Fledermausland - Oliver Dierssen - E-Book

Fledermausland E-Book

Oliver Dierssen

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Beschreibung

Sind Sie schon einmal nackt einer Fledermaus begegnet? Wohl nicht, oder? Sebastian Schätz allerdings hat dieses zweifelhafte Vergnügen. Und das ist nur eines von vielen Problemen, mit denen er sich herumschlagen muss: Bei Kim, dem Mädchen, in das er sich verliebt hat, kommt er nicht richtig weiter. In seiner Küche hat sich ein ungebetener Gast breitgemacht. Und dann wird er auch noch von einer Bande von Zwergen heimgesucht. Kann es noch schlimmer kommen? Ja, es kann. Willkommen im Fledermausland! (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 439

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Oliver Dierssen

Fledermausland

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

»Hier können wir nicht [...]1 Die Fledermaus2 Das Beste an Hannover ist die Bahnverbindung nach Hamburg3 Luscious Chocolate4 Theodor5 Die Quitte lügt6 Ein Gast unter der Spüle7 Eine Nacht mit dem Domowoj8 Paranoid ist so ein starkes Wort9 Paris!10 GEZ11 Ich bin nicht die, für die du mich hältst12 Bitte halten Sie Ihren Gattungspass bereit13 Domowoje sind keine russischen Zauberkünstler14 Kino ist das Größte15 Der Bhael16 Sometimes I feel very sad17 Gesellschaft zur Erhaltung und Zusammenarbeit der Gattungen18 Home is where your heart is19 Never mess with a Domowoj20 Eine Lektion von Lemmy Kilmister21 Anthropomorph22 Herzlichen Glückwunsch23 Das Zeichen der WächterEpilogDanke!

»Hier können wir nicht anhalten.

Das ist Fledermausland.«

 

Raoul Duke in Fear and Loathing in Las Vegas

1 Die Fledermaus

Ich weiß nicht, ob Sie schon mal nackt einer Fledermaus begegnet sind. Und damit meine ich nicht die niedlichen mit den süßen Ohren, die Sie vielleicht von den Postern aus der Apotheke kennen. Glauben Sie mir, eine echte Fledermaus vergessen Sie nicht so schnell. Sie ist hektischer. Gefährlicher. Sie stinkt.

Besonders unangenehm ist es, wenn das Geräusch ledriger Flügelschläge über Ihrem Bett Sie nachts aus dem Schlaf reißt.

In der Nähe menschlicher Siedlungen sind Fledermäuse keine Seltenheit. Auch nicht in Deutschland. Fledermäuse lieben das Licht. Seltsam für Tiere, die ihre Augen kaum benutzen, wenn Sie mich fragen. Aber dazu komme ich später.

Im Herbst schlafe ich gern mit angelehntem Fenster.

Die Fledermaus kam ohne Vorwarnung mitten in der Nacht. Ihr wildes Flattern erfüllte plötzlich die Dunkelheit über meinem Bett. Das Tier roch nach Urin und modrigem Laub und verströmte seinen bestialischen Gestank in meinem Schlafzimmer. Im Sturzflug schoss es dicht über mir vorbei, etwas klimperte neben meinem Bett auf dem Fußboden.

In Panik tastete ich nach der Nachttischlampe. Ich stieß mit der Hand gegen ein Wasserglas, und es zerbrach klirrend auf dem Boden.

Endlich fand ich den Schalter und machte das Licht an. Mein Herz raste. Wo war die verfluchte Fledermaus? Ein schneller Blick durchs Zimmer: Der Schreibtisch voller Papiere, der Fußboden mit Klamotten übersät, die Original-Laserschwert-Replika auf dem angestammten Platz über der Kommode.

Die Fledermaus hing über dem Kleiderschrank und blickte aus ihren trüben Augen zu mir herunter. Ihr Kopf schaukelte hin und her wie das Pendel einer pelzigen Standuhr. Sie war gar nicht richtig schwarz, dachte ich, sondern schmutzig grau. Das Tier spreizte seine Flügel, schüttelte sie mit einem ekelhaft trockenen Geräusch und legte sie wieder an den Körper.

Das ist eine wilde Fledermaus, schoss es mir durch den Kopf, und ich bin nackt. Jetzt bloß keine unbedachte Bewegung machen, nicht schreien, nicht zucken, das Tier nur nicht aufregen. Es übertrug sicher Tollwut und hatte wahrscheinlich einen bösartigen Erregercocktail im Maul. Von Flöhen und Milben und Borreliosezecken ganz zu schweigen.

Ich glitt aus dem Bett, wich zwei alten Pizzatellern aus und bewegte mich behutsam rückwärts auf die Zimmertür zu. Plötzlich verfing sich mein Fuß im Kabel der Nachttischlampe, ich stolperte und schlug der Länge nach hin.

Die Fledermaus richtete ihre übergroßen Ohren auf mich und zeigte mir ihr Gebiss. Ich riss am Kabel, das meinen Fuß umschlungen hielt. Die Nachttischlampe summte, flackerte und erlosch. Es wurde stockdunkel.

Mit einem beherzten Sprung durch die offene Schlafzimmertür brachte ich mich in Sicherheit. Ich knallte die Tür zu und stemmte mich von unten gegen die Klinke.

Seit meine Wohnungstür letzten Sommer versehentlich von der Polizei aufgebrochen worden war, schloss sie an der Fußleiste nicht mehr richtig. In meinem Flur wehte ein frostiger Luftzug auf Knöchelhöhe. Die Fliesen unter meinem nackten Hintern waren eiskalt.

Durch die Tür hörte ich, wie die Fledermaus im Schlafzimmer wieder ihre flatternden Kreise zu drehen begann. Ich war todmüde, verkatert, verängstigt und wie gesagt unbekleidet. Mein Wohnungsschlüssel steckte vermutlich in meiner Jeans am Fußende des Bettes.

Sollte ich nackt auf die Straße fliehen und um Hilfe rufen? Mich aus der Wohnung aussperren? Nein. Seien wir ehrlich: Es gab heute Nacht keinen Ort, wohin ich hätte flüchten können.

Mein Blick fiel auf das Telefon auf dem Flurschränkchen.

Ich brauchte Hilfe.

 

»Wegen einer Fledermaus rücken wir bestimmt nicht an.« Der Mann von der Feuerwehrleitstelle klang müde und vorwurfsvoll. »Oder brauchen Sie medizinische Hilfe? Wurden Sie gebissen?«

»Ich konnte mich retten«, keuchte ich. »War ziemlich knapp. Aber sie hat mich nicht erwischt.«

»Gehen Sie morgen halt mal zum Arzt. Fledermäuse übertragen Tollwut. Aber wenn Sie nicht gebissen wurden, würde ich da keine Panik verbreiten.«

»Ich verbreite keine Panik!«, rief ich mit schriller Stimme. »Die Fledermaus hat mich in meiner Wohnung angegriffen! Da hätte sich wohl jeder erschrocken.«

»Hm«, sagte der Feuerwehrmann. »Aber Ihnen geht’s gut, ja?«

»Geht so.« Ich hockte mit einem Küchentuch bekleidet vor meiner Schlafzimmertür und bewachte sie, während die nächtliche Novemberluft meinen Hintern kühlte. Wie gut konnte es einem in so einer Situation gehen?

»Na dann, angenehme Nacht noch«, sagte der Feuerwehrmann und gähnte unüberhörbar am anderen Ende der Leitung.

»Warten Sie!«, rief ich.

Es war Zeit für einen Strategiewechsel. Vielleicht konnte ich ihn ja zu einer Hilfeleistung überreden, wenn er Mitleid mit der Fledermaus hatte. »Mir kam es mehr auf das arme Tier an. Die stehen ja unter Naturschutz, wissen Sie? Nicht dass die sich noch verletzt in meiner Wohnung. Könnten Sie da nicht eine Ausnahme machen und sie vielleicht doch …«

»Rufen Sie den Kammerjäger an. Wir sind da wirklich nicht zuständig. Auch wenn ich Ihrer Fledermaus natürlich alles Gute wünsche.«

Er legte auf. Einfach so.

4:06 Uhr morgens laut Küchenuhr. In sechs Stunden musste ich bei Mister Xu auf der Arbeit sein.

Das Vieh konnte nicht aus dem Schlafzimmer, ein Stuhl klemmte unter der Klinke. Ich hatte die Wahl. Entweder ich überließ meiner Fledermaus – der Fledermaus, korrigierte ich mich – das Feld und zog mich auf meinen gemütlichen Cordzweisitzer im Wohnzimmer zurück. Oder ich ergriff ernsthafte Maßnahmen.

Schließlich entschied ich mich für einen starken Kaffee und die Maßnahmen. Ich würde mich nicht vertreiben lassen. Nicht heute Nacht. Nicht nach den Strapazen der letzten Wochen. Nicht nachdem sich meine amourösen Chancen schlagartig verbessert hatten, nicht nachdem Kim mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte, weil sie sich in mich verliebt hatte.

Nicht jetzt, wo das gute Leben in Reichweite vor mir lag und nur darauf wartete, dass ich zupackte.

Ein Mann braucht einen Rückzugsort, eine Höhle. Und darum würde ich kämpfen. Der uralte Konflikt: ein Mann gegen ein Raubtier, der Mensch gegen die unbezähmte Natur.

In den Gelben Seiten fand ich nur einen Kammerjäger mit einer 24-Stunden-Hotline. »Ich brauche einen Kammerjäger«, teilte ich ihm mit. »Wegen einer Fledermaus in meinem Schlafzimmer.«

»Da sindse doppelt falsch.« Die leise Stimme des Kammerjägers ging im mechanischen Flüstern und Summen technischer Geräte unter. »Erstens mach ich nur Insekten. Und zweitens, Fledermäuse haben Naturschutz, wusstense wohl nicht?«

»Doch«, sagte ich. »Wusste ich. Sie müssen sie ja nicht töten. Einfach nur fangen und an einen sicheren Ort bringen. Impfen«, schlug ich vor. »Vielleicht braucht sie ja Hilfe. Sie schien mir recht verängstigt zu sein.«

Das war schon wieder gelogen. Der Fledermaus schien es prächtig zu gehen. Das Flattern hinter der Schlafzimmertür hatte aufgehört. Bis auf ein gelegentliches Flügelrascheln war es still. Vielleicht wiegte sich das Untier in den Schlaf. Oder es baute ein Nest. Wenn hier jemand verängstigt war, dann eindeutig ich.

Der Kammerjäger lachte. »Versuchenses mal bei der Tierrettung.«

Ich dankte ihm und legte auf.

»Wir machen keine Fledermäuse«, sagte die ältere Dame in der Hotline der Tierrettung. Sie klang sympathisch und hochmotiviert. Bestimmt arbeitete sie ehrenamtlich. »Tut mir wirklich leid. Aber keine Sorge, die fliegt schon wieder. Die braucht ja Nahrung, ne?« Sie kicherte.

»Das befürchte ich.«

»Da mach dir mal keine Sorgen. Fledermäuse greifen nur ganz selten Menschen an. Nur wenn sie Tollwut haben. Mach einfach das Fenster weit auf und warte ab.«

Klar, die Fledermaus hatte sich mühevoll an meinen halbgeschlossenen Rollläden vorbeigequetscht, weil sie in Wirklichkeit in der Nacht rumfliegen wollte. Was für ein Quatsch. Das Biest wollte Blut sehen, so viel war klar.

»Klasse Tipp«, bedankte ich mich. »Probiere ich gleich mal aus. Klappt bestimmt sofort.« Wenn die Ökotante schon nichts als vollkommen nutzlose Ratschläge für mich hatte, ergab sich vielleicht wenigstens ein angenehmes Gespräch. Der Kaffee hatte mich wach gemacht. Bis die Sonne aufging, würde es noch mindestens zwei Stunden dauern. »Kriegt ihr eigentlich viele Anrufe pro Nacht?«

»Wie meinst du das?«, fragte sie. »Nur Anrufe wegen Fledermäusen oder so insgesamt?«

»Ich dachte nur, wenn mir morgen Nacht um vier langweilig werden sollte, rufe ich nochmal durch«, witzelte ich. Zum Aufwärmen zog ich abwechselnd das linke und das rechte Knie an die Brust und versuchte ein paar Rumpfbeugen, die Schlafzimmertür immer im Blick.

»Du hast doch echt eine Fledermaus in der Wohnung, oder? Wenn du mich hier nur veräppeln willst …« Ich hörte die Dame durch den abgedeckten Telefonhörer mit jemandem sprechen. »Wir zeichnen jedes Telefonat auf«, fuhr sie fort. Ich glaubte, leichte Panik in ihrer Stimme zu erkennen.

»Belästigen Sie meine Kollegin?«, fragte eine heisere Männerstimme. Der Kerl flüsterte, aber das ließ ihn noch gefährlicher erscheinen. »Wir haben Ihre Nummer auf dem Display. Rufen Sie bloß nie wieder an, sonst kriegen Sie eine Anzeige wegen Belästigung.«

Die Verbindung wurde unterbrochen.

Die ganze Sache entwickelte sich zu einer einzigen Katastrophe. Mein Kaffee war inzwischen kalt und bitter geworden. Es zog, und ich fror erbärmlich.

Einen Moment lang fühlte ich mich von den nachtschwarzen Fenstern der gegenüberliegenden Häuserfront beobachtet. Als würde dort drüben jemand wach sein und in fremde Wohnungen starren. So wie ich. Aber was hätten die Nachbarn schon zu sehen bekommen? Einen blassen jungen Mann, der mitten in der Nacht in Fötushaltung in seiner Zweizimmerwohnung hockte – Altbau möbliert, Hannover-Kleefeld, zweihundertzehn Kaltmiete – und sich ein Küchentuch um die Hüfte geschlungen hatte. Hey, so ist die Großstadt, solche Sachen passieren überall, vor unser aller Augen.

Man hatte mich vertrieben, abgewiesen, gedemütigt und schließlich auch noch als Telefonbelästiger verscheucht: Die Fledermaus setzte mir ganz schön zu. Jetzt reichte es mir endgültig. Es war Zeit für eine erbarmungslose Offensive.

 

Im Morgengrauen ging ich zum Angriff über. Ich schnappte mir einen Schal von der Garderobe, wickelte ihn zum Schutz um mein Gesicht und schlüpfte in dicke Winterhandschuhe. Mit dem Küchentuch insgesamt eine ungewöhnliche Kombination, aber egal: Je weniger Hautfläche der Fledermaus zum Besudeln zur Verfügung stand, wenn sie mich attackierte, desto besser.

Ich würde sie fertigmachen, wegputzen, ausradieren. Die war zum letzten Mal über mich hergefallen, einen friedlich schlafenden, unbescholtenen Bürger, der vor der nächsten Achtstundenschicht im Asiashop nur ein bisschen Ruhe suchte. Meine Geduld war erschöpft.

Eine verheerende Niederlage musste ich allerdings einkalkulieren. Für alle Fälle stopfte ich mein Handy in den rechten Handschuh. Falls ich im Schlafzimmer von der Außenwelt abgeschnitten werden sollte. Den Fluchtweg durch die Schlafzimmertür ließ ich sicherheitshalber offen.

Das Schlafzimmer sah so aus, wie ich es verlassen hatte: die zerwühlten Laken, ein zerbrochenes Glas am Boden. Daneben eine leere Packung Aspirin. Ein Haufen mit sauberer und viele mit schmutziger Wäsche.

Herbstlicher Wind pfiff durch das Fenster, Gänsehaut kroch meinen nackten Bauchnabel hoch. Ich riss meinen lila-grau gestreiften Bademantel vom Haken neben der Tür, warf ihn mir über und ging in Gefechtsstellung.

Die Fledermaus war nirgendwo zu sehen. Wohin war das Scheißvieh verschwunden? Vielleicht in den Kleiderschrank? Unter – oder in mein Bett?

War da überhaupt eine Fledermaus gewesen?

Ich lehnte mich an die Schranktür, kratzte mir ein paar Schlafkrümel aus dem Mundwinkel und zweifelte an meiner Wahrnehmung. Vielleicht war ich nach dem ganzen Bier von gestern Abend ausgetrocknet. Zu viel getrunken, zu viel gepinkelt, Elektrolytverschiebungen, brandgefährlich, das weiß jedes Kind aus der Apotheken-Umschau.

Oder ich bekam eine Hirnhautentzündung.

Oder ich war übergeschnappt. Nicht die unwahrscheinlichste Lösung.

Schluss damit. Vor wenigen Minuten hatte ich noch ihr bakterienverseuchtes Flügelschlagen gehört. Ich war bei klarem Verstand, Punkt.

Ich drang weiter ins Zimmer vor, darauf bedacht, jeden Moment einem flatternden Sturzangriff auszuweichen. Aber nichts geschah. Mit der Fußspitze angelte ich nach einer sauberen Boxershorts.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ein Kratzen und Schaben, von oben, aus der Nähe des angekippten Fensters. Von draußen, immerhin.

Das Rollo war noch halb heruntergelassen, so wie ich es gernhatte.

Das Kratzen kam aus dem Rollladenkasten.

Genau da drinnen klapperte und raschelte es. Wenn sich die Fledermaus dort versteckte, saß sie in der Falle, jetzt hatte ich sie, jetzt war sie fällig!

Ich ließ die Unterhose auf den Wäschehaufen zurückgleiten, legte die dicken Handschuhe behutsam auf die Kommode, das Handy kam griffbereit in die Bademanteltasche. Jetzt war Fingerspitzengefühl gefragt.

Ich legte die Hand auf den Schalter, der meine nagelneuen elektrischen Rollläden nach oben fuhr. Und drückte.

Beinahe lautlos surrten die schweren Kunststofflamellen herauf. Hinter den ungeputzten Scheiben meines Schlafzimmerfensters schimmerte der bereits dämmerige Großstadtmorgen.

Ich stellte mir vor, wie das heimtückische Tier genau jetzt zwischen die Lamellen geriet, immer im Kreis herum … immer im Kreis.

Der Rollladen stoppte auf halber Höhe mit einem hässlichen Geräusch. Ich drückte den Schalter nach unten und wieder nach oben. Nichts. Stille. Auch am Schalter wackeln half nicht viel. Ich stellte ihn auf volle Kraft nach oben und besah mir das Problem aus der Nähe.

Noch immer hörte ich es aus dem Kasten knistern und klappern. Klemmte da etwas im Öffnungsschlitz? Ich riss das Fenster weit auf und lehnte mich hinaus. Tatsächlich: Dort oben steckte ein bunt bedrucktes Stück Karton drin. Hatte die Fledermaus etwa da ihr Nest gebaut? Sehr leichtsinnig.

Es musste doch reichen, den Karton mit den Fingerspitzen herauszuziehen, um den Motor wieder in Bewegung zu versetzen. Wenn die Fledermaus da drinnen hockte, war sie erledigt, der Rollladen würde sie zermalmen. Und dann war es aus mit der ekelhaften Flatterei!

Eine Spur Mitleid hatte ich ja mit dem desorientierten Vieh. Aber der Ekel war stärker. Fledermausflügelgrauer, geschmacksintensiver Ekel vor dem ungebürsteten, wilden Tier, das ziellos in meinem Schlafzimmer umhergeschwirrt und mit seinen kontaminierten Flügeln wieder und wieder gegen die Zimmerdecke, meine Möbel, meine Kleidungsstücke gestoßen war. Dem würde ich ein Ende bereiten.

Aber das Kartonstück ließ sich kaum bewegen. Man hätte weiter hineinfassen müssen, um es zu lösen. Ich biss die Zähne zusammen, holte tief Luft. Mit der rechten Hand hielt ich mich am Fensterrahmen fest, mit der linken griff ich in den Rollladenkasten, schob die Fingerspitzen immer tiefer hinein. Langsam tastete ich mich nach oben.

Ich bin sicher, Sie hätten das nicht getan.

Natürlich lieben Fledermäuse das Licht. Nicht dass sie darauf angewiesen wären. Sie fliegen bekanntermaßen mit Ultraschall. Aber das Licht zieht potenzielle Beutetiere an. Mücken und Falter zum Beispiel. Und Menschen. Und die Fledermaus als nächtlicher Jäger hat ein angeborenes Interesse an Beute, die kennt das ja gar nicht anders.

Insekten hingegen sind vielseitiger, sie interessieren sich für alle möglichen Sachen: Aromen, bunte Lampen, Süßigkeiten und Verwestes. Ich frage mich, wie viel intensiver Wahrnehmungen sein müssen, wenn man sie durch einen sinnesphysiologischen Multiplikator wie ein Facettenauge betrachtet. Zum Beispiel einen Sonnenuntergang. Nicht eine Sonne versinkt blutrot im Meer, nein: tausende. Das volle Programm. Der sensorische Overkill.

Vielleicht erklärt das auch die rätselhafte Vorliebe bestimmter Insekten für einfarbige Flächen. Wenn man schon nicht die Augen zumachen kann, wird es entspannend sein, gelegentlich möglichst langweilige Flächen anzuschauen.

Aber zurück zu den Fledermäusen.

Fledermäuse nisten nicht in Rollladenkästen, wie ich später erfahren habe. Sie bevorzugen Höhlen, alte Bunker und ähnliche Ort, wo man ungestört den ganzen Winter rumhängen kann.

Aber für solche Überlegungen blieb mir keine Zeit. Die eisengrauen Rollladenlamellen fraßen sich mit unerbittlicher Härte in mein Handgelenk. Warum der Motor wieder angesprungen war, während ich die Hand im Kasten hatte, bekam ich auch später nicht heraus, als ich die grausame Maschine abmontieren und zerstören ließ.

Das Getriebe kreischte wie ein kaputter Küchenmixer. Es strengte sich hörbar an, die Lamellen und meine Hand in sein Inneres zu ziehen und dort ordentlich aufzuwickeln.

Endlich stoppte der Motor. Das Geräusch erstarb. Mein halber Unterarm steckte im Kasten. Von den Fingerspitzen ausgehend kroch ein taubes Gefühl den Arm hinunter, das, wie ich vermutete, sehr bald einem unerträglichen Schmerz weichen würde.

Ich stand also auf der Fensterbank. Die kühle Morgenluft wehte um meine Knie und unter dem Bademantel nach oben. Zwischen den Beinen wurde es frisch.

Der Schmerz begann unter den Fingernägeln zu kribbeln. Viel Zeit blieb mir bestimmt nicht, ehe die Hand endgültig tot war und man sie amputieren musste. Ich fingerte mit der Rechten das Telefon aus der Bademanteltasche. Meine Handfläche war schweißnass. Einen gefährlichen Augenblick lang kam das Gerät zwischen Daumen und Zeigefinger ins Rutschen, dann bekam ich es richtig zu fassen. Der Schmerz in der Rollladenhand meldete sich mittlerweile schubweise.

Wie viele W-Fragen würden Ihnen in so einer Situation einfallen? Die Rettungsleitstelle fragte verständnisvoll und in aller Seelenruhe nach: Wer, wo, wann, und wenn ja, wie viele?

»Nur ich«, brachte ich mühsam hervor. »Nur ein Verletzter.«

»Und worin stecken Sie fest? In einem Kasten? Was machen Sie in einem Kasten?«

»Die Fledermaus hat mich reingelockt«, stöhnte ich. Der Schmerz kam jetzt beinahe atemsynchron. Sengend jagte er durch den Ellenbogen ins Schultergelenk. »Machen Sie irgendwas! Machen Sie meine Hand da raus!«, schrie ich. »Sie haben ja keine Ahnung! Ich brauche sofort Hilfe! Ehrlich!«

Die Verbindung brach ab. Ich hörte das elektronisch verstärkte Geräusch meines eigenen Atems am Ohr. Es knisterte in der Leitung.

Es war still, totenstill, einen ewigen, schmerzhaften Moment lang. Hatten die einfach aufgelegt? War dies das Ende? Würde man mich hier hängen lassen, bis alles zu spät war?

Dann, endlich: wieder eine menschliche Stimme.

»Hören Sie, Herr Schätz.« Jetzt war ein anderer Sprecher dran, merkwürdig. »Wir holen Sie da raus. In spätestens zehn Minuten ist unser Team da. Atmen Sie ganz ruhig. Der Schmerz wird bald vorbei sein. Ganz ruhig und regelmäßig atmen und nicht aufregen.«

»Wer sind Sie?«, rief ich. »Ein Psychologe?«

»Der Schmerz wird bald vorbei sein. Atmen Sie ruhig. Beruhigen Sie sich. Unser Team ist schon auf dem Weg zu Ihnen. Ist jemand bei Ihnen?«

»Niemand! Nur eine Fledermaus.« Ich versuchte langsamer zu atmen, und wirklich – der Schmerz wurde ein wenig erträglicher.

»Fle-der-maus«, wiederholte mein Gesprächspartner langsam. »Wie groß?«

»Eine Fledermaus eben«, keuchte ich. »Ganz normal groß.«

»Hamstergroß, meerschweinchengroß, kaninchengroß«, sagte der Mann, »katzengroß – sagen Sie Stopp! – hundegroß …«

»Stopp!«, rief ich. »Wie eine Fledermaus eben! So ’ne kleine …« Ich wurde stutzig, in meinem Kopf begann es zu arbeiten. »Hundegroß? Wollen Sie mich verarschen?«

Der Psychologe schwieg.

»Hallo?«, fragte ich.

Totenstille in der Leitung. Das Telefondisplay war erloschen, die Verbindung einfach so abgebrochen.

Ich drehte mich um, so weit es meine Hand im Rollladen erlaubte, und ließ den Blick durch das unbeleuchtete Zimmer wandern. Die Digitalanzeige meines Weckers war tot, das vertraute Standby-Leuchten des Fernsehers nicht mehr zu sehen.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Und da war noch etwas, nur so ein Bauchgefühl: als sei das Zimmer plötzlich fünf Grad kälter geworden. Und fünf Grad unheimlicher.

Die Sicherung musste rausgesprungen sein! Mein Handy war bestimmt alle, was sonst? Vorhin hatte ich noch drei Akkubalken gehabt, jetzt waren sie plötzlich weg. Dazu noch ein Stromausfall in der Wohnung … Dafür konnte es tausend vernünftige Gründe geben, da war ich sicher. Aber mir fiel kein Einziger ein.

Ich lauschte. Auch das beruhigende Brummen des Kühlschranks war nicht zu hören. Es herrschte vollkommenes elektronisches Schweigen.

Meine schlimmsten Ängste waren wahr geworden. Ich war von der Außenwelt abgeschnitten. Was, wenn man mich hier nicht finden würde? Wenn der Typ am Rettungstelefon meine Adresse nicht verstanden hatte?

Wie lange würde meine Hand noch durchhalten? Ich habe mal eine Sendung über einen Typen gesehen, der hatte nach einem Unfall mit einer elektrischen Saftpresse nur noch einen Arm. Konnte jetzt nur noch Toastbrot frühstücken, weil er solche Schwierigkeiten mit dem Brötchenaufschneiden hatte. Das Brot hat er dann mit einer Wäscheklammer am Teller festgemacht, damit es beim Schmieren nicht wegrutschte. So wollte ich nicht enden.

Es war eiskalt auf der Fensterbank. Allmählich wurde es hell, und die ersten Passanten machten sich auf den Weg zur Arbeit. Ich lehnte mich so weit es ging ins Zimmer und hielt den Bademantel notdürftig in Schritthöhe zusammen. Er ging mir knapp bis zu den Knien. Und ich hatte nichts drunter. Suboptimal für eine öffentliche Rettungsaktion.

Ich war beschämt und hilflos, fror erbärmlich und konnte mich kaum bewegen. Das perfekte Opfer für die Fledermaus und ihre Artgenossen. Jetzt konnten sie mich anflattern und infizieren, so viel sie wollten, Gegenwehr war beinahe ausgeschlossen.

»Hilfe«, keuchte ich. »Hilfe. Echt jetzt.«

Und dann holten sie mich raus.

 

Das Erste, was ich von ihnen hörte, war ein leises Klicken an meiner Wohnungstür, dann das Geräusch schwerer Schuhe im stockdunklen Flur.

Ich sah den weißgelben Lichtkegel eines Scheinwerfers, der sich durch die unaufgeräumte Wohnung tastete. Meine Rettung! Ich würde nicht erfrieren. Und meine Hand war vielleicht noch nicht ganz verloren.

»Hier drüben! Ich bin hier!«, brüllte ich. Der Schmerz in meinem Arm war zu einem warmen, traurigen Taubheitsgefühl zwischen Daumen und Schlüsselbein heruntergebrannt, das vermutlich bleibende Schäden ankündigte. »Ich hänge im Fenster fest!«

»Zentralflur gesichert«, erwiderte eine tiefe, raue Stimme mit einem leichten türkischen Akzent.

Aus der Dunkelheit schälten sich zwei Gestalten. Ich erkannte das Neonrot von Rettungswesten. Ein massiger Sanitäter schob sich durch die Schlafzimmertür. Er zog seine Gasmaske hoch in die Stirn. Dann zielte er mit einem schweren Scheinwerfer in mein Gesicht, in meine an das Dunkel gewöhnten Augen. Das Halogenlicht schmerzte hinter meiner Stirn wie ein Kopfschuss.

»O Gott.« Ich krümmte mich. »Machen Sie das Licht aus!«

»Subjekt lokalisiert«, sagte der Sanitäter, der hinter der Wand aus Helligkeit nur noch unscharf zu erkennen war.

»Identifizierung einleiten«, antwortete eine schnarrende Stimme aus einem Funkgerät.

»Bleiben Sie bitte dort oben auf der Fensterbank!«, rief eine zierliche Frau, die hinter dem mächtigen Kreuz des Scheinwerfermannes beinahe verschwand. »Sebastian Matthias Schätz, hier wohnhaft seit Mai diesen Jahres, anthropomorph, keine Vorstrafen?«

»Das … bin ich«, sagte ich gequält. Anthropomorph? Hieß vermutlich, ich hatte was an der Hand. Medizinersprache. »Meine Hand steckt fest. Im Kasten. Machen Sie die gleich raus, ja?«

Der dicke Sani ließ den Scheinwerfer nach oben schwenken und kraulte seinen beachtlichen Schnauzbart. »Krass! Der steckt da echt fest, Kathleen. Was ist mit der Hand, Kleiner, warum geht die nicht raus? Krallen dran? Flossen? Widerhaken?«

»Der Motor«, wimmerte ich. »Der hat zugeschnappt.«

Die Frau zückte eine zierliche Stabtaschenlampe und begann, die Zimmerecken auszuleuchten. Als sie sich über den Schmutzwäschehaufen beugte, sah ich ihren runden, festen Hintern. Die Rettungssanitäterhose verschenkte keinen Stoff. Super, dachte ich, zum ersten Mal seit dem Umzug ist eine attraktive Frau in meinem Schlafzimmer, und sie interessiert sich hauptsächlich für abgegessene Pizzateller unter dem Nachttisch.

Der Lichtkegel erfasste Dinge, die besser im Dunkeln hätten bleiben sollen, huschte über die Nester aus geöffneten und liegengelassenen Rechnungen auf dem Schreibtisch. Auf dem Boden haufenweise ungewaschene Shirts und Boxershorts, jede Menge DVDs ohne Hüllen. Hoffentlich leuchtete sie nicht unter das Bett – dort staubte seit ewiger Zeit eine unangebrochene Familienpackung Kondome vor sich hin.

»Erstkontakt ohne Körperverletzung mit nicht identifizierter Fledermaus«, sagte sie. »Subjekt gibt sich namentlich zu erkennen. Fledermaus bislang nicht lokalisiert.« Sie räumte das Durcheinander auf meinem Nachttisch mit spitzen Fingern zur Seite, stellte eine kleine gelb glimmende Elektrolaterne darauf ab, zog die Nachttischschublade auf und fischte das Päckchen mit alten Briefen und Fotos heraus. Flüchtig blätterte sie es durch. Einige Bilder fielen heraus. Bloß nicht die aus dem letzten Urlaub, vor vier Jahren mit meinen Eltern auf Kreta, hoffte ich.

»Äh …«, begann ich. »Das sind meine Sachen.«

»Du bleibst hübsch da oben, bis wir wissen, womit wir es zu tun haben!« Der Dicke mit dem Scheinwerfer ließ seine Rettungsweste an den Schulternähten bedrohlich knacken. »Wo hast du den Flugsäuger zuletzt gesehen? Kam es zur Kontaminierung mit organischer Substanz?«

»Ich bin ihr entkommen. Hat mich nicht gebissen, wenn Sie das meinen. Könnten Sie jetzt vielleicht meine Hand aus dem Kasten …«

Der Sanitäter baute sich vor mir auf und hielt mir seinen Scheinwerfer so nah vor das Gesicht, dass die Staubpartikel in der Luft heiß auf meiner Haut brannten. Auf seiner breiten Brust ruhte ein kleines, schimmerndes Amulett an einer Kette. Da war wieder das Gefühl – wie ein kalter Luftzug, der einen flüchtig streift.

»Du bist in Sicherheit, Anthropomorph«, sagte der Dicke. »Hab keine Angst. Wir verfügen über eine Therapielizenz für mittlere und höhere Intelligenzler und sind in Notfällen wie diesen zu strengster Neutralität verpflichtet, egal, auf welcher Seite du stehst.«

Wieder dieses Wort: Anthropomorph. Was zur Hölle hieß das? Und Intelligenzler? Strengste Neutralität? Das hieß vielleicht, die Sanis hatten Schweigepflicht. Umso besser. Es war ja wirklich eine peinliche Geschichte.

»Warum durchsuchen Sie meine Wohnung?«, fragte ich. »Warum machen Sie meine Hand nicht aus dem Kasten?«

»Haben Sie Ihren Gattungspass zufällig griffbereit?«, fragte Kathleen, ohne auf meine Frage einzugehen. Ungeniert fuhr sie damit fort, mit der Taschenlampe in meinen Schreibtischschubladen herumzuleuchten.

Gattungspass?

»Meinen Impfpass vielleicht?«, schlug ich vor. »Versicherungskarte?«

»Gattungspass!«, knurrte der Dicke. »Sag schon, wo ist er?«

Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte mein Großvater so einen Wisch. Gattungspass, Rassenpass, keine Ahnung, wie das genau hieß. Es war auf jeden Fall irgend so ein altes Nazi-Ding. Was zur Hölle wollten die Rettungssanitäter damit?

Endlich fiel der Groschen.

»Gattungspass, alles klar!«, rief ich. »Von der Fledermaus meinen Sie, richtig? Aber da muss ich passen, ich kenne das Tier gar nicht. Mit Haustieren habe ich es nicht so, wissen Sie? Was wird denn jetzt bitte mit meiner Hand?«

Die Sanitäter blickten sich an. »Er hat überhaupt keine Ahnung, Gökmen.« Kathleen trat mit der Laterne näher und leuchtete mir prüfend ins Gesicht. Sie hatte dunkelgrüne Augen, still und schimmernd wie eine Flasche Fachinger Heilwasser. »Ich glaube, er weiß von gar nichts.«

»Oder es liegt einfach ’ne Verwechslung vor, falsche Adresse, oder der Computer spinnt«, sagte der dicke Gökmen und ließ den Blick an meinem Körper herabwandern. »MAD? Medizinischer Außendienst? Schon mal gehört, Kumpel?«

Ich schüttelte den Kopf. »Niemals«, flüsterte ich.

Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Gökmen stemmte sich neben mir auf die Fensterbank, griff in den Rollladenkasten und zog meine Hand mit einem einzigen Ruck raus. Im Licht des frühen Morgens sah sie gelb und kalt aus. Wie aus Plastik. Sie tat nicht einmal mehr weh.

»Nach unseren Meldungsdaten wohnt hier Sebastian Matthias Schätz.« Kathleen tippte mit einem Finger auf einem Taschencomputer herum. Das schwache Licht des Displays beleuchtete ihr schmales Gesicht. »Anthropomorph, mittlere intelligente Lebensform, bislang kein Kontakt zu übergeordneten Verwaltungsbehörden.« Auch um ihren zierlichen Hals lag eine Kette, an der ein kreisrundes goldenes Amulett baumelte. Eine Schlange war drauf, oder ein Wurm.

Was für ein Dienst war das, wofür stand das Zeichen? Malteser? Johanniter? Vor dem Zivildienst hatte ich mich ausgiebig mit den verschiedenen Rettungsdiensten beschäftigt. Aber ich hatte ja unbedingt in diesem Otterzentrum anfangen müssen. Tolle Entscheidung.

Konnten die vielleicht endlich mal normal mit mir reden? Ich war hier der Patient, da gab man sich üblicherweise etwas mehr Mühe. Zeigte Mitgefühl. Kümmerte sich um die lädierte Hand. Außerdem: mittlere Intelligenz?

»Ich bin Sebastian Schätz«, sagte ich. »Aber die anderen Sachen, die Sie da vorgelesen haben … ich weiß nicht. Ich kenne mich mit so Medizinerjargon nicht besonders aus, muss ich gleich dazusagen.«

Gökmen beugte sich zu mir herab und packte mich mit seiner Gummihandschuhhand hart im Genick. »Erzähl uns keine Märchen. Was bist du, Kumpel? Mach keine Scheiße jetzt. Wir kriegen die Antwort so oder so.« Am struppigen Schnäuzer meines Retters hingen winzige Schweißperlen. »Wir haben einen klaren Anthro-Alarm aus dieser Wohnung bekommen, und zwar von dir. Kathleen, mach mal die Spritze klar. Der Typ gefällt mir überhaupt nicht. Den nehmen wir mal besser mit.«

Wahrscheinlich wurden Sie noch nie in Ihrer eigenen Wohnung bei Stromausfall von desorientierten Sanitätern bedroht. Was gibt man solchen Leuten? Geld? EC-Karte? Drogen vielleicht? Aber ich hatte nichts. Ich hatte ja nicht mal was Richtiges an. Aber das wissen Sie ja.

»Lass ihn mal einen Augenblick in Ruhe, Gökmen«, sagte Kathleen. »Der hat Angst, das siehst du doch.«

In der beginnenden Morgenröte, die vom gegenüberliegenden Haus in mein Fenster reflektiert wurde, schimmerte ihr langes Haar im schönsten Kupferrot, das ich je bei einer Frau im Gesundheitssektor gesehen hatte. Und es biss sich kein Stück mit dem Sanitäterrot ihrer Jacke.

Der Türke schnaubte und ließ mich los.

Kathleen tauschte einen langen Blick mit ihrem Kollegen. »Keine äußeren Merkmale, keine Ahnung von nichts. Und er ist eine Ecke zu alt«, sagte sie. »Vielleicht ein Fehlalarm?«

Fehlalarm? Bei mir war eine ganze Menge Alarm. Zum Beispiel musste jemand meinen Arm wieder heilemachen. Und diese Typen rauswerfen. Außerdem: zu alt? Lächerlich. »Ich bin einundzwanzig«, stellte ich klar.

Kathleen wandte sich mir mit einem bezaubernden Lächeln zu. »Genau. Lassen Sie sich von der ganzen Aufregung nicht aus der Fassung bringen, Herr Schätz. Es liegt vermutlich eine Verwechslung vor. Ich werde Ihre Daten einfach ändern, ganz einfach, so! Und dann lassen wir Sie auch in Ruhe weiterschlafen, versprochen.«

Während sie auf ihrem kleinen Computer herumtippte, wanderte ihr Blick immer wieder zwischen dem Display und meinem Gesicht hin und her. Schließlich erlosch der Monitor mit einem Klicken. »Datenkorrektur beendet«, sagte eine blecherne elektronische Stimme, die weder eindeutig männlich noch weiblich war.

Währenddessen stapfte ihr Kollege durch alle Räume und leuchtete ein bisschen mit seinem Scheinwerfer herum. Er trug seinen Bauch wie einen Schild vor sich her und war anscheinend hinter jeder Ecke auf einen heimtückischen Angriff gefasst. Gökmen war auf Zack, das musste ich ihm lassen. Allerdings hinterließ er verkrustete Stiefelabdrücke auf meinem Teppich. »Alles sauber. Keine kritischen Lebensformen«, sagte er schließlich.

»Kritisch?«, fragte ich. Wenn hier jemand kritisch wurde, dann war ich das. Was für schräge Typen waren das bitte?

»Das Problemtier«, sagte Kathleen.

»Der Flugsäuger«, sagte Gökmen.

»Die Fledermaus, Herr Schätz«, sagte Kathleen. »So wie es aussieht, ist sie nicht mehr in der Wohnung.« Sie steckte das Gerät zurück in ihre Rettungsjacke. »Und Ihr Arm sieht gut aus, dem geht es bald besser, Ehrenwort! Ich glaube, wir können wieder abziehen. Rufen Sie uns an, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Mit Fledermäusen zum Beispiel.« Sie warf mir einen süffisanten Blick zu, bei dem ich in jeder anderen Situation rot geworden wäre. Aber mein Kreislauf war echt im Keller.

Demonstrativ massierte ich meine lädierte Hand. »Wollen wir hoffen.« Ich ließ Gökmen einen kritischen Blick zukommen. Mehr als an meiner Hand zu ziehen hatte er vermutlich nicht drauf.

Gökmen schaltete seinen Scheinwerfer aus. »Hey, nichts für ungut. War ein bisschen grob zu dir. Aber es hätte mir echt leidgetan, dir die Spritze zu verpassen.« Sein Blick schweifte zum offenen Fenster. »Da draußen sind Kreaturen, davon träumst du nicht mal. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«

Kathleen drückte mir eine Visitenkarte in die zittrigen Finger. »Wenn Sie wieder von irgendwas Merkwürdigem belästigt werden, rufen Sie uns an. Versprochen?« Sie lächelte wieder.

»Ist in Ordnung«, sagte ich. Langsam kehrte das Gefühl in meine Hand zurück. Ein Grund zur Hoffnung. »Ich glaub, ich muss mich einfach nochmal hinlegen, dann wird es mir bessergehen.«

»Mach lieber das Fenster zu, Mann«, sagte Gökmen. »Es gibt wirklich noch Leute in dieser Stadt, die bei offenem Fenster schlafen. Nicht zu fassen.«

MAD stand in goldgeprägter, etwas altertümlicher Schrift auf der Karte. Das Papier war schwer und rau und hatte die Farbe von schmutzigem Elfenbein. Medizinischer Außendienst. Alle Kassen.

»Wenn mal was passiert, womit du nicht klarkommst. Wenn es dir schlecht geht, ruf uns einfach an, okay? Wir sind immer da.« Gökmen zog sich die Gummihandschuhe von den behaarten Händen und ließ sie gekonnt in den überfüllten Papierkorb unter dem Schreibtisch fliegen. »Und wir sind gut.«

Kathleen steckte die Taschenlampe ein, nahm die Elektrolaterne und tippte sich zum Abschied an die Stirn.

Das Parkett unter meinen nackten Füßen war eiskalt. Nieselregen kam durch das offene Fenster hereingeweht. Mein dunkler Flur verschluckte die Sanitäter, ich hörte schwere Schritte im Treppenhaus, dann fiel die Haustür unten ins Schloss.

Und dann war alles ruhig. Ich war allein. Mein Puls raste.

Ich schloss das Schlafzimmerfenster sorgfältig und drehte den Fenstergriff so fest zu, wie ich konnte.

 

Als ich ein kleiner Junge war, hat mein Vater jeden Abend die Fenster unserer Zweizimmerwohnung zugemacht. Wie ein kampfbereiter Soldat auf Patrouille im Feindesland marschierte er die Zimmer ab, rüttelte an jedem Griff, kontrollierte die Türen sorgfältig und sperrte alles doppelt ab.

Manchmal kam er auch ziemlich spät nach Hause, wenn ich eigentlich schon schlafen sollte. Meistens nach dem Kegeln. Er roch dann nach engen, feuchten Kellern und gewachsten Kegelbahnen, nach Dortmunder Actien Brauerei und Asbach Uralt und HB. Sein betäubender Dunst hing in der Wohnung wie ein Gespenst, von dem eine unsichtbare, aber immer präsente Gefahr ausging.

In nicht so großen Wohnungen ist es schlimm, wenn einer stinkt. Ab und zu habe ich also nachts das Fenster ein bisschen aufgemacht, heimlich, wenn ich glaubte, keiner merkt es.

»Die bleiben zu!«, brüllte mein Vater, wenn er Frischluft roch und einen überraschenden Kontrollgang durchführte. Er donnerte das Fenster zurück in den Rahmen. »Die bleiben zu, hast du verstanden?«

»Aber warum denn?«

»Damit nichts reinkommt.«

Ich erinnere mich noch gut, wie er dann manchmal minutenlang an meinem Kinderzimmerfenster stand und sorgenvoll in die Nacht hinausstarrte, bewegungslos und stumm. Als ob er auf etwas wartete. Als ob dort draußen irgendwas war, von dem nur er etwas wusste, von dem er weder meiner Mutter noch mir etwas erzählen wollte.

Heute konnte ich ihn zum ersten Mal verstehen.

Ich presste die Stirn gegen das eiskalte Fensterglas. Meine nassgeschwitzten Finger zitterten immer noch, während ich mich mit beiden Händen am Fenstergriff festhielt.

Es war vorbei. Die Gefahr überstanden.

Wenigstens glaubte ich das.

2 Das Beste an Hannover ist die Bahnverbindung nach Hamburg

Als ich an diesem Morgen durch das monotone Surren meines Weckers erwachte, brauchte ich einige Minuten, um meinen immer noch gefühllosen Arm und das Chaos in meiner Wohnung einander zuordnen zu können. Kostbare Zeit: Ich schlug zwanzig Minuten zu spät im Asiashop auf (»Mister Xu – Ihr Schnäppchen Market um die Ecke«), unrasiert und nach zwei Red Bull etwas zittrig.

Der letzte Arbeitstag vor meinem Urlaub begann wie jeder andere: Ich kämpfte mit meiner reichlich engen Mister-Xu-Polyesteruniform. Die Knöpfe waren schon immer eine Herausforderung gewesen, gerade am Hals. Chinesen waren da anscheinend schmaler gebaut.

Bis auf ein gelegentliches Pochen und Stechen fühlte sich meine linke Hand immer noch taub an. Sie ließ sich aber trotz der Schwellung ganz passabel bewegen. Auf und zu, links und rechts, ging alles einigermaßen. Allerdings fiel es mir äußerst schwer, meine Hand im dreidimensionalen Raum zu lokalisieren. Sichtkontrolle war für die Steuerung unbedingt notwendig.

Auch mit der Feinmotorik haperte es. Der Unterarm hing an mir wie ein vollbeweglicher, fleischiger Beutel aus Muskeln, Blut und Knochen, der auf Zuruf ungelenk nach einer viel zu engen Knopföse grabschen konnte.

Es war brütend heiß in der telefonzellengroßen Umkleidekabine, die gleichzeitig zum Umziehen, zur Lagerung der Uniformen und als Änderungsschneiderei von Großmutter Xu herhalten musste.

»Ist das Hühnchen hier fair gehandelt?«

Das Mädchen musste sich auf Zehenspitzen angeschlichen haben. Sie steckte den Kopf durch den Vorhang der Umkleidekabine und schob eine unförmige Tiefkühlpackung hinterher. »Oh, ich störe!« Ihr Kopf verschwand wieder, demonstrativ zog sie den Vorhang zu und wackelte blind mit dem gefrorenen Tier vor mir in der Luft herum.

»Das Huhn hier«, rief sie und stieß mir das eiskalte Paket vor die Brust, »ist das fair gehandelt? Ich suche was, wo die Arbeitsbedingungen im Herstellerland auch gerecht sind.«

Der bleiche, gefrorene Fleischklumpen hatte die Form eines ungeborenen Lebewesens. Am Handgelenk des Mädchens hing ein halbes Dutzend ausgebleichter Festival-Armbändchen. Ansonsten hatte ich nicht viel von ihr erkennen können: blonde Dreadlocks, Piercing im Gesicht.

»Ich ziehe mich gerade noch an«, sagte ich. »Bin gleich so weit.«

Als ich den Vorhang mit einem Ruck zur Seite zog, presste das Mädchen verlegen das Tiefkühlhuhn an sich. »Wusste nicht, dass das eine Umkleidekabine ist, entschuldige. Ich dachte, da hinten habt ihr den Sozialraum.«

»Hier gibt’s keinen Sozialraum.« Genauso wenig wie eine Mittagspause oder Kündigungsschutz, hätte ich gerne angefügt. Doch es hatte keinen Sinn, einen jungen Menschen zu verunsichern.

Das Mädchen gluckste, als hätte ich einen richtigen Superscherz vom Stapel gelassen. Der Piercingring in ihrem Mundwinkel hüpfte, als wollte er mir jeden Moment ins Gesicht springen.

»Es war wegen dem Huhn. Kennst du dich damit aus? Ist das freilaufend und fair gehandelt? Ich bin heute Abend in der WG mit Kochen dran. Da dachte ich an was Chinesisches. Du bist aber kein Asiate, oder?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wenn du schwarze Haare hättest, könntest du glatt als Halbchinese durchgehen«, sagte das Mädchen. »Deine Augen sind so ein bisschen schmal.«

»Ich bin müde.«

Sinnlos, einer wildfremden Kundin zu erzählen, wie erschöpft ich tatsächlich war. Müde von zu vielen weihrauchgeschwängerten Überstunden im Asiashop, von bizarren Importwaren aus Fernost, die Uneingeweihten nicht immer preisgeben wollten, ob man sie essen oder als verdorben deklarieren und in ihr Herstellerland zurückschicken sollte. Müde von letzter Nacht, von schmerzenden Körperteilen, von dummen, aufdringlichen Fragen und unnötigen Gesprächen, wie diesem hier.

»Dann muss man gar kein Chinese sein, wenn man hier arbeitet? Finde ich echt gut, dass die Deutschen auch mal beim Ausländer Arbeit suchen und nicht immer umgekehrt.«

»Genau«, sagte ich. »Ganz genau. Beim Ausländer.«

Mister Xu bezahlte mich seit Juni für das Einsortieren seines umfangreichen Sortiments importierter Waren in die labyrinthischen Regalreihen. Was Xu selbst im Laden machte, war mir bislang schleierhaft geblieben. An der Kasse standen seine Frau oder eine seiner fast identisch aussehenden Töchter. Er hatte drei oder vier davon; aufgrund ihrer Ähnlichkeit und den beinahe identischen Namen möchte ich mich ungern festlegen.

Mister Xu selbst beschränkte sich darauf, den Hausaltar gegenüber der Eingangstür mit frischen Bananenscheiben und Nüssen zu bestücken, hin und wieder ein paar Räucherstäbchen abzubrennen und mit einem Fächer murmelnd durch den Laden zu laufen.

»Was ist denn jetzt mit dem Hühnchen? Ist das fair oder nicht? Steht alles nur auf Chinesisch drauf.«

Das Mädchen wies anklagend auf den embryonalen Fleischbrocken, als hätte ich die Herkunft jedes ominösen Tieres hier zu kennen, als hätte ich das Tier mit der Flasche aufgezogen! Wie fair konnte wohl ein Huhn gehandelt sein, das ein Euro neunundvierzig kostete? Wenn es überhaupt ein Huhn war. Ich hatte es nicht geboren, ich hatte es nur umetikettiert.

»Water Chicken«, las ich vor. »Steht hier doch klein auf Englisch drauf. Wird dann wohl ein Wasserhuhn sein.«

Das waren allerdings auch die einzigen Wörter in lateinischen Buchstaben. Wie sah wohl so ein Wasserhuhn aus?

»In China gibt’s doch Legebatterien, oder?«, sagte das Mädchen misstrauisch. »Aber ihr lehnt so was bestimmt ab, oder?«

»Klar«, sagte ich und betastete das Tier. Es hatte vier Gliedmaßen und einen Schwanz, so viel war schon mal sicher. Vielleicht war es auch eine Nabelschnur. Ich schob das Mädchen mit der Zeigefingerspitze aus der Umkleidekabine in Richtung einer Kolonie chinesischer Gartenzwerge aus Plastik.

Auf mich warteten siebzehn Pakete, die ausgepackt und sortiert werden wollten. Zum Bersten gefüllt mit billigen taiwanesischen Styroporkügelchen, von deren stechendem Lösungsmittelgeruch einem schwindelig wurde.

»Ich bin übrigens die Nele. Studierst du Sinologie? Oder warum arbeitest du hier?«

»Sehe ich so aus?« Verbissen wuchtete ich das erste Päckchen hoch und schleppte es in die Trocken-Abteilung – hier lagerten alle Nahrungsmittel, die nicht nass waren und für die ich nicht mit einer glitschigen Zange in grünlichen Einmachgläsern herumrühren musste.

Schon mal was von der schwarzen, haarigen Seegurke gehört? Keine Ahnung, ob das ein Tier oder eine Pflanze ist. Aber sie ist verdammt schwarz. Und verdammt haarig. Der Trick ist, das Teil richtig zu kochen, sonst stirbt man später elendig am Gift. Mister Xu sagt, eine schwarze haarige Seegurke muss achtundvierzig Stunden in den Topf. Das muss man sich mal vorstellen. Irgendwelche Chinesen müssen so ein Biest wohl mal einen ganzen Tag lang gekocht haben. Und als dann immer noch Leute an der verdammten Seegurke verreckt sind, haben die Chinesen das Unterfangen nicht etwa aufgegeben, nein, man hatte ja Hunger, sie haben weitergekocht, immer weiter, zwei Tage lang. So sind Chinesen. Hart im Nehmen. Und sie wissen, was sie wollen.

»Ich studiere ganz bestimmt nicht Sinologie«, sagte ich und platzierte ein Dutzend Plastikdrachen in ein Glasregal. Wie sollte ich auch? Ich konnte China nicht mehr leiden, seit Mister Xu mich wegen wiederholten Zuspätkommens vorübergehend in die Nass-Abteilung im Keller strafversetzt hatte.

Gut, in einem rot schimmernden Kaftan, vom Schritt bis zur Schulter mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt, ergeben sich gewisse Verdachtsmomente. Auch die obligate Samtkappe mit Glasperlen wies mich als Freund des Fernen Ostens aus.

»Was studierst du denn dann?«

»Nichts.« Ich ließ mir das Wort auf der Zunge zergehen. Ein schöner, gerader Schnitt mitten durch das noch junge, hoffnungsfrohe Studentengespräch. »Ich studiere gar nichts. Ich arbeite hier. Siehst du ja.«

»Oh.« Das Mädchen saugte ihr Piercing ein und lutschte betroffen daran.

Komm schon, dachte ich, sag jetzt, dass es dir leidtut. Dass du es total schade findest, dass ich meine Zukunft verschenke und in einem unübersichtlichen, muffigen Asiashop die Regale einräume, wo ich doch auch etwas für meine Bildung tun könnte. Mich universitär weiterbilden, ein Weltenbürger werden, über mich selbst hinauswachsen, über den Tellerrand gucken.

Wie ich diese studentische Überheblichkeit hasste. Dieser verhaltene Ausdruck des Mitleids in den verschlafenen, zugekifften Augen. Der akademische Körpergeruch, eine ungesunde Melange aus Nivea, ungewaschenen Wollpullis und Marihuana.

Aber Nele war nicht dumm.

Da, wo sie herkam, hatte man ihr vermutlich beigebracht, dass man andere Menschen nicht durch taktlose Fragen in Verlegenheit bringen sollte. Also erzählte sie, während ich meine Kisten auspackte.

Sie berichtete von ihrem Studium und von ihren Studienfreunden und von der veganen Gruppe bei StudiVZ, die sie gegründet hatte. Davon, dass Hannover eine richtige Studentenstadt war, auch wenn man das nicht gleich dachte. Dass ein Freund von ihr bei einer Studentenverbindung gewesen war, sie ihn aber rausgeschmissen hatten, weil er Epileptiker war und von den langen Sitzungen Anfälle kriegte. Während ich weiter meine Kisten auspackte, erzählte sie von Studentencafés und Studentenpartys, Studentenrabatten und Studentenwaschsalons. Sie hatte Studentenautos im Programm (»VW Jetta ist voll studentisch, findest du nicht?«), Studentenparlamente und Studentenwohnheime, sie kannte zwei Studentenbands, eine Studententanzgruppe und einen studentischen Bibelkreis.

»Aber da war ich noch nicht«, schloss Nele atemlos, immer eine Armlänge hinter mir her. »Obwohl ich schon an so ein höheres, übersinnliches Wesen glaube, das irgendwie für uns da ist und uns immer zuhört, wenn wir mal Sorgen haben und so.«

Nur ein kleiner Schubs hätte genügt, nur ein fast unabsichtlicher Rempler meinerseits, und sie wäre durch die Pekinghunde aus Keramik gestolpert, durch ihre kleinen, festen Körper gerutscht und nach hinten geflogen, ins Regal mit echten japanischen Gemüsemessern.

Sagen wir, es juckte mir in den Fingern, ein bisschen nachzuhelfen. Natürlich nur rechts, in der linken Hand war ja immer noch Sendepause.

Von allen Gedanken, singen Die Sterne, schätze ich doch am meisten die interessanten.

Meine Gedanken schweiften zu den vier dunkelblauen Bewerbungsmappen in meiner rechten unteren Schreibtischschublade.

Seit ich im Frühjahr nach Hannover gezogen war, machte ich mir Vorwürfe, die Mappen nicht abgeschickt zu haben. Aber nicht heute. Ich wollte nicht so enden wie das Mädchen: verfilzt, gepierct und hemmungslos.

»Ich glaube, ich kaufe das Huhn«, sagte Nele schließlich und wiegte das Tier sanft in den Händen, das während unserer netten kleinen Unterhaltung unter der Folie etwas durchgeweicht war.

»Eine gute Entscheidung«, bekräftigte ich sie. Meine Schläfen pochten. Wenn ich noch einmal das Wort Student oder etwas Artverwandtes hörte, geschah ein Unglück, und ich würde Nele und mich ein für alle Mal von dieser Unterhaltung erlösen.

»Aber was soll ich bloß dazu kochen?« Nachdenklich pulte das Mädchen irgendwas Kleines aus einem ihrer Filzzöpfe. Vielleicht einen Holzspan, vielleicht einen Fingernagel. »Ich muss ja heute Nachmittag noch zum Seminar. Meine Kommilitonen essen gerne was Scharfes. Einer hat ein Auslandssemester in Delhi gemacht, als Student kriegst du da ganz leicht ein Zimmer im Wohnh …«

Es reichte. Ich musste handeln.

Aus einem nahe stehenden Regal griff ich wahllos nach einigen Zutaten, Kichererbsen, getrocknete Bohnen, Mangostreifen, eingelegte Peperoni. Dazu noch ein sündhaft teures Sesamöl, den absoluten Ladenhüter. »Das machst du schön in den Wok, ja?«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Es waren noch vier Stunden bis zum Urlaubsbeginn, das würde ich auch noch schaffen. »Einfach ein bisschen schmoren lassen, umrühren. Das Dings, äh … Wasserhuhn würde ich würfeln. So isst man es in Südchina.«

Ich schob Nele in Richtung Kasse, drehte zum Lager ab, vergrub die Hände in einem Karton mit Styroporkugeln und stellte mir vor, wie ich ein Wasserhuhn erwürgte. Wenn es irgendwo auf der Welt ein Tier gab, das so hieß.

Willkommen in meiner Welt.

Willkommen im Mister Xu Schnäppchen Market.

Meine Uniform engte das Atmen ein, am Hals kriegte ich Ausschlag von der Kunstfaser, meine kaputte Hand begann zu schmerzen, vor Müdigkeit und Nervosität war mir schlecht. Vielleicht waren es auch der billige Weihrauch und die taiwanesischen Lösungsmittel. Es war ein Jammer.

Und das alles für drei Euro achtzig die Stunde.

 

Seit ich in Hannover wohnte, ging es eigentlich kontinuierlich bergab. Der Job reichte gerade eben für die Miete, dreimal pro Woche in der Fußgängerzone Glasnudeln mit süßsaurer Soße aus der Flasche, ab und zu ein Feierabendbier mit meinem besten Freund Mike und unfassbar viele Kinokarten für Kim und mich – und da waren die monatlichen Überweisungen meiner Eltern schon eingerechnet.

Meine Studienbewerbungen staubten in der Schublade vor sich hin und erzeugten regelmäßig Panik und Bauchdrücken und den guten Vorsatz, die teuren Kuverts demnächst vielleicht doch nochmal aufzureißen und das Deckblatt mit dem Datum zu aktualisieren.

Und die Liebe. Ein ewiges Auf und Ab, eine emotionale Jeepsafari, ohne Anschnallgurt mit Vollgas durch das unwegsame Hinterland der Versprechungen, Hinhaltetaktiken und ungeklärten Fragen. Vor einer Woche dann die Vollbremsung: Kim hatte mit ihrem Freund Schluss gemacht und war in den Urlaub gefahren. Seit einer Woche hatte ich sie nicht mehr gesehen und nicht mehr von ihr gehört als zwei lächerlich kurze Anrufe à dreiundzwanzig beziehungsweise einundreißig kostbare Minuten.

Hannover hatte was gegen mich, es machte mir das Leben schwer. Es konnte mich nicht leiden.

Und allmählich beruhte das auf Gegenseitigkeit.

 

Das Beste an Hannover ist die Bahnverbindung nach Hamburg, habe ich mal gehört. Und bis jetzt fällt mir wenig ein, das diese Theorie widerlegt. Die Stadt hat keinen guten Ruf, ich weiß, eine gesichtslose, hässliche Großstadt irgendwo in der niedersächsischen Ebene. Ich würde jetzt gerne etwas Gegenteiliges sagen. Zum Beispiel, dass die hier viele Parks haben und einen supertollen Zoo mit echten Freigehegen, Stadtwald und Grünanlagen an jeder Ecke. Messe und Expo 2000 und Oliver Pocher und Gerhard Schröder. Die fast dreißigtausend Studenten nicht zu vergessen. Und die Scorpions und Fury in the Slaughterhouse, won’t forget these days, das ist Hannover zum Mitsingen.

Hört sich nicht schlecht an, oder?

Auf dem Papier schon, zugegeben. Aber die Wahrheit ist: Davon bekommt man irgendwie nichts mit. Wenn man hier durch die Straßen geht, sieht alles gleich aus. Als hätten die nach dem Krieg die ganze zerstörte City mit großen Legosteinen wieder aufgebaut, Block für Block. Aber nicht die schönen Legosteine aus der Werbung, aus denen man im Handumdrehen ein kleines, ansehnliches Städtchen mit Rathaus und Kindergarten zaubert. Eher so altes, angegrautes Lego aus der Kiste im Dachboden, mit denen angeblich schon Tante Ellie gespielt hat, als sie klein war.

Vielleicht ist auch die Autobahn schuld. In Hannover kreuzen sich die A7 auf der Nord-Süd-Achse und die A2 von Berlin nach Dortmund. Unermüdlich schwemmen über die Autobahnen Probleme nach Hannover: harte Drogen und Prostituierte aus dem Osten, weiche Drogen und Holländer aus dem Westen, Nordseetouristen aus dem Süden und Italientouristen aus dem Norden.

Aber das war nicht das Problem.

Das Problem waren Leute wie Nele mit dem Wasserhuhn. Studenten, die noch müde waren von der Party letzte Nacht, die sich schon auf ein Abendessen in der unheimlich netten und aufgeschlossenen WG freuten. Hannover, Großstadt, hey: Irgendwo hier draußen liefen die rauschenden Partys, da war ich mir sicher. Aber ich war nicht eingeladen, ich hatte keine Ahnung, wo man abends abseits der Fußgängerzone vernünftig hingehen konnte.

Es war nicht so, dass mir gerade so nach Party war. Lieber wollte ich in mein Bett. Und ich wollte zu Kim, zu ihrem festen, weichen Körper, zu ihrem nervenzerfressend guten Geruch, dieser Mischung aus tropischen Früchten, Chlorwasser und einer weiteren, rätselhaften Note, die mich an endlose Urlaube an schneeweißen Stränden denken ließ, an feine Schaumkronen auf dem azurblauen Ozean.

Aber der Gedanke, dass sich andere amüsierten, während man selbst in einer Polyesteruniform importierte Lampions und Trockenobst verkaufte und nicht eingeladen war – dieser Gedanke raubte mir die letzte Kraft.

 

Als ich mich umdrehte, stand Mister Xu direkt hinter mir. Ich schrie auf, prallte mit dem Hinterkopf gegen die Glastür und warf mit der tauben Hand einen Ständer mit chinesischen Werbeheften um.

»Du siehst k’ank aus«, näselte Mister Xu. Er hielt einen blassblauen Fächer in der Hand und fächelte mir aromatisierte Luft zu.

Unter Mister Xu hatte ich mir vor dem Bewerbungsgespräch einen kleinen, verhutzelten Chinesen vorgestellt: Fu-Manchu-Bart, graues Haar, bodenlanger Kimono, kann Kung-Fu. Chinesen müssen klein sein, drahtig und gelenkig, denkt man. Aber weit gefehlt. Xu überragte mich um Haupteslänge, ein großer, olivhäutiger, schweigsamer Chinese in den Mittvierzigern mit einer Vorliebe für Adidas-Jogginganzüge.

»Ich fühle mich auch krank, Mister Xu. Hab heute Nacht kaum geschlafen. Ich hatte eine Fledermaus im Zimmer. Glaubt man nicht, ich weiß. Ist aber wahr. ’ne Fledermaus.«

»F’edermaus«, wiederholte Mister Xu nachdenklich. »Ist nicht gut. Darf ich dir k’einen Rat geben?«

»Klar.« Ich zuckte mit den Schultern. Vermutlich würde mir Xu nur wieder empfehlen, ihm für sieben Euro (Spezialpreis für Angestellte) eine handliche Opferpyramide aus chinesischem Zimt abzukaufen und sie an Ort und Stelle im Hausaltar abzufackeln.

»Nicht imme’ so t’aurig gucken!« Mister Xu boxte mir schmerzhaft aufs Brustbein. Er entblößte sein gelbes Gebiss und lachte wiehernd. Sein Mund sah aus, als sei er vollständig mit Backenzähnen gefüllt. »Nicht imme’ so t’aurig gucken! Das zieht böse Geiste’ an!«

Ich zwang meine Gesichtsmuskeln zu einem müden Lächeln. Mehr war nicht drin. Mein Körper machte das alles nicht mehr mit. »Ich weiß, ich hab erst ab morgen Urlaub. Aber wäre das okay, wenn ich jetzt schon nach Hause gehe, Mister Xu? Ich fühle mich heute echt nicht so.«

»Geh nach Hause, geh nach Hause.« Mister Xu tätschelte meine gefühllose Hand. »Deine Finge’ sind auch schon ganz kalt. Schlechtes Chi. Besse’, du legst dich ins Bett. Bevor noch Ung’ück passiert!«

Ich trottete in die Umkleidekabine, schälte mich mühevoll aus der Uniform, warf sie über einen Kleiderbügel und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Mister Xu hatte Recht, ich sah wirklich traurig aus. Aber so sehr ich mich auch bemühte, der Gesichtsausdruck war nicht wegzukriegen. Ich guckte wie ein professioneller Begräbnisredner, einhundertprozentig betroffen. Auch meine Haare sahen irgendwie komisch aus. Stumpf, glanzlos, mattbraun. So musste das Gefieder eines toten Wasserhuhns aussehen.

»Eine Frage hätte ich noch«, sagte ich zu Mister Xu, ehe ich den Laden verließ. »Water Chicken, was ist das eigentlich?«

Xu ließ den Blick in beinahe meditativer Andacht durch den Raum schweifen. »Ve’kaufen wir das?«, fragte er. »Ja?«

»Ich glaube schon. Stand zumindest auf der Packung. Ist das ein Wasserhuhn?«

Mister Xu antwortete nicht. Er schien im Kopf eine Reihe von möglichen Erklärungen gegeneinander abzuwägen. Ein nervöser Ausdruck trat in seine Augen.

»Etikettiermaschine ist kaputt«, sagte er schließlich.

»Aber ich habe das doch selbst etikettiert«, wand ich ein. »Wieso soll die denn kaputt …«

Ein fahrige Bewegung von Mister Xus weihrauchschwarzem Zeigefinger unterbrach mich. Er klopfte mir gegen die Brust und drängte mich zum Ausgang. »Du bist k’ank heute«, stellte er fest. »Und Etikettiermaschine ist kaputt. Gute Besse’ung. Bis in d’ei Wochen.«

 

Irgendwie schaffte ich es, nach Hause zu fahren, vergrub meinen geschundenen Körper unter der Bettdecke und schlief wie ein Toter.

Am späten Nachmittag erwachte ich vom erbarmungslosen Klingeln meines Telefons. Mein linker Arm pochte. Er fühlte sich immer noch an wie in Watte gepackt. Die Druckstellen am Handgelenk waren inzwischen dunkelviolett angelaufen.

Mein Funkwecker zeigte 17:08 Uhr an. Der Stromausfall war anscheinend vorbei, immerhin etwas. Draußen war es schon wieder dunkel, der Himmel unruhig und wolkenverhangen.

Ich fischte das Telefon aus dem Berg zerknüllter Kleidungsstücke am Fußende.

»Schätz«, krächzte ich unwirsch. Wenn es meine Eltern waren, sollten sie gleich begreifen, dass sie störten. Es war kein Zufall, dass ich seit zwei Wochen nicht mehr mit ihnen telefoniert hatte. Beim letzten Gespräch hatten sie angedeutet, dass sie mich besuchen wollten. Da ging ich besser kein Risiko ein.

»Ich bin’s«, sagte Kim. Sie klang etwas verschüchtert. »Stör ich? Du klingst so, als würde ich stören. Hab ich dich geweckt?«

»Ich bin heiser«, sagte ich schnell. Meine Stimmbänder waren noch ganz klebrig vom unruhigen Schlaf. »Finde ich toll, dass du anrufst. Ich habe nicht geschlafen oder so, ja?« Ich schielte zur Uhr. Der Countdown lief: Fünfzehn Sekunden.

»Gestern war auch immer nur die Mailbox dran«, sagte Kim. »Ich wollte einfach mal deine Stimme hören. Ich bin nämlich schon zurück.«

»Zurück?«

»Ja, schon.« Sie klang betrübt. »Zwei Tage zu früh. Borkum war ganz schön, na ja, nur alte Leute und viel Regen, aber ganz schön eben. War Sarahs Vorschlag, dass wir wieder nach Hause fahren. Sie wollte zu Sven zurück.«