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Nach dem Fall Plutarchs, des Obersten Kirchenführers, gehen die Verbündeten ihrer Wege. Die Welt scheint wieder im Gleichgewicht, schließlich brennen die Feuer und auch die Magie ist zurück. Als der junge Feuermagier Titus die Schmiede seiner neu gewonnenen Familie mit der fremden Lehrmeisterin verlassen muss, merkt er, dass nicht alle den Magiewirkenden wohlgesonnen sind. Denn die Anhänger des ehemals mächtigen Kirchenführers streben nach Macht. Wer sich mit dem Feuer oder Drachen einlässt, ist auf dem Kontinent Grunt nicht mehr sicher. So geraten auch der Drache Kiromin und sein Freund Merranas in Schwierigkeiten, als sie sich auf die Suche nach dem einzigen Schwert begeben, das Kiromin töten kann. Dabei kreuzen sich die Pfade ehemaliger Weggefährten ein weiteres Mal. Was als Reise in die Lehre beginnt, endet für Titus und andere, die dem Feuer verbunden sind, in einem Spießrutenlauf um Leben und Tod. »Es sind wir, die dem Feuer Leben einhauchen. Vergiss das nie.« Hier beginnt die Geschichte derer, die den ersten Kampf überlebt haben. Denn es reicht nicht aus, ein Element wie das Feuer zu beherrschen oder ein Drache zu sein. Jeder braucht Familie, Freunde und gute Lehrmeister.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Weltkarte - Kontinent Grunt
An die, die überleben
Entscheidungen
Feuer
Willkommen
Zeit
Zwillinge
Zeit
Konzentration
Erde
Moohpet-Rah
Herrschaft
Neue Geheimnisse
Luft
Geschäfte
Herrschaft
Machtspiele
Wasser
Port Aurum
Glossar
Linien und Wesen
Dramatis Personae
Danksagung
Über den Autor
Drachenfeuerjagd
Briefe an die Zeit
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
© 2025 Johanna Schließer
Alle Rechte vorbehalten.
Kontakt Autorin:
Johanna Schließer
Rotenwaldstraße 159
70197 Stuttgart
Korrektorat: Anna Leyk
Covergestaltung: Marie Graßhoff
Illustration Landkarte: Jacob Müller, arrsome illustration
Für J.A.S.
Danke!
Zehn Sonnenwenden sind vergangen, seitdem sich unsere Wege an den Ufern der Inselstadt Hyperahmah getrennt haben. Noch immer wacht Vaticine, die Seherin, über die Drachen Kallestrus und Selestria, die zu einer Kugel Energie verschmolzen sind. Tief in den Katakomben der Stadt sind sie verborgen. Mit dem Tod Plutarchs, des Obersten Kirchenführers, ist die Magie der Zeitschleifen für uns alle beendet worden. Wir dürfen altern. Das ist zumindest unsere Hoffnung.
Nadala hat die zwei Feuerjungen Atiro und Titus mitgenommen. Sie wird sie alles über das Feuer lehren, was sie weiß. Vielleicht hat sie Lehrer für die beiden gefunden.
Den Sohn der Seherin, diesen Merranas, hat man zusammen mit Firim zur Linie der Herrschaft entsandt. Mit ihm will ich nicht tauschen. Wer weiß, ob er je gutmachen kann, was seine Mutter am eigenen Blut verbrochen hat. Doch wer bin ich, sie zu richten? Blut klebt an unser aller Händen, das von Drachen und Sterblichen, und ja, unser eigenes auch.
Und der Drache? Manchmal würde ich gerne wissen, was dieses Wesen vorhat mit all der naturgegebenen Magie und Macht, die ihm bisher nichts außer Einsamkeit eingebracht hat. Das Schicksal will wohl, dass er in diesem Punkt seinem Vater nachfolgt. Doch ich hörte, er suche die Waffe seiner Mutter, das Schwert, das selbst ihn töten kann.
Hier in den Bergen habe ich die letzten unserer Linie gefunden. Sie sind Mischlinge aus Erde und Feuer, aber wem sonst soll ich das Wissen um unser Sein anvertrauen? Der Foliant der Erde ist in Moohpet-Rah bestens verwahrt. Denn die Welt wird den Frieden nicht schätzen.
Zu mir ist die Zeit endlich gnädig. Die Bäche fließen die Berge herab, der Schnee fällt im Winter sanft zu Boden. Die Alten dürfen gehen. Genug Schritte habe ich auf die Erde gesetzt, genug Worte haben meinen Mund verlassen, genug Wein ist die Kehle hinuntergelaufen. Nach all den Jahren darf auch ich zu dem werden, aus dem ich vor so vielen Sonnenwenden erschaffen wurde.
Regulus
Wir sind das kleinste Sandkorn,
wir sind der höchste Berg.
Aus der Erde kommen wir,
zur Erde gehen wir.
Aus den privaten Aufzeichnungen von Regulus
Bewahrer des Folianten der Erde
Als das Mädchen nach der Flamme griff, ballte Titus die Faust. Das Feuer verschwand zwischen seinen Fingern. Schon sperrte sie den Mund auf, bereit zu protestieren, überlegte und griff nach dem Stück glühender Kohle, das gerade aus der Esse gefallen war. Titus beobachtete ruhig ihr Treiben. Er hatte sich längst daran gewöhnt, dass in der Linie des Feuers Verbrennungen eher die Ausnahme als eine Regel darstellten. Das war einer der Gründe, warum er bei Nadala geblieben war, als sie die Inselstadt vor nunmehr fünf Jahren verlassen hatten. Hier war er sicher. Keiner ihrer Sippe hatte Angst vor ihm, zudem lehrten sie ihn alles, was an altem Wissen gerettet worden war. Selbst lesen und schreiben hatten sie ihm beigebracht, etwas, das seine Eltern nie vermocht hätten. Das zumindest glaubte er. Mittlerweile verblassten die Erinnerungen an ihre Gesichter. Doch die Morde und den Anblick ihrer toten Körper würde er nie vergessen. Er und Atiro mussten damals rasch feststellen, dass Nadala zwar eine gute, aber gnadenlose Lehrmeisterin war. Neben dem Lernen ließ sie beide in der Schmiede arbeiten. Nicht selten so lange, bis ihnen die Arme lahm wurden und sie ohne Abendessen auf ihren Lagern einschliefen. Nicht, weil sie sie besonders kurzhielt, sondern vor Erschöpfung.
Seit dem letzten Frühling war Titus allerdings insgeheim dankbar für den Drill. Mit Freude hatte er bemerkt, wie die älteren Mädchen ihn beim Arbeiten in der Schmiede beobachteten, und Nadalas Söhne hatten ihm erst vor wenigen Monden das erste Mal einen Humpen Bier angeboten, jetzt, da er das fünfzehnte Lebensjahr schon längst vollendet hatte. Carl meinte dabei lachend: »Die Mädchen werden vom Feuer fasziniert sein, Titus, lieben hingegen werden sie deine Oberarme.«
Carl und Gerald waren mittlerweile wie Onkel für ihn. Mit Atiro hingegen, der etwa acht Jahre älter war als er, gerieten sie oft aneinander. Andauernd gab es Auseinandersetzungen wegen der Arbeit. Dieser hatte sich geweigert, das Feuer zu schüren, den Blasebalg zu betätigen oder den Schmiedehammer zu schwingen. Er sei kein Knecht, sondern Gelehrter, hatte er oft verlauten lassen. Erst recht beim Holzhacken und Putzen ließ er seinem Unmut freien Lauf, nicht selten beleidigend. Im letzten Streit hatte Atiro die Beherrschung verloren und Nadala geohrfeigt. Danach war er mit seiner wenigen Habe verschwunden. Sie hatte nicht zurückgeschlagen, auch nicht nach ihm suchen lassen, verlor kein Wort über sein Verschwinden. Titus wusste, dass sie Briefe ausgesandt hatte, aber nicht an wen. Das war beinahe einen Vollmond her.
»Du solltest doch auf Lissi aufpassen. Schau sie dir an! Die zarten Händchen ganz schwarz.« Geralds Lachen holte Titus aus den Gedanken. Freudig strahlte ihn das Mädchen an und zwinkerte. Hände und Kleid waren über und über mit Kohle verschmiert. Den Boden der Schmiede, eines Steingebäudes mit zwei Räumen und einem riesigen Tor, das den Tag über weit offenstand, zierten auf einmal Kohlezeichnungen von Tieren und Pflanzen. Die knapp Elfjährige brachte sich selbst und andere auf wundersame Weise stets in Schwierigkeiten.
»Oh, verdammt! Deine Frau macht mich einen Kopf kürzer«, jammerte Titus. »Komm, Lissi. Zum Brunnen mit dir.«
Unter schallendem Gelächter packte er das Mädchen, das in das Lachen einstimmte und zog es Richtung der zwischen Bäumen und Sträuchern gut versteckten Straße, die nach Dufoss führte. Im Dorf war ein Brunnen. Dort konnten sie ihr Kleid reinigen und die Hände, das Gesicht waschen, bevor ihre Mutter es sah.
»Titus, nimm die Sichel für den Apotheker mit«, rief ihnen Carl hinterher.
Der Junge machte schnell kehrt, griff nach dem Werkzeug mit der blankpolierten, gekonnt geformten Schneide, peinlich darauf achtend, dass das Mädchen nicht danach schnappte. Feuer konnte ihr nichts anhaben, aber ansonsten war sie wie er: verwundbar und sterblich.
Um die Mittagszeitwar das Dorf wie ausgestorben. Die Sommerhitze vertrieb die Bewohner nach den Marktzeiten von den Straßen. Viele hielten sich im Schatten des Waldes auf, lediglich die, die mussten, gingen auf die Felder. Erst wenn die Händler für die Nacht ins Gasthaus einkehrten, würde Dufoss aus seiner Ruhe erwachen. Bis dahin war es noch eine Weile hin. Katzen lagen faul in der Sonne und schauten sich nach ihnen um. Aus einem Hinterhof drang wütendes Geschrei, kurz darauf flog eine Tür hart ins Schloss, gefolgt von lautem, protestierendem Hundegebell.
Der Brunnen befand sich auf einem für Dorfverhältnisse großen Platz, der mit Kopfsteinen gepflastert war, umringt von den Häusern, deren Alter Titus nicht zu schätzen wagte. Dennoch waren alle in gutem Zustand, genau wie die kleine Kirche mit ihrem Turm und der viel zu großen silbernen Glocke. Dufoss war ein größeres, zudem wohlhabendes Dorf. Dies lag an den Handwerkern, die sich hier angesiedelt hatten. Es gab den Apotheker, ein Schneider und ein Sattler hatten sich niedergelassen, da die Hauptstraße sowohl nach Hyperahmah als auch Port Aurum führte. Auch wenn die beiden großen Städte weit entfernt waren, kamen die Händler trotzdem, um Geschäfte zu machen. Es gab sogar eine Bäckerei, und ein Bader hatte aus Nadalas alter Schmiede ein gut besuchtes Haus gemacht, das vor allem von reichen Geschäftsleuten geschätzt wurde.
Von Weitem fiel ihm die Gestalt an der Wasserstelle auf. Schon die Kleidung passte nicht zur Jahreszeit. Der lange Mantel und eine tief ins Gesicht fallende Kapuze ließen nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Als sie näherkamen, bemerkte er die festen, wenn auch dreckigen Stiefel, der Mantelsaum hatte ebenfalls lange keinen Waschzuber gesehen. Ein Reisender, dachte Titus. Er nahm Lissi an die Hand, zog sie näher an sich heran. Artig und still lief das Mädchen neben ihm her.
Während sie auf den Brunnen zugingen, drehte sich der Fremde um. Ein rotes langes Lederwams und rote Lederhosen kleideten die Person. Die Kapuze umrandete das feine Gesicht einer Frau. Sie nahm die Kopfbedeckung ab und lächelte, als sie den plätschernden Brunnen erreichten. Kurzes orangenes Haar, Sommersprossen und hellbraune Augen. Sie hielt einen langen, dünnen Stab aus silbernem Metall in der Hand, der zu einer Schraube gedreht worden war.
»Feuerhaare. Schau nur, Titus, sie hat Feuerhaare«, flüsterte Lissi. Sie hatte sich auf Zehenspitzen gestellt, um näher an sein Ohr zu kommen, zeigte schnell mit dem Finger auf den Schopf der Frau.
»Sei still, Lissi!« Titus zog sie auf seine andere Seite und senkte den Kopf. Nadala hatte ihnen eingebläut, wie sie sich Fremden gegenüber verhalten mussten. Nicht auffallen. Wir dürfen niemals auffallen, wir geben uns niemandem zu erkennen. Habt ihr verstanden?
Wie sollten sie nicht auffallen? Lissi sah nach ihren Kohlezeichnungen aus, als habe man sie durch einen Schornstein gejagt, er selbst trug eine teure und glänzende Sichel. Verdammt!
»Verzeihen Sie bitte«, nuschelte er vor sich hin, stierte zu Boden und trieb das Mädchen an, weiterzugehen. Beim Apotheker würden sie warten, bis die Fremde weg war.
Lissi kicherte laut vor Freude, als sie vorbeiliefen. Ohne nachzudenken, drehte er sich nach der Fremden um. Deren Haare standen in Flammen, die braunen Augen fixierten ihn.
Titus starrte den brennenden Haarschopf an, dann rannte er los. Dabei schleifte er die überraschte Lissi hinter sich her, die vor Schreck aufschrie und nach vorne stolperte, hinfiel und sofort das Schimpfen anfing.
»Komm, Lissi!«, zischte er. »Wir liefern die Sichel ab, dann laufen wir über den Friedhof nach Hause. Wir müssen Nadala erzählen, was hier passiert ist. Die Haare der Frau, das ist nicht wie bei uns. Hast du das gesehen?«
»Ja. Mein Knie, Titus. Warte, mein Knie.« Schnaufend versuchte sie mit ihm Schritt zu halten.
»Verrate es niemandem.« Er war stehen geblieben, schaute streng in das erschrockene Gesicht. »Sage es niemandem, bis wir wieder bei Nadala sind. Ja? Versprichst du es mir?« Tränen hatten sich eine Bahn entlang der schwarzen Wangen gesucht. Lissi schluchzte, nickte aber. Das rechte Knie war aufgeschürft. Er lächelte und streichelte ihr den Arm.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Apotheker, als Titus mit dem verweinten Mädchen an der Hand vor der Tür stand.
»Gewiss, sie ist nur unglücklich gestolpert und hat geweint.«
»Brauchst ‘ne Salbe oder ein Mittelchen gegen den Schmerz?« Der alte Mann lächelte Lissi freundlich an.
»Nein, nein. Das geht schon. Beste Grüße von den Schmieden darf ich zudem ausrichten.« Titus überreichte die Sichel, verneigte sich und winkte dem Apotheker beim Gehen. Das Mädchen hob ebenfalls die Hand und ließ sich von dem Jungen mitreißen.
»Die Schmiedekinder sind einfach hart im Nehmen«, murmelte die Apothekersfrau.
»Müssen sie auch. Aber schau die Sichel! Solche Arbeit sieht man nicht oft. Wie neu.« Zufrieden betrachtete er die reparierte und geschliffene Klinge. »Vielleicht zeige ich mich mit einem duftenden Stück Seife erkenntlich. Ja! Die brauchen sie. Hast du die schwarzen Hände und Wangen gesehen?« Er verschwand hinter der Theke, um sein Werkzeug auszuprobieren.
»Schnell, Lissi. Nachhause.« Er packte das Mädchen an den Hüften, setzte es auf die Friedhofsmauer, sprang selbst hinüber, um sie auf der anderen Seite herunterzuheben. Sie eilten sich, einen Weg zwischen den teils schiefen Grabsteinen und dem wuchernden Unkraut zu finden. Er wollte Nadala unbedingt berichten, was sie gesehen hatten. In den letzten Monaten waren immer wieder Männer und Frauen gekommen, die nach Personen wie ihm und Nadalas Familie gefragt hatten. Seltsame Angebote wurden an die Pfähle geschlagen. Kopfgeld stand auf den meisten, und die Summen waren hoch. Als er Atiro eines der Pergamente gezeigt hatte, verriet dieser ihm nicht, was und wer genau damit gemeint war, sondern hatte das Schriftstück wortlos zerrissen. Dennoch erkannte Titus Furcht im Gesicht des anderen. Sie waren nie Freunde geworden. Ihre Talente, die identische Abstammung aus der Linie des Feuers hatte sie trotz des Altersunterschiedes und der unterschiedlichen Herkunft verbunden und in vielen Lagen zusammenhalten lassen. Bis zu jenem Tag, als Atiro Nadala geohrfeigt hatte.
Die letzten Meter zur Schmiede liefen sie gemächlicher. Gerald und Carl waren an der Arbeit, Nadala nirgends zu sehen.
»Geh, Lissi.« Er ließ sie los, hielt auf die Schmiede zu. »Wo ist Nadala?«
»Im Haus, aber dort solltest du lieber nicht rein. Sie hat Besuch bekommen«, meinte Carl, ohne vom Amboss aufzusehen.
Titus zögerte, kratzte sich an der Stirn, schaute zum Haus. Doch, hier war er in Sicherheit. »Eine Frau mit Mantel, Kapuze, in roter Kluft?«
Der Schmied schaute nicht auf. »Genau die.«
»Die haben wir am Brunnen gesehen.« Er kam zu den Männern, die abwechselnd auf ein Stück Eisen schlugen. »Ihre Haare. Ihr hättet ihr Haar sehen sollen. Weiß Nadala, wer sie ist?«
»Sie heißt Anima. Und ja, wir wissen, was mit ihren Haaren ist. Beruhige dich und warte ab«, gab Gerald zu verstehen, ließ den Hammer erneut auf das glühende Metall krachen.
»Ich habe Lissi gesagt, sie darf es niemanden verraten. Sie war brav, als wir beim Apotheker waren«, erzählte er.
»Das ist gut.«
Titus wandte sich besorgt zu Carl. Für gewöhnlich waren die Brüder eher gesprächig, wenn es um diese Art von Dingen ging. Natürlich nur, wenn die Familie unter sich war. Wer mochte diese Frau sein? Wie war sie so schnell hierher gelangt? Sie hatten doch beim Apotheker gar nicht getrödelt. Kannte sie etwa die Abkürzungen und alten Wege?
»Wenn dir die Zeit lang wird, geh raus, Holz hacken«, schnaufte Gerald. »Das bringt dich auf andere Gedanken. Die jungen Mägde kommen bestimmt bald zurück von den Feldern.«
Titus blickte die beiden verwirrt an. Gerald grinste bei der Arbeit.
Als der andere nichts weiter sagte, trat der Junge vor die Schmiede, krempelte die Ärmel hoch. Holzhacken war eine hervorragende Beschäftigung. Sie lenkte vom Warten ab und die Farbe stieg einem schon wegen der Anstrengung ins Gesicht. Sollte er je mit den Mädels reden müssen, würde denen gar nicht auffallen, wie rot sein Kopf werden konnte. Selbst wenn er nicht mit ihnen sprach, passierte es. So wie früher mit dem Feuer, das plötzlich ohne sein Zutun auf seinen Händen erschienen war und nicht erlosch. Er schämte sich ein bisschen, wenn die Mädels ihm verstohlene Blicke zuwarfen und tuschelten. Vor allem kicherten sie, er wusste nie warum. Er zog die Axt aus dem massiven Hackklotz. Mit geübten Bewegungen machte er sich an die Arbeit. Nach einigen Holzstücken hatte er die flammende Frau vergessen, dachte stattdessen an Atiro. Wo der wohl steckt? Hat er herausgefunden, welche Nachrichten Nadala erhielt? Hätte er selbst mit ihm gehen sollen? Er hielt mitten in der Bewegung inne. Nein, der Gutshof mit der Schmiede war sein neues Zuhause. Nadala hatte sie gewarnt, dass die Zeiten unruhig geworden waren. Immer mehr Personen bekannten sich zu ihren Fähigkeiten und Elementen. Feuer und Luft, sogar Gerüchte über eine Linie der Erde machten mittlerweile die Runde. Wie sie erfuhren, waren manche Talente bemerkenswert, andere eher beängstigend. Nicht selten verschwanden diese Leute so schnell, wie man von ihnen Kunde erhalten hatte. Nadala wusste sie bisher gut zu schützen. Doch seit einiger Zeit ging sie, wenn sie Briefe erhielt, immer öfter ins Haus, um sie allein zu lesen. Wenn sie wieder bei ihnen saß, waren ihre Blicke ernst und sie wies sie an, noch vorsichtiger zu sein. Allerdings erzählte sie nie, warum.
»Wer nichts weiß, kann nichts verraten«, wiederholte sie unaufhörlich.
Für Titus klang das einleuchtend. Atiro hingegen hatte sie deswegen kritisiert. Maulte, sie wolle ihn und die anderen nur dumm halten. Er habe ein Recht zu erfahren, was vor sich gehe. Auch das war in den letzten Wochen ein Streitpunkt gewesen.
Im letzten Winter hatte sich Atiro stark verändert. Beleidigte sie, nannte sie ungebildet, sprach von seinem Vater, dem Würdenträger, und seiner eigenen Ausbildung. Er sei kein Bauer und Handwerker, sondern Gelehrter. Ein Magier, der nach Hyperahmah gehöre, ins Zentrum der Macht und nicht aufs Land zu Kühen und Schafen.
Für Titus war die Inselstadt ein geborstener Turm in einem riesigen See umgeben von hohen Bergen. Was damals auf der Insel geschehen war, wusste er nur aus Erzählungen. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt am Ufer versteckt gehalten und auf die Rückkehr der anderen gehofft, die alles waren, was er noch an menschlichen Kontakten hatte. Damals, als seine Eltern von Schergen der Inquisition brutal ermordet worden waren. Die ganze Siedlung war auf Befehl des Obersten Kirchenführers Plutarch niedergemetzelt worden. Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet zu dem Zeitpunkt das Feuer in ihm erwacht war und er verzweifelt versucht hatte, am Bach seine Hände von den Flammen zu befreien. Das war der einzige Grund, warum er damals mit seinen zehn Jahren den Mördern entkommen war. Beinahe hätten Kiromin, Kallestrus‘ Sohn, und Merranas, der Kopfgeldjäger, ihn getötet. Sie hatten ihn im Wald gefunden, nahe des verlassenen Heimatdorfes. Kiromin fürchtete, er würde sie an Plutarch oder die Schergen verraten. Und obwohl sie ihn zurückließen, wusste er, dass das Feuer in seinen Händen ein Geschenk war. Er erinnerte sich, wie er versucht hatte, den mächtigen Drachen Kallestrus mit der damals in ihm erwachten Feuermagie zu töten. Kurz lachte er auf, als er jetzt daran dachte. Ein kleiner Junge, der mit Feuer gegen einen Drachen kämpfte. Heute wusste er um seine Fähigkeiten, und dass seine Mutter oder sein Vater ebenfalls Träger der Feuerlinie gewesen sein mussten. Atiro war damals auf der Insel gewesen, hatte ebenfalls seinen Vater verloren. Ist er in die Hauptstadt, nach Hyperahmah zurückgekehrt? Oder hatte er sich womöglich jemanden offenbart?
»Titus, ich will dir jemanden vorstellen.« Plötzlich stand Nadala hinter ihm. Bedächtig ließ er die Axt in den Klotz fallen. Das Metall versank mühelos im Holz. Seine Lehrmeisterin war in Begleitung der Fremden. Diesmal standen weder deren Haare noch ein anderes Körperteil in Flammen. Sie hatte den Mantel abgelegt. Sie war zierlich gebaut, kleiner als er.
»Sei gegrüßt, Titus. Ich heiße Anima. Nadala hat mir von deinen Fähigkeiten erzählt.«
Verwirrt schaute er die Lehrmeisterin an. War das eine Prüfung? Stellte Nadala seine Loyalität auf die Probe? Er schwieg betreten.
»Wir gehen ins Haus. Dort seid ihr ungestört.« Nadala fasste ihn am Arm. Er folgte wie befohlen.
In der geräumigen Gutsküche setzte sich Anima an den Tisch und wies ihn an, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Nadala ging die Fenster ab und spähte hinaus. »Ihr könnt beginnen.«
»Womit?«, fragte Titus verwirrt.
Anima blinzelte und ihre Haare fingen Flammen, ohne zu verbrennen. Erschrocken sprang Titus vom Tisch auf, der Hocker schrammte laut über den Holzboden. Er spürte, wie das Gesicht heiß wurde, rot anlief, während Anima lachte. »Für einen Feuermagier bist du sehr schreckhaft. Da liegen noch viele Lehrstunden der Gelassenheit vor dir.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, gab Titus kleinlaut zurück. Er wollte diese Prüfung bestehen. Nadala nicht enttäuschen.
»Du bist vorsichtig. Das ist vollkommen in Ordnung. Wir sind hier unter unsersgleichen.« Sie schnippte mit den Fingern und die Haare erloschen, dafür tanzte eine kleine Flamme auf ihrer Nase, die sie anschielte.
Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Wie machen Sie das?« Er schlug sich mit der Hand auf den Mund. Das war’s. Durchgefallen! Diese Frage hätte er nicht stellen dürfen.
Nadala bewegte sich nicht vom Fenster weg. »Du hast nichts zu fürchten. Anima und ich kennen uns schon seit langer Zeit. Deine Neugier wird dich noch das Leben kosten, Titus.« Sie grinste.
»Sei nicht so streng. Er ist noch ein halber Junge.« Anima pustete mit einem Schnaufer die Flamme auf der Nase aus und lachte. »Ich habe Durst. Gibt’s Bier?«
»Erst die Arbeit.«
Anima verdrehte die Augen. »Sie ist so streng.«
Titus senkte den Blick, nickte unmerklich.
»Zeig, was du kannst, Titus. Nur zu«, munterte Anima ihn auf. »Wir sind vom gleichen Schlag.«
Der Junge vergewisserte sich, dass er Nadalas Zustimmung hatte und ließ zwei kleine Flammen auf seinen Handflächen entstehen, schloss diese und schnippte mit den Fingern, so dass Funken wie kleine Glühwürmchen durch die Luft stoben.
»Forme einen Feuerball.«
Er kam ihrer Aufforderung nach.
»Einen Flammenstoß in den Kamin.«
Ein dünner Lichtstrahl schoss aus seiner Hand und traf das Ziel, wo er eine kleine Feuersbrunst entfachte.
»Sehr gut!« Anima nickte zufrieden. »Wie alt bist du, Titus?«
»Ich bin fünfzehn, aber bald werde ich sechzehn sein.«
»Das trifft sich gut. Du bist alt genug, um mit mir zu reisen. Morgen früh geht es los. So hast du noch Zeit, deine Sachen zu packen, dich zu verabschieden. Und ich kann etwas Zeit mit einer alten Freundin verbringen.«
Titus zögerte. »Verreisen? Wohin? Ich will gar nicht weg.«
»Oh, doch. Du willst. Du weißt es nur noch nicht«, meinte Nadala. »Geh deine Sachen packen! Ich habe dir einen Lederbeutel aufs Nachtlager gelegt. Vergiss nichts, ihr werdet lange unterwegs sein. Heute Abend essen wir alle zusammen. Auf!« Sie scheuchte ihn raus.
»Aber, Nadala…«, begann er, während er versuchte standhaft zu bleiben. Ihr Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Sie drängte ihn bestimmt zum Ausgang. Seit diesem Sommer überragte er sie um einen Kopf, doch sie war ihm in allem überlegen. Er hatte lange nicht begriffen, dass in dem Körper einer nun siebzehnjährigen der Geist einer erfahrenen alten Frau steckte. Alles Auswirkungen von Plutarchs und Kallestrus' Magie, die die Zeitverläufe für bestimmte Personen veränderte. Für Nadala war die Zeit rückwärts gelaufen. Die damals erfahrene Kopfgeldjägerin hatte aufgehört zu altern, wurde bis Plutarchs Fall jünger, beinahe wieder Kind. Danach alterte sie erneut.
Er schluchzte leise, stemmte sich gegen sie, sogleich fühlte er den starken Griff am Arm, sie fasste fester zu. »Du bist kein Kind mehr.« Sie klang nicht verärgert, aber bestimmt. »Hier bist du bald nicht mehr sicher.«
»Nadala, bitte, ich will nicht gehen. Schick mich bitte nicht weg. Hier ist mein …« Sie öffnete die Tür, die Helligkeit des Nachmittags blendete ihn und noch während sie ihn hinauswies, faltete er flehend die Hände, damit sie zuhören möge. Die Tür schloss sich hinter ihm. Er lehnte mit der Stirn gegen das sonnenerwärmte Holz, schluckte. »Zuhause«, beendete er den Satz unter Tränen. Er konnte noch hören, wie sich Anima nach Atiro erkundigte, verstand Nadalas Antwort nicht. Schnell wischte er mit der Hand übers Gesicht, zog die Nase hoch. Ratlos stand er vor dem Haus, wusste nicht, was er zuerst machen sollte. Die Entscheidung nahmen ihm erneut die Schmiede ab. Gerald pfiff durch die Finger, um ihn zu rufen. Womöglich brauchten sie mehr Holz.
Er lief über den Hof, hinüber zur Schmiede. »Ich muss packen.« Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er sprach.
»Besser ist es, ja.« Gerald ging in den hinteren Teil der Schmiede in den anderen Raum, wo sie spezielles Werkzeug in alten Truhen aufbewahrten.
»Du musst weg, oder?« Carl hatte seinen Hammer weggelegt, die Esse war leer. Er putzte sich die Hände an einem Lappen ab.
»Mmh.« Mehr bekam Titus nicht heraus. Er wollte berichten, was geschehen war und seinen Unwillen klagen. Wieso schickte man ihn fort und wohin? Er hatte doch nichts falsch gemacht. War es wegen Atiro? Weil der fortgegangen war? Hatte der sie alle in Gefahr gebracht und er musste deswegen gehen? Titus merkte, wie der Kloß im Hals dicker wurde. Er holte einige Male tief Luft. Es half nicht.
Carl kam zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Neue Zeiten, Titus. Alles, was wir über das Feuer wissen, weißt du bereits. Für jemanden wie dich heißt es, mehr zu lernen. Auch wir mussten die Familie verlassen, um das Handwerk zu verbessern. Die Kindertage sind für dich vorbei.« Er blickte milde auf den Jungen hinab. »Anima weiß, was zu tun ist. Sonst wäre sie nicht gekommen, um dich zu sehen. Dass du mitgehen kannst, ist ein Glück und eine Ehre.«
Titus holte tief Luft, senkte den Kopf. »Woher willst du das wissen? Wer ist sie?«
Gerald kam aus der Dunkelheit der Schmiede, hielt ein sauberes Leinentuch in den Händen. Schnell wechselte er mit Carl Blicke, bevor er das Bündel Titus reichte. »Für dich«, meinte er knapp.
Verwundert griff Titus nach dem Tuch. Fast ließ er es fallen, staunte über das Gewicht.
»Vorsichtig!«, warnte Carl.
Titus ahnte, was in das Tuch gewickelt war. Sorgsam faltete er es auseinander. Der Inhalt blitzte im Licht. Zaghaft drehte er das Messer hin und her, betrachtete den sorgfältig gearbeiteten Griff. Er bemerkte die Initialen im Metall. Der Mund blieb ihm offen stehen, während die Augen sich weiteten. »Für mich?«
»Sieht so aus«, brummte Gerald.
»Das sind die Initialen eurer Linie und Familie«, flüsterte Titus. Er kannte die Waffen, die Nadala und ihre Söhne trugen, wenn es brenzlig wurde.
»Und diese ist ab dem heutigen Tag deine«, erklärte Carl. »Dreh sie um.«
Ohne das Messer mit der bloßen Hand zu ergreifen, drehte er es in dem Tuch um. Auf der anderen Seite war ein verschnörkeltes T deutlich erkennbar. Selbst nach all der Zeit wusste er nicht, wie sie diese Prägungen einarbeiteten.
»Aber dann …«, begann er.
»Bist du einer von uns«, beendete Gerald den Satz. »Du gehörst zu uns, Titus. Hier ist dein Platz, wenn du ihn willst.«
Der Junge schwieg. Wenn er dieses Geschenk ergriff, wäre er ein Teil von Nadalas Sippe. Nadala, die ihn morgen fortschickte.
Gerald räusperte sich. »Es ist selbstverständlich deine Entscheidung. Wenn deine Wurzeln woanders bleiben sollen, ist es, wie es ist.«
Titus schluckte ein weiteres Mal. Vorsichtig nahm er die Waffe in die Hand. Sie lag darin, als sei sie schon immer dort gewesen, und ohne sein Zutun flammte die Klinge hell auf. Verblüfft fasste er noch fester zu und das Metall erstrahlte in einer dünnen, weißen Flamme.
»Bei allen Feuern, Titus«, brachte Carl heraus. »Wie machst du das? Wenn uns jemand sieht, bricht ein Donnerwetter los.«
»In diesem Jungen steckt mehr, als ihm selbst bewusst ist«, sagte eine Frauenstimme.
Überrascht fuhren sie herum, die Waffe erlosch, noch während Titus sie losließ. Mit einem feinen Klirren blieb sie auf dem Steinboden liegen.
»Die Klingen von Feuerelementaren sind besonders und nur wenige können ihren Kern erwecken. Die Brüder sind Meister ihrer Kunst, solche zu schmieden«, fuhr Anima ruhig fort. »Hebe es auf. Es ist für immer dein.«
Titus konnte sich nicht rühren. Seine Hand fühlte sich wohlig warm an. Nur zu gern hätte er nach dem Messer gegriffen. Was würde dann passieren?
»Nimm es, Titus.« Carl gab ihm einen freundschaftlichen Schubs.
Der Junge blickte auf das Geschenk. Als Mitglied der Sippe teilte er alle Geheimnisse und Lehren, ihre Feinde waren nun seine, gleiches galt für die Verbündeten. Er war ein Teil der Feuerlinie, egal wo er war. Er bückte sich rasch. Der Griff lag gut in der Hand. Das Messer leuchtete in einem sanften Gelb. »Es ist mir eine Ehre, diese Waffe tragen zu dürfen«, flüsterte er.
»Das wollen wir auch hoffen.« Ein fester Schlag auf den Rücken ließ ihn einen Schritt vorwärts stolpern. Die Brüder lachten laut auf. »Wenn du zurückkommst, wirst du Haare am Sack und im Gesicht tragen.« Gerald legte ihm den Arm um den Hals, verstrubbelte ihm die dunkelbraunen kurzen Haare. Die Röte stand Titus im Gesicht, als er Animas Lachen über die Bemerkung hörte. Sie hatte einen Humpen Bier in der Hand und prostete den Schmieden zu, bevor sie zum Wohnhaus zurückging.
Sie brachen am nächsten Morgen auf. Nadala umarmte Titus zum Abschied und drückte ihm einen kleinen Beutel in die Hand, den er nur bei Bedarf öffnen sollte. Carl und Gerald waren bereits wach und verabschiedeten sich mit seltsamen Bemerkungen über den Umgang mit jungen Mädchen. Lissi hatte mitbekommen, dass er zeitig losziehen musste. Bereits am Vorabend war sie nicht von seiner Seite gewichen, bis Geralds Frau sie zum Schlaflager gescheucht hatte. Unbeholfen stand sie vor ihm.
»Jetzt musst du selbst auf dich aufpassen, Lissi«, lächelte er sie an und drückte sie. Sie schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn auf die Wange und lief davon.
Auf den ersten Metern drehte er sich um. Er wollte den Gutshof mit der Schmiede, sogar die riesige Linde in sein Gedächtnis aufnehmen. Die Gesichter seiner Sippe, die dort stand und ihnen nachsah. Er berührte die Wange, auf die Lissi ihren unbeholfenen Abschiedskuss gedrückt hatte. Er hatte wieder eine Familie und einen Namen, einen Ort, an den er gehörte, an den er zurückkehren konnte.
Anima betrachtete ihn von der Seite. Sie hatte den Mantel um und die Kapuze aufgezogen, obwohl die Sonne einen neuen warmen Tag ankündigte.
»Kannst du mir erklären, was es mit der flammenden Klinge auf sich hat?«, fragte er, nachdem Dufoss endgültig aus seinem Sichtfeld verschwunden war, als er sich umschaute.
»Wir werden viel Zeit für Erklärungen haben, wenn wir reisen. Die heutige Lektion heißt laufen und schweigen.« Sie zog das Tempo des Marsches an. Er folgte ihren schnellen Schritten ohne weitere Fragen, mit den Gedanken war er bei der Schmiede.
Anima hatte die Hauptstraßen gemieden, und erst nach einigen Stunden legten sie Rast ein, an einem kleinen Bach, der sich seinen Weg quer über eine Lichtung bahnte. Das Gras und die Wildblumen standen hoch, hier und da von Rehen angefressen und Wildschweinen niedergetrampelt, der Boden von den Rüsseln aufgewühlt. Sie tranken und füllten ihre Flaschen.
»Für heute brauchen wir uns ums Essen nicht zu kümmern. Nadalas Mädchen haben genug Proviant eingepackt. Bis zur Dämmerung werden wir noch weiterlaufen, dann suchen wir einen sicheren Unterschlupf«, erklärte Anima freudig.
Titus blickte auf. »Wollen wir nicht einen Gasthof aufsuchen?«
Anima schaute sich um. Der Bach gluckerte leise. Hier und da flogen Insekten umher. »Für Leute wie uns ist es in den jetzigen Zeiten besser, nicht gesehen zu werden. Zumindest in diesem Landesteil.«
»Was meinst du damit?« Titus verstand nicht. Zur Vorsicht war er erzogen worden, aber das schien ihm übertrieben. Anima sah über ihn hinweg in Richtung Straße, die sie verlassen hatten. Aus dem Büschen brachen drei Männer hervor.
»Wen haben wir denn hier? Fremde, die sich in unseren Wäldern rumtreiben und das Wild aufscheuchen. Ihr seid bestimmt Fallensteller«, brummte ein stämmige Kerl.
Anima hatte Titus am Handgelenk gefasst und zu sich gezogen, damit sie nebeneinanderstanden.
»Ach, das Jungchen an Mutters Hand«, witzelte ein anderer, leicht untersetzter Typ. Ihm fehlte ein Schneidezahn und seine Nase war so platt, dass sie kaum aus dem Gesicht stand. Dafür war er in dunkelblaues Leder gekleidet, viel edler als die anderen beiden.
»Wir haben unsere Flaschen aufgefüllt. Wasser ist frei für jeden Reisenden.« erklärte Anima ruhig. »Wir ziehen nach der Rast weiter.«
Titus spürte ihren Händedruck.
»Nicht so schnell, meine Liebe, nicht so schnell. Die Quelle des Baches liegt auf unserem Grund. Wer nimmt, der zahlt.« Der Stämmige kam näher.
Anima blieb gelassen. »Wie schon gesagt, Wasser ist ein freies Gut.«
»Schaut, schaut. Ein Weib, das sich mit Gesetzen auskennt. Nur dumm, dass hier kein Gesetzeshüter ist.« Die Männer lachten. »Keine Sorge, wir finden einen Weg, wie du uns leicht entlohnen kannst, dafür, dass wir dir und deinem Jungchen nichts tun.« Der Stämmige griff nach Animas Schritt. Seine Hand ging ins Leere, die Frau war schneller, hob ihren Stab auf, vollführte eine flinke Parade, wehrte ihn gekonnt ab.
»Was fällt dir ein, Miststück?« Die Miene des Mannes verfinsterte sich. »Denkst du, du kannst einfach so durch die Wälder streifen und dich an allem bedienen? Ihr Hexen gehört zugeritten und verbrannt.«
Titus wurde unruhig. »Wir bezahlen.«
Der Stämmige ließ von Anima ab, betrachtete Titus abschätzig. »Ach, das Söhnchen will der Mutter helfen. Ein gut erzogenes Kind.«
»Ruhig jetzt«, zischte Anima und Titus wusste sofort, dass dies ihm galt, nicht dem Mann.
Der packte Anima am Hals und drückte zu.
Als Titus ihr helfen wollte, kam schon der Untersetzte auf ihn zu. Ein Messer blitzte in seiner Hand.
Titus griff an seinen Gürtel, das Geschenk legte sich zum Angriff bereit in seine Hand und flammte auf.
Der Kerl mit der Zahnlücke zögerte, sah auf die Waffe. »Bei allen Göttern. Das sind diese Flammenleute.« Er erbleichte beim Anblick der Klinge. »Schau Sigi, das Messer des Kleinen. Deswegen ist das Weib so rot gekleidet. Es ist keine Hexe. Das sind Flammenhetzer!«
Bevor der Stämmige etwas sagen konnte, hatte Anima einen ihrer Handschuhe ausgezogen und drückte ihm die Hand auf die Brust. Unter lautem Geheul ließ er von ihr ab, bevor er zusammenbrach.
Fassungslos starrte die Zahnlücke auf den leblosen Körper, während der Dritte bereits die Flucht ergriff. Anima setzte ihm nach.
»Na wartet!«, brüllte die Zahnlücke und ging auf Titus los. »Rache für Plutarch! Sieg für Wynfreth!«
Anima blieb stehen, machte kehrt.
Während der Mann Titus ansprang, machte der Junge einen Schritt zurück, umklammerte unbeholfen die Waffe mit beiden Händen, hielt sie vor sich. Panisch starrte Titus auf den Mann, der nach ihm ausholte. Er duckte sich unter dem Hieb hinweg, ließ das eigene Messer nach vorne schnellen, sah in das wutverzerrte Gesicht. Der weit aufgerissene Mund beherbergte weitere faulige Zähne. Das Metall verschwand bis zum Schaft im Bauch des Gegners. Mit einem verdutzten Schrei ging der Dunkelblaue in die Knie. Er hob sein dünnes Messer. Titus spürte etwas Warmes an den Händen, feucht und klebrig.
Anima erreichte sie, ergriff den Dunkelblauen am Kopf. Mit einem kräftigen Ruck zerrte sie seinen Kopf zurück. Mit Knacken brach ein Genick. Sie ließ los.
Entsetzt starrte Titus sie an, zog wie in Trance das eigene Messer aus dem Bauch des Mannes, bevor der vorne überkippte. Er spürte, wie der Inhalt seines Magens einen Weg aus dem Körper suchte, kotzte in einem weiten Strahl über den leblosen Körper. Würgte laut, bis nichts mehr kam, die Augen voller Tränen. Mit weichen Knien entfernte er sich von der Stelle.
»Verflucht sollen sie sein, der Dritte ist weg. Wir müssen weiter. Spül das Messer ab und mach dich sauber.«
Der befehlende Ton riss Titus aus dem Gedanken, soeben einen Mann abgestochen zu haben. Die Frau hatte mit leichter Hand dem Halunken das Genick gebrochen. Er würgte trocken.
»Auf, wir gehen weiter. Wenn der Idiot Verstärkung holt, sind wir bald von Kopfgeldjägern und anderen Schergen umringt, die Feuermagier an Wynfreth und andere Statthalter ausliefern.«
»Was?«
»Mach hin!« Sie hielt ihn fest. »Eine Erklärung gibt es später.«
Notdürftig putzte er das Blut vom Messer, wobei er sich nochmals trocken erbrach. Dann wusch er sich Gesicht und Hände, trank. Die Säure blieb dennoch als warnender Geschmack im Mund, der Geruch wich nicht.
»Seit Plutarchs Tod erheben gleich mehrere Herrscher und Herrscherinnen den Regierungsanspruch über diesen Erdteil. Grunt ist für Menschen wie uns nicht sicher. Der Rat in Hyperahmah ist nicht stark genug, diesen riesigen Kontinent zu regieren.« Sie zog ihn weiter.
Titus steckte im Lauf das Messer ein, folgte schweigend. Vor dem inneren Auge sah er das Gesicht des Mannes und das Blut an seinen Händen. Das soeben getrunkene Wasser wollte den Magen wieder verlassen. Diesmal schluckte er es runter, während Tränen sich Bahn brachen. Zum Glück drehte Anima sich nicht nach ihm um. Und das Wasser blieb, wo es sollte.
Sie liefen auf kleinen Pfaden und verschlungenen Wegen, an den Rändern von Waldlichtungen entlang und durchs Dickicht. Titus konnte gut mit Anima Schritt halten. Erst als sie in der anbrechenden Nacht kaum noch etwas erkannten, suchte die Frau an einem Felsvorsprung Platz für das Lager. Sie ließ ihn ein kleines Feuer machen und teilte die Vorräte auf, wobei sie etwas für den darauffolgenden Tag aufhob. Seit dem Vorfall am Bach hatte sie nichts mehr gesagt. Titus kaute auf seinem Käse, schluckte schwer und räusperte sich, ohne sie anzuschauen. »Das mit dem Messer. Das tut mir leid. Ich wusste nicht …«
»Schon gut. Es wäre zu viel verlangt. Gerne hätte ich dir diese Erfahrung am ersten Tag unserer Reise erspart. Verstehst du nach diesen Geschehnissen besser, warum Nadala euch immer zum Schweigen und zur Vorsicht angetrieben hat?«
Er nickte, auch wenn er nur einen Teil verstand. »Hassen uns alle?«
Anima schaute ihn an. »Hass ist wünschenswert. Sie fürchten uns. Wer Angst hat, der handelt wie ein verletztes Tier. Schnell, ohne nachzudenken.«
»Mich hat bisher niemand gefürchtet«, erklärte Titus.
»Ach nein? Wie lange brannten bei euch die Feuer. Damals, als deine Eltern noch lebten?«
Er wandte sich von ihr ab. Nadala hatte ihr also von ihm erzählt. Schon lange hatte er nicht an seine Mutter gedacht, den Vater auch nicht. Er schluckte, wischte mit dem Handrücken über die Augen. Er erinnerte sich an damals. Die Feuer gingen eins nach dem anderen aus. Plutarch und seine Inquisitoren jagten alle, die anders waren. Alle, die angezeigt wurden von Nachbarn und Neidern. Vor allem hatte die Jagd Drachen gegolten, und wie er mittlerweile verstanden hatte, auch den Angehörigen der Feuerlinie. Als seine Eltern noch lebten, kamen Menschen in ihr Dorf, um Glut zu holen. Bei ihnen brannte sehr lange ein schwaches Feuer, sogar bis zum Schluss glomm es mit kleinen Flammen, als in den Ländereien längst alle erloschen waren. Er sah Anima an. Sie nickte, als habe sie seine Gedanken erraten.
»Meine Eltern hatten immer eine Kochstelle«, flüsterte er, dabei straffte er die Schultern. »Sie haben aber nie solche Sachen gemacht wie du. Oder ich.«
»Sie konnten es genauso wenig wie wir. Plutarchs Zauber oder ein anderes Ereignis haben die Feuer erlöschen lassen, und mit ihnen verschwand unsere Fähigkeit, dieses Element zu nutzen und formen. Nadala und ich vermuten, dass deine Eltern aus einer sehr alten Feuerlinie stammten. Wir werden es herausfinden, wenn wir unser Ziel erreicht haben. Dort gibt es Aufzeichnungen der ersten Familien und ihrer Abkömmlinge. Plutarch hat über Jahrzehnte, vielleicht waren es sogar Jahrhunderte, Leute wie uns verfolgt. Egal ob Feuer oder Wind, selbst die Erdlinien, das Wasser.« Sie machte eine Pause, starrte in die Dunkelheit.
Titus folgte ihrem Blick, konnte nichts erkennen. Vor ihnen lag schwarzer Wald, darüber standen lediglich Sterne, nach und nach wurden es mehr am Nachthimmel. Der Mond würde erst später auftauchen.
»Alle Elemente waren ihm zuwider. Er wollte herrschen, allein. Dafür hat er mit einem Element gespielt, das ihm selbst den Tod einbrachte«, sagte sie ruhig an ihn gewandt.
»Welches denn?«
»Du weißt bestimmt, dass er die Zeit manipulierte. Ich dachte, du seist dabei gewesen und erzählst mir davon.«
Titus ließ die Schultern hängen. »Damals befahlen Nadala und Regulus, dass ich am Ufer bleibe. Ich war nicht in Hyperahmah. Atiro ist dabei gewesen.«
Anima biss ein Stück Brot ab und kaute. »Atiro, ja? Erzähl mir von ihm.«
Der Junge überlegte eine Weile. »Eigentlich ist Atiro ein kluger Kerl.« Titus zog kurz die Nase hoch, obwohl er keinen Schnupfen hatte. »Er regt sich furchtbar schnell auf, will immer recht haben. Weil er den Folianten des Feuers auswendig kennt, auch die anderen. Er kann gut lesen und schreiben, weiß sehr viel. Mathematik und das Wissen um die Natur beherrscht er ebenfalls. Sein Vater war ein hoher Würdenträger, hat ihn viel gelehrt.«
Anima schwieg. Titus zögerte, sprach nach einer Weile weiter. »Er hat sich mit Gerald und Carl nicht verstanden. Hat immer gesagt, dass er nicht zum Arbeiten mitgekommen sei. Sein Vater ist in Hyperahmah nicht gestorben, damit er als Knecht von Schmieden ende.«
»Verstehe. Weißt du, wie Atiros Vater gestorben ist?«
Titus nickte. »Ja, er hat es mir erzählt. Er ist von Plutarchs Wachen umgebracht worden, in seinem Studierzimmer. Er vermutet, Vaticine hat seinen Vater an Plutarch verraten, um von sich selbst abzulenken. Atiro hasst sie alle.«
»Wen?«
»Na, alle, die damals dabei waren. Nadala, Regulus, Vaticine, Merranas, Kiromin und wahrscheinlich auch Firim und mich.«
»Ah. Und warum?«
Titus zuckte mit den Schultern.
Offenbar reichte Anima diese Antwort.
»Für den ersten Tag haben wir genug erlebt.« Anima streckte sich. »Vor uns liegt eine lange Reise zu einem abgelegenen Teil von Grunt.« Sie schaute zu den Sternen. »Wynfreth, ja? Nadala hatte diesen Namen auch erwähnt, genau wie der zahnlose Häscher heute Mittag. Was hat es mit dieser Person auf sich?«, murmelte sie. »Zeit schlafen zu gehen. Vielleicht werden wir unangenehme Umwege machen.«
Im Feuer brennt,
wer sich erkennt.
Die Glut ist meine Seele,
der Funken nie fehle.
Wir entzünden die Welt.
Aus dem Folianten des Feuers
Sie hatten ihm den Mund geknebelt, die Hände waren unter Stricken und Ketten versteckt und vorne zusätzlich mit einem Gürtel an der Hüfte fixiert. Es sah aus, als würde er in dicken Handschuhen seine Gürtelschnalle halten. Das Gesicht des jungen Mannes zeigte Spuren harter Schläge, das glatte blonde Haar fiel ihm in Strähnen über die Schultern. Selbst über den Schreibtisch hinweg konnte Wynfreth Schweiß, Dreck, Pisse und vor allem Verbranntes riechen.
»Öffne die Fenster! Er stinkt erbärmlich«, befahl er seinem Schreiber, der dankbar aufsprang und die kleinen, mit buntem Glas verzierten Fenster aufriss. Wynfreth stand auf und ging um den Schreibtisch herum zu seinen Gefolgsleuten. Sie hatten Fangstricke um den Hals des Gefangenen gelegt und hielten ihn mit den daran befestigten Eisenstangen auf Abstand.
»Wozu dieser Aufwand?«, wollte er wissen.
Die Männer wechselten Blicke. »Er kann diese Feuersachen mit seinen Händen machen«, brachte schließlich einer hervor.
Wynfreth hob eine Augenbraue, während er die Hände im Rücken faltete. »Feuersachen? Könntet ihr womöglich etwas präziser werden?«
»Er macht Feuerbälle und schleudert sie mit seinen Händen auf andere«, erklärte der Häscher. »So hat er drei von uns schwer verletzt, sie sind kaum noch am Leben. Hans hat nur kurz geschrien, weil sein Gesicht brannte, den Fiedler hat er von hinten getroffen. Der leidet jetzt noch. Wie ein Kaninchen nach dem Häuten, so sieht sein Rücken aus.
Der andere mischte sich ein: »Das ist so ein Feuerbastard, wie sie wieder in allen Städten und Ländereien auftauchen. Von hinten haben wir ihn überwältigt und ihm die Hände verbunden, damit er nicht mehr hexen kann.«
»Den Markus hat er lediglich an der Hand erwischt«, bellte der erste. Der Besagte streckte seinem Herrn die in einem dicken Verband steckende Hand entgegen.
»Ja, schon gut. Ich glaube euch.« Wynfreth hob beschwichtigend die Hand. »Ich weiß, dass es diese Flammenhetzer gibt. Anders als der Rest der Welt leugne ich nicht ihre Existenz. Schließlich hieß es unter Plutarchs Herrschaft, man habe alle Flammenhetzer getötet oder unschädlich gemacht. Anscheinend waren Plutarchs Inquisitoren nicht gründlich genug gewesen.« Sein Blick richtete sich auf den Mann. »Die Brut hat also überlebt, obwohl die Feuer damals erloschen sind.«
Der Gefangene stierte ihn an. Seine braunen Augen gefielen Wynfreth. Sie zeigten Wut, großen Hass. Eine gute Mischung, wie er fand. Wahrscheinlich war dieser Magier recht ansehnlich, wenn er denn mal sauber und gekämmt wäre. »Wo genau habt ihr ihn aufgegriffen?«
»Im Gasthof Zur dicken Erle an der Hauptstraße nach Hyperahmah. Er hat mit dem Wirt einen Streit um die Zeche angefangen, dabei seine Tricks gezeigt«, berichtete der Bandagierte. »Wir haben uns seiner angenommen. Zwar ist der Gastraum etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, aber am Schluss war der Wirt dankbar für unser Eingreifen.«
»Sehr gut! Es ist gut, dass die Bevölkerung uns als Retter und Helfer sieht. Vertrauen ist ein kostbares Gut.« Wynfreth ging um die drei herum, schließlich blieb er hinter dem Gefangenen stehen und löste den Knebel. Der junge Mann spie aus, als der Lappen von seinen Lippen fiel. »Ihr habt kein Recht mich gefangen zu nehmen«, keifte er los.
»Du hast die Erlaubnis mir deinen Namen zu nennen, bevor ich entscheide, an wen ich dich ausliefere.« Wynfreth grinste.
»Ich habe nichts Unrechtes getan!«
»Oh, da sind der Wirt und ich ganz anderer Meinung. Und eigentlich hast du Glück, dass ausgerechnet wir dich erwischt haben und nicht irgendwelche Schergen, die für so Ausgeburten wie dich jede Menge Geld bei den neuen Herrschern des Landes kassieren. Solche wie du sind nur bei einer bestimmten Klientel gern gesehen.«
Der junge Mann schwieg, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, die gefesselten Hände zitterten. »Der Wirt hat mir altes Bier eingeschenkt und das Essen war schlecht. Ich habe lediglich die Zeche gekürzt. Als er mir Schläge androhte, habe ich gehandelt. Es ist nichts Verwerfliches an diesem Tun.«
Gelächter erklang von allen Seiten.
Die Gesichtsfarbe des jungen Mannes wechselte in ein tiefes Rot. »Was lacht ihr so dämlich?«, presste er durch die Lippen hervor.
Wynfreth wurde schlagartig ernst. »Wie ist dein Name?«
Schweigen.
»Einmal frage ich noch, danach tut es weh.« Wynfreth war zu den offenen Fenstern getreten, rümpfte die Nase.
»Ich heiße Atiro.«
Atiro drehte sich zu dem Mann, der hier das Sagen hatte, betrachtete das schmale Gesicht. Er mochte Anfang der Fünfzig sein. Die Haare waren kurz und präzise geschnitten. Über den Augen trug er ein Sehgerät, Glas in einer feingeschmiedeten Halterung, soweit er es auf die Entfernung erkennen konnte. Er hatte sowas schon bei einem Würdenträger in Hyperahmah gesehen. Damals, als sein Vater noch gelebt hatte.
Der Mann lächelte ihn an, kam näher. »Nun gut, Atiro. Wer ist dein Herr? Und wohin genau ging deine Reise?«
Er antwortete nicht, starrte den älteren Mann an.
Die Mundwinkel seines Gegenübers zuckten wie zu einem Lächeln, dann traf ihn der harte Schlag mit flacher Hand. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, in seinem linken Ohr klingelte es.
»Ich habe dich gewarnt, dass es weh tun würde. Warum hört man mir nie zu?«, hörte er die Stimme dumpf durch die Geräusche in seinem Kopf. Er keuchte. Nach und nach nahm der Raum vor seinen Augen wieder Konturen und Farben an. »Ich habe keinen Herren. Ich bin niemandes Knecht, stehe in keinem anderen Dienst.« Seine Stimme zitterte, mehr als es ihm lieb war, er räusperte sich.
»Oh, ein Freiherr und erfahrener Flammenhetzer. Ich habe die Ehre.« Wynfreth verbeugte sich tief. »Für einen Mann von Stand seht Ihr erbärmlich aus, mein Herr. Was ist Euch widerfahren? Kann ich helfen?« Der Mann grinste breit, zeigte seine gepflegten Zähne.
Atiro wollte nicht antworten, Schweigen würde jedoch nicht helfen, also straffte er die Schultern. »Ich bin auf der Reise nach Hyperahmah.«
»Ach? Das ist interessant. Erzählt uns etwas mehr. Was ist der Zweck Eurer Reise?«
»Das Studium.«
Der Mann wandte sich von ihm ab. Atiro erkannte einen Ring an dessen Finger. Ein silbernes Siegel, wie es die Statthalter trugen, schon damals zu Plutarchs Zeiten.
Wo haben die mich hingebracht?, dachte er, schaute dabei zu den Fenstern. Durch die kleinen Öffnungen war nichts zu erkennen. Der Weg hierher war nur eine vage Erinnerung. Ein pochender Schmerz am Hinterkopf erinnerte ihn an den heftigen Schlag, der ihn hatte im Gasthaus zu Boden gehen lassen, nachdem er einige seiner Angreifer hatte abwehren können. Er musste sich Antworten einfallen lassen. Er kannte niemanden mehr auf Hyperahmah, nicht namentlich. Außer Vaticine.
Der Machthaber dieses Ortes trat auf ihn zu. »Ein Flammenhetzer, der sich in einem Gasthaus zu erkennen gibt, ohne Herr und Dienst. Auf dem Weg nach Hyperahmah, um zu studieren. Eine schöne Geschichte.« Der Mann blieb ruhig vor ihm stehen, ergriff ihn am Hals.
Zu Atiros Entsetzen riss er an einem der Stränge um seinen Hals. Nein, das war ein Irrtum. Atiro spürte, als die Kette riss.
»Nein, das ist meine!«, rief er wütend.
Triumphierend betrachtete der andere die kleine Sonnenuhr. »Jetzt kommen wir der Sache etwas näher.«
»Das ist mein Eigentum. Die Kette gehört mir.« Atiros Atem ging schnell, Schweiß trat auf seine Stirn.
Der Mann kniff ein Auge zu, ließ die Kette vor seinem Gesicht hin und her baumeln. »Nun denn! Wir finden bestimmt eine Lösung, wie du sie wiedererlagen kannst.« Er rümpfte die Nase. »Führt ihn weg in die mittleren Verließe, die mit den Metalltüren. Lasst seine Hände gefesselt. Jemand soll ihn füttern, und wenn er pissen muss, setzt ihn auf einen Eimer. Weder brecht ihr ihm die Arme, Hände noch die Finger. Aber wascht ihn. Er stinkt.«
Noch bevor Atiro etwas entgegnen konnte, zerrten die beiden Männer an den Halsschlingen, dass ihm die Luft wegblieb. Er taumelte zurück und schnappte nach Atem. Der Machthaber verschwand hinter einer sich schließenden Holztür. Sie schleiften und schoben ihn durch Gänge, an einigen Schießscharten und Fenstern konnte er Wälder erkennen. Sie mussten auf einer Burg sein. Irgendwann ging es eine Wendeltreppe hinunter. Sie stießen ihn in eine kleine Zelle, die Schlingen wurden von seinem Hals genommen, stattdessen spürte er eine Schwertspitze im Rücken. Einen Augenblick später fiel die massive Eisentür ins Schloss. Er eilte an das winzige Fenster, das in die Mauer eingelassen war. Kein Gitter! Wozu auch? Ein Kleinkind passte allenfalls knapp durch diese Öffnung. Die Mauer war so dick wie sein Arm lang. Hier kam niemand in erwachsener Größe rein oder raus, außer durch die Tür.
Wynfreth stand am offenen Fenster. Der Geruch nach Verbranntem hielt sich hartnäckig in seinem Audienzzimmer. »Was denkst du, Friedhelm? Ist der Junge ein Idiot oder hat er überhaupt keine Vorstellung, was seit Plutarchs Fall und der Wiederkehr des Feuers in Grunt und Pjeke-Uh vor sich geht?«
»Ich würde auf das zweite wetten. Welcher Feuermagier geht freiwillig nach Hyperahmah, wenn er auf den eigenen Kontinent reisen und dort mit seinesgleichen studieren kann? Die Akademien von Pjeke-Uh haben vor vier Sonnenwenden geöffnet und rekrutieren auf der ganzen Welt. Dies gilt ebenso für die Tempel der Winde, wenn man unserem Informanten Glauben schenken mag.« Der Schreiber des Statthalters von Kerma hielt ihm ein Pergament entgegen.
Wynfreth lehnte mit einer Handbewegung ab. »Da haben wir wieder den Beweis. Entweder dumm und hübsch oder eben klug und hässlich. Beide guten Eigenschaften in einer Person sind Laune der Natur, und die ist selten gut.«
»Bei Ihnen hat sie ein hervorragendes Werk vollbracht, Herr.