Filme zwischen Spur und Ereignis - Seraina Winzeler - E-Book

Filme zwischen Spur und Ereignis E-Book

Seraina Winzeler

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Beschreibung

In welchem Verhältnis stehen (Archiv-)Bilder zur Geschichte und unserer Erinnerung? Wie können fotografische und filmische Bilder als Quellen etwas über ein vergangenes Ereignis aussagen? Und welche Wirkung geht von Bildern aus, wie nehmen diese selbst Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unser Denken? Seraina Winzeler geht diesen Fragen anhand von Filmen nach, die sich im Bereich des Essay- und Experimentalfilms verorten und die Bedeutung von und unser Verhältnis zu Bildern untersuchen. Die materielle Aneignung von Found Footage oder Bildern aus dem Archiv in Aufschub von Harun Farocki, Passagen von Lisl Ponger und The Film of Her von Bill Morrison zielt nicht einfach auf eine Wiedergabe des Abgebildeten. Vielmehr stellen die Filme grundlegende Fragen nach Möglichkeiten der medialen Repräsentation und setzen sich auf selbstreflexive Weise mit der Medialität und Wirkungsweise von Filmbildern auseinander. Das verwendete Material und die Bearbeitungsstrategien der drei Regisseurinnen und Regisseure fallen unterschiedlich aus. Ihnen ist jedoch gemeinsam, dass sie mit einer konzentrierten Beobachtung des Bestehenden – der überlieferten Bilder – auch das sichtbar machen, was diese auf den ersten Blick verbergen. Die Bild-Bild- und Bild-Ton-Montage arbeitet Entstehungskontexte, Aufzeichnungskonventionen, Rezeptionsgeschichte und Wiederverwendungen heraus, die sich in die Bilder eingeschrieben haben. Die Autorin macht mit einer präzisen Analyse der Filme und den Begriffen der Spur und des Ereignisses, die die spezifische Erscheinungs- und Wirkungsweisen von Bildern und deren vielschichtige Realitätsbezüge beschreiben, deutlich, dass sich Bilder erst in ihrer Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte erschließen. Die Studie situiert sich in jüngeren bild- und medientheoretischen Diskursen. Im Kontext einer stark von visuellen Medien geprägten Gegenwart und einem anwachsenden Interesse an Bildern als historischen Quellen leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Reflexion medialer Repräsentation und unseres Umgangs damit.

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Seitenzahl: 182

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Erinnerung, Geschichte und das Medium Film

2.1 Found-Footage – historische Verortung und Bearbeitungsstrategien

2.2 Film als Medium des individuellen und kollektiven Gedächtnisses: Ort der Aufzeichnung, Speicherung und Lektüre

3 Von der Notwendigkeit der Repräsentation: Aufschub

3.1 Die dialektische Annäherung: Zwischen Essay- und Dokumentarfilm, Monument und Dokument

3.2 Überlieferung und Aktualisierung eines kollektiven Bildgedächtnisses der Shoah

4 Differentielle Spuren: Passagen

4.1 Vom Dokumentarischen ins Imaginäre: Fragmentierung und assoziative Montage

4.2 Das Imaginäre im Dokumentarischen

5 Die Projektion ins Bild: The Film of Her

5.1 Fiktionalisierung und Ironisierung: Selbstreflexive (De-)konstruktion

5.2 Die Ästhetik des frühen Films

6 Erinnerungsbilder zwischen Spur und Ereignis

7 Filmografie

8 Bibliografie

Reihe

Impressum

Endnoten

1 Einleitung

 

Die mit der Geburtsstunde des Films entstandene Praxis des Verwendens von nicht selbst hergestellten, sondern vorgefundenen Bildern hat schon früh diverse Ausprägungen und Methoden erfahren. Wiederverwendete Filmfragmente finden sich in fast allen Gattungen des Films. Während jedoch im Dokumentar-, Kompilations- und oft auch im Spielfilm gefundene Bilder meist zur Authentisierung eingesetzt werden – da sie scheinbar unvermittelt zeigen, wie es wirklich war –, impliziert die materielle Aneignung im Found-Footage- oder Essayfilm einen kritischen und selbstreflexiven Umgang mit Bildern. Diese untersucht Bilder hinsichtlich ihrer ideologischen Aufladung, ihres Einsatzes und ihrer Rezeption.

In der vorliegenden Studie diskutiere ich drei Filme, die sich auf einer inhaltlichen und formalen Ebene mit den Themenkomplexen der Erinnerung, des Gedächtnisses und der Geschichtsschreibung auseinandersetzen, und in deren Bearbeitungen von vorgefundenen Bildern ich einen solch selbstreflexiven Umgang beobachte.

 

Selbstreflexive Sekundärbearbeitungen

In Aufschub (Deutschland 2007) greift Harun Farocki auf ein Filmfragment aus dem Konzentrationslager Westerbork zurück, das vom jüdischen Häftling Rudolf Breslauer im Auftrag der nationalsozialistischen Lagerleitung erstellt wurde. Die Bilder stehen hier unter dem doppelten Paradox einer Nichtabbildbarkeit: Im Moment ihrer Erstellung sollten sie zeigen, ohne zu zeigen, sie sollten ein Leben im Lager dokumentieren, ohne die Realität dieses Lebens – die Gefangenschaft, die Angst vor Deportation und Tod – tatsächlich sichtbar zu machen. Gleichzeitig sind dies Bilder eines Ereignisses, das zum Paradigma des Undarstellbaren geworden ist, denn keine Abbildung kann die zutiefst traumatische Erfahrung der systematischen Vernichtung der Juden und anderer Bevölkerungsgruppen repräsentieren. Farocki bezieht sich auf ein historisches Ereignis, dessen Undarstellbarkeit gleichzeitig eine immense Zahl von Visualisierungen gegenübersteht ­– die Bilder aus Westerbork erweisen sich als wertvolle und einzigartige Überreste eines kollektiven Gedächtnisses.

Anders als Farocki bearbeitet Lisl Ponger in Passagen (Österreich 1996) mit privaten Reisefilmen ephemere Aufzeichnungen, die üblicherweise kaum in ein kollektives Gedächtnis überführt werden. Durch die Kontrastierung mit Erzählungen von Flucht- und Exilerfahrungen auf der Tonspur wandeln sich die ursprünglich in einem privaten Kreis der Identitätsstiftung dienenden Bilder ins Imaginäre und Unheimliche. Während Farocki darauf besteht – darauf bestehen muss –, dass die Aufnahmen aus Westerbork etwas vormalig Existierendes belegen, verweist Ponger auf die Undarstellbarkeit traumatischer Ereignisse, aber auch auf historische Vernetzungen und Zusammenhänge, die erst in der von ihr erarbeiteten Kontextualisierung sichtbar werden.

Bill Morrison vereint in The Film of Her (USA 1997) diverse Filmfragmente, die unterschiedlichen historischen und filmischen Kontexten entstammen. Spielerisch bedient er sich fiktionaler Erzählstrategien, deren Konstruktion durch die Montage dem Zuschauer konstant bewusst bleibt. Hier rückt das Verhältnis zwischen Betrachter und Film ins Blickfeld und damit die subjektive Aufladung des Bildes durch den Betrachter. Dies kumuliert im Bruchstück eines frühen pornografischen Films, dem film of her. Mit einer beliebig fiktionale und dokumentarische Elemente verschränkenden Erzählung thematisiert Morrison Herstellungs-, Funktions- und Überlieferungsweisen von Film und erzählt damit eine Geschichte des Films.

Inhaltlich greifen die Filme mit Erinnerung und Geschichtsschreibung Thematiken auf, die Analogien zu ihren eigenen medialen Strukturen aufweisen. Wie der Film ist auch die Erinnerung gekennzeichnet durch das nur partiell Verfügbare – was anwesend ist, ist gleichzeitig auch abwesend. In einer melancholischen Arbeit an der Geschichte wird die Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen der Erinnerung in die formale Gestaltung der Filme übertragen. Ein als fragmentarisch und vermittelt begriffenes Geschichtsbild manifestiert sich im Verzicht auf eine kontinuierliche Repräsentation von Geschichte(n) und mit der Aufnahme von elliptischen und zirkulären Strukturen der Erinnerung wie Lücken, Wiederholungen oder assoziativen Verkettungen.

 

Oberflächenarbeit

Bei der Auswahl des Materials greifen die Filmemachenden auf überlieferte Filme oder Filmfragmente zurück. Sie fragen danach, was in diesen Beständen gespeichert ist und transformieren das Material anhand einer Neukontextualisierung. In einer Lektüre der Sichtbarmachung treten diskursive Aufladungen der Bilder, aber auch ihr spezifischer Modus des Konservierens und Ausstellens hervor. Die gefundenen Filme dienen nicht der Illustration eines bestimmten Sachverhalts, sondern sie selbst sind in ihrem Entstehungskontext, ihrer Rezeption und ihrer Erscheinungsweise Gegenstand der Betrachtung. Filmische Dokumente oder Quellen sind Orte der Speicherung, die jedoch nicht unvermittelt Geschichte oder Erinnerung konservieren, um einer Gegenwart die Vergangenheit zugänglich zu machen. Das Bewusstsein, das Erinnerung und Geschichte nur medial zugänglich und durch die Konstituenten der aufzeichnenden Medien bestimmt sind, ist für die hier betrachteten Bearbeitungen fundamental. Da Film auf fotografischer Abbildung beruht, gilt, was Roland Barthes in folgenden Worten festgehalten hat: Es „lässt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, dass die Sache dagewesen ist“ (Barthes 1989: 86; Hervorhebung i.O.). In den Bildern scheint Zeit gespeichert zu sein, etwas Abwesendes und nicht mehr Greifbares ist visuell fixiert. Es ist ihr Haften am Referenten, das dazu verführt, fotografische Abbildungen zur Authentisierung und als Wahrheitsbelege einzusetzen. Barthes jedoch überlässt sich bei der Betrachtung des Bildes der „Einbildung“ (ebd. 85). Die Fotografie ist nicht Erinnerung, sondern sie blockiert diese, da sie den Blick mit Gewalt ausfüllt (vgl. ebd. 102). Bilder sind Resultate und Spuren des Momentes ihrer Erzeugung. Sie sind aber durch die Konstituenten des jeweiligen Mediums konstruiert und modelliert und entfalten darüber hinaus eine Wirkung, die Macht über den Betrachter ausübt, welcher wiederum Eigenes in das Bild zurückprojiziert. Filmbilder sind Schnittflächen, in denen Momente ‚vor’ und ‚nach’ deren Erstellung kumulieren. Die Bedeutungserzeugung und das Potential der Bilder als Erinnerungsbilder zu fungieren erfolgt auf verschiedenen Ebenen und in diversen Schichtungen, die wechselwirkend ineinandergreifen, sich überlagern und verdichten.

Trotz des Wissens um die Mangelhaftigkeit und die Unmöglichkeit der Repräsentation versuchen die hier diskutierten Filme in komplexen Verknüpfungen von dokumentarischen und fiktionalen Formen doch „Augenblicke der Wahrheit“ zu artikulieren.1 Die Fragen, die hier an Abbildungen gestellt werden, zielen nicht auf eine bestimmte Aussage einer Ereignisgeschichte. Vielmehr fragen sie nach den Bildern selbst. In der Oberfläche der Bilder, im Vorhandenen wird nach Wissen und Erkenntnis gesucht. Diese Oberfläche ist Ausgangs- und Angelpunkt der Auseinandersetzung. Anhand der filmischen Realität wird sichtbar gemacht, was im Bild selbst unsichtbar bleibt.2 Denn hier ist nicht nur das Abgebildete festgehalten, sondern es werden auch ideologische und diskursive Positionen und Praktiken sichtbar ­– Einschreibungen der „nichtfilmischen Realität“, der „vorfilmischen Realität“ und der „Realität Film“. Weiter unterliegen Filme in der nachfilmischen Realität einem sich wiederholenden historisch und kulturell wandelbaren Prozess der Wahrnehmung, Wirkung und Rezeption.3 Mit diesen mehrfachen Realitätsbezügen, die Bedeutungen und Aussagen mitbestimmen, zeigen sich Filmbilder zutiefst verstrickt in Zusammenhänge der Produktion, Distribution und Rezeption.

Die Lektüre der Filmemachenden stellt selbst eine rezeptionsgeschichtliche Deutung dar. Hinsichtlich dieser Perspektivierung gewinnt die Bildmontage und die Bild-/Tonmontage an Wichtigkeit. Das Bild selbst ist nicht in sich Erinnerung oder Geschichte. Von außen wird ihm eine Bedeutung zugeschrieben und in der neuen Konstellation werden Aussagen generiert. Die verwendeten Filme stehen in bestimmten historischen Kontexten, die ihre vormaligen Aussagen bestimmten. Aus diesen Kontexten sind die Bilder nicht mehr zu lösen, wie eine weitere Schicht legt sich die neue Bearbeitung über frühere. In der Transformation in eine neue Konstellation werden diese nicht einfach überschrieben, sondern aufgenommen, sichtbar gemacht und verändert. Die Aktualisierung ist eine Lektüre von vielen, sie erfolgt aus einer bestimmten diskursiven Perspektive und impliziert eine Machtposition, die die Aktualisierung erst ermöglicht.

 

Spur und Ereignis

In der Diskussion der Filme zeigt sich eine Entwicklung weg vom Insistieren auf die Anwesenheit einer ausserfilmischen Referenz hin zu einer imaginären Aufladung des Bildes durch einen Betrachter. Dies dient dem thematischen Aufbau und der vertiefenden Betrachtung der einzelnen Aspekte, soll jedoch keine Ausschliesslichkeit suggerieren: Die Existenz zwischen „Spur“ und „Ereignis“ ist für alle Filme konstitutiv. Ausgehend von bild- und medientheoretischen Ausführungen von Barthes (1989, 1990) und Ruchatz (2004) verwende ich die beiden Begriffe der Spur und des Ereignisses in einem übertragenen Sinn und problematisiere damit ihre ursprüngliche Bedeutung. Filmische Abbildungen sind keine partiellen Rückstände historischer Ereignisse, die anhand von scheinbar authentischen Spuren rekonstruiert werden können. Die Fotografie als Beleg von etwas, was tatsächlich einmal da war, wird von Barthes in Die helle Kammer (1989) zwar als bestimmende phänomenologische Eigenschaft hervorgehoben, jedoch gleichzeitig problematisiert, wenn er den Fokus auf den Moment der Lektüre und auf die subjektive Aufladung der Bilder verlagert. Fotografische Abbildungen erscheinen als Spuren, da sie indexikalisch etwas anzeigen, was sie gleichzeitig ikonisch abbilden (vgl. Ruchatz 2004: 90). Ein solches Verständnis von Film als Spur relativiert sich sogleich wieder, da die Lesbarkeit blockiert bleibt. Die Bedeutung solcher Spuren werden ihnen von Außen zugeschrieben, sie sind keine unschuldigen Überbleibsel einer Vergangenheit, sondern werden aus „den Interessen und mit den Verfahren der jeweils interpretierenden Gegenwart erst erzeugt“ (ebd. 90). Fotografische Abbildungen als Spuren führen, so wird in den vorliegenden Bearbeitungen deutlich, nicht direkt zu einer vormalig existierenden ausserfilmischen Referenz. Vielmehr verweisen sie auf ihre Form und ihre Entstehungsprozesse sowie auf die diskursiven Verflechtungen, in denen sie existieren. Die Bilder sind Spuren von Aufzeichnungen und historisch und kulturell bestimmten Ästhetiken. Die Spur zeigt nicht nur eine vergangene Präsenz an, sondern sie ist selbst Präsenz. Auf diese Präsenz fokussiert der Begriff des Ereignisses. Dieser bezeichnet hier nicht länger ein bestimmtes, datier- und beschreibbares Geschehen einer Ereignisgeschichte, sondern kritisiert ein solch positivistisches Geschichtsbild. Bilder selbst sind mediale Ereignisse. Sie sind immer mehr als nur Quellen oder Belege, Splitter von etwas Geschehenem. In einer eigenständigen Existenz treten sie in neuen Zusammenhängen auf, als einmaliges Ereignis ihrer Aktualisierung in einer gewissen Konstellation. Wie Barthes aufgezeigt hat, gewinnt der Moment des Betrachtens an Bedeutung. In einem wechselseitigen Verhältnis perspektivieren Betrachter Bilder hinsichtlich ihrer Erinnerungspotentiale, wobei sowohl vormalige als auch gegenwärtige Einschreibungen in die Bilder wirksam werden. Neben die Nichtzugänglichkeit des Abgebildeten tritt die überwältigende Präsenz des Vorliegenden, das phantasmatisch überwältigt, aber nie greifbar wird. Im Film wird dies im Vergleich zur Fotografie noch verstärkt, da die rasche Abfolge und ihre Belichtung in der Projektion den Bildern Bewegung verleiht.

 

Vorgehen und Aufbau

Im Folgenden untersuche ich also Praktiken der Erstellung, des Einsatzes und der Deutung von filmischen Bildern und begreife diese als bedeutend für die Bildung eines gesellschaftlichen Wahrnehmens, Denkens und Erinnerns. Für die Analyse beziehe ich mich auf einführend dargestellte kultur-, bild- und medienwissenschaftliche Positionen. Kapitel 2.1 verortet die materielle Aneignung von Bildern innerhalb verschiedener filmhistorischer Traditionen und gibt einen knappen Überblick zum Forschungsstand. Einer dokumentarischen Strategie, die die Bilder als eine bestimmte historische Aussage liest, steht eine Vielzahl experimenteller und essayistischer Herangehensweise gegenüber, die auf selbstreflexive Weise das Mediale der Bilder selbst thematisiert.4 Dabei umfasst kein Gattungsbegriff sämtliche Praktiken, vielmehr muss die Arbeit mit gefundenen Bildern immer wieder neu auf ihre spezifischen Bezüge und Erkenntnisinteressen hin untersucht werden.

Die von Michel Foucault hinsichtlich seiner Kritik an der traditionellen Geschichtsschreibung in Archäologie des Wissens (1981, französisch 1969) explizierten Begriffe des „Monuments“ und des „Dokuments“ dienen als Instrumentarium, um die hier untersuchten diskursiven Strategien der Sekundärbearbeitung zu beschreiben. Als Kategorien der Betrachtung schärfen diese den Blick für die Modi der historiografischen Lesbarmachung von Quellen, wobei Foucault ein Verständnis derselben als direkte Spuren einer Vergangenheit verwirft und den Fokus auf ihre spezifischen Erscheinungs- und Existenzweisen verlagert. Anschließend vertiefe ich theoretische Aspekte der Montage, die als wichtigster Parameter der Bedeutungserzeugung fungiert. Ich greife auf von Christina Scherer (2001: 72-82) in Bezug auf essayistische Strategien dargelegte Konzeptionen der Montage zurück, die sich unter anderem auf Sergej Eisenstein und Walter Benjamin beziehen.

Wie Hayden White (1994: 123-157) aufgezeigt hat, lässt sich Geschichtsschreibung nicht länger als eine objektive Kategorie betrachten. Die historiografische Darstellung ist subjektiv geprägt und nimmt fiktionale Strukturen auf. Eine textbasierte Geschichtsschreibung ergänzend hat vor allem die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, der sich Kapitel 2.2 widmet, die Bedeutung anderer Medien und Formen der Erinnerung und des Gedächtnisses hervorgehoben. Allen voran haben Aleida und Jan Assmann Formen und Funktionsweisen des kulturellen Gedächtnisses stark gemacht (Aleida Assmann 2003, 2004; Jan Assmann 1988, 1998). Diese Autoren fragen danach, inwiefern kulturelle Objektivationen bestimmte Erinnerungsbestände perspektivieren und Gedächtnisbestände überliefern, die die Identität einer Gesellschaft konstituieren. Neben einer politisch und historiografisch ausgerichteten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wurden nun etwa auch individuelle und subjektive Erinnerungen Teil einer wissenschaftlichen Geschichtsforschung. Die Aufweichung vermeintlicher Gegensätze macht deutlich, dass diese verschiedenen Perspektivierungen nicht eindeutig zu trennen sind, vielmehr überlagern sie sich und greifen ineinander über. Ein gedächtnistheoretischer Zugriff ermöglicht eine Beschreibung von Film als Medium eines kollektiven Gedächtnisses, dessen sozialkonstruktivistischen Bedeutungen aus der Perspektive einer bestimmten Gegenwart erzeugt werden. Damit rücken Fragen der Speicherung und Aktualisierung von Gedächtnisbeständen in den Fokus, die gerade hier relevant werden, denn die Lektüre der FilmemacherInnen stellt einen Rückgriff auf solche Bestände und eine Aktualisierung derselben dar.

Die medientheoretischen Annahmen, auf die das kollektive Gedächtnis fusst, wurden in an die Ausführungen von Assmann und Assmann anknüpfenden Aufsätzen vertieft. Bezüglich fotografischer Abbildungen und deren Gedächtnispotential beziehe ich mich hauptsächlich auf den Aufsatz von Jens Ruchatz (2004). Dieser bestimmt unter anderem den Begriff der Spur als möglicher medialer Gedächtnisbezug, wobei er, wie bereits erwähnt wurde, eine indexikalische Lektüre von Fotografien problematisiert. Um das Moment der Lektüre eingehender zu betrachten, führe ich am Schluss des Theorieteils Barthes bildtheoretische Überlegungen bezüglich Film und Fotografie eingehender aus (vgl. Barthes 1989, 1990).

In Kapitel 3 zu Aufschub, 4 zu Passagen und 5 zu The Film of Her analysiere ich die einzelnen Filme, dabei steht die Betrachtung der Montage und der Bild-/Tonmontage im Vordergrund.5 Die beobachteten Strategien setzen sich mit kodifizierten Ausdrucksmöglichkeiten auseinander und skizzieren gleichzeitig ein bestimmtes Verständnis von Medium und Wirklichkeit sowie deren Wechselverhältnissen. Untersucht wird mit den Foucaultschen Begriffen des Dokuments und des Monuments auch die Referenz der Bilder.

Die Montage verändert auch den Ablauf der Zeit. Zeitebenen können miteinander verknüpft werden, sie werden verdichtet, gedehnt, wiederholt. Dies korrespondiert mit zeitlichen Erinnerungsvorgängen, entwirft aber auch ein Verständnis von Geschichte, das diese als nicht linear, sondern zyklisch begreift.

Bezüge zu anderen Werken werden dort hergestellt – vor allem für Aufschub und Passagen –, wo damit weitere Bedeutungsebenen aufgezeigt werden können. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus den Filmen selbst, in denen durch die Aufnahme von bestehendem Material Verknüpfungen entstehen, die die Filmbilder in einem Geflecht verschiedener Praktiken, Repräsentationsformen und Diskurse einordnen. Zentral ist auch der ursprüngliche Kontext, der die ästhetische Bearbeitung bestimmt. Implikationen ihrer Herkunft und ihrer fortlaufenden Aktualisierung werden in der Bearbeitung verdeutlicht. Kapitel 6 führt abschliessend die einzelnen Betrachtungen zusammen und setzt sie nochmals zu den Begriffen der Spur und des Ereignisses in Bezug.

2 Erinnerung, Geschichte und das Medium Film

2.1 Found-Footage – historische Verortung und Bearbeitungsstrategien

Bereits Jay Leyda verweist in einer der ersten Studien zum Kompilationsfilm Film beget Films (1967; engl. 1964) auf das breite Spektrum von Quellen, Bearbeitungsstrategien und Bedeutungserzeugungen in den von ihm untersuchten Filmen.6 Gefundene oder in Archiven aufgespürte Bilder können in Dokumentarfilmen scheinbar geschichtliche Ereignisse belegen, sie werden in Spielfilme montiert, etwa in JFK (Oliver Stone, USA 1991) und Hiroshima mon Amour (Alain Resnais, Frankreich 1960), oder im Avantgardefilm in ihre einzelnen Bewegungsmomente zerlegt, wie in Martin Arnolds Passage à l’acte (Österreich 1993). Die Aneignung von nicht selbst hergestellten Bildern, die innerhalb eines Werks verwendet oder zu einem eigenen Werk verarbeitet werden, stellt also weniger eine bestimmte Gattung als eine Praxis des Filmemachens dar. Diese hat historisch unterschiedlichste Ausprägungen erfahren und sich mit der digitalen Bildproduktion und -distribution sowie neuen hybriden Gattungen wie dem Essayfilm weiter diversifiziert und ausgebreitet.

Gewisse Strategien der Bearbeitung haben besondere Bedeutung gewonnen. In der Tradition des Kompilationsfilms – ein frühes Beispiel sind etwa die Filme von Esfir Schub – wird Archivmaterial innerhalb einer dokumentarischen Erzählung geordnet um ein nichtfilmisches Ereignis zu repräsentieren. In Abgrenzung dazu bezeichnet der vor allem auf amerikanische und österreichische Traditionen bezugnehmende Begriff Found-Footage eine selbstreflexive Modalität der Sekundärbearbeitung. Diese nimmt über die Neudeutung eines bestimmten Ereignisses oder Sachverhalts hinaus das Bild selbst sowie dessen kulturtheoretische und geschichtsphilosophische Implikationen in den Blick. Während der Kompilationsfilm das Material nicht grundsätzlich hinterfragt, fokussiert der Found-Footage-Film Funktion und Wesen der Bilder ebenso wie die Glaubenssysteme und Wahrnehmungsvorgänge, die diese hervorgebracht haben (vgl. Sandusky 1991: 15).

Die kritische Befragung von Formen und Wirkungsweisen der filmischen Repräsentation erscheint als logische Konsequenz einer immer stärker medial geprägten Wirklichkeit und manifestiert sich in einer Arbeit an den Bildern selbst. Ausgehend von den USA, wo mehr filmisches Material zirkuliert als irgendwo sonst, beobachten Cecilia Hausheer und Christoph Settele (vgl. 1992: 4) eine wachsende Bedeutung von Found-Footage seit den 1980er Jahren.7 Die Montage und die Bild-/Tonmontage sind grundlegende Prinzipien einer Mehrzahl der Strategien – auch des Kompilationfilms –, denn erst sie ermöglichen die Neuarrangierung des Materials. Ansonsten sind alle möglichen filmischen Bearbeitungen denkbar: über die Zeitlupe zum Loop und der Wiederholung, vom Stillstand und der Fixierung des Bildes bis zur Bearbeitung des Filmstreifens selbst durch Zerkratzen, Verfärben oder Bleichen.

Die Literatur zu diesem ästhetischen Verfahren der Transformation und Umdeutung von fremden Bildern ist noch immer relativ schmal. Der von Hausheer und Settele herausgegebene Sammelband Found Footage Film (1992) gehört neben den Aufsätzen im Sonderheft der österreichischen Zeitschrift Blimp Nr. 16, Found Footage. Filme aus gefundenem Material (1991) zu den Standardwerken im deutschsprachigen Raum. Diese Publikationen – beide anlässlich einer Retrospektive von Found-Footage-Filmen erschienen – zeigen die Vielfalt von Bearbeitungsmöglichkeiten und theoretischen Zugängen auf und lassen Filmemacher selbst zu Wort kommen, sowohl in persönlichen Statements über ihre Arbeit als auch in theoretischen Beiträgen.8 Jüngere Publikationen, so etwa Gabriele Jutz in Cinéma brut. Eine alternative Genealogie der Filmavantgarde (2010), verorten den Found-Footage-Film in seinen kunsthistorischen Kontexten und positionieren ihn als eine zentrale Richtung des Avantgardefilms. In ihrer umfassenden Monografie Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst (2009) diskutiert Christa Blümlinger heterogene Aneignungs- und Bearbeitungsstrategien in ihren film- als auch kunsthistorischen Bezügen. Die Autorin weist darauf hin, dass sich eine neue einflussreiche Richtung des Archivkunstfilms dokumentarisch-essayistischen Strategien bedient und an den Schnittstellen von Film und Kunst situiert. Der Sammelband Ortsbestimmungen. Das Dokumentarische zwischen Kino und Kunst (2016) von Eva Hohenberger und Katrin Mundt diskutiert folglich auch Found-Footage-Film, ebenso ein jüngerer Tagungsband mit dem Titel Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität (2011). Mehrere Artikel beschäftigen sich hier mit Harun Farocki. Dessen Werk nimmt innerhalb der an Bedeutung gewonnenen essayistischen Tradition offensichtlich eine hohe Stellung ein.

Keine der verwendeten Begrifflichkeiten deckt dabei das ganze Spektrum der materiellen Aneignung von Bildern ab. Die Bezeichnung Found-Footage nimmt Bezug auf Traditionen des Experimentalfilms und impliziert einen nicht archivwürdigen ephemeren Charakter des Materials, sodass der Filmemacher Nathaniel Dorsky sogar von lost footage spricht (vgl. Zyrd 2002: 114). Oder Bruce Conner: „Ich habe mich all diesen Dingen zugewandt – Dingen, die weggeworfen werden – bei denen wir auf sicher annehmen, dass es sich dabei um nichts Ernsthaftes handelt, nicht um Kunst“ (Conner 1992: 102). Die Arbeit mit Found-Footage ist folglich eine Praxis der Wiederverwertung von Bildern, die ihr Material überwiegend aus dem „Abfall der Massenmedienlandschaft“ bezieht (Zyrd 2002: 114-115). Auch Kirchmann (2006: 497-512) betont, dass sich gerade in diesem Rückgriff auf im künstlerischen Sinne als minderwertig angesehenes Material das spezifische Bild- und Kulturverständnis des Found-Footage-Films artikuliert, ein Verständnis von Film als Kultur und nicht als Kunst.

Eine Reflexion von Film in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung zeichnet auch die in den letzten Jahren dominant gewordene dokumentarisch-essayistische Herangehensweise aus (Elsaesser 2016: 144). Solche Filme wurden von Christa Blümlinger auch als Archivkunstfilme bezeichnet.9 Da das Archiv jedoch die zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter einer bestimmten Denkweise als wertvoll eingestuften Aufzeichnungen von nicht wertvollen trennt, scheint dieser Begriff das den Found-Footage-Film konstituierende Arbeiten mit übrig gebliebenem, nicht zur Bewahrung aufbereitetem Material zu unterschlagen. Man kann jedoch den Begriff des Archivs auch anders als im herkömmlichen Verständnis als Aufbewahrungsort verstehen. In Bezug auf Foucault beschreibt Blümlinger das Archiv als das System der Formation und Transformation der Aussagen, das dieses anhand von spezifischen Regelmässigkeiten erst erzeugt (Foucault 1981: 186-187). Damit wird nicht die Summe aller Texte oder deren Aufbewahrungsort für zukünftige Gedächtnisse benannt, sondern die „spezifischen Regelmässigkeiten“, die diese Aussagen entstehen lassen: Das „Archiv ist das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht“ (ebd. 187). Aussagen erscheinen nicht zufällig oder aus einer vorgegebenen Logik des Denkens, sondern ihr Erscheinen ist in bestimmte diskursive Felder und Praktiken eingebunden. Das Archiv bestimmt sowohl die Entstehungs- und Erscheinungsmöglichkeiten der Aussagen und das System ihres Funktionierens als auch die Dauer ihres Erscheinens. Der so verstandene Begriff impliziert ein Bewusstsein dafür, dass wir nur innerhalb der Regeln des Archivs sprechen können. Der Archivkunstfilm untersucht folglich die Gesetzmässigkeiten, die eine Aussage erzeugen, und versucht, die materiellen und diskursiven Bedingungen ihres Erscheinens freizulegen.

Hinsichtlich einer immer intensiver werdenden Rotation von Bildern stellt Blümlinger (2004: 340) Kategorisierungen grundsätzlich in Frage.10 Blümlinger nimmt den unterschiedlichen Gebrauch von Archivmaterial oder Found-Footage als Ausgangspunkt, um Definitionsschwierigkeiten aufzuzeigen und Dichotomien aufzubrechen. Sie verortet die Arbeit mit vorgefundenen Bildern innerhalb mehrerer und verschiedener Praktiken, deren Aussageweisen sich überschneiden:

 

In n’existe donc rien de tel que ‚la’ conception canonique du collage ou du (re)montage, si intéressants que soient les débats esthétiques suscités par cette question. ‚Le’ cinéma de remploi, comme genre, n’existe pas davantage. Il existe cependant de multiples histoires du remploi de matériaux trouvés, il existe des affinités et des influences, et il est possible, voire nécessaire, d’analyser et de commenter individuellement les films, les vidéos numériques ou électroniques, les installations qui prennent pour matière des films préexistants (ebd. 343).11

 

Bearbeitungen müssen also individuell betrachtet werden, wobei der Rückgriff auf ein bestimmtes Material wie auch die Bearbeitungsstrategien ein theoretisches Verhältnis zum Medium mitartikulieren: „[C]omment ces films parviennent-ils à penser l’historicité avec les moyens du cinéma? Sur quelle conception de l’histoire, de l’archive, du cinéma, se fondent ces différents modes de remploi?“ (ebd. 348).