Finnisch verheiratet - Dieter Hermann Schmitz - E-Book

Finnisch verheiratet E-Book

Dieter Hermann Schmitz

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Beschreibung

Was tut man, wenn man im Flugzeug sitzt und befürchten muss, gleich in die Ostsee zu stürzen? Natürlich, man greift zum Mobiltelefon und versucht seinen Lieben daheim mitzuteilen, dass ... genauso, wie man es aus amerikanischen Filmen zur Genüge kennt. Aber die finnische Wirklichkeit sieht anders aus! Während ein leichtfertig hingeworfenes "I love you!" jenseits des Atlantiks weiterhelfen mag, müssen im hohen Norden Taten folgen. Nach dem traumatischen Erlebnis einer Notlandung nimmt sich Hermann, Wahl-Finne mit rheinischen Wurzeln, granitfelsenfest vor, die ganze Familie glücklich zu machen. Zur selben Zeit nimmt er als Juror an einem Kulturprojekt teil, bei dem das finnischste aller Worte gekürt werden soll. Die Suche nach dem rechten Wort ist dabei ähnlich verzwickt wie die besten Vorsätze im trauten Zuhause.

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Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Der besten Familie der Welt.

(Und ein wenig unserer Mieze, obwohl sie kein Wort lesen kann.)

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um eine Rückübersetzung / Überarbeitung des Romans »Kun sanat ei kiitä. Suomalaisinta sanaa etsimässä« von Dieter Hermann Schmitz, 2017 beim finnischen Verlag Atena Kustannus Oy in der Übersetzung von Heli Naski erschienen.

Inhalt

01 Bewirtung mit Kaffee und Kuchen:

kahvitus

02 Finnlandschweden und Tigerenten

03 Muttersöhnchen:

mamis

04 Die Ostsee liegt südlich von Finnland.

Itämeri

05 Sibelius

06 Paska-l

07 Sommerhäuschen:

mökki

08 Birkenzucker Xylitol

09 Grillwurst:

makkara

10 Zungenbrecher

talvitapahtumatuotanto

11 Kriegsveteran: s

otaveteraani

12 Aufguss:

löyly

13 Herbsttagundnachtgleiche:

syyspäiväntasaus

14 Die Tasse gratis dazu:

santsikuppi

15 Alles hat ein Ende.

Valomerkki

16 Die finnischen Löwen:

leijonat

17 Schlangenpack:

kyypakkaus

18 Heidnisches Herbstfest.

Kekri

19 Lappenschlappen:

lapintossut

20 Schmusetier:

lemmikki

21 Guten Tag, wie geht’s?

Moro

22 Ein finnischer Troll.

Mumin

23 Moos & Flechte:

sammal & jäkälä

24 Rrrrrusssse:

ryssä

25 Karelische Pirogge

26 Strandlandschaft:

rantamaisemat

27 Holzkopf:

puupää

28 Zwangsschwedisch:

pakkoruotsi

29 Der unbekannte Soldat:

Tuntematon sotilas

30 Sprechdurchfall:

puheripuli

31 Sein oder Design.

Marimekko

32 Ein Skandal:

skandaali

33 Das Leben ist

34 Knutsbock:

nuuttipukki

35 Zwischen den Jahren

36 Alkoholfreier Januar:

tipaton tammikuu

37 Turku. Åbo

38 Den Teufel an die Wand malen

39 Heimatland:

kotimaa

40 Abenteuer:

seikkailu

41 Held:

sankari

42 Jenseits der Wolfsgrenze.

Susiraja

43 Wem das Windspiel bimmelt

44 Ohne Worte

45 Jemanden in den April schicken:

aprillata

46 Überfinnisch:

sisu

und

sauna

47 Klar doch:

Totta kai

48 Mein Lieblingswort

49 Das Leben geht weiter

1. Bewirtung mit Kaffee und Kuchen: kahvitus

Manchmal braucht es ungewöhnliche, aufrüttelnde Erlebnisse, um zu den einfachsten Einsichten zu gelangen. So war es jedenfalls bei mir. Mein persönliches Erweckungserlebnis bestand aus schwebendem Kaffee in einem unförmigen, schwerelosen Klecks, nur wenige Handbreit vor meinen Augen, in einem kurzen Moment, in dem die Zeit gefror, wo zwischen oben und unten kein Unterschied mehr bestand und wo ich nicht hätte sagen können, ob ich männlich, weiblich oder sächlich bin. Der Kaffee sah aus wie ein brauner Spritzer im Nichts und wurde umkreist von den Krümeln eines staubtrockenen finnischen Hefegebäcks, pulla. Es war wie ein Urknall im Kleinformat. Dann klatschte der Kaffee auf mich herab und verbrannte mir glücklicherweise nicht die Oberschenkel, weil er sowieso nur lauwarm war. All dies geschah auf einer Flugreise nach Finnland.

Dass mir das ausgerechnet mit Kaffee passierte, war kein Zufall, denn Kaffee ist das Lebenselixier der Finnen. Es wird zu jeder Tages- wie Nachtzeit gerne getrunken, in jeder Höhenlage und Geschwindigkeit. Die Finnen sind Weltmeister im Kaffeekonsum! kahvi ist übrigens ein Wort, das man sich auch als Nicht-Finne leicht merken kann, ist es doch mit coffee, Kaffee, café oder kawa verwandt. Die finnische Ableitung kahvitus hingegen ist eine Besonderheit, die es in dieser Form wohl nur im Finnischen gibt. Sie ist quasi unübersetzbar oder nur schwerfällig umschreibbar mit »Bewirtung mit Kaffee und Gebäck in privater Runde zu besonderen Anlässen«. Wörter wie kahvitus finde ich fantastisch, und weil ein solches im Deutschen fehlt, schlage ich vorläufig den Ausdruck Bekaffung vor!

Ich war auf einer Dienstreise in Berlin gewesen und befand mich auf dem Heimweg zu meiner finnischen Frau, unseren feutschen Kindern und unserer nichtsnutzigen Katze, der wir als höriges Personal unterstehen. Das Kaffee trinken auf jener Rückreise nach Finnland nahm Ausmaße an, die fürchterlich waren. Dabei hatte alles einen fröhlich-harmlosen Anfang genommen. In der Warteschlange auf dem Berliner Flughafen ...

2. Finnlandschweden und Tigerenten

In der Schlange vor mir steht ein Pärchen, das aussieht wie aus dem Werbekatalog: zu schön, um wahr zu sein. Die beiden sind jung, hübsch, faltenfrei und nachgerade makellos. Rührend, fast kitschig. Ohne Zweifel ist Er südeuropäischer Herkunft und könnte Unterhosen-Modell sein. Mit gepflegtem Drei-Tage-Bart und dunklen Knopfaugen. Sie dagegen ist eindeutig Finnin, mit langen, kastanienbraunen Haaren, hohen ostfinnischen Wangenknochen und einem selbstbewussten Lachen. Eine Umhängetasche aus Stoff im grellbunten Blumen-Dekor der Firma Marimekko verrät eindeutig ihre Herkunft. In anderen Teilen Europas gibt es den Irrglauben, dass alle finnischen Frauen strohblond seien, in Wirklichkeit wird aber auch Kastanienbraun gern getragen. Wahr hingegen ist, dass ausnahmslos alle finnischen Frauen eine Tasche von Marimekko besitzen, die sie auf Reisen ins Ausland als Erkennungszeichen vor sich hertragen. Das ist keine Frage des modischen Geschmacks, sondern des Zusammengehörigkeitsgefühls. Denn Marimekko ist mehr als ein Textil- und Bekleidungshersteller, Marimekko ist eine nationale Institution und ist in ganz Finnland weltberühmt. »Süß die zwei, oder nicht?«, höre ich (auf Deutsch) eine Stimme hinter mir sagen. Ich wende mich um und schaue in das schmunzelnde Gesicht einer älteren Dame, die mir vertraulich zublinzelt. Auch sie beobachtet das junge Pärchen, von dem das Flair eines Lifestyle-Hochglanzmagazins ausgeht. »Ja-ja«, sage ich leise zur Bestätigung. Die Dame trägt ein rundes Hütchen auf dem Kopf, das sie bestimmt auf einem orientalischen Baszar erstanden hat; auf der äußersten Nasenspitze hält sich mit Mühe eine Brille, deren Gestell so bizarr aussieht, dass es Designer-gestylt sein muss. Dazu trägt sie einen senffarbenen Poncho, der wahrscheinlich aus Guatemala stammt. Sie ist braun gebrannt, als käme sie frisch vom Äquator, und an ihrem Hals hängt eine bronzene Kette mit Thors Hammer, einem Motiv der Schmuckserie Kalevala. Keine Frage: Hier steht eine globalisierte Finnin vor mir. Weltoffen und weitgereist.

Mit Blick auf das junge Paar kichert die Dame amüsiert. Aber dann zieht sich ihre Stirn ein wenig in Falten. In einem Tonfall, der plötzlich etwas vorwurfsvoll klingt, flüstert sie mir zu: »Frisch verliebt sein kann jeder!« Und wie zur Erklärung zupft sie an meinem Mantel und weist unauffällig auf eine zweite Warteschlange neben der unseren. Mein Blick fällt zunächst auf eine junge Mutter mit zwei Kindern. Das eine ist noch fast ein Säugling und schlummert auf dem Arm der Mutter; das andere Kind, ein Mädchen von sechs oder sieben Jahren mit niedlichen blonden Kringelhaaren, steht brav daneben und schmust mit einem Stofftier, einer Tigerente. (Diese Figur von Janosch ist dank Übersetzung ins Finnische auch im hohern Norden keine Unbekannte mehr.)

»Nein, nicht die!«, flüstert die Dame, »die da!«. Sie weist mit dem Kopf unauffällig auf ein altes Ehepaar im weit fortgeschrittenen Rentenalter: ein Herr mit grauem Haar neben einer kleinen Frau, deren Haare zu einem Dutt zusammengesteckt sind. Die alte Frau trägt mit festem Griff die Reisedokumente in einer Klarsichthülle vor sich her – untrügliches Anzeichen für übervorsichtige Wenig-Flieger. Die beiden Alten stehen aneinander gelehnt, als müssten sie sich gegenseitig stützen. Und ihr Gesichtsausdruck zeigt eine Mischung aus Trotz und Selbstvertrauen, als wollten sie ausdrücken: »Mag kommen, was will – gemeinsam schaffen wir es unbeschadet durch die Sicherheitskontrolle. Und wenn einer von uns in den Körper-Scanner geschickt wird, wartet der andere und hält die Reisedokumente.«

»Frisch verliebt sein kann jeder«, wiederholt die Dame neben mir nachdrücklich, »aber es miteinander auszuhalten, wenn man schon alt und grau ist, das ist die wahre Kunst!« –

Ein wenig verwundert beobachte ich, wie die Dame eine kleine, flache Kamera aus der Tasche zieht und unauffällig von den beiden Alten aus der Nebenschlange ein Foto macht, ohne das Gerät auf Augenhöhe zu heben.

»Und Sie?«, fragt sie mich, nachdem sie ihre Kamera wieder weggesteckt hat, »Sie sind verheiratet …?« Dabei schaut sie auf meinen Ehering, den ich – wie in Finnland üblich – an der linken Hand trage. Es lässt sich schwer erkennen, ob sie selbst einen Ehepartner hat, da jeder ihrer Finger von ein bis zwei Ringen geziert wird. »Ob ich verheiratet bin?«, erwidere ich, »Und wie! Ich bin finnisch verheiratet!«

Etwa vierzig Minuten später beziehe ich im Flugzeug einen Sitzplatz am Fenster. Der Sitz neben mir bleibt leer. Aber nicht lange. Die fidele Dame aus der Warteschlange hat mich ausfindig gemacht und fragt: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?« – »Nein, bitte sehr!«, sage ich und rücke meinen Rucksack zur Seite. Die Dame setzt sich ein wenig umständlich.

»Sind Sie Finnin?«, will ich wissen.

»Merkt man das an meiner Aussprache?«, fragt sie zurück.

»Das nicht unbedingt.« Obwohl ihr Deutsch sehr gut klingt, biete ich ihr freundlich an, dass wir uns auch auf Finnisch weiter unterhalten könnten. »Auf Finnisch? Bitte nicht!«, lacht sie. »Ich bin Finnlandschwedin. Ich heiße Synnöve.« Sie reicht mir ihre Hand und auch ich stelle mich kurz vor: »Mein Name ist Hermann«. Von da an duzen wir uns. Synnöve erläutert noch, dass sie zwar leidlich Finnisch spreche, aber Schwedisch sei nun einmal ihre Muttersprache und Deutsch beherrsche sie sehr gut. Ich mustere sie ein wenig genauer. Rein biologisch könnte sie wahrscheinlich meine Mutter sein. Dann erzählt sie mir, dass ihr erster Mann Deutscher gewesen sei und sie fast zwanzig Jahre in Stuttgart gelebt hätten. »Er hat bei Mercedes gearbeitet. Leider ist er viel zu früh gestorben.«

»Oh, das tut mir leid«.

»Das braucht dir nicht leid zu tun. Ich glaube, er hatte einen schönen Tod.« Synnöve, die Finnlandschwedin, legt eine kurze Pause ein. »Er hat auf einer Dienstreise einen Schlag bekommen. Im Auto, hinterm Steuer. Einfach so. Er ist auf einer Landstraße friedlich ausgerollt. Irgendwo am Rande vom Schwarzwald. Erst Stunden später hat man ihn bemerkt. Er saß in seinem Auto und war tot. Ich glaube, dass ist der schönste Tod, den ein deutscher Mann haben kann.«

Makaber, denke ich. Persönlich halte ich es nicht für erstrebenswert, in einem Mercedes das Zeitliche zu segnen, selbst dann nicht, wenn man dabei keinen Unfall verursacht und es in reizvoller Landschaft geschieht. Ich schaue kurz aus dem Fenster, das Flugzeug hat sich in Bewegung gesetzt und rollt auf die Startbahn. Sollte ich Synnöve fragen, was sie bei einem finnischen Mann für den schönsten Tod hält? Vielleicht wenn man beim Eislochangeln einbricht und binnen Sekunden in eisigen Fluten verschwindet? Oder wenn man beim Aufguss in der Sauna einem schmerzlos-sanften Hitze schock erliegt?

Meine neue Reisebekanntschaft nestelt nervös an ihrem Sicherheitsgurt. »Ich fliege zwar ziemlich viel«, lächelt sie gezwungen, »aber ich habe immer etwas Flugangst. Erzähl mir noch ein bisschen von dir, das lenkt mich ab.«

»Was soll ich denn erzählen?« – Statt direkt zu sagen, was sie hören will, beginnt Synnöve aufzuzählen, was sie bereits von mir weiß: »Du bist also mit einer Finnin verheiratet, und du bist Deutscher …« – »Nicht so ganz«, schmunzle ich, »streng genommen bin ich Finnlanddeutscher.« Synnöve lacht kurz auf. »Ach so. So etwas gibt es also auch?!« – Warum nicht, denke ich. Es gibt ja auch Tigerenten.

»Hast du Kinder?«, will Synnöve wissen.

»Ja, anderthalb.«

»Das verspricht wirklich ein interessanter Flug zu werden«, grient sie,

»anderthalb Kinder also?«

»Ja, eine Tochter, die nur noch gelegentlich zur Nahrungsaufnahme vorbeischaut und um ihr Taschengeld abzuholen, und einen Sohn, der am liebsten zu Hause hockt.«

»Mmh … wie alt sind denn die beiden?«

»Unsere Älteste ist sechszehn. Unser Jüngster ist rund zwei Jährchen jünger … Im nächsten Sommer feiert er Konfirmation.«

Persönlich finde ich es erstaunlich, dass das Konfirmationsfest in Finnland für fast jeden Heranwachsenden immer noch ein wichtiger Termin ist und mit protestantischem Ernst begangen wird. Und das, obschon viele Finnen Ostern für ein Eierfest halten und den Weihnachtsmann als Nationalhelden verehren.

Dann erhebt sich die Maschine in den Himmel. Der Sturzflug auf Finnland beginnt.

3. Muttersöhnchen: mamis

Es geht los, als wir den deutschen Luftraum verlassen haben und uns über der Ostsee befinden: Die Maschine beginnt zu rütteln und unruhig in der Luft zu liegen. Ich komme gerade von der Bordtoilette, als der Kapitän das Anschnallzeichen wieder anschaltet. Außerdem fordert eine Flugbegleiterin alle Passagiere per Durchsage dazu auf, Platz zu nehmen und sich festzuschnallen. Turbulenzen! Nichts Ernsthaftes. Synnöve sitzt starr in ihren Sitz gepresst und sieht gar nicht mehr braungebrannt aus, sondern eher käsig. Ich zwänge mich an ihr vorbei und setze mich.

»Könntest du mir noch etwas erzählen?«, bittet sie weinerlich, »Irgendetwas!«. Ich überlege kurz. Dann fällt mir ein passendes Gesprächsthema ein: »Du erinnerst mich an eine meiner Tanten.«

»Wirklich? Warum?«

»Das frag ich mich auch! Ihr seht euch eigentlich kaum ähnlich. Meine Tante hatte jedenfalls nie so komische Hütchen auf wie du.« Diese unhöfliche Spitze erlaube ich mir, um Synnöve abzulenken. Sie krallt sich aber nur an ihren Armlehnen fest und starrt stur geradeaus. Sie ist todernst: »Und weiter? Was kannst du noch erzählen von deiner Tante?«

»Sie konnte gut kochen und war kinderlieb.«

»Welches Sternzeichen hatte sie?«

»Keine Ahnung.« Von Sternzeichen, Horoskopen und ähnlichem Hokuspokus halte ich nicht viel, aber dass Synnöve danach fragt, verwundert mich nicht weiter.

»Meine Tante war sehr gläubig«, setze ich wieder an, »eine überzeugte Katholikin! Sie lebte nach dem Wahlspruch: ›Das Leben ist ein Jammertal‹.«

Synnöve schielt mich ungläubig von der Seite an.

»Meine Tante«, erläutere ich, »hatte keine hochgesteckten Ziele. Nichts von diesem modernen Kram: die Welt bereisen, sich selbst verwirklichen, berühmt werden, sich irgendwelche Wünsche erfüllen.«

Synnöve verzieht das Gesicht. Ich weiß nicht, ob aus Verachtung oder weil ihr schlecht ist. Unbeirrt berichte ich weiter: »Ich glaube, wenn man davon ausgeht, dass das Leben ein Jammertal ist, wird man selten enttäuscht. Meine Tante war jedenfalls immer sehr zufrieden.«

Die Maschine schaukelt bedenklich hin und her. Ein paar Reihen vor uns weinen Kinder. Es sind sicher die Kleinen der jungen Mutter, das Baby und das Mädchen mit der Tigerente. Auch mir wird zunehmend unwohl in meiner Haut. Da wir zu vorgerückter Stunde an einem frühherbstlichen Abend gestartet sind, ist es mittlerweile längst finster draußen. Aus dem Fenster ist nichts zu sehen außer den wackelnden, scheppernden Flügeln des Flugzeugs mit ihren rot blinkenden Signalleuchten. Es macht den Anschein, als würden um uns die wildesten Stürme toben. Synnöve sitzt angespannt neben mir. Mittlerweile hält sie die Augen fest geschlossen und murmelt leise vor sich hin. Ich erzähle ihr noch mehr von meiner Tante, dass sie immer Obst aus dem Garten eingemacht hat und jeden Sonntag zur Kirche ging und dass sie fünf Kinder großgezogen hat und kein Wort Hochdeutsch konnte. Synnöve hört mir gar nicht mehr zu, aber ich spreche weiter, weil es mich beruhigt, etwas zu tun zu haben. Unendlich lange Minuten vergehen. Hin und wieder ruckelt der Flieger und lässt die Fluggäste zusammenschrecken. Irgendwann geht mir der Gesprächsstoff aus. Ich schaue auf Synnöve. Sie ist so kreidebleich im Gesicht, wie man es sonst nur nach halbjähriger Polarnacht ist. Behutsam beuge ich mich in ihre Richtung, immer näher, um zu lauschen, was sie seit geraumer Zeit murmelt. Ob sie betet? Es dauert ein wenig, aber dann kann ich verstehen, was sie sagt. Ganz leise: »Das Leben ist ein Jammertal.« Ich lehne mich wieder zurück, schließe die Augen und murmele mit! Meine katholische Tante aus der rheinischen Provinz – Gott hab sie selig – hatte Recht.

Nach einiger Zeit werden die Schwankungen weniger. Zehn bis fünfzehn Minuten und der Spuk ist vorbei. Unter den Passagieren herrscht großes Aufatmen. Es macht sich eine fast kindlich-ausgelassene Stimmung breit, so als müsse man mit übertriebener Fröhlichkeit seine Erleichterung überspielen. Als schäme man sich, Angst gehabt zu haben. Das Anschnallzeichen erlischt und die Bordtoiletten werden gestürmt. Per Durchsage wird darauf hingewiesen, sicherheitshalber angeschnallt zu bleiben. Dennoch beginnt das Flugpersonal nach einiger Zeit sogar damit, Getränke zu servieren. »Ein Kaffee tut jetzt gut«, stöhnt Synnöve.

Bald darauf halten wir Kaffeebecher in unseren Händen. Da passiert es! Plötzlich und unvermittelt. Grausam, gnadenlos und brutal! Mit einem gewaltigen Ruck sackt die Maschine nach unten. Für einen kurzen Augenblick erleben alle Insassen ein Gefühl des freien Falls. Wer nicht angeschnallt ist, stößt sich den Kopf, die übrigen hält nur der Sicherheitsgurt auf ihrem Sitz. Ein lauter Aufschrei aus Dutzenden Kehlen erfüllt die dünne Luft in etwa 10.000 Metern Höhe. Es herrscht die nackte Panik. Kissen, Jacken, Tassen, Reisedokumente, komische Hütchen und Tigerenten fliegen durch den Raum. Und ich kann – als würde ich das alles in Zeitlupe erleben – für einen Moment mit ansehen, wie der Kaffee aus meinem Pappbecher herausschwappt. Ich bilde mir sogar ein, für Sekundenbruchteile mein eigenes Spiegelbild im goldgelben Milchkaffee zu erkennen. Im Angesicht äußerster Not und in den ungewöhnlichsten Situationen soll es, wie ich schon mehrfach gelesen habe, zu einer übernatürlichen Schärfung aller Sinne kommen. Ich kann es bestätigen! Vor mir weinen die kleinen Kinder, schräg neben mir hält sich das alte Ehepaar tapfer bei der Hand, das Unterhosen-Modell aus Südeuropa wimmert vor sich hin, Synnöve keucht und wünscht sich, friedlich in einem Mercedes sterben zu können. In meiner Nase liegt der Geruch eines massenhaften Adrenalinausstoßes, der zu Schweißausbruch aus tausenden Poren führt.

Ähnlich wie auf der Achterbahn, wenn der Wagen von einer Anhöhe herunterbraust und dann plötzlich eine Talsohle erreicht, fängt sich das Flugzeug wieder, die Schwerkraft kehrt auf brechreizartige Weise zurück und mein Kaffee klatscht auf mich herab. Als der Schreckmoment vorbei ist, wimmert, betet und flucht alles durcheinander. Dann meldet sich der Flugkapitän. Mit gehetzter Stimme versucht er die Gäste zu beruhigen, faselt mehrsprachig etwas von labilen Atmosphärenschichten. Es ist das, was man volkstümlich ein Luftloch nennt, in das wir geplumpst sind. Das Bordpersonal ringt um Haltung und versucht, Zuversicht auszustrahlen. Synnöve wagt es, ein Auge aufzumachen und in die Welt hinauszulugen. Der Flug bleibt unruhig. Es schaukelt, zittert, rüttelt und rattert. Aber in ein Luftloch stürzen wir zum Glück nicht noch ein zweites Mal. Der Flugkapitän und sein Kopilot melden sich mehrfach, sie teilen schwer verständliche Infos mit. Es ist von heftigen Stürmen vor der finnischen Küste und über Teilen des Binnenlandes die Rede. Dann die Mitteilung: Aus Sicherheitsgründen würden wir in Tallinn landen. Wir drehen ab Richtung Estland. Niemand beschwert sich. Hauptsache landen! Heil runterkommen. Festen Boden unter die Füße bekommen. Notfalls sogar in Stockholm. Im Angesicht des Todes sind auch finnische Fluggäste zu Zugeständnissen bereit. Ich überlege kurz, ob ich mein Mobiltelefon einschalten und meine Lieben daheim anrufen soll. Man weiß ja aus amerikanischen Filmen, dass man dann unter Schluchzen eingesteht, alle zu lieben. Ein letzter Gruß vor einer Landung mit fraglichem Ausgang ...

Nach einiger Zeit lassen sich im Dunkel der Nacht kleine Lichter unter uns erkennen. Wir nähern uns langsam dem Erdboden, schwankend und unsicher, denn auch über Estland fegen die Winde. Eine ungeheure Anspannung macht sich breit. Niemand spricht mehr ein Wort. Alle warten darauf, dass die Maschine aufsetzt und ausrollt und sicher zum Stehen kommt. Ein letztes Mal meldet sich der Flugkapitän. Er brabbelt etwas Unverständliches. Diesmal lassen mich selbst meine geschärften Sinne im Stich, es ist kaum ein Wort zu verstehen. Aber ich glaube, er stammelt etwas von ›Jammertal‹. Es knackt und dröhnt in der Lautsprecheranlage und ich hoffe, dass der Pilot besser fliegt, als er Durchsagen macht. Synnöve drückt meine Hand so sehr, dass es anfängt, weh zu tun. Dann rumpelt und pumpelt es, Reifen quietschen, die Bremsklappen werden hochgefahren, der Luftwiderstand erzeugt pfeifende Geräusche. Wir haben aufgesetzt und leben noch. Nachdem ich unter Anstrengung meine Hand aus Synnöves Griff freigewunden habe, betätige ich mich begeistert als Landungsklatscher, als wäre ich Reise-Anfänger. Der Applaus ist allseits kräftig und von Ernsthaftigkeit geprägt, für finnische Verhältnisse geradezu frenetisch.

Wer nach Finnland will und in Estland landet, hat knapp sein Ziel verfehlt. Aber besser das, als unfreiwillig in der kühlen Ostsee zu baden. Nun hoffen alle darauf, möglichst bald das Flugzeug verlassen zu können. Noch einmal ist Geduld gefragt. Synnöve und ich gehen fast als Letzte von Bord. Vor uns stapft das alte Ehepaar mit wackelnden Knien zum Ausgang, der Herr mit den buschigen weißen Augenbrauen und die alte Frau mit dem Dutt. Sie halten sich selbst im schmalen Gang des Flugzeugs bei der Hand. Bewundernswert: zwei Unzertrennliche, die allen Stürmen trotzen. Und auch das junge Paar sehe ich ein letztes Mal. Dem männlichen Unterhosen-Modell schlabbern die Marken-Jeans um den Hintern, als hätte er die Hosen voll. Verübeln kann ich’s ihm nicht. Es gehört zum natürlichen Fluchtverhalten aller großen Säugetiere, sich bei Gefahr zu erleichtern. Aus mehreren Schritt Entfernung höre ich ihn wehklagen: »Je n’ai jamais rentrer à la Finlande ...« Das Modell ist also Franzose. Seine finnische Freundin höre ich gereizt zu ihm (auf Deutsch) sagen »Ja, Pascal, ja. Alles ist gut«, bevor sie mit den Augen rollt und (auf Finnisch) zischt: »Mikä mamis! (Was für ein Muttersöhnchen!)«

Synnöve hat mittlerweile auch ihr verloren gegangenes Hütchen wiedergefunden, das ihr vom Kopf geflogen war.

»Oh, was ist das denn?«, sagt sie verwundert und hebt ein Stofftier auf, das verloren unter einem Sitz gelegen hat. Die Tigerente. »Das gehörte doch dem kleinen Mädchen«, weiß Synnöve.

»Ja, genau!«, bestätige ich, »Die junge Mutter mit ihren zwei Kindern ... Die Kleine war bestimmt völlig verstört.«

»Die drei finden wir hoffentlich noch im Gedränge!« Kurz entschlossen stopft Synnöve das Stofftier in ihre große Handtasche. »Damit das arme Kind sein Schmusetier wiederbekommt!«, sagt sie und lächelt wieder.

4. Die Ostsee liegt südlich von Finnland. Itämeri

Finnland und Estland – das ist fast wie Deutschland und Holland: Lage, Landschaft, Leute und nicht zuletzt die Sprache sind einander viel zu ähnlich, um sich ernsthaft mögen zu können. Das größere Land hat wenig gegen das Kleinere, aber umgekehrt lebt man eine wohlgepflegte Ablehnung. Über eisnadelspitze Abneigungen in Sachen Finnland-Estland kann auch nicht hinwegtäuschen, dass es ausgeprägte wirtschaftliche Beziehungen und viele politische Sonntagsreden gibt, in denen man sich als ›Brudervölker‹ bezeichnet. Hinter vorgehaltener Hand beschimpfen die Esten die Finnen als stumpfsinnige porot (Rentiere), und das ist durchaus ab wertend gemeint, auch wenn die Hirsche der Tundra ganz niedlich sind. Auf ähnliche Weise schmähen die Holläner ihre deutschen Nachbarn als Moffen.

Nach meiner Notlandung vom gestrigen Abend liegt ein wildes Durcheinander im Flughafengebäude von Tallinn mit langen Wartereien hinter mir und schließlich eine Unterbringung im Hotel Olümpia.

Nun sitze ich beim Frühstück im Hotel Olümpia mit diesem komischen ü im Namen und freue mich, dass ich noch lebe und dass mein Frühstücksei hart gekocht ist. Beim Frühstück habe ich leider den Fehler begangen, die Kellner auf Finnisch anzusprechen, in der irrigen Ansicht, jeder Este im Gastgewerbe verstehe die Sprache des großen Nachbarn. Ebenso wie jeder holländische Frittenbudenbesitzer seine Gäste auf Deutsch bedienen kann. Die finnischen Fremdsprachenkenntnisse der estnischen Kellner sind zwar tatsächlich ausreichend, aber sie wollen erst förmlich gefragt werden, ob sie Finnisch verstehen.

Bei einer Kellnerin, die mir Kaffee nachgießt, gebe ich mich als Deutscher zu erkennen, und habe den Eindruck, dass ich anschließend etwas freundlicher bedient werde. Ich werde nicht mehr als Rentier angesehen. Es tut mir leid, dass meine finnischen Wahl-Landsleute nicht überall auf der Welt einen makellosen Ruf genießen. Fairerweise muss man sagen, dass die Hoch prozent-Touris, die Tallinn unsicher machen, für die finnische Bevölkerung genauso wenig repräsentativ sind wie germanische Sauf-Touristen auf Mallorca für den Rest der Deutschen.

Gegen 10 Uhr meldet sich die Fluggesellschaft mit neuen Informationen. Es bestehe die Möglichkeit, auf einen Ersatzflug von Tallinn nach Tampere zu warten, der gegen 16 Uhr starten soll, oder gegen Mittag eine Fähre nach Helsinki zu nehmen und mit dem Zug weiterzureisen. Durch die gestrigen Unwetter sind auch im Fährverkehr die Zeitpläne etwas durcheinander geraten. Eine Vertreterin der Fluggesellschaft verspricht, dass man für die Kosten aufkomme, und stellt Gutscheine aus. Ich entscheide mich für die Variante Fähre-Zug. Meine Lust, Flugzeuge zu besteigen, ist für die nächste Zeit gedeckt. So kommt es, dass ich mehrere Stunden später in einer außerplanmäßigen Fähre von Tallinn nach Helsinki sitze und über den Finnischen Meerbusen schippere.

Der Himmel über dem Meer ist diesig und verhangen. Das Sturmwetter von gestern ist bereits Geschichte. Es jagen keine wilden Winde mehr über die Wellen, stattdessen nieselt es und Dunst hängt über dem Wasser.

Da ich keine Kabine habe, wo ich die Füße hochlegen könnte, und weil es zu kühl ist, um an der Reling zu stehen, schlage ich meine Zeit auf der Fähre damit tot, herumzusitzen und auf das graue Gewässer hinauszusehen. Wieso nennen die Finnen dieses Meer eigentlich Itämeri, wörtlich: Ostsee, obwohl es für sie doch die Südwestsee sein müsste?

Zufällig entdecke ich irgendwann an Bord meine finnlandschwedische Reisebekanntschaft auf einer Bank sitzend. Wir hatten uns am gestrigen Abend im Gewimmel der Wartehalle verloren. Synnöve hat kleine Kopfhörer im Ohr und lauscht verträumt der Musik, die sie von ihrem Mobiltelefon abspielt. Ich setze mich auf einen Sessel ihr gegenüber und nicke ihr zu. Als sie mich erkennt, nimmt sie die Kopfhörer ab und begrüßt mich freudig.

»Magst du Wagner?«, fragt sie ohne Vorwarnung.

»Ja … aber nur alle drei Jahre.«

»Ich finde Wagner wunderbar«, sagt Synnöve schwärmerisch, »ganz, ganz wunderbar.«

»Die Ouvertüren klingen klasse. Aber der große Rest ist nicht mein Ding.«

»Nein, warum nicht?«, will sie wissen.

»Die Opern sind einfach zu lang.«

»Zu lang?«

»Ja! Zu lang und zu langweilig. Die sind aus den Zeiten, als man noch drei Tage lang Hochzeit feierte. Oder vierzig Tage fasten konnte. Dafür hat heute niemand mehr Geduld. Wer möchte schon vier bis fünf Stunden in der Oper sitzen?«

»Also ich schon …«, sagt sie trotzig.

»Außerdem sind die Storys alle von vorgestern.«

»Wieso von vorgestern?«

»Besser gesagt aus dem Mittelalter. Tannhäuser, Lohengrin und wie sie alle heißen … es geht doch immer nur um Erlösung und Seelenheil.«

Synnöve grinst: »Ja, aber geht es darum nicht immer?«

Ich muss erkennen, dass die finnlandschwedische Dame und meine streng katholische Tante aus dem Rheinland, die immer zur Kirche gerannt ist, mehr gemeinsam haben, als ich anfangs dachte.

Dann seufzt sie, als wäre ihr etwas Schlimmes eingefallen. »Schrecklich war das gestern, oder?«

Alles, was wir gestern im Flugzeug nur flüchtig angesprochen haben, will Synnöve jetzt noch einmal genauer von mir wissen: alles zum Grund meiner Reise sowie zu Herkunft, Familie und Beruf.

Synnöve drängt mich, ihr ein paar Bilder von meiner Familie zu zeigen, die ich ihr nach kurzem Zögern auf dem Display meines Telefons präsentiere. Als sie ein Bild meiner goldblonden Gemahlin Eila zu sehen bekommt, meint Synnöve anerkennend: »Eine schöne Frau!« Ich nicke.

»Und eine schöne Tochter«, sagt sie beim Anblick eines Fotos von Senja, unserer Ältesten. »Da werden die Schwiegersöhne sicher bald auf der Lauer liegen.«

Nix da!, denke ich, Senja soll erst mal in aller Ruhe sechsundzwanzig werden, dann können wir weitersehen.

»Ein netter Junge.« So kommentiert sie ein Foto von unserem Jüngsten, von Benni. Hat die eine Ahnung! geht mir durch den Kopf. Wäre Benni vor 400 Jahren geboren worden, hätte man ihn wohl längst der Schwarzkunst und Hexerei angeklagt. Denn in seinem Zimmer hat er sich ein kleines Labor aufgebaut, wo er Versuche durchführt, die mir zunehmend unheimlicher werden. Neulich hat er aus Cent-Münzen, Alu-Folie, Essigsäure und Küchenpapier eine Volta’sche Säule gebastelt, um Strom zu erzeugen. Vor meiner Abreise plante er den Bau einer so genannten Tesla-Spule aus Papprolle, Kupferdraht, Metallkugel und Transformator, um damit Hochspannung zu erzeugen und es im eigenen Zimmer blitzen zu lassen. Ich würde mich nicht wundern, wenn er in meiner Abwesenheit unser Haus abgefackelt hätte.

Zum guten Schluss folgen Bilder unserer Katze Fiona. Bevor Synnöve etwas zu unserem Vierbeiner sagen kann, fahre ich ihr ins Wort: »Sag jetzt bloß nicht: süße Mieze! So eine Fotografie kann trügen. Dieses Wollknäuel ist eine Mörderbestie.«

»Die sieht doch wirklich süß aus! Ich habe übrigens auch eine. Sie heißt Snövit.« Synnöve schwärmt mir kurz von ihrer schneeweißen Langhaarkatze vor, die schon seit vielen Jahren bei ihr wohne.

»Katzen mögen ja niedlich aussehen«, gebe ich zu, »aber unsere Fiona ist eine Bestie. Im letzten Sommer hat sie in unserem Garten vor meinen Augen einen unschuldigen Schmetterling in Stücke gerissen.«

»So sind die Katzen nun mal.« Synnöve rückt ihr komisches Hütchen zurecht. »Du hast sicher schon davon gehört, dass es Katzenmenschen und Hundemenschen gibt. Ich finde, dass es auch Katzenvölker und Hundevölker gibt.«

»Ach …«

»Die Deutschen sind jedenfalls ein Hundevolk.«

Ich verziehe ungläubig mein Gesicht. »Du hast manchmal komische Ansichten.«

»Doch, so ist es«, beharrt sie. »Die Deutschen sind alle Rudeltiere, sehr gesellig. Immer wachsam, manchmal etwas treudoof. Und oft bellen sie zu viel.«

»Ja, und die Finnen?«

»Eindeutig ein Volk der Katzenmenschen! Still, einzelgängerisch, eigenwillig. Manchmal können sie auch verschmust sein. Dann schnurren sie vor dem warmen Kamin. Aber alles muss nach ihrem Kopf gehen.«

»Aber sie sind keine Mörderbestien?!«, werfe ich ein. Synnöve spitzt die Lippen. »Zur Not können die Finnen ihre Krallen ausfahren.«

Synnöve mustert mich eingehend. »Was bist du? Bist du eher ein Katzenmensch oder eher ein Hundemensch?«

Solche Zuordnungen halte ich für fragwürdig. Das wirklich wahre Leben ist immer viel komplizierter. Aber ich versuche mitzuspielen: »Sicher bin ich eher ein Eichhörnchenmensch.«

Sie nickt, als würde sie meine Antwort für voll nehmen. »Aha. Eichhörnchenmensch! Das heißt?«

»Ich sammle den ganzen Sommer Nüsse und bin froh, wenn ich über den finnischen Winter komme.«

Ein laut dröhnendes Nebelhorn unterbricht unser Gespräch. Es wird zunehmend trüber. Der Dunst hat sich allmählich zu Nebelbänken verdichtet, die uns wie Bettlaken umwabern.

Synnöve schaut aus einem der großen Fenster und schüttelt sich: »Unheimlich!«

Wir unterhalten uns noch eine Weile über Wagner und die Welt, bevor ich mich dazu entschließe, doch einmal an Deck zu gehen und mir die Füße zu vertreten, obwohl es draußen so ungemütlich aussieht. Das Nebelhorn dröhnt nun in regelmäßigen Abständen. Unheilschwanger hängt der Nebel über der grauen See. Die nasskalte Seeluft kriecht einem sogleich in die Knochen. Ich schlage den Kragen meines Mantels nach oben. Es riecht modrig wie eine feuchte Gruft. Die finnische Südwestsee ist eine dumpfe Suppe. Schemenhaft kann ich erkennen, wie ein anderes Schiff in einiger Entfernung an uns vorbeifährt. Es kommt mir unwirklich vor und wie auf einer Leinwand. Als der Nebel etwas aufreißt, habe ich das Gefühl, dass das andere Schiff plötzlich zum Greifen nahe ist. Es scheint lautlos über dem Wasser zu schweben und macht einen bedrohlichen Eindruck. Am Bug erkenne ich eine Flagge in den Farben Rot, Blau und Weiß, die trostlos im Wind flattert. Fast so, als würde sie mir zuwinken. Mir läuft es eisig kalt den Rücken herunter. Er ist es: der fliegende Holländer! Der Verfluchte der Meere kreuzt unseren Weg und wird uns in den Untergang reißen.

Mein Schreck währt jedoch nur kurz, dann lichtet er sich wie ein Morgennebel. Der fliegende Holländer ist in Wirklichkeit ein russischer Tanker. Zu solchen Verwirrungen kommt es, wenn man zu viel von Wagner redet und zwei Länder dieselben Farben in ihren Fahnen führen.

5. Sibelius

Wenige Stunden später lösen sich die Nebelschwaden allmählich auf und an der Küste vor uns erstrahlt Helsinki im Licht der herbstlichen Abend sonne. In Augenblicken wie diesen kann ich verstehen, warum man Helsinki die Perle der Ostsee nennt. Der klassizistische weiße Dom mit seinem kupfergrünen Dach wird sichtbar, schmucke Häuserfronten und Pracht bauten sowie die orthodoxe Uspenski-Kathedrale aus rotem Ziegelstein, die zum Zeichen der Verbundenheit mit Finnlands lutherischer Glaubensmehrheit ähnlich grün bedacht ist wie der Dom.

Es dämmert bereits, als die nächste Etappe meiner ungewöhnlichen Heimreise beginnt. Nach Flieger und Fähre werde ich die Kilometer bis Tampere mit dem Zug zurücklegen. Die finnische Bahn gehört zu den pünktlichsten der Welt, sie genießt aber in der heimischen Bevölkerung nur einen mäßigen Ruf, denn jede kleine Verspätung wird mit völkischer Verachtung gestraft. Unzuverlässigkeit ist eine Untugend, und in diesem Denken sind die Finnen den Deutschen ähnlicher als ihnen lieb ist. Die Ticket-Automaten der Bahn gelten als launische Maschinen und das gestaffelte Preissystem als undurchschaubar. Nur das einfache Personal ist unschuldig und wird als freundlich geschätzt.

Mit der Eisenbahn geht es also nach Tampere. Wenn Helsinki die Perle der Ostsee ist, dann ist Tampere zweifelsohne der Rohdiamant vom Binnenland: klumpig, ungeschliffen, aber überaus wertvoll. Manch einer mag diesen Edelstein auf den ersten Blick mit einem Glassplitter verwechseln, doch Fachleute und Einheimische wissen um den wahren Wert von Tampere, der größten Stadt in ganz Nordeuropa, die nicht an der Meeresküste liegt.

Synnöve mit ihrem komischen Hütchen und ich nehmen denselben Zug, und wir haben uns zu einem Imbiss im Speisewagen verabredet. Mittlerweile weiß ich von ihr, dass sie Künstlerin ist, die vom finnischen Staat eine Künstlerrente auf Lebenszeit bezieht und die es sich auf ihre alten Tage erlauben kann, ganz ihrer Hingabe für Bilder zu leben. Offen gestanden ist mir bei Synnöves Ausführungen unklar geblieben, welcher Art ihre Bilder sind. Das Verfahren ihrer Herstellung, eine Mischung aus Malerei und Fotografie, klang jedenfalls pfiffig. Mit ihrem jetzigen Lebenspartner unterhalte sie ein Atelier in Mariehamn, der Hauptstadt der autonomen Åland-Inseln. Und nach Tampere sei sie nur geschäftlich unterwegs, sie wolle dort einen Kunstmakler treffen. Es muss schön sein, ein finanziell unbeschwertes Rentnerleben zu führen, durch die Weltgeschichte zu reisen und von allen als große Künstlerin bewundert zu werden, denke ich und überlege, ob ich den Beruf verfehlt habe. Als ich sie im Speisewagen treffe, sitzt sie bereits an einem Tisch und schaut aus dem Fenster. Wieder hat sie Kopfhörer auf.

»Na? Wieder Wagner?«, frage ich, als ich mich zu ihr setze.

Synnöve nimmt die Kopfhörer ab. »Nein, diesmal Sibelius.«

»Ach so.«

»Sibelius ist wie Wagner mit finnischen Vorzeichen«, erklärt Synnöve und nimmt ihre Brille mit dem klobigen Gestell von der Nase.

»Sibelius hat aber meines Wissens keine Opern geschrieben, oder?«

»Sibelius kommt eben ohne lange Worte aus. Er ist Finne. Aber die Musik spricht dieselbe Sprache. Sie ist dramatisch und nordisch und sehr mystisch.«

Und während Synnöve das sagt, wackelt Thors Hammer an ihrem Hals.

»Du meinst, bei beiden geht es um Seelenheil und Erlösung?«

»Ja, genau. Nur dass Wagner inspiriert ist von Minnesängern und Gralsrittern. Sibelius aber von der finnischen Mythologie.«

Synnöve sagt eine Zeitlang nichts, hängt ihren Gedanken nach und schaut zum Fenster hinaus. Dann seufzt sie: »Ja, der finnische Winter steht schon vor der Tür.« Nachdenklich fährt sie fort: »Immer wenn die dunkle Jahreszeit heran rückt, habe ich das Gefühl, als würde ich in einen dunklen Tunnel ein tauchen. Und Weihnachten ist wie eine Zwischenetappe, dann sieht man langsam wieder Licht am Ende des Tunnels: den nächsten Sommer.« Nach einer Weile kommt sie noch einmal auf die gestrige Flugreise zu sprechen. »Was hast du gedacht, als es im Flieger so gewackelt hat?«

»Alles Mögliche.«

»Hast du nicht gedacht: Wenn es jetzt zu Ende ginge, dann würde vieles ungesagt bleiben und vieles ungetan?«

Ich glaube, die Musik hat Synnöve in eine romantische Stimmung versetzt.

»Na ja«, gebe ich zu, »so etwas Ähnliches ging mir schon durch den Kopf.«

»Dass man zum Beispiel seiner Familie noch sagen müsste, wie gern man sie hat.«

Ich nicke.

»Und hast du es getan?«

»Was?«

»Ihnen gesagt, dass du sie gerne hast. Dann, als der Flug vorbei war und wir gelandet sind. Als du sie wieder anrufen konntest.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, das nicht.«

»Was hast du ihnen denn erzählt, deiner Frau und deinen Kindern?«

Ich überlege kurz. »Dass es ziemlich gewackelt hat im Flugzeug und wir in Tallinn landen mussten. Ja, und ich hab erzählt, dass ich hoffe, in ein vernünftiges Hotel zu kommen und meinen Koffer zu kriegen.«

»So ist das!«, sagt Synnöve ein wenig enttäuscht. »Kaum ist die Gefahr vorbei und die Angst wieder weg, macht man sich Gedanken um seinen Koffer. Du hättest es ihnen sagen sollen!«

»Was?«

»Na, dass du sie liebst!« Synnöves Stimme wird energisch und einige Leute sehen sich nach uns um.

»Das wissen sie doch«, wende ich halbherzig ein. »Außerdem tut man so etwas nur in amerikanischen Filmen. Oder vielleicht in Wagner-Opern.

Aber wir sind in Finnland.«

Synnöve sieht mich erzürnt an. So einen Blick entwickeln nur Personen, deren Vorfahren einst zur finnlandschwedischen Oberschicht gehört haben oder die dreißig Jahre lang Lehrerin waren. »Sag es ihnen!«, befiehlt sie mir, »Und tu all die Dinge, die du schon immer machen wolltest.«

Ich überlege kurz, was ich schon immer einmal machen wollte. Eine Fahrt im Heißluftballon über Tampere und Umgebung hab ich schon seit längerem unternehmen wollen, um die Welt zu bewundern, wie finnische Schwäne sie sehen. Und in Lappland wollte ich einmal miterleben, wie im Frühjahr die halbwilden Rentiere zusammengetrieben, wie die Kälber markiert und Schlachttiere aussortiert werden. Poroerotus, die Rentierscheide. Ansonsten habe ich keine großen Wünsche, die mit entsprechender Zeit und ausreichend Geld nicht erfüllbar wären. Anders verhielte es sich, wenn Synnöve eine gute Fee wäre und zaubern könnte. Dann würde ich mir Frieden auf Erden und Finnland für alle wünschen!

Unvermutet sagt Synnöve: »Dein Sternzeichen ist Waage, stimmt’s?«

»Ja«, gebe ich zu, »wieso?«

»Das merkt man. Waage-Menschen sind ausgleichend und zurückhaltend.«

Blödsinn, denk ich. Die sollte mich mal erleben, wenn ich einen Affen kriege! Synnöve ahnt nicht, wie streng ich zum Beispiel mit unserer Katze ins Gericht gehen kann, wenn sie wieder mal ihren Napf nicht leerfressen will und trotzdem um neues Futter bettelt, weil ihr das alte schon zu trocken ist.

Wie bestellt, miaut es in diesem Moment aus meiner Manteltasche.

»Hast du etwa eine Katze bei dir?«, fragt Synnöve etwas irritiert.

»Nein, das ist nur mein Klingelton für Textnachrichten.«

»Wie süß!«, findet Synnöve. Wie kommt es nur, dass ältere Damen immer alles süß finden?

Ich hole mein Telefon hervor und entdecke eine Mittelung von Benni.

»Mein Sohn schreibt mir.«

»Sicher vermisst er seinen überfälligen Vater.«

»Das will ich hoffen«, lache ich, »aber er fragt mich auch, ob ich ihm etwas von meiner Reise mitgebracht habe.«

Synnöve setzt ihre Brille wieder auf. »Was wünscht sich denn der Herr Sohn?«

»Er wollte, dass ich ihm Magnesium und Stahlwolle mitbringe.«

»Das sind aber seltsame Mitbringsel!«

»Mein Sohn will für Weihnachten Wunderkerzen basteln.«

Synnöve seufzt. »Hach, es muss schön sein, wenn die Kinder einen erwarten. Wenn sie noch klein sind und zu Hause wohnen. Und wenn sie zu Weihnachten etwas basteln wollen. – Eure Kinder sind sicher zweisprachig.«

»Unsere Katze aber auch«, erkläre ich. Allerdings bin ich mir in meinem tiefsten Innern unsicher, ob unsere Mieze mehr finnische oder deutsche Züge trägt. Tatsache ist jedenfalls, dass sie liebend gerne in unserer aufgeheizten Sauna liegt, was ihre finnische Prägung verrät. Andererseits läuft sie immer eilig davon, sobald der erste Aufguss auf die heißen Steine prasselt.

Das wiederum erinnert mich eher an einen deutschen Sauna-Anfänger.

»Eine zweisprachige Katze«, Synnöve hebt anerkennend die Augenbrauen,

»dann muss sie aber schlau sein.« Auch diesmal muss ich ihr innerlich widersprechen. Unsere Katze ist dumm wie ein Hefeteilchen ohne Mandelfüllung. Allzeit pflanze ich für sie das schönste Katzengras, doch anstatt daran zu rupfen, knabbert sie mindestens einmal pro Monat an unserer Yucca-Palme und kotzt anschließend auf den Wohnzimmerteppich. Sie ist ein Tier, das aus Erfahrung nichts dazulernt, sie ist zweisprachig unbelehrbar.

Inzwischen hat die untergehende Sonne ihr Restlicht versprüht. Nunmehr beleuchtet ein halbvoller Mond das Umland. Wir nähern uns der mittelfinnischen Region Pirkanmaa. Allerorten ist zu erkennen, wie der Sturm vom letzten Abend gewütet hat. Überall liegen ungeworfene Bäume und abgerissene Äste herum.

Später, nach der Ankunft am Bahnhof von Tampere, tauschen wir zum Abschied noch unsere Adressen aus.

»Und denk daran, was du tun willst! Was du deiner Familie noch sagen sollst«, mahnt Synnöve mit einem Augenzwinkern, bevor sie mit ihrem komischen Hütchen auf dem Bahnsteig in der Menge verschwindet.

6. Paska-l

Die Schlussmeter meiner Heimreise, vom Bahnhof in Tampere zu unserem Haus in der Vorstadt, lege ich mit dem Taxi zurück. Ich fahre gerne Taxi, vor allem wenn ich dienstlich unterwegs gewesen bin und mir tagelang akademische Schaumschlägerei habe anhören müssen. Taxifahrer in Finnland bilden ein gutes Gegengewicht, denn sie sind die meistgeerdeten Personen Europas. Nichts Menschliches ist ihnen fremd. Sie befördern Kinder in dünn besiedelten Gebieten, die Angst vor Wölfen haben, zur nächsten Schule, und sie bringen Alte zum Onkel Doktor. Vieles davon bezahlt der Sozialstaat und es ist klar, warum in Finnland die Steuern so hoch sind. Taxifahrer transportieren Angetrunkene, Liebeskranke, Lebensmüde, Geschäftsleute und Freunde des Wochenendes. Sie haben für gewöhnlich schon erlebt, dass Kunden nicht zahlen konnten und dass Besoffene auf der Rückbank bröckelhusteten. Taxifahrer wissen immer viel zu erzählen, und das tun die meisten auch zur Genüge, sofern Fahrer und Fahrgast dieselbe Sprache sprechen. Mein heutiger Taxifahrer flucht übers Wetter, das in den letzten Jahren immer öfter Kapriolen schlägt. Er beginnt mit seinen Schimpftiraden, sobald er gehört hat, wohin die Fahrt gehen soll, und spricht danach ohne Pause. Jedes dritte Wort aus seinem Munde ist saatana, wörtlich »Satan«, und verwendet es wie andernorts »Verflucht« oder »Verdammt nochmal!«. Der Taxifahrer flucht über umgestürzte Bäume, die Feuerwehr und Rettungsdienste schneller aus dem Weg räumen sollten. Schuld an allem sei die Regierung.

Die Fahrt dauert kaum eine Viertelstunde. Ich zahle bar, der Taxifahrer bedankt sich kurz, dann flucht er darüber, dass er heute Nachtschicht hat, und braust davon. Insgesamt fühle ich mich von ihm bestens bedient. Finnische Taxifahrer machen keine Umwege, um ihre Kundschaft zu schröpfen, und sie fahren auch nicht absichtlich langsam, sondern neigen im Gegenteil zu einer großzügigen Auslegung von Geschwindigkeitsbeschränkungen. Obendrein erwarten sie kein Trinkgeld. Alles ist geradlinig.

Ich betrete unser Haus durch die Waschküche, den Dienstboteneingang, wie ich ihn scherzhaft nenne. Ich habe kaum die Tür hinter mir geschlossen, als mein Sohn Benni mit einem Jubelruf auf mich zuspringt. In einer Mischung aus Umarmung und Würgegriff fällt er über mich her, und ich muss mich wundern, was aus dem kleinen Jungen geworden ist, den ich vor wenigen Jährchen noch auf den Schultern getragen habe. Benni wird immer größer und schwerer, und in absehbarer Zeit wird er mir wohl über den Kopf wachsen. Er ist mit seinen fast vierzehn Jahren in einem Alter, in dem andere Jugendliche ihren ersten Vollrausch haben, aber statt auszugehen werkelt er lieber in seinem Chemielabor herum. Er ist Spätentwickler und würde am liebsten noch in die Vorschule gehen.

Nachdem ich seine erste Begrüßung heil überstanden habe, lässt sich auch unsere Tochter Senja kurz blicken, um mich grinsend zu begrüßen. Sie ist das genaue Gegenteil ihres Bruders, denn sie wäre am liebsten schon achtzehn, um ausziehen zu können und ihr langweiliges Elternhaus hinter sich zu lassen.

»Hallo, Schatz!«, höre ich aus der Küche. Das ist Eila, meine Frau. Sie bereitet soeben einen Abendimbiss aus Karelischen Piroggen und Eierbutter für uns zu.

Man stelle sich vor, man unternimmt eine Reise und hat niemanden, dem man sich mitteilen kann. Das muss schrecklich sein und lässt sich wahrscheinlich nur durch Soziale Medien kompensieren in der Hoffnung, wenigstens die gesichtslose Weltöffentlichkeit zum Publikum zu haben. Ich hingegen darf mich über dankbare Zuhörer freuen, die bei Tisch alles über meinen Beinah-Absturz hören wollen.

Kaum steht mein Koffer geöffnet im Flur, macht es sich unsere Mieze darin gemütlich und kuschelt sich zwischen halbwegs gebügelte Hemden und Schmutzwäsche. Das tut sie immer. Sie mag offen stehende Taschen und Koffer und springt selbst in leere Einkaufsbeutel. Die Kinder nennen das ihren »Reingehdrang«. Ich finde, unsere Mieze ist verhaltensgestört.

Bei Karelischen Piroggen und Eierbutter gebe ich meiner feutschen Familie ausführlichen Rapport über meine Dienstreise nach Berlin. Am ausführlichsten berichte ich vom Luftloch auf dem Rückflug und von der Frau mit dem komischen Hütchen, die im Flugzeug meine Hand halten wollte, von dem alten Ehepaar, das sich wacker aneinanderklammerte, von der Mutter und ihren herzerweichend weinenden Kleinkindern und auch von dem Werbekatalog-Traumpaar bestehend aus junger Finnin und französischem Freund, der aussah wie ein Unterhosen-Modell, das nach dem Flug die Hosen voll hatte und auch noch Pascal hieß.

»Pascal … Paska-l«, höhnt Senja und schüttelt widerwillig den Kopf. In finnischen Ohren klingt das eher widerlich, denn paska heißt nichts anderes als »Scheiße«. Ich bin kaum mit meinen Ausführungen am Ende angelangt, als mir unsere Katze auf den Schoß springt. Vom Kofferhocken hat sie wohl vorerst genug und nun tut sie so, als hätte sie mich vermisst, in Wahrheit will sie aber nur gekrault werden und hat rein zufällig mich als Dienstleister ausersehen. Dennoch halte ich den Moment für gekommen, um zu tun, was jeder guter Ehemann und Vater tun sollte, und was mir der schwerelose Kaffee im Luftloch und die Finnlandschwedin Synnöve deutlich vor Augen geführt haben. Während ich unsere Mieze wie ein Baby auf dem Arm halte und ihren Hals kraule, sage ich feierlich: »Ja, was ich noch sagen wollte …« Ich lege eine bedeutungsschwere Pause ein und räuspere mich. Leider beginnt Eila schon damit, den Tisch abzuräumen, aber nun lasse ich mich durch nichts mehr aufhalten. Mit fester Stimme gestehe ich: »Ich liebe euch alle.«

»Ach so«, sagt Eila. »Bist du satt geworden?«

»Warum hast du mir eigentlich kein Magnesium mitgebracht?«, will Benni noch wissen.

Und Senja ruft vorlaut dazwischen: »Ich glaube, Franzosen wären nichts für mich«. Dann springt sie auf, als hätte sie es plötzlich eilig, lacht noch über den Namen Paska-l und will in ihr Zimmer verschwinden. Fiona, unsere Katze, gähnt gelangweilt auf meinem Schoß. Weitere Reaktionen lockt mein Geständnis nicht hervor.

»So Kinder«, verkündet meine Frau streng, »es wird Zeit ins Bett zu gehen. Morgen ist Schule!«

Ich hätte es wissen müssen! Solche Geständnisse passen nur in amerikanische Filme oder in Wagner-Opern. In eine Welt wie das wirklich wahre Finnland passen sie nur, wenn man auf dem Sterbebett liegt oder wenn man betrunken ist.

7. Sommerhäuschen: mökki

In unserer Küche steht ein Kühlschrank, der nachts brummt wie ein Bär im Winterschlaf. Ich mag dieses Geräusch, es wirkt beruhigend und einschläfernd. Und einem alten Kühlschrank kann man es nicht verübeln, dass er schnarcht und Geräusche macht.

Im Gegensatz dazu ist unser Radiowecker ein lärmender Störenfried. Dieses elende Ding geht immer schon an, obwohl ich noch nicht ausgeschlafen bin. Ich bin sicher, das macht er mit Absicht. Dann dudelt er ohne Gnade geschmacklose Musik in meine Ohren. Zwischendurch melden sich Radiomoderatoren, die künstlich gute Laune verbreiten und den Muntermacher spielen.

So ist es auch am Morgen nach meiner Ankunft. Der Radiowecker geht an und der Tag beginnt, ohne mich zu fragen. Unsere Miezekatze springt zu uns ins Bett und miaut jämmerlich, weil sie gefüttert werden will. Kurz darauf hüpft Senja, unsere Tochter, ins Badezimmer und duscht sich, was sie öfter tut, als für ihren ökologischen Fußabdruck gut ist. Zwischendurch lässt sie scheppernd den Klodeckel im Badezimmer herunterfallen, obschon ich ihr seit dem Beginn ihres vierten Lebensjahres versuche beizubringen, dass man das WC auch geräuschlos schließen kann. Benni muss geweckt werden. Er schleppt sich ebenfalls ins Badezimmer und schneidet vor dem Spiegel Grimassen. Er trainiert seit Monaten das Gesicht eines Massenmörders.

»Hast du eigentlich ein Problem?«, keift ihn seine Schwester an, die morgens immer schlecht gelaunt ist, weil ihre Haare nie so liegen, wie sie sollen. Während die Kinder sich wie jeden Morgen streiten, ziehe ich mir einen Mantel über den Schlafanzug und tapere noch im Halbschlaf zu unserem Briefkasten an der Straße, um die Morgenzeitung zu holen. Dieser frühe Frischluftschock weckt mich besser als Dudelmusik aus dem Radio.

Beim Zeitungholen treffe ich einen Mann, den ich gut kenne, weil unsere Briefkästen Nachbarn sind. Er heißt Veikko, ist Ingenieur und immer gut gelaunt. »Moro!«, begrüßt er mich. Im Stadt-Dialekt von Tampere bedeutet das so viel wie »Guten-Morgen!-Wie-geht’s?-Schönes-Wetter-heute-nicht-wahr?«. Veikko lächelt mir zu. Er ist immer freundlich und fröhlich und hätte das Zeug zum Morgen-Moderator im Radio.

»Moro!«, antworte ich, was in der Entgegnung so viel heißt wie »Dankegut!-Und-selbst?-Das-Wetter-könnte-schlimmer-sein.-Schönen-Tagnoch!«. Dann geht jeder von uns wieder ins Haus zum Zeitunglesen.

Während wir unseren morgendlichen Alltagsroutinen nachgehen, räkelt sich unsere Katze faul im Flur herum. Sie liegt genau dort, wo die Fußbodenheizung die Kacheln wohlig aufwärmt, und an einem strategisch klug gewählten Verkehrsknotenpunkt, so dass alle Menschlinge umständlich über sie hinwegsteigen müssen. Alles hetzt hin und her, nur Fiona liegt faul mittendrin. Sie döst zufrieden, und allein das leichte Peitschen ihres Schwanzes verrät, dass sie nicht eingeschlafen ist, sondern es genießt, im Mittelpunkt zu sein und nicht das Haus verlassen zu müssen. Sie darf ausschlafen und faulenzen. Ich könnte sie würgen vor Neid.

Unsere Katze Fiona hat übrigens den Spitznamen ›Schmieze‹, entstanden aus dem Zusammenschieben zweier unterschiedlicher Worte. ›Schmieze‹ ist eine Zusammensetzung aus ›Schmitz’ Katze‹ und ›Mieze‹. Das Praktische an diesem Spitznamen ist, das Fiona auf ihn genauso wenig hört wie auf ihren angestammten Namen.

Gegen halb acht müssen die Kinder und ich das Haus verlassen, nur meine Frau hat noch ein wenig Zeit. Sie hat es weniger weit und braucht nur zehn Minuten zu Fuß zu einer Dorfschule, wo sie als Deutsch- und Englischlehrerin ihren Dienst versieht.

Kurz vor unserer Abfahrt ist Tochter Senja frisch frisiert, geschminkt und elegant gekleidet. Sie sieht schicker aus, als es für einen stinknormalen Tag in der Schule nötig wäre. Das Aussehen ihres Zimmers steht dazu in einem auf fälligen Gegensatz. Es herrscht dort das absolute Chaos. In der Mathematik nennt man ein solches Verhältnis reziprok proportional. Ihr Bett ist wieder einmal ungemacht, es liegen Klamotten, Bademantel, ein feuchtes Handtuch, Schminktücher, Wattestäbchen und weitere Utensilien der Körperpflege auf dem Boden herum. Auf ihrem Schreibtisch kullern Ohrringe und sonstige Schmuckstücke. Alle Schränke und Schubladen sind aufgerissen und die Schmieze wird – sobald sie allein im Haus ist – dort ihrem Reingehdrang frönen können.

Sohn Benni ist auch nicht der ordentlichste. Auf dem Regal und dem Tischchen, wo er sein Hobbylabor eingerichtet hat, stehen häufig die seltsamsten Versuchsaufbauten und Glaskolben mit ranzigen Substanzen, und auf seinem Schreibtisch stapeln sich Bücher und Hefte. Er bezieht im Abo Tieteen kuvalehti, ein Wissenschaftsmagazin für junge Universalgelehrte. Von Schreibtisch und Hobbylabor abgesehen befindet sich sein Zimmer immerhin in einem betretbaren Zustand. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass er sich morgens keine Gedanken darüber macht, was er anzieht. Er sucht nichts und kramt nicht in Kommoden, sondern nimmt die Kleidungsstücke, die am leichtesten greifbar sind. Dass dabei gelegentlich die seltsamsten Farbkombinationen zustande kommen, stört ihn so wenig, als würde in Lappland ein Rentier blöken.

Dann beginnt unsere Fahrt im Auto Richtung Innenstadt von Tampere. Ich muss zur Arbeit, die Kinder zur Schule. Abwechselnd darf immer einer von beiden vorne auf dem Beifahrersitz sitzen.

Als die Kinder noch i-Dötzchen waren und beide hinten auf der Rückbank Platz nehmen mussten, spielten sie im Auto immer mit kleinen Teddybären, die sie zur Einschulung von der Oma in Deutschland geschenkt bekommen hatten. Das waren Teddys, die farblich zu ihren Schulmäppchen passten. Senja und Benni spielten immer dasselbe. Es waren immer Begrüßungsszenen, wo das eine Bärchen zum anderen sagte: »Guten Morgen! Wie geht’s? Schönes Wetter heute, nicht wahr?«. Und das andere Bärchen antwortete: »Danke gut! Und selbst? Das Wetter könnte schlimmer sein. Schönen Tag noch.« Es waren schwatzhafte deutsche Teddybären, die mehr Worte machten als nötig. Dass meine Kinder heute nicht mehr spielen und ihre Teddys schweigen lassen, hängt entweder mit ihrem fortgeschrittenen Alter zusammen oder ist auf finnische Umwelteinflüsse zurück zuführen.

Gegen acht Uhr habe ich Senja und Benni abgesetzt und bin an der Uni von Tampere angelangt. Hier verdiene ich meinen Lebensunterhalt als Lektor der deutschen Sprache an einer Fakultät für Kommunikationswissesnschaften. So lautet jedenfalls der derzeitige Name, der etwa alle drei Jahre geändert wird, um Modernität und Reformwillen zu signalisieren.