ist ratlos. In dieser Gegend gibt es nirgendwo Wasser. Keinen See, keinen Bach, nicht einmal ein kleines Rinnsal oder einen Tümpel. Vater ist wütend. Er weiß, dass sein Auto unter diesen Umständen die Fahrt über den Berg nicht schaffen wird. Also geht er los und sucht nach Wasser. Zwei Kilometer weit muss er laufen, ehe er auf Dorfbewohner trifft, die ihm etwas Wasser geben. Er kehrt zu uns zurück, und wir setzen die Fahrt fort. Alle 90 Minuten hält er an und sucht wieder nach Wasser. So kommen wir langsam vorwärts. Gegen 20 Uhr kommen wir in Nkambe an.