Finding Trust & Love - SAMMELBAND - Nicole Rott - E-Book
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Finding Trust & Love - SAMMELBAND E-Book

Nicole Rott

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Beschreibung

Finding Trust: Wie viel Mut braucht es, ein gebrochenes Herz wieder zum Vertrauen zu bewegen? Anna: Mein Leben liegt in Trümmern und ein Strudel aus Selbstmitleid und Verzweiflung droht mich zu verschlingen. Doch um nicht völlig unterzugehen, lasse ich mich von meiner besten Freundin zu einem spontanen Trip nach Norwegen überreden. Wer hätte gedacht, dass mir dort das Schicksal in Gestalt von flauschigen Huskys begegnet? Wäre da nicht das Problem mit ihrem mürrischen Besitzer … Ivar: Seitdem ich erfahren habe, dass meine Frau monatelang eine Affäre mit meinem besten Freund hatte, weiß ich, dass Vertrauen und Liebe nur Illusionen sind. Deshalb gehe ich Menschen grundsätzlich aus dem Weg und lebe seit Jahren mit meinen Huskys in einer Blockhütte im Wald. Sie sind die einzigen, die es schaffen, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Bis sie auftaucht … ************************************************ Finding Trust ist ein Strangers-to-Lovers Liebesroman mit Happy-End-Garantie und spielt in Norwegen. Ein Must-Read für alle Hundeliebhaber, Huskyfans und für alle, die diese Tropes lieben: grumpy & sunshine small town romance age gap spicy romance fateful encounter ************************************************ Finding Love: Wer die Liebe als Spiel betrachtet, muss damit rechnen, sein Herz zu verlieren. Nelly: Nach zwei langen Monaten besuche ich endlich wieder meine Freundin in Norwegen, doch in meinem Kopf ist nur dieser eine Kuss. Dieser mysteriöse Snowboarder: Black Maverick. Obwohl ich nichts über ihn weiß, werde ich alles tun, um ihn zu finden. Nur um meine Neugier zu stillen ... nichts weiter. Marius: Als ich erfahre, dass Nelly wieder nach Geilo zurückkommt, schlägt mein Herz augenblicklich höher. Wir haben uns geküsst, doch sie weiß nicht, dass ich ihr schwarzer Ritter bin. Und ich weiß jetzt schon, dass es ein Spaß werden wird, mit ihr Spielchen zu spielen. Dumm nur, dass der Einsatz mein Herz ist. ************************************************ Teil 2 der FINDING-Reihe 'Finding Love' ist ein humorvoller Liebesroman mit Happy-End-Garantie und spielt in Norwegen. Die Vorgeschichte von Nelly und Marius findet ihr im ersten Teil: 'Finding Trust'. Ein Must-Read für alle, die diese Tropes lieben: Small Town Romance Snowboarder Spicy Romance Fateful Encounter Second Chance Humor Starke Protagonistin

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Finding Trust

Nicole Rott

Finding Trust

Ivar & Anna

Band 1

Roman

Impressum

COPYRIGHT © 2024 by Nicole Rott

Originalausgabe 11/2024

ISBN: 978-3-9505596-1-3

Coverdesign und Umschlaggestaltung

Florin Sayer-Gabor - www.100covers4you.com

Lektorat

Alina Schunk – Lektorat Literally

Korrektorat

Michael Rott

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung von Nicole Rott.

Widmung

Das hier ist für alle, die eine Schwäche für Fellnasen haben.

Und für grummelige Männer …

Klappentext

Wie viel Mut braucht es, ein gebrochenes Herz wieder zum Vertrauen zu bewegen?

Anna: Mein Leben liegt in Trümmern und ein Strudel aus Selbstmitleid und Verzweiflung droht mich zu verschlingen. Doch um nicht völlig unterzugehen, lasse ich mich von meiner besten Freundin zu einem spontanen Trip nach Norwegen überreden. Wer hätte gedacht, dass mir dort das Schicksal in Gestalt von flauschigen Huskys begegnet? Wäre da nicht das Problem mit ihrem mürrischen Besitzer …

Ivar: Seitdem ich erfahren habe, dass meine Frau monatelang eine Affäre mit meinem besten Freund hatte, weiß ich, dass Vertrauen und Liebe nur Illusionen sind. Deshalb gehe ich Menschen grundsätzlich aus dem Weg und lebe seit Jahren mit meinen Huskys in einer Blockhütte im Wald. Sie sind die einzigen, die es schaffen, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Bis sie auftaucht …

Kapitel 1

"Es reicht mir jetzt! Ich mache das nicht länger mit!" Nelly stürmt wie ein wildgewordener Tornado in mein Zimmer und reißt die Vorhänge auf. Das grelle Sonnenlicht flutet herein und trifft mich wie ein Laserstrahl. Selbst mit geschlossenen Augen schmerzt es. Ich stöhne in mein Kopfkissen und wünsche ihr im Moment wirklich nichts Nettes. Klar, sie ist meine beste Freundin und ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie mich seit zwei Wochen bei sich übernachten lässt, aber dieser morgendliche Überfall ist wirklich nicht notwendig. 

„Lass mich in Ruhe“, murre ich. Meine Stimme ist vom Kissen gedämpft. „Ich bin müde.“

„Das ist mir egal!“, faucht sie zurück. "Aufstehen!" Plötzlich zieht sie mir kurzerhand die Decke vom Körper.

"Hey!" protestiere ich, aber es ist bereits zu spät. Fröstelnd rolle ich mich wie ein Embryo auf der Matratze zusammen, unfähig, mich der Realität zu stellen, die unbarmherzig an meine Tür klopft. Oder besser gesagt: Unfähig mich meiner besten Freundin zu stellen, die ohne Klopfen ins Schlafzimmer stürmt.

"Zwei Wochen, Anna! Seit zwei Wochen liegst du hier nur rum und bemitleidest dich selbst. Wie lange soll das noch so weitergehen? Du musst endlich aufstehen und dein Leben in den Griff bekommen. Der Typ ist ein mieses, untreues Arschloch. Vergiss ihn einfach und schau wieder nach vorne. Er ist es nicht wert, dass du in deinem eigenen Selbstmitleid ertrinkst und elendig zugrunde gehst."

Ich rühre mich nicht. Antworte nicht. An ihrer Stelle würde ich wahrscheinlich genau dasselbe sagen. Das macht meine Situation aber nicht weniger beschissen. Jedes Mal, wenn ich an Richie denke, zieht es mir den Magen zusammen und ich sehe dasselbe Bild vor mir: Sein muskulöser Rücken, sein Knackarsch und der Rhythmus, in dem sein Körper dieses verdammte Flittchen vögelt. Ich will mir die Augen mit Desinfektionsmittel auswaschen. Und mein Gehirn, um diese Bilder für immer aus meinem Kopf zu löschen. Wie kann man nur so blöd und naiv sein und sich in einem Menschen so sehr täuschen?

Nelly setzt sich neben mich aufs Bett. Ihre Hand ruht warm und beruhigend auf meinem Rücken, während sie mit ruhiger Stimme weiterspricht. "Ich sage dir, was du jetzt tun wirst, Süße. Du stehst auf, machst dich fertig, schminkst dich und ziehst dir etwas Schönes an. Dann fahren wir ins Einkaufszentrum und genießen den Tag. Du musst dieses Zimmer endlich wieder verlassen. Und dringend mal durchlüften. Es müffelt hier. Und du stinkst genauso. Also: Auf, auf, unter die Dusche mit dir!"

Ich kringle mich noch ein wenig weiter zusammen. Wenn ich mich ganz klein mache, sieht sie mich vielleicht nicht mehr und geht wieder. Aber Nelly wäre nicht Nelly, wenn sie sich so leicht abschütteln ließe.

"Du hast fünf Minuten. Wenn du dann immer noch im Bett liegst, komme ich mit einem Eimer Wasser wieder!"

Ich höre die Tür zuschlagen und kann mich endlich wieder ein wenig entspannen. Fünf Minuten. Nelly ist verrückt genug, um ihre Drohung durchzuziehen, also raffe ich mich auf und starre in den Schrankspiegel gegenüber. Erbärmlich. Sah ich immer schon so scheiße aus? Kein Wunder, dass Richie sich seine hübsche Kollegin angelacht hat. Sie sieht aus wie ein Victoria's-Secret-Engel und ich wie ein zerzauster Hobbit.

Ich schüttle meinen Kopf und verdränge die Bilder, die wieder einmal vor meinem inneren Auge auftauchen. Zwei Wochen ist es jetzt her. An dem Tag kam ich früher von der Arbeit nach Hause, weil ich spontan beschlossen hatte, mir einen Nachmittag frei zu nehmen und meinen liebenswerten Freund im Homeoffice mit einem leckeren Mittagessen zu überraschen. Wer hätte denn wissen können, dass er sich das Homeoffice mit seiner Kollegin teilt?

Ich sehe sie noch immer vor mir, wie sie mich überheblich angrinste, während ich schockiert im Schlafzimmer stand und meinen Blick nicht von den beiden abwenden konnte. In unserem Schlafzimmer wohlgemerkt. In unserem Bett. Ich war so perplex, dass ich die Tüten mit dem chinesischen Essen fallen ließ und nach meiner Schockstarre einfach davon gestürmt bin. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, hätte ich ihr die heiße Peking-Suppe über ihr grinsendes Gesicht geschüttet. Miststück. Alle beide!

Seit diesem Moment lebe ich in einem Dunst aus Schmerz und Verrat. Es fühlt sich so an, als wäre ich in tausend Stücke zerbrochen und schaffe es nicht mehr, mich wieder zusammenzusetzen. Egal wie sehr ich es versuche. Auch Nelly hat sich alle Mühe gegeben und alles getan, um mich wieder auf Kurs zu bringen, aber nichts scheint zu helfen. Kein Eis vor dem Fernseher. Kein heißes Bad mit ätherischen Ölen. Kein Spieleabend. Kein gar nichts. Dieses Gefühl des Verrats ist immer und überall allgegenwärtig. 

Immer wieder erwische ich mich dabei, wie meine Gedanken abdriften und ich mich in Erinnerungen an bessere Zeiten verliere. Jede dieser Erinnerung ist ein weiterer Stich ins Herz. Ich würde gerne wütend sein, weil ich denke, dass Wut mir helfen würde, mit den Geschehnissen klarzukommen oder die Sache zu verarbeiten. Stattdessen empfinde ich Schuldgefühle, weil ich es nicht kommen sah. Weil ich ihm nicht das geben konnte, was er gebraucht hat. Weil ich nicht gut genug war. Das ist doch verrückt, oder?

Ich schaue auf die Uhr: Noch zwei Minuten, bevor Nelly wieder hereinplatzt und mich anschreit, endlich meinen Kopf aus dem Arsch zu ziehen. Ich liebe sie und sie ist die beste Freundin, die man sich wünschen kann, aber sie kann manchmal auch so eine verdammte Nervensäge sein. Auf der anderen Seite verdanke ich es ihr, dass ich nicht auf der Straße schlafen muss. Mum und Dad haben sich ihren Traum erfüllt und sind letztes Jahr nach Hawaii gezogen, um dort ihre Rente zu genießen. Sie haben unser Haus, in dem ich aufgewachsen bin, verkauft und mir von dem Geld eine Starthilfe für eine Wohnung und eine neue Einrichtung gegeben. Ironischerweise wohnt jetzt mein Ex in dieser Wohnung und vögelt seine Kollegin … 

Ich muss ihn noch irgendwie dazu bringen, mir eine Ablöse und die Kaution zu überweisen. Die verseuchte Wohnung kann er behalten. Ich habe ihm schon zweimal geschrieben, dass ich ihm die Wohnung überschreibe, sobald er bereit ist, mir alles zu überweisen. Beide Male hat er die Nachricht gelesen und sie gekonnt ignoriert. Arschloch. Ich verlange nicht viel, nur den Genossenschaftsbeitrag, den meine Eltern damals bezahlt haben und einen minimalen Anteil der Einrichtung und der neuen Küche. 

Wahrscheinlich hofft er, dass ich aufgebe und auf das Geld verzichte. Das würde ich auch gerne, wenn das bedeutet, dass ich ihn endgültig aus meinem Leben streichen kann, aber ohne das Geld kann ich mir nichts Neues aufbauen und ich kann schließlich nicht ewig bei Nelly wohnen. Natürlich wäre es auch eine Option, einfach zur Wohnung zu fahren und dort auf ihn zu warten, um ihn zur Rede zu stellen, aber dafür fehlt mir eindeutig der Mumm. Er würde mich nur zur Schnecke machen und mir so lange verbal Dinge an den Kopf werfen, bis ich heulend davonlaufe. Seit seinem ‘Showdown’ war ich nur ein einziges Mal wieder in der Wohnung, und da hatte ich Nelly als Verstärkung im Schlepptau. Richie war zum Glück nicht da, sodass ich mir in Ruhe ein paar meiner Sachen holen konnte. Keine zehn Pferde bringen mich wieder dorthin zurück. Bei jedem Foto an der Wand, jedem Mitbringsel aus dem Urlaub, jedem Magneten am Kühlschrank und jeder noch so kleinen Erinnerung ist mein Herz in noch kleinere Einzelteile zersprungen – falls das überhaupt noch möglich war.

Jedenfalls wünsche ich mir gerade, dass meine Eltern greifbar wären und Österreich nicht verlassen hätten. Natürlich gönne ich ihnen ihr Glück und mit fünfundzwanzig Jahren brauche ich bestimmt keinen Babysitter mehr, aber einen Rückzugsort und eine Familie zu haben, die immer für einen da ist, ist einfach unbezahlbar. Und mit ‘da sein’ meine ich physisch und nicht per Telefon oder WhatsApp. Außer Nelly und Richie hatte ich seit ihrem Umzug niemanden, auf den ich mich verlassen konnte. Jetzt bleibt nur noch Nelly …

~

Mit einem tiefen Seufzer stehe ich auf und begebe mich ins Badezimmer. Meine Knochen sind schwer wie Blei und ich fühle mich, als hätte ich eine schwere Grippe gehabt. Wie es scheint, wird der Druck in meiner Brust nie wieder verschwinden. Es ist, als ob mein Herz in einem Eisblock gefangen wäre, obwohl meine Seele in Flammen steht.

Oje, mir wird plötzlich schwarz vor Augen und ich spüre, wie sich mein Kreislauf von mir verabschiedet. Nicht einmal der will bei mir bleiben. Ich weiß, ich weiß: Dieser Gedanke ist einfach nur armselig. 

Vorsichtig setze ich mich auf den Badewannenrand, um zu verhindern, dass ich umkippe und mir den Kopf am Waschbecken stoße. Wobei ich gerade nicht sicher bin, ob mich das in meiner derzeitigen Situation stören würde. Nachdem mein Kreislauf aufgrund von schlechtem Gewissen – etwas, das Richie anscheinend nicht besitzt – beschlossen hat, bei mir zu bleiben, stehe ich langsam auf und werfe einen Blick in den Spiegel. Meine braunen Augen haben ihren Glanz verloren. Unter ihnen sind so dicke Augenringe, als hätte ich ein Neugeborenes und wochenlang nicht mehr durchgeschlafen. Ich habe noch immer den Abdruck meines Kissens auf der Wange und meine Haare sehen aus wie ein riesiges, dunkelbraunes Vogelnest. Und ist das getrockneter Speichel an meinem Kinn? 

Resigniert lasse ich den Kopf sinken. Die Leere in mir fühlt sich unendlich an. Und schwarz. Tiefschwarz. Ich bin am Boden. Schlimmer noch: Ich bin unterirdisch und, wie es aussieht, nicht weit von der Hölle entfernt. Mal sehen, ob eine warme Dusche meiner schlechten Stimmung Abhilfe schafft.

~

Nach der ausgiebigen Dusche fühle ich mich schon ein wenig besser. Sauberer. Frischer. Und eine heiße Dusche hat noch einen Vorteil: Alle Glasflächen sind angelaufen, sodass mir der Blick in den Spiegel erspart bleibt. Ich wickle ein Handtuch um meine Haare und schlüpfe in meinen kuscheligen, babyblauen Bademantel. Auf dem Weg in die Wohnküche rieche ich den verführerischen Duft von Kaffee und höre das Brutzeln der Bratpfanne. 

“Pfannkuchen!”, schreie ich euphorisch auf. Mein Magen knurrt vor Vorfreude – ich könnte eindeutig einen Happen vertragen. In den letzten Tagen habe ich kaum Nahrung zu mir genommen und bestimmt schon fünf Kilo abgenommen. Liebeskummer ist die beste Crashdiät – trotzdem nicht zu empfehlen, weil die Nebenwirkungen katastrophal sind. Ich schleiche um die kleine Kücheninsel, wo Nelly fleißig am Werken ist und erkenne ein zufriedenes Grinsen in ihrem Gesicht.

“Na? Auferstanden von den Toten?”, fragt sie mich, ohne ihr Schmunzeln zu verlieren.

“Scheint so, auch wenn ich mich nur teilweise lebendig fühle.” Mein Herz fühlt sich noch immer mehr wie ein Stein an, als wie ein lebenswichtiges Organ eines Homo sapiens. 

Ich will nach einem der lecker duftenden Pfannkuchen greifen, die Nelly auf einem Teller gestapelt hat, als sie mir plötzlich mit dem Pfannenwender auf die Hand schlägt. “Aua! Spinnst du?” Empört streiche ich mir über die brennende Stelle auf meinem Handrücken. Die Frau hat sie doch nicht mehr alle.

“Tisch decken, Hinsetzen. Im Stehen wird nicht gegessen.” Sie ist der beste Mutterersatz, den man sich vorstellen kann – vorausgesetzt, man ist masochistisch veranlagt.

“Du bist ein Unmensch”, werfe ich ihr vor.

“Und du eine Barbarin.”

“Und du eine Sadistin.”

Sie hält den Pfannenwender drohend in die Höhe und funkelt mich an. “Wenn du wieder die alte Anna werden willst, machst du heute, was ich dir sage, verstanden? Wenn du noch länger bei mir wohnen willst, musst du wieder gesellschaftsfähig werden. Dein Selbstmitleidsgehabe hält ja niemand aus.” 

Ich lasse ihre Worte kurz sacken, sehe sie mit einer Mischung aus Ärger und Dankbarkeit an und fange an mir Gedanken darüber zu machen, ob ich Ahornsirup oder Nutella zu meinen Pfannkuchen möchte. Sie hat wieder einmal gewonnen, also beginne ich den Tisch zu decken. 

“Domina …”, flüstere ich am Weg zum Esstisch, der gleich gegenüber der Kücheninsel steht.

“Wie war das, Fräulein?” Ihre Stimme schneidet durch den Raum und hört sich tatsächlich wie die einer Domina an. Nicht, dass ich jemals mit einer gesprochen hätte. Außerdem droht sie mir schon wieder mit dem Pfannenwender in ihrer Hand. Kopfschüttelnd stelle ich zwei Gläser auf den Tisch und falte zwei Servietten in Dreiecke. Die Frau hat eindeutig einen Knall!

~

Nutella war eine hervorragende Wahl. Ich weiß nicht, welche Drogen sie da hinein mischen, aber sie wirken. Ich fühle mich schon viel besser und … lebendiger. Der Energieschub könnte natürlich auch am Zuckerschock liegen. Ist es schlimm, wenn ich mir noch einen sechsten Pfannkuchen gönne? Nee, es ist schließlich Wochenende, da ist alles erlaubt. Cheat Saturday und Cheat Sunday sind meine Lieblingstage. Nicht, dass ich nach einem zweiwöchigen Krankenstand noch den Unterschied zwischen Werktag und Wochenende kennen würde.

Während ich einen weiteren Pfannkuchen in mich hineinschaufle, lese ich meine Mails am Handy. Spam, Werbung, Angebote, ‘Sie haben ein brandneues iPhone gewonnen’, Cecilia GmbH ... Ich stutze. Warum schreibt mir meine Firma eine Mail an meinen privaten Account? Das kann doch nichts Gutes heißen, oder?

Sehr geehrte Frau Striegel,

im Anhang übermitteln wir Ihnen das offizielle Kündigungsschreiben. Dieses wird Ihnen zusätzlich nächste Woche per Einschreiben zugestellt.

Sie sind mit sofortiger Wirkung freigestellt. Ihre persönlichen Dinge werden Ihnen in den nächsten Tagen per Post zugesandt.

Bitte senden Sie uns den Firmenschlüssel unverzüglich per Einschreiben retour.

Mit freundlichen GrüßenMonika TischmannHuman ResourcesCecilia GmbH 

Ich lese die Zeilen immer wieder und versuche, mir einzureden, dass es sich um ein Missverständnis handeln muss. Vielleicht gibt es eine andere Frau Striegel in der Firma – das wäre doch möglich, oder? Aber dann erinnere ich mich wieder an die Gerüchte, dass die Firma aufgrund der wirtschaftlichen Lage Personal abbauen wollte. Ich habe diese Gerüchte zwar gehört, aber in meinem Kopf hatte ich den naiven Gedanken, dass das nur die anderen treffen könnte – doch nicht mich. Aber anscheinend habe ich mich geirrt. Langsam verschwimmt meine Sicht und die Buchstaben verlieren an Schärfe, weil mir Tränen in die Augen steigen, die ich mit aller Kraft zu unterdrücken versuche.

"Alles okay bei dir?", will Nelly wissen und beugt sich über den Tisch, um auf mein Handy sehen zu können.

"Sie haben mich gefeuert", lasse ich sie tonlos wissen und starre daraufhin ins Nirwana. Ein neuer Schwall von Verzweiflung überkommt mich, und obwohl ich dachte, dass ich bereits am Boden bin, spüre ich, wie ich weiter falle. Immer weiter. Es fühlt sich an, als wolle mir das Schicksal einen letzten Schlag versetzen – den Todesstoß. Freund weg. Wohnung weg. Job weg. Alles weg. 

Diese Tatsache trifft mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Welches kranke Spiel wird hier gespielt? Die Striegel Show? Wo sind die versteckten Kameras?

"Sie haben was?" Nelly schnappt sich mein Handy und liest die Nachricht laut vor. Jap! Genauso habe ich auch geschaut. “Diese Wichser!”

"Schon okay, Nelly. Es ist, wie es ist. Ich werde etwas Neues finden. Der Job war sowieso nur Mittel zum Zweck und nicht gerade erfüllend." Ich hoffe, sie kauft mir meine Worte ab. Ich tue es nämlich nicht. Der Job als Redakteurin hatte Potenzial und nach zwei Jahren war ich endlich so weit, dass ich mich nicht mehr beweisen musste und ungestört arbeiten konnte, ohne dass mir ständig jemand über die Schulter gesehen hat. In diesem Moment bereue ich, dass ich so viel gegessen habe, weil ich gerade kotzen möchte. Nicht weinen, Anna!

Ich bemühe mich, Nelly anzulächeln, nehme ihr das Handy ab und lege es mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch.

"Das alles tut mir so leid, Süße. Das hast du echt nicht verdient." Ihre Stimme ist sanft, was nicht zu ihr passt und mir verrät, dass ich jetzt endgültig am Arsch bin. "Aber wir lassen uns das Wochenende nicht vermiesen und machen das Beste draus, okay? Du weißt, du kannst bleiben, so lange du willst und du musst auch keine Miete zahlen, oder so. Ich bin hier und ich werde dich nicht im Stich lassen, hörst du?"

Ich spüre, wie meine Augen glasig werden und der Kloß in meinem Hals immer größer wird. Ich liebe sie. Sie ist so ein Schatz. Ohne sie würde ich …

"Ach, Süße, komm her!" Sie beugt sich von hinten über mich und drückt mich so fest sie kann. Ich lehne meinen Kopf gegen ihren Oberarm und versuche noch kurz, mein Schluchzen zu unterdrücken. Doch dann bricht der Damm, und ich heule wie ein kleines Kind, das gerade erfahren hat, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Und dass das Leben eine Aneinanderreihung grausamer Ereignisse ist, gegen die man nichts tun kann, außer irgendwie versuchen zu überleben …

Kapitel 2

Nelly hält mich weiter fest in ihren Armen, während ich mich ausheule und ihr Pullover von meinen Tränen durchtränkt wird. Es tut gut, all die Verzweiflung und Wut loszulassen und ich spüre, wie ein winziges Stück Last von meinen Schultern fällt. Nach einer Weile lässt sie mich los und ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Nelly reicht mir eine Taschentuchbox, wie in so einem doofen, kitschigen Frauenfilm. 

„Danke“, sage ich schluchzend. „Das ist doch nicht fair. Warum? Warum bin ich für niemanden gut genug?“ Nicht für Richie, nicht für die Firma – sogar meine Eltern sind meilenweit weggezogen …

"Bin ich niemand für dich?“, fragt Nelly gespielt beleidigt. „Du wirst da wieder rauskommen, Süße. Auch wenn es jetzt vielleicht aussichtslos erscheint: Das Leben geht weiter.“ 

Was für ein Scheißspruch … Sie hat gut reden. Immerhin wurde sie noch nie verlassen. Ihr Herz wurde noch nie in tausend Einzelteile zerbrochen. Nelly ist eher der Typ, der Schluss macht, wenn sie einmal jemanden gefunden hat, mit dem sie es länger als ein paar Tage aushält – was durchaus selten vorkommt. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sich ihre Hörner abstoßen muss, bevor sie sich dauerhaft binden möchte. Wie es aussieht, sind ihre Hörner ziemlich lang und stabil.

Ich nicke schwach und auch wenn ich noch nicht daran glauben kann, weiß ich, dass Nelly wahrscheinlich recht hat. Aufgeben ist schließlich keine Option. Irgendwie werde ich einen Weg finden, wieder aufzustehen und neu anzufangen. Wie genau, weiß ich allerdings noch nicht.

“Also? Bereit fürs Shoppen, um auf andere Gedanken zu kommen?”, fragt Nelly voller Tatendrang. “Dort gönnen wir uns ein paar ungesunde Kalorien, beobachten die anderen Shopper in der Mall und kaufen uns etwas Hübsches. Was meinst du? Partnerlook?” Sie wackelt mit ihren Augenbrauen und entlockt mir ein Schmunzeln.

Alles, was ich gerade will, ist mich zu verkriechen und zu vergessen, aber ich weiß, dass das nicht hilft, also nicke ich.

Nellys Gesicht hellt sich auf. “Perfekt! Dann zieh’ dich an und wir fahren sofort los. Du wirst sehen, das wird dir guttun.”

Weil es mir mit einem faustgroßen Knoten im Hals schwerfällt zu sprechen, nicke ich erneut, bevor ich aufstehe, um mich anzuziehen. Während ich meine Sachen suche, merke ich, dass es sich tatsächlich besser anfühlt, einen Plan zu haben, auch wenn es nur ein kleiner Shoppingtrip ist.

Nelly hat recht: Meine Situation wird sich nicht ändern, wenn ich im Selbstmitleid bade, und ein bisschen Ablenkung wird mir sicher guttun.

~

Im Einkaufszentrum angekommen, schlendern wir durch die Mall, holen uns einen Coffee to go und setzen uns auf eines dieser großen, einladenden Sofas, die sie mitten in der Mall aufgestellt haben. Wir beobachten die Leute und den Trubel um uns herum und ich muss zugeben, dass ich mich etwas besser fühle, auch wenn der Schmerz noch tief in mir nagt. 

Plötzlich springt Nelly auf und schreit: “Oh, Süße, ich hab’ die Idee!” Sie packt mich an der Hand, zieht mich hoch und marschiert entschlossen los. Keine Ahnung, was sie vorhat, aber ich bin froh, dass mein Kaffeebecher einen Deckel hat, sonst hätte ich mich jetzt komplett vollgeschüttet. Habe ich schon erwähnt, dass sie einen an der Waffel hat?

Nelly bremst abrupt ab, starrt mich an, als hätte sie gerade das Rezept für die Weltherrschaft entdeckt und wartet auf meine Reaktion. Ich schaue nach oben und lese die leuchtenden grünen Buchstaben, die über dem Shop schweben: Reisebüro.

“Was hast du vor?”, frage ich skeptisch und sehe verwirrt und neugierig über ihre Schulter.

“Wir brauchen einen Tapetenwechsel. Komm mit!” Sie zerrt mich ins Reisebüro und sieht sich um, studiert Flyer und Broschüren sowie die aktuellen Angebote auf einer großen Tafel, während ich mich unsicher im Kreis drehe und nicht so recht weiß, was das werden soll. “Wir buchen eine Reise. Irgendwohin, weit weg von hier. Wir lassen alles hinter uns und verschwinden einfach.”

“Bitte was?” Ist das ihr Ernst?

“Kompletter Reset. Zumindest für ein paar Tage. Das wird dir guttun. Oder hält dich hier noch irgendetwas?”, fragt sie und schaut mich abwartend an.

Außer Nelly hält mich hier nichts mehr und da sie mitkommt, habe ich gerade echt keine Ausrede parat. Ich habe keinen Job mehr und Nelly ist Autorin und Bloggerin, was bedeutet, dass sie arbeiten kann, wann und wo sie will – oder wie sie es nennt: 'Professionelles Rumlungern'. Aber ihr Plan hat einen Haken. 

“Das kann ich mir nicht leisten, Nelly. Die Idee klingt nett, aber solange mich Richie nicht für die Wohnung ausbezahlt hat, sieht es finanziell schlecht aus.”

“Wir buchen etwas Günstiges. Last Minute. Ich zahle mit meiner Kreditkarte und sobald du von Richie das Geld hast, gibst du es mir einfach wieder zurück.”

Das entschlossene Glitzern in ihren Augen macht es mir schwer, ihr Angebot abzulehnen, aber irgendwie fühlt sich das Ganze falsch an. Sie ist nicht schuld an meiner Situation und jetzt soll sie hunderte Euro für eine Reise bezahlen, nur damit es mir besser geht?

“Komm schon, Anna. Ich wette, dass ich mich irgendwo anders auch gut für neue Geschichten inspirieren lassen kann. Das bedeutet neue Bücher und das bedeutet wiederum Umsatz. Also hilfst du mir im Endeffekt beim Geld verdienen und tust mir sogar einen Gefallen.”

Bei ihrem Versuch, die Sache so hinzustellen, dass ich ihr mit dieser Reise helfe und nicht umgekehrt, muss ich schmunzeln. 

Vielleicht ist es genau das, was ich brauche: Eine Flucht. Einen Neustart. Mit Nelly an meiner Seite kann doch eigentlich nichts schiefgehen, oder? Außerdem sind es doch nur ein paar Tage …

“Einverstanden”, sage ich und sie hüpft mir vor Freude fast auf den Schoß.

“Aaaahh, ich bin so aufgeregt. Das wird toll!”

“Und wohin?”, stelle ich die wichtigste aller Fragen.

“Mach die Augen zu”, befiehlt sie. Oje, was wird das jetzt schon wieder? “Und nicht schummeln. Streck deinen Arm aus.” Ich schließe die Augen und strecke meinen Arm nach vorne. In dem Moment nimmt sie meinen Zeigefinger in ihre Hand und biegt alle anderen Finger nach hinten, sodass es so aussieht, als würde ich auf etwas zeigen. “Ich führe dich jetzt zu der großen Landkarte an der Wand und du zeigst mit dem Finger auf unser Reiseziel.”

Ich reiße die Augen auf und sehe sie fragend an. 

“Augen zu!” Ihre Dominastimme lässt mich sofort gehorchen und ich kneife meine Augen augenblicklich wieder zusammen. Dann führt sie mich ein paar Schritte zur Wand. “Los geht’s, Baby. Zeig uns unser Ziel.” Ich lasse meinen Arm kreisen und tippe dann auf die Wand. “Zu lassen!”, befiehlt sie noch einmal streng. Neugierig warte ich auf ihre Reaktion. “Wir sind im Atlantischen Ozean gelandet. Ein feuchter Urlaub klingt zwar nett, aber ich würde sagen, du probierst es noch einmal.” Ich kann ihr Grinsen in ihrer Stimme hören, was mich ebenfalls zum Schmunzeln bringt. Also versuche ich es noch einmal, ein bisschen weiter rechts, und hoffe, dass ich diesmal Festland getroffen habe.

“Land in Sicht! Mach die Augen auf.” Mein Finger zeigt auf Skandinavien. Genauer gesagt: Norwegen.

“Verdammt, ich hätte weiter in den Süden tippen sollen. Weißt du, wie arschkalt es im Februar in Norwegen ist?”

“Tja, ich sag’ nur: Rien ne va plus - nichts geht mehr. Die Sache steht.” Mit diesen Worten setzt sie sich auf einen der freien Stühle gegenüber einer Mitarbeiterin und erklärt ihr, dass wir nächste Woche in Norwegen Urlaub machen wollen. Sie zieht das jetzt echt durch, oder?

~

Nach nur wenigen Minuten unterschreibe ich die Buchungsunterlagen und kann es immer noch nicht glauben. Gestern hatte ich noch Todessehnsucht, heute wurde ich gekündigt und morgen sitze ich im Flieger nach Norwegen. Kann mich mal bitte jemand kneifen? Vielleicht sollte Nelly einmal ein Buch über mein Leben schreiben. Ich sehe die Rezensionen schon vor mir:

Ute S.⭐⭐⭐⭐⭐‘Tolles Buch, aber die Geschichte ist etwas weit hergeholt. So etwas passiert doch nicht im echten Leben.’

Oh doch, liebe Ute S., so etwas passiert tatsächlich.

Noch immer fassungslos und überrumpelt starre ich auf die Dokumente in meiner Hand und mir wird klar, dass wir noch heute unsere Koffer packen müssen. Unser Flug geht bereits morgen früh und ich fühle mich ein wenig überrumpelt. Okay, das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich bin fix und fertig, mein Puls rast und meine Handflächen sind klitschnass. Morgen um diese Uhrzeit sind wir bereits in Norwegen. Also wird es Zeit eine Liste zu schreiben, damit ich nichts vergesse. Eine Tatsache, die mich zu einem Problem führt, das ich in den letzten Tagen erfolgreich verdrängt habe: Die meisten meiner Sachen, wie zum Beispiel die warme Skikleidung, sind noch immer in meiner Wohnung und ich habe echt keinen Bock, jemals wieder dorthin zurückzugehen.

“Können wir noch ein wenig warme Kleidung besorgen?”, frage ich Nelly, die mit einem siegreichen Grinsen den Ausgang des Reisebüros ansteuert.

“Klar. Ich hab’ vorhin gegoogelt: In Geilo hat es derzeit -7°C.”

Geilo … Natürlich hat Nelly den Ort nur wegen seines Namens ausgewählt. Typisch Nelly. Und zugegebenermaßen irgendwie auch witzig. Ja, Ute S., dieser Ort existiert tatsächlich. Allerdings spricht man es als Norweger ‘Jey-lo’ aus. Für Nelly bleibt es schlichtweg: Geilo.

~

Nachdem wir uns noch passende Kleidung besorgt und uns einen Fischburger mit Pommes gegönnt haben, machen wir uns wieder auf den Weg nach Hause. Auf der Autofahrt google ich nach allen möglichen Begriffen, die mit Geilo und Norwegen zu tun haben und mein Herz pocht vor Aufregung. Ich stelle mich mental schon darauf ein, dass ich ab morgen tagelang im Schnee stapfen werde.

Als Nelly zu Hause einparkt, sehe ich sie an und bin unendlich dankbar, eine Freundin wie sie an meiner Seite zu haben. 

“Danke”, sage ich mit stockender Stimme. “Danke, dass du mich zu meinem Glück zwingst.”

“Gerne, Süße. Und denke immer daran: Du hast es verdient, glücklich zu sein. Vergiss das niemals! Wenn ich zu deinem Glück etwas beitragen kann, dann macht mich das auch glücklich.”

“Das tust du definitiv.” Mit diesen Worten schließe ich sie in meine Arme und bemerke, dass eine kleine Träne über meine Wange rollt. Doch diesmal ist es keine Träne der Verzweiflung, sondern eine Träne des Glücks und der Vorfreude.

Kapitel 3

Ich habe letzte Nacht kaum ein Auge zugemacht. Zuerst haben wir unsere Koffer gepackt – wobei ich mir einen von Nelly borgen musste, weil meiner noch immer in meiner alten Wohnung steht – und dann haben wir noch ewig ferngesehen, geplaudert und Pläne für die nächsten Tage geschmiedet. Um vier Uhr Früh hat bereits der Wecker geläutet, damit wir nicht zu spät zum Gate kommen. Zum Glück verlief alles reibungslos. Keine Verspätung, keine verlorenen Koffer oder sonstige Unannehmlichkeiten. 

Vom Flughafen Wien dauert es zum Glück nur knapp über zwei Stunden nach Oslo, und die Zeit ist wie im Flug vergangen – ja, ich weiß, schlechtes Wortspiel, aber hey: Ich versuche nur, mich selbst bei Laune zu halten. Jedenfalls fühlte sich die Reise kürzer an, als sie war, und ich habe ehrlich gesagt noch nicht ganz realisiert, dass wir uns tatsächlich in einem anderen Land befinden. Die klirrende Kälte und der grausame Wind, der mir um die Ohren weht, während wir durch das offene Parkhaus gehen, sind momentan die einzigen Dinge, die mich wirklich glauben lassen, dass wir in Norwegen sind. 

Nelly hat uns ein Mietauto besorgt, weil sie flexibel sein wollte und außerdem plant, in den nächsten Tagen die Gegend ein wenig zu erkunden, um sich inspirieren zu lassen. Geilo liegt ziemlich zentral, und von Oslo sind es noch drei Fahrstunden bis zu unserem Ziel. Das Einzige, was uns gerade noch davon abhält, endlich loszufahren, ist die Tatsache, dass wir keine Ahnung haben, wo sich unser Auto befindet.

“Sie hat doch gesagt, auf der zweiten Parkebene auf der rechten Seite, oder? Hat sie eine Reihe gesagt, oder eine Zahl? War es sicher die Parkebene zwei?” Nelly sieht sich genervt um, während wir gefühlt schon das zehnte Mal mit den Koffern im Schlepptau an denselben Autos vorbeigehen.

“Gib’ mal her.” Ich nehme ihr den Autoschlüssel ab und drücke im Sekundentakt auf die Aufsperrtaste – irgendwann müssen wir doch das Lichtsignal erkennen. Wir gehen durch die Reihen und halten konzentriert Ausschau nach orange leuchtenden Blinkern.

“Hier hinten!”, schreit sie plötzlich, als hätte sie den verlorenen Schatz gefunden, und läuft in die hintere Ecke des Parkdecks. Ein alter Jeep leuchtet uns orange entgegen. “Also, einen Schönheitspreis bekommt diese alte Kiste bestimmt nicht.” Sie rümpft die Nase, geht zum Heck des Autos und öffnet den Kofferraum, um ihr Gepäck zu verstauen.

“Die Dame hat gesagt, dass er sehr zuverlässig ist und einen Allradantrieb hat. Schön muss er nicht sein, Hauptsache er bringt uns sicher ans Ziel.” Wow, das klang selbst für meine Verhältnisse sehr pragmatisch. Nellys hochgezogene Augenbraue bestätigt mir meinen Gedanken.

Ich verstaue meinen Koffer ebenfalls im Heck unseres neuen Traumautos und gebe dann die Adresse des Hotels ins Navi ein. Hoch lebe Google Maps. 

“Wenn alles gut geht, sind wir um 13 Uhr im Hotel”, lasse ich sie wissen und schnalle mich an.

“Auf geht’s. Auf ein neues Abenteuer. Das wird geilo!” Nelly startet grinsend den Motor und düst los. Meine Fahrkünste lassen zu wünschen übrig, daher hat sich die Frage, wer fährt, gar nicht erst gestellt. Nelly fährt immer, wenn wir gemeinsam in einem fahrbaren Untersatz sind. Sie liebt einfach alles, was einen Motor hat und sie von A nach B bringt. Sie ist eine kleine PS-Queen. Und ein Adrenalinjunkie. Also kurz gesagt: So ziemlich das genaue Gegenteil von mir.

Während wir die E16 entlangfahren, genieße ich den wundervollen Ausblick. Natur soweit das Auge reicht. Berge, Seen und atemberaubende Schneelandschaften. Wenn es hier nicht so arschkalt wäre, könnte ich mich glatt in Norwegen verlieben. Der Ausblick ist traumhaft und so beruhigend, dass mir meine Augen immer wieder zufallen und ich in einen tiefen Schlaf sinke.

~

“Aufstehen, Schlafmütze, wir sind da!” Nelly gibt mir einen unsanften Klaps auf den Oberschenkel und ich schrecke hoch. Orientierungslos sehe ich mich um, wie ein verwirrter Tourist auf der Suche nach dem Eiffelturm in New York, und brauche ein paar Sekunden, um zu wissen, wo ich bin. 

Vor mir befindet sich ein riesiges Haus, das irgendwie mystisch wirkt. Dunkelrot gestrichenes Holz, ein spitzes Dach und viele große Sprossenfenster mit weißen Rahmen drumherum. Bei genauerem Betrachten erkenne ich die unzähligen Schnitzereien an den weißen Fensterrahmen, die mich unweigerlich an Wikinger erinnern. Auch an den überhängenden Dächern des Giebels befinden sich geschnitzte Verzierungen. Ich habe das Hotel in den Buchungsunterlagen auf einem kleinen Foto gesehen, aber das Haus, das ich gerade bewundere, ist so markant und unverwechselbar, dass mir gerade die Luft wegbleibt. 

“Das ist wunderschön”, flüstere ich, während ich mich weiter umsehe.

“Ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber ich will keine Sekunde länger in diesem verdammten Auto sitzen.” Nelly schnallt sich ab und stürmt nach hinten zum Kofferraum, um unser Gepäck zu holen. Noch immer perplex von der Einzigartigkeit dieses Gebäudes und der schneebedeckten Landschaft um uns herum folge ich ihr. Obwohl es verdammt kalt ist, fühle ich mich hier augenblicklich wohl. Es klingt verrückt, aber dieser Ort strahlt so viel Frieden aus, dass ich mich nur mit viel Mühe daran erinnern kann, was der Grund für diese Reise ist. Und zum ersten Mal juckt es mich nicht. Es ist mir egal, dass sich mein Ex mit seiner Kollegin in unserer Wohnung vergnügt. Es ist mir egal, dass ich keinen Job mehr habe. Denn all das bedeutet, dass ich keine Verpflichtungen habe. Es gibt nur einen Menschen, dem ich es ab heute recht machen muss, und das bin ich selbst. Und vielleicht Nelly, aber das zählt nicht, weil ich sie sowieso nie enttäuschen könnte. Zumindest habe ich es die letzten zwanzig Jahre nicht geschafft.

Ich stapfe durch den Schnee in Richtung Hoteleingang und atme die frische Winterluft ein. Es riecht, als hätte man die Luft mit einem Winterduft-Weichspüler gewaschen. Das alles wirkt so surreal, dass ich noch immer nicht fassen kann, dass ich tatsächlich hier bin. In Norwegen. Vor diesem atemberaubenden Hotel. In dieser Bilderbuchumgebung. 

“Kommst du jetzt endlich, oder willst du hier Wurzeln schlagen?” Und nicht zu vergessen: Mit dieser nervigen BFF.

In der Hotellobby angekommen, werden wir sofort von einer freundlichen Rezeptionistin begrüßt. “Willkommen im Gundersen’s Resort”, flötet die junge, blonde Frau in perfektem, akzentfreiem Englisch. 

Nelly zieht unsere Unterlagen hervor und verschwindet dann blitzschnell auf die Toilette. Wir haben auf der Hinfahrt kein einziges Mal gehalten und auch meine Blase ist kurz davor zu explodieren. Während die nette Dame an ihrem Computer herum tippt und ich auf unser Gepäck aufpasse, sehe ich mir diverse Flyer an, als mir plötzlich ein ganz besonderes Bild ins Auge sticht: Huskyschlittenhunde. 

Die bieten hier tatsächlich Huskyschlittenfahrten an. Bin ich gestorben und befinde mich jetzt im Himmel? Vielleicht ist das gar kein Schnee da draußen, sondern flauschige Wolken. 

Nach nur wenigen Minuten kommt Nelly zurück und löst mich ab, damit auch ich endlich mein kleines Geschäft erledigen kann. Alles in diesem Hotel sieht extrem edel aus. Nicht luxuriös edel, sondern mysteriös edel. Sogar die Türgriffe auf der Toilette sind beeindruckend. Ein kleiner Drache, dessen Bauch so geschwungen ist, dass man ihn umgreifen und somit die Tür aufziehen kann. Alle Spiegel haben extra breite Metallrahmen mit aufwendigen, bronzefarbenen Verzierungen. Ich bin nur froh, dass die Toiletten modern sind und sie hier keine Wikinger-Plumpsklos aufgestellt haben.

Auf dem Weg zurück sehe ich ein Glitzern in Nellys Augen, als hätte auch sie endlich begriffen, dass wir im Himmel angekommen sind. 

“Du hast keine Ahnung, was ich gerade herausgefunden habe!”, quietscht sie mir entgegen, kommt zu mir und hält mir einen Flyer vor die Nase. “Weißt du, was das ist?”, fragt sie mich, aber noch bevor ich den Flyer begutachten kann, beantwortet sie ihre Frage selbst. “Eine Snowboard-Competition. Hier ums Eck. Nächste Woche. Mit einem Preisgeld für die ersten drei Platzierungen von bis zu zehntausend Euro.”

Ich verstehe kein Wort. Außer zehntausend Euro. Bitte was?

Nelly hat anscheinend meinen ahnungslosen Gesichtsausdruck erkannt und versucht es noch einmal: “Ein Snowboard-Wettbewerb. Nächste Woche. Hier. Mit Preisgeld”, erklärt sie, und so langsam, aber sicher, verstehe ich, was sie sagt.

“Mit welchem Snowboard?”, ist die erste Frage, die mir einfällt. Dass Geilo ein Skigebiet ist, wusste ich schon von den Fotos im Internet.

“Hab’ ich schon geklärt, das kann ich mir nebenan ausborgen. Der Laden gehört zum Hotel.” Sie strahlt wie ein kleines Kind zu Weihnachten. Dann wird sie ernst und mustert mich. “Wäre das für dich okay, wenn ich da mitmache?”, will sie wissen, und klingt von einem Moment auf den anderen komplett niedergeschlagen.

“Natürlich!”, versichere ich ihr. “Solange du nicht verlangst, dass ich mitmache.” Jetzt strahlt sie wieder. Ich kann weder Snowboarden noch Skifahren und möchte meinen sechsundzwanzigsten Geburtstag gerne noch erleben. Dass sie das unbedingt machen will, ist klar. Immerhin hat sie zu Hause schon einige Medaillen und Pokale, die ihr Zimmer zieren. Freestyle-Snowboarden, oder so ähnlich. Dieses Ding mit den verrückten, todessüchtigen Leuten, die sich ein riesiges Brett auf die Beine schnallen und dann ein paar Salti über Schneerampen machen. Nicht mal für eine Million würde ich da mitmachen.

“Aber ich kann dich doch nicht alleine im Hotel lassen.” Sie schüttelt resigniert den Kopf und seufzt. “Nein, das geht nicht”, rudert sie zurück, nimmt mir den Flyer wieder ab und steckt ihn zurück in den Ständer. Ich weiß, dass es ihr Traum wäre, hier mitmachen zu können und da werde ich ihr bestimmt nicht im Weg stehen.

“Wer sagt denn, dass ich im Hotel bleibe?” Ich schnappe mir die Broschüre von vorhin und strecke sie ihr entgegen. “Ich werde all diese kuscheligen Fellnasen daten. Jeden Tag einen von ihnen, bis du wieder Zeit für mich hast.”

Sie grinst mich an. Das hier passt wie die Faust aufs Auge. Sowohl für sie, als auch für mich. Zugegeben, ich hätte mir diesen Urlaub anders vorgestellt, eher als Mädelstripp, aber ich will sie auch nicht davon abhalten, mit zehntausend Euro nach Hause zu fahren. So gut, wie sie ist, stehen ihre Chancen gar nicht mal so schlecht, am Ende auf dem Siegerpodest zu stehen.

“Also würde es dir nichts ausmachen?”, fragt sie nochmal vorsichtig. Ich höre Schuldgefühle in ihrer Stimme, aber ich würde nie auf die Idee kommen, sie davon abzuhalten, ihren Träumen nachzugehen.

“Nein, aber versprich mir bitte, dass ich dich heil wieder bekomme, okay?”

“Versprochen!” Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich so fest sie kann. Es fühlt sich an, als würde sie gar nicht mehr loslassen wollen. “Danke, danke, danke! Du bist die Beste! Und solltest du doch unter Entzugserscheinungen leiden, musst du es nur sagen und wir machen etwas gemeinsam. Und vielleicht bin ich gleich in der Früh dran und blitzschnell wieder zurück. Es läuft ähnlich wie bei einer Fußball-Weltmeisterschaft.” Da sie weiß, dass ich keinen blassen Schimmer von Sport habe, fährt sie fort. “Es wird zehn Gruppen mit je vier Snowboardern geben. Die beiden Erstplatzierten jeder Gruppe treten in fünf Gruppen am nächsten Tag an. Dann ist ein Tag Pause, da könnten wir einen Ausflug machen. Danach treten die restlichen zehn Fahrer in Zweiergruppen gegeneinander an und die besten sechs kommen weiter. Am letzten Tag geht es um die Wurst. Besser gesagt um Zehn. Tausend. Euro!”

Sie klingt so voller Tatendrang, dass ich schmunzeln muss. So kenne ich sie: Ehrgeizig und ein klein bisschen wahnsinnig.

Wir wissen beide, dass ich nie etwas sagen würde, das sie davon abhalten würde, hier teilzunehmen. Weil ich nicht sie bin. Nelly ist anders. Sie sagt, was sie denkt, was sie fühlt, was sie will. Ich sage nie etwas und ärgere mich dann im Nachhinein, warum ich so dumm war und nichts gesagt habe. Aber diesmal freue ich mich für sie, auch wenn ich hoffe, dass mich meine Einsamkeit und die Vergangenheit nicht überkommen.

Kapitel 4

Nachdem uns die nette Dame am Empfang die Schlüssel für unsere kleine Hütte übergeben hat, machen wir uns auf den Weg in unser neues Zuhause für die nächsten Tage. “Hinter dem Hotel an der linken Seite, gleich neben den Lavvu-Zelten, mit der Nummer sechs”, hat sie uns erklärt. Wir haben uns für eine Selbstversorgerhütte entschieden, weil es am günstigsten war und ich ohnehin gerne koche.

“Oh, Gott, wie süß ist das denn?” Ich traue meinen Augen kaum. Als wir am hinteren Teil des Hotelgeländes ankommen, sieht es aus wie in einer Miniaturstadt. Die kleinen Selbstversorgerhütten wirken wie die Babys des Hotels, weil sie ebenfalls rot sind und weiße Ränder um die Fenster haben. Nur sind sie um ein Vielfaches kleiner. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht es aus wie in einem indigenen Reservat. Ich konnte mir unter dem Begriff Lavvu-Zelte nichts vorstellen, aber wie es aussieht, sind es typische Tipi-ähnliche Zelte aus beigefarbenen Stoffen. Dieses Resort ist riesig und ziemlich beeindruckend. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Zelte im Sommer ausgebucht sind. Ein paar Geschichten am Lagerfeuer, ein paar Marshmallows und vielleicht ein hübscher Kerl mit Gitarre, der für Stimmung sorgt.

“Na dann wollen wir mal.” Bei unserer Hütte angekommen sperrt Nelly auch schon auf und öffnet die Tür. Der Begriff ‘Hütte’ wird diesem Tiny House aber ganz und gar nicht gerecht. Auf der linken Seite befindet sich eine Küchenzeile, auf der rechten Seite eine Couch und ein kleiner Schwedenofen, und auf der gegenüberliegenden Seite kommt man über eine schmale Treppe in die zweite, kleinere Etage zu einem Doppelbett. Oder besser gesagt, einer Doppelmatratze. Unter der Treppe gibt es ein winziges Badezimmer. Alles wirkt sehr sauber und modern. Der Duft von frischem Holz erfüllt die Luft und verleiht der Hütte eine gemütliche Atmosphäre. Ja, hier kann man es auf jeden Fall aushalten.

“Die Hütte ist mega! Eindeutig besser als erwartet. Guck mal, wir haben sogar einen Fernseher.” Nelly lässt sich auf die Couch fallen und schaltet den Flatscreen ein, der an der Wand neben der Treppe hängt und mir erst jetzt auffällt. Ich hingegen gehe in die Küche und inspiziere die Ausstattung. Ich muss eindeutig Lebensmittel einkaufen gehen, soviel steht fest. Da heute Sonntag ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als ins Hotelrestaurant Gundersen’s Kjøkken auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu gehen.

~

Dort angekommen hören wir das leise Klirren von Besteck und das gedämpfte Murmeln der Gäste, während wir uns kurz umsehen und an den zweiten Tisch gegenüber der Bar setzen. Der sieht irgendwie am gemütlichsten aus – so, als hätte er auf uns gewartet. Das Gundersen’s Kjøkken hat eine warme und einladende Atmosphäre. Die Wände sind mit rustikalen Holzbrettern verkleidet, und überall hängen alte Schwarz-Weiß-Fotos von Fischern, Jägern, Schlittenhunden und traumhaften Landschaften. An den Decken hängen große, kunstvoll geschnitzte Kronleuchter aus Holz, die den Raum in ein gemütliches Licht tauchen.

“Guten Abend, die Damen. Was darf ich zu trinken bringen?” Ich sehe zu einem Mann auf, der uns mit seinen blauen Augen anstrahlt. Auch er spricht in perfektem, akzentfreiem Englisch. Sein Lächeln ist umwerfend, auch wenn es ein wenig aufgesetzt und einstudiert wirkt. In seiner zerrissenen Jeans wirkt er lässig und sein blaues Langarmshirt verbirgt seinen athletischen Oberkörper nicht mal annähernd. Er reicht uns die Speisekarten und ich beobachte Nelly dabei, wie sie ihn mustert. Das freche Lächeln in Nellys Gesicht kenne ich nur zu gut  – es bedeutet: Flirtmodus aktiviert.

Kapitel 5

Wie jeden Sonntag fahre ich zum Restaurant meines Bruders und parke auf dem Mitarbeiterparkplatz beim Hintereingang. Ich arbeite hier zwar nicht, aber als ein Gundersen habe ich bestimmte Rechte. Zumindest nehme ich sie mir heraus. 

Vom Hintereingang gehe ich an der Küche vorbei in Richtung Speisesaal und will mich wie immer an meinen Lieblingstisch gegenüber der Bar setzen, als ich bemerke, dass dieser schon besetzt ist. Touristen … Na toll. Genervt setze ich mich direkt an die Bar. Ich mag Routine. Ich mag meinen Tisch. Und ich hasse Veränderungen.

“Sieh an. Der verlorene Sohn kehrt aus dem Wald in die Zivilisation zurück.” Mein Bruder Marius ist einer der ganz lustigen Sorte. Zumindest denkt er das. Aber solange ich hier gratis essen kann, soll es mir recht sein.

“Das Übliche”, brumme ich ihm entgegen.

“Das Übliche, bitte”, korrigiert er mich. “Und ich wünsche dir ebenfalls einen wunderschönen Tag, großer Bruder. Was für eine Freude, dass du mich mit deiner guten Laune beehrst.”

Ich werfe ihm einen Blick zu, der ungefähr so viel bedeutet wie ‘Halt die Klappe, ich habe Hunger’. Er kennt mich. Ich bin nicht der gesprächigste Typ. Wäre ich so gesellig wie er, würde ich nicht allein mit zwölf Hunden im Wald wohnen. Nach der Scheidung von Molly habe ich mir mit der Hilfe von Freunden und Familie eine Blockhütte im Wald errichtet. Ich hatte eindeutig genug von scheinfreundlicher Gesellschaft und falschen Schlangen um mich herum. Ich war nie der aufgeschlossenste Typ, aber seit der Scheidung genieße ich meine Einsamkeit in vollen Zügen. Keine Frau – keine Probleme. Hunde sind viel einfacher glücklich zu machen. Außerdem sind sie treue Begleiter fürs Leben, was man von meiner Exfrau nicht behaupten kann.

Marius stellt mir ein Bier auf den Tresen und während ich auf mein Essen warte, lausche ich den Gesprächen der beiden Frauen, die auf meinem Platz sitzen. Deutsche Touristen. Anscheinend will eine von ihnen, die nervige, quirlige Frau von den beiden, beim Snowboard-Contest nächste Woche mitmachen. In der Schule hatte ich Deutschunterricht und auch wenn ich nicht mehr viel sprechen kann, verstehe ich das meiste.

“Ich werde mal wegen der Huskyschlittenfahrt anrufen und einen Termin vereinbaren”, sagt die ruhigere der beiden. “Vielleicht habe ich Glück und es geht gleich morgen.” Ihre Stimme klingt so euphorisch, dass es mir fast leid tut, dass ich morgen keine Fahrten anbiete. 

“Montag ist Ruhetag”, sage ich auf Englisch, ohne mich zu den beiden umzudrehen. Stille. Warum musste ich auch etwas sagen? Jetzt muss ich wohl oder übel eine Konversation mit den beiden Hühnern führen. Ich drehe mich langsam um und die braunhaarige Frau sieht mich an, als hätte ich vor ihren Augen einen Welpen getreten. Ich nehme an, sie ist die ruhigere von den beiden. Die Schwarzhaarige funkelt mich mit ihren hellblauen Augen an, als würde sie mir gleich an die Gurgel gehen. “Und Donnerstag auch”, setze ich nach, ohne ihrem Blick auszuweichen. 

“Okay”, flüstert die Braunhaarige verunsichert.

“Und was ist mit Dienstag?”, will das kampflustige Huhn wissen, die jetzt ebenfalls ins Englische gewechselt hat.

“Schon voll.” Zwei Fahrten pro Tag sind mehr als genug.

“Mittwoch?” Die streitsüchtige Schwarzhaarige wirft mir noch immer einen Todesblick zu, aber wenn es darum geht, kann sie nicht gewinnen. Das kann sie sich abschminken. 

“Ebenfalls”, brumme ich unbeeindruckt. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder sie frisst mich gleich mit Haut und Haaren oder sie spuckt Feuer in meine Richtung.

“Sind hier alle Einwohner so freundlich?”, fragt sie provokant.

Mein Bruder serviert den beiden ihr Essen und antwortet für mich: “Zum Glück nicht. Er ist eine Ausnahme. Der verstoßene Sohn.” Sein breites Grinsen lässt mich wissen, dass er in seinem Flirtmodus läuft. Der Kleine lässt wirklich nichts anbrennen. Nicht einmal kampflustige, gackernde Hühner. 

“Hi, ich bin Marius. Mir gehört der Laden. Das da drüben ist mein Bruder Ivar. Er kann nichts dafür, dass er so ist. Er wurde so geboren.” Natürlich kichert das Hühnchen und gackert vor sich hin. Ich verdrehe die Augen, drehe mich um und widme mich wieder meinem Bier. Ihre Freundin tut mir jedenfalls leid. Nicht nur, weil ich ihr eine Schlittenfahrt verwehren muss, sondern auch, weil sie diese Frau aushalten muss. So wie ich Marius aushalten muss. 

Wir sind insgesamt fünf Geschwister, aber Marius ist eindeutig mit Abstand die größte Nervensäge. Sigurd ist der Älteste und der Vernünftigste von uns allen. Nachdem unsere Eltern in den wohlverdienten Ruhestand gegangen und in ihre Lieblingsstadt nach Bergen gezogen sind, hat er gemeinsam mit Magnus das Resort übernommen und leitet es seither. Marius leitet wiederum das Restaurant, das direkt gegenüber dem Resort liegt. Kari ist mit dreiundzwanzig Jahren die jüngste und das einzige Mädchen unter uns. Sie ist ein Freigeist, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und kann mit Verantwortung nicht wirklich umgehen. Wir beide haben uns damals auszahlen lassen und auf das Resort und allem drumherum verzichtet. Sie hat sich eine schöne Dachgeschosswohnung in Oslo gekauft und ich habe mir kurze Zeit später meine Blockhütte im Wald gebaut. 

Ich habe es nie bereut, dass ich damals entschieden habe, mich von dem ganzen Familientrubel zu lösen. Nach der Scheidung von Molly wusste ich, dass ich einen anderen Weg einschlagen will. Abseits der hektischen Welt da draußen. Weit weg von den ganzen konsumorientierten Workaholics, den Hamsterrad-Helden und Powerpoint-Künstlern. Während die anderen in den familiären Betrieb eingebunden sind, genieße ich die Ruhe und Einsamkeit meines einfachen Lebens im Wald. Jeden Morgen werde ich von meinen Hunden freudig begrüßt, genieße ihre Gesellschaft und verbringe meine Tage in der Natur. Ob beim Holzhacken, beim Schlittenfahren oder Schneeschuhwandern. Wenn ich einmal Bock auf menschliche Gesellschaft habe, oder mir die Vorräte ausgehen, komme ich in die Stadt und sehe immer ein paar bekannte Gesichter. Über die einen freue ich mich, über die anderen weniger. Wenn ich genug vom Familienchaos habe, verschwinde ich wieder in mein Paradies und genieße die Stille. Ich denke, das Leben ist eine ständige Balance zwischen Unabhängigkeit und Zugehörigkeit. Ich für meinen Fall weiß, wo mein Platz ist: In meiner Hütte im Wald, umgeben von meinen treuen Huskys.  

Kapitel 6

Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass mein Traum so schnell platzen würde. Und auch nicht, dass Nelly sich nach fünf Minuten einen Typen anlacht. Wie hieß er doch gleich? Marvin? Markus? Marius? Wie auch immer. So ist sie eben. Sie nimmt sich, was sie will. Aber ich muss zugeben, dass die beiden Brüder verdammt gut aussehen. Auch wenn dieser Ivar ein bisschen zu viel Fell im Gesicht hat. Beide haben strahlend blaue Augen, blonde beziehungsweise dunkelblonde Haare und eine verdammt ansehnliche Statur, wobei Ivar noch ein wenig breiter gebaut ist. Eindeutig gute Gene. Aber von Männern habe ich für die nächsten zehn Jahre eindeutig genug. Abgesehen davon, würde eine wie ich bei Typen wie denen sowieso nie eine Chance haben. Ich wäre wieder nicht gut genug und könnte ihnen dann beim Vögeln einer Arbeitskollegin zusehen. Nein, danke. Ich verzichte.

“Vielleicht kannst du einfach so vorbeifahren und zumindest zuschauen”, sagt Nelly mit bedrückter Stimme. Was? Beim Vögeln? Ich kann ihr gerade nicht folgen.

“Was?”

“Na bei den Hunden. Du wolltest dir doch unbedingt die Huskys ansehen. Vielleicht geht das trotzdem. Auch ohne Schlittenfahrt. Soll ich für dich fragen?” Aber bevor ich antworten kann, sieht sie zu dem Typen an der Bar und ruft: “Hey, Miesepeter. Kann sie wenigstens kurz vorbeikommen und sich die Hunde ansehen?”

“Pscht, was soll das?”, flüstere ich ihr entgegen. Sie ist manchmal so peinlich. Und taktlos.

Der Typ, Ivar, dreht sich nicht um und zuckt nur kurz mit den Schultern. “Von mir aus”, brummt er und Nelly grinst mich daraufhin triumphierend an. Dass sie es immer wieder mit ihrer unverschämten Art schafft, das zu bekommen, was sie will, ist faszinierend und schockierend zugleich.

“Neun Uhr?”, fragt sie ihn lässig.

“Acht”, knurrt der breite Wikinger.

Sie nickt, auch wenn er es nicht sehen kann, weil er uns noch immer seinen Rücken zuwendet. Der zugegebenermaßen ziemlich einschüchternd breit ist.

“Na bitte. Scheint als hättest du morgen früh ein Date mit einem Husky.” Nelly grinst mich zufrieden an.

“Danke”, sage ich, weil mir gerade nichts anderes einfällt. Irgendwie ist es mir peinlich, dass ich solche Kleinigkeiten nicht selbst hinbekomme, aber ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, mich diesem Mann aufzudrängen. Nelly schon. Und dank ihr habe ich die Gelegenheit, morgen diese wundervollen Tiere hautnah sehen zu können.

~

Nach dem Essen hat Marius noch zu einem traditionellen Drink eingeladen und uns ein paar Insidertipps gegeben. Von Whale Watching bis über den Nationalpark in der Nähe, Rentierschlittenfahrten und Mitternachtssonne, Schneeschuhwandern und und und. Ich bezweifle, dass wir das alles unter einen Hut bekommen werden. Vor allem dann nicht, wenn Nelly die halbe Zeit mit Snowboarden verbringt. 

Wie es sich herausgestellt hat, ist Marius auch ein Snowboard Fan und Nelly und er haben sich prächtig unterhalten. Über Regular und Goofy und was weiß ich was. Ich habe kaum ein Wort verstanden und bezweifle, dass sie dabei über Disney-Figuren gesprochen haben.

Auf dem Weg in unsere kleine Hütte bemerke ich, dass Nelly und ich ein wenig torkeln. Das war wohl ein Wikinger Mjød zu viel.

In der Hütte angekommen fangen wir an, unsere Sachen auszupacken. Mittlerweile ist es dunkel und vom Fenster aus kann man die beleuchtete Piste sehen.

“Es ist wunderschön hier”, gestehe ich, während ich weiterhin aus dem Fenster starre und versuche, die Winterlandschaft zu absorbieren. Ohne Nelly wäre ich heute nicht hier und würde mir wahrscheinlich All By Myself von Céline Dion anhören und mir wieder einmal die Augen ausheulen. Jetzt ist mir ganz und gar nicht zum Heulen zumute. Der Ausblick ist atemberaubend. Der Schnee, die Sterne, all die kleinen Lichter auf den mit Schnee bedeckten Bergen. Ein Traum.

“Na siehst du. Dich muss man immer zu deinem Glück zwingen. Aber ich verspreche dir, ich werde dir auch in Zukunft immer wieder gerne in den Arsch treten, wenn es nötig ist.”

“Ich weiß. Schließlich bist du meine kleine Domina.” Sie grinst mich schelmisch an und ich bin kurz davor, in die Küche zu gehen und sämtliche Pfannenwender und Kochlöffel zu verstecken.

“Und du stehst drauf”, unterstellt sie mir.

“Und wie”, gebe ich grinsend zu.

Ich weiß, ich muss lernen, in bestimmten Situationen den Mund aufzubekommen und etwas selbstsicherer zu werden. Aber wie soll ich in meiner Situation selbstsicher sein, wenn der Kerl, dem ich mein Herz geschenkt habe, beschlossen hat, es in Stücke zu zerreißen und mir gezeigt hat, dass ich es nicht bringe und dass ich offensichtlich nicht gut genug bin? Zumindest nicht so gut wie seine hübsche Kollegin. Wie soll ich Stärke und Selbstvertrauen finden, wenn die Person, der ich am meisten vertraut habe, mir das Gefühl gegeben hat, wertlos zu sein? Wie soll ich mich selbst wieder aufbauen, wenn jede Erinnerung an ihn wie ein Stachel in meinem Herzen steckt? Es ist, als müsste ich gegen einen unsichtbaren Feind kämpfen, der ständig meine Unsicherheiten nährt und mich daran hindert, meinen eigenen Wert zu erkennen. Ich denke nicht, dass ich jemals auch nur annähernd so selbstsicher werden kann wie Nelly. Dazu fehlt mir anscheinend das dazu nötige Gen. Während sie vor Energie und Selbstbewusstsein strotzt, kämpfe ich ständig mit Zweifeln und Verlustängsten.

Seufzend lege ich noch ein Stück Holz in den Schwedenofen nach und mache es mir neben Nelly auf der Couch bequem. Das wird unsere erste Nacht in Norwegen. Der Beginn eines neuen Kapitels.

Kapitel 7

Die Nacht war so friedlich und erholsam, dass ich mich so gut fühle wie schon lange nicht mehr. Es ist, als ob diese ruhige Umgebung meine Seele nach und nach in Watte packt. Nelly ist schon vor ein paar Minuten abgehauen, um sich eine passende Snowboard-Ausrüstung auszuborgen. Ihr unerschütterlicher Tatendrang und ihre zwanghafte Sucht nach einem Adrenalinkick sind bewundernswert. Sie ist, was Sport und einen gewissen Nervenkitzel angeht, das genaue Gegenteil von mir. Obwohl, wenn ich ehrlich bin, verspüre ich gerade ein ähnliches Kribbeln. Ich weiß nicht, was mich gerade nervöser macht: Die Tatsache, dass ich in einer halben Stunde diese süßen, flauschigen Fellnasen kennenlernen werde, oder die Tatsache, dass ich in einer Gegend, die ich nicht kenne, gleich alleine mit dem Jeep fahren muss. 

Meine Hände zittern leicht, als ich die Schlüssel im Zündschloss drehe. Als der Motor anspringt und meine Unsicherheit wieder einmal die Oberhand gewinnen will, schiebe ich sie entschlossen beiseite. Ich bin hier, um neu anzufangen und zu heilen. Dieses Abenteuer gehört dazu.

Der Weg führt mich durch tief verschneite Wälder und an einem zugefrorenen See vorbei, und ich fühle mich, als wäre ich Teil eines kitschigen Märchens. Die Welt hier draußen scheint so fern von all dem Schmerz und den Enttäuschungen, so fern von der Realität und all den Richies, den Bitches und den Cecilias. 

Irgendwie schaffe ich es, Navi sei Dank, ohne nennenswerte Zwischenfälle zur Gundersen Husky Lodge. Dort angekommen, parke ich den Jeep direkt gegenüber den großen Gehegen, in denen die Huskys aufgeregt hechelnd und schwanzwedelnd am Zaun auf und ab laufen.

Ihr Anblick lässt mein Herz sofort schneller schlagen. Ich meine: Wer könnte diesen flauschigen Teddybären widerstehen? Diese Tiere verkörpern Freiheit und Unschuld und sind gleichzeitig so kraftvoll und majestätisch, dass es mir den Atem raubt. Voller Vorfreude steige ich grinsend aus dem Auto und sofort steigt mir der frische Duft von Schnee und Tannennadeln in die Nase. Auf der linken Seite befindet sich eine riesige Blockhütte direkt neben den Zwingern. Hier wohnt also unser mürrischer Wikinger. Interessant. Das Haus ist aus ganzen Holzstämmen gebaut und obwohl es ein Bungalow ist und nur eine Ebene hat, wirkt es ziemlich groß. Es ist so rustikal wie Ivar und ich könnte mir keine bessere Behausung für ihn vorstellen. Trotzdem frage ich mich, was ihn hier raus in die Wildnis verschlagen hat. 

Ich stapfe durch den knirschenden Schnee und hinterlasse tiefe Spuren in der unberührten Winterlandschaft. Der kalte Wind beißt mir regelrecht in die Wangen und bringt mich dazu, den Schal enger um meinen Hals zu ziehen. Mein Herz klopft in einem unregelmäßigen Rhythmus – eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude. Normalerweise würde Nelly jetzt selbstbewusst voranschreiten, die Situation kontrollieren und ich würde ihr wie ein abgerichteter, anhänglicher Dackel folgen. Nicht heute. Heute bin ich auf mich gestellt und jeder Schritt in Richtung der Gehege ist ein Schritt weg von meiner Vergangenheit, hin zu einem neuen Selbst. Eine selbstbewusste, bessere Anna voller Tatendrang und ohne Angst vor neuen Abenteuern.

Während ich weiter auf die großzügigen Gehege zugehe, höre ich das fröhliche Jaulen der Huskys und sehe ihre funkelnden Augen, die mich neugierig mustern. In diesem Moment fühle ich eine tiefe Verbindung zu diesen Tieren. Hunde kennen keine Lügen, keinen Verrat – nur bedingungslose Zuneigung und Loyalität. Mein Herz erwärmt sich bei dem Gedanken, dass ich bald Zeit mit ihnen verbringen darf, auch wenn es nur für einen kurzen Moment ist. Und wer weiß, vielleicht kann ich von diesen Vierbeinern noch einiges lernen. Zum Beispiel wie man mit Anmut über Schnee gleitet, ohne wie ein plumper Esel zu wirken. Falls das in diesen Winterboots überhaupt möglich ist.

Ivar erscheint plötzlich vor der Eingangstür, wie ein unheilvoller Schatten, der aus dem Nichts auftaucht, und zieht die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Wahrscheinlich hat er die Hunde gehört und deshalb gewusst, dass ich da bin. Er sieht genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe – groß, breitschultrig und mit einem Gesichtsausdruck, der nichts als Härte ausstrahlt und einem sofort einen Schauer über den Rücken jagt. Er trägt eine rot-schwarz karierte Jacke, eine braune Strickmütze, Jeans und Schneestiefel. Sein Bart verhindert, dass ich seinen Gesichtsausdruck genau deuten kann, aber was ich sicher sagen kann ist, dass er keine Freudensprünge macht, mich zu sehen.

„Morgen“, brummt er. Ich nehme an, er wünscht mir einen guten Morgen. Auch wenn es sich so angehört hat, als würde er sich wünschen, dass ich sofort wieder verschwinde. Seine Stimme ist tief und rau, als hätte er zum Frühstück Kieselsteine gegessen.

„Guten Morgen. Ivar, richtig? Ich bin Anna.“ Ich versuche, freundlich zu klingen, aber meine Nervosität macht meine Stimme etwas brüchig. Seinen Namen habe ich mir nur gemerkt, weil er mich an Ivar the Boneless von Vikings erinnert. Nicht aufgrund seines Aussehens, da wäre er eher Ragnar Lothbrok, sondern weil er eine ähnliche Unerschrockenheit ausstrahlt, die mich an den legendären Wikingerkrieger erinnert. 

Er nickt kurz in meine Richtung. Kein Smalltalk, keine Höflichkeiten. Einfach nur ein Nicken. Na, das kann ja heiter werden.

Wortlos folge ich ihm zum seitlichen Teil der Gehege, wo die Huskys noch immer aufgeregt umherlaufen. Ihr freudiges Jaulen und das rhythmische Schlagen ihrer Schwänze zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. Meine Eltern und ich haben auch einen Hund. Einen wunderschönen, freundlichen, silbergrauen Retriever – Balu. Bei ihrem Umzug haben sie ihn mitgenommen. Ich konnte ihn nicht behalten, weil ich einfach zu wenig Zeit für ihn gehabt hätte. Er wäre den ganzen Tag allein in meiner Wohnung totunglücklich gewesen und obwohl ich weiß, dass es das Beste für ihn war, vermisse ich ihn noch immer wie verrückt. Immerhin war er jahrelang mein bester Kumpel. Wir haben ihn vor zehn Jahren als Welpen bekommen und bis zum Umzug ist er nie von meiner Seite gewichen. Seitdem er weg ist, rede ich mir ein, dass er bei meinen Eltern glücklicher ist und ein schönes Leben hat. Das ganze klappt aber nur semi erfolgreich. Ich vermisse ihn so wahnsinnig. Nach der ganzen Richie-Geschichte noch viel mehr …

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