Fleeting Seconds - Ana Freesia Zane - E-Book

Fleeting Seconds E-Book

Ana Freesia Zane

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Beschreibung

Oft genügt ein winziger Augenblick, um die Welt aus den Angeln zu heben. Ein Moment, in dem alles, was wir kannten, in den Hintergrund tritt. Als Robert und ich uns begegnen, geschieht genau das! Wir vergessen alles – die Vergangenheit, die Verpflichtungen, die Realität. Doch was geschieht, wenn die Realität uns wieder einholt? Die Wahrheit ist schwer für uns beide, und dennoch gibt es diese besonderen Augenblicke, die mir zeigen, wie es sein könnte. Augenblicke, in denen ich spüre, dass zwischen uns mehr ist als nur flüchtige Begegnungen. Ein winziger Augenblick, der unser Leben für immer verändern könnte. Finden wir den Mut, unseren Gefühlen zu folgen, oder wird uns die Wahrheit erdrücken? Tauche ein in eine Geschichte voller unerwarteter Wendungen, verborgener Sehnsüchte und der Frage, was es bedeutet, wirklich zu lieben.

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ana Freesia Zane

Fleeting Seconds

(Seconds... 1)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Texte: © Copyright by Anke Zeuner

Umschlaggestaltung: © Copyright by Anke Zeuner

Verlag:

Anke Zeuner

Schumannstr. 19

08525 Plauen

[email protected]

Druck und Vertrieb:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Sämtliche Charaktere, Handlungen und Gegenstände dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Anke Zeuner startet unter dem Pseudonym Ana Freesia Zane als Autorin leidenschaftlicher Romane im New Adult-Genre. Sie kommt aus dem malerischen Vogtland und lebt dort heimatverbunden mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Sie genießt die Ruhe und die Inspiration, die ihr die Natur bietet. In ihrem beruflichen Alltag arbeitet sie in einem mittelständischen Unternehmen in der Kundenbetreuung, wo sie täglich mit Worten jongliert und ihre kommunikative Ader auslebt.

Schon in jungen Jahren entdeckte Anke ihre Begeisterung für das Schreiben – sei es in Form von Kurzgeschichten, Gedichten oder Versen. Sobald sich ein Gedanke oder ein Wort in ihrem Kopf festsetzt, drängt es förmlich danach, auf Papier gebracht zu werden. Ihre Liebe zum New Adult-Genre, das sie selbst gern und viel liest, motivierte sie dazu, ihre eigenen Geschichten zu entwickeln.

Unter dem Pseudonym Ana Freesia Zane wagt sie nun den Schritt, ihre Gedanken und Ideen mit der Welt zu teilen. Inspiriert von der Intensität der ersten Liebe, die für viele unvergesslich bleibt, erzählt sie Geschichten, die oft von Drama, Leidenschaft und manchmal auch vom Reiz des Verbotenen geprägt sind.

Sie hofft, sich als Autorin weiterzuentwickeln und freut sich darauf, wenn ihre Geschichten das ein oder andere offene Ohr finden – frei nach dem Motto: Wer es nicht wagt, kann es auch nicht schaffen!

Für Michelle, meine verrückten Hühner

und meine Familie, ohne die ich nicht den Mut

gefunden hätte, diesen Schritt zu gehen!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Danksagung

Kapitel 1

GANZ LEISE und von ganz weit weg höre ich ein echt nerviges Geräusch, kann es aber nicht zuordnen. Es versucht, durch den Nebel in meinem Kopf in mein Bewusstsein zu drängen. Aber noch hält mich der Schlaf im Traum gefangen – in einem verwirrenden Spiel aus verschiedenen Farben, einer nicht enden wollenden Spirale, in der ich falle. Aber das Geräusch wird lauter, dringt immer näher an mein Ohr und in meinen schlafenden Geist. Bis ich es nicht mehr aushalte und mich völlig genervt auf die andere Seite drehe.

Was kann das nur sein? Ein irrsinniges Piepen, Dröhnen und Kreischen. Ich atme einmal tief durch und drehe mich erneut. Noch will ich die Augen nicht öffnen. Noch möchte ich einfach ein bisschen länger in der bunten Spirale gleiten – mit einem Gefühl von Schwerelosigkeit. Aber mein Unterbewusstsein holt mein Bewusstsein ein und ruckartig öffne ich die Augen. Und verfluche im selben Moment meinen Wecker, der mittlerweile die 10 auf der Belastungsskala erreicht hat.

Gott, wer hat diesen Ton nur eingestellt? Ich setze mich mühsam aufrecht ins Bett und versuche mit aller Kraft, diesen verfluchten Wecker unter Kontrolle zu bringen und mein Ich ins Hier und Jetzt zu befördern. Da springt die Tür auf und meine Mutter stürmt herein.

»Guten Morgen Sonnenschein. Ich dachte schon, ich muss den Vorschlaghammer holen. Wärst du so gütig und würdest diesen Wecker ausstellen? Der dröhnt bis runter«, mault sie mit einem Grinsen im Gesicht. Bestimmt hat sie diesen Ton eingestellt – nur um mich zu ärgern. Wäre ihr zuzutrauen.

Immer noch leicht verwirrt schaue ich sie an. Irgendwie ist mein Kopf vernebelt von diesem verwirrenden, farbenfrohen Traum, den ich eigentlich gar nicht mehr richtig greifen kann. Ich stöhne.

»Ich versuche es ja, aber das blöde Ding ist aus der Hölle und will mich ärgern.« Trotzig schaue ich meine Mutter an. Sie macht zwei Schritte nach vorn, schnappt sich den Wecker, drückt einmal auf den gleichen Knopf, den ich – ich schwöre - die ganze Zeit malträtiert habe, und der Wecker verstummt. Mit einem Schmunzeln gibt sie mir das Höllen-gerät zurück.

»Bitte schön, Sonnenschein. Und jetzt steh auf und mach dich fertig!« Sie dreht sich um und verlässt mein Zimmer, lässt die Tür aber weit offen, damit ich auch ja nicht in die Versuchung komme, mich wieder hinzulegen. Ich kann ihr nur ungläubig hinterher starren. Ich reibe mir über meine schläfrigen Augen und atme einmal tief durch. Dann schnappe ich mir meine Sachen, die ich mir gestern schon zurecht gelegt habe, weil ich irgendwie wusste, dass dieser Tag so starten würde. Ich hätte nicht so lang bei Jess bleiben sollen. Aber wir hatten noch soviel zu besprechen. Also war ich erst weit nach Mitternacht wieder zu Hause.

Jess, seit Gedenken meine beste Freundin,würde die Semesterferien bei ihrem Dad verbringen. Der wohnt in einem anderen Bundesstaat und das bedeutet, dass sie heute gleich nach dem letzten Kurs zum Flughafen muss.

Meine Eltern leben zwar auch getrennt, aber immer noch in derselben Stadt und in verdammt gutem Verhältnis – zumindest für ein geschiedenes Paar. Manchmal frage ich mich, warum sie sich haben scheiden lassen, obwohl sie sich so gut verstehen. Aber vielleicht war genau das der Grund! Wer weiß das schon?

Meine Mutter sagt immer, sie hatte das Gefühl, ihren besten Freund geheiratet zu haben. Sie liebt meinen Vater, aber eben nicht wie man seinen Ehemann lieben sollte. Das verstehe ich irgendwie. Die wenigen Erfahrungen, die ich bis jetzt in meinen 19 Jahren gemacht habe, waren auch eher freundschaftlicher Natur, ohne viel Feuer, eher platonisch als leidenschaftlich.

Manchmal glaube ich, die Autoren einschlägiger Literatur verderben uns Mädchen einfach und schrauben unsere Erwartungen viel zu hoch. Feuer und Leidenschaft kenne ich bis jetzt nur aus meinen Lieblingsromanen, welche meine Mom hoffentlich nie zu Gesicht bekommt.

Ich würde vor Scham sterben, wenn sie wüsste, welche Lektüre ich vor dem Einschlafen lese. Und da bin ich eigentlich nicht prüde, aber es gibt Dinge, die muss eine Mutter nicht wissen...

Ich begebe mich ins Bad und versuche, das Vogelnest auf meinem Kopf zu bändigen. Ich kämme mehrmals durch das leicht gelockte Chaos, welches in nussbraunen Strähnen vom Kopf absteht. Ein hoher Messy Bun muss für heute reichen. Nach dem Zähneputzen wasche ich mein Gesicht mit kaltem Wasser. Das vertreibt die müden Geister endgültig und lässt meine bereits jetzt schon gebräunte Haut ein wenig rosiger aussehen.

Ich trage nur etwas Wimperntusche und Lipgloss auf. Ich habe es eh nicht so mit Make-up und außerdem gehe ich ja schließlich nicht zu irgendeiner Party. Was ich eh selten tue, dafür ist mir mein Studium zu wichtig. Ich bin nicht der Typ, der mitten in der Woche meint, sich die Birne zudröhnen zu müssen, nur damit die anderen mich nicht für einen Versager halten.

Das war ich nie und werde es wohl auch nie sein. Außerdem wäre meine Mutter überhaupt nicht begeistert davon. Sie würde es nämlich hundertprozentig mitbekommen. Unsere Uni ist vor Ort, das heißt Jess und ich wohnen beide noch zu Hause.

Auch weil wir es super fanden, dass wir uns kein teures Wohnheimzimmer suchen mussten und das Geld, was wir durch unsere Nebenjobs verdienen – ich kassiere im Supermarkt und Jess arbeitet bei ihrer Mutter in der Galerie – somit ganz für uns haben. Es reicht. Allerdings freundeten wir uns im ersten Semester mit Chloé an.

Sie ist Austauschstudentin aus Frankreich und teilte sich ihr Zimmer mit zwei - sagen wir mal - kaum interessierten Partygängerinnen und war froh über unser Kennenlernen. Besagte Partyluder hielten es nicht lange aus und waren schon nach einem Jahr nicht mehr an der Uni.

Nun sucht Chloé neue Mitbewohner und Jess und ich haben mehrere Wochen intensiv und detailliert mit Pro- und Kontralisten darüber nachgedacht, ob wir nicht doch den Schritt in die Unabhängigkeit wagen und uns auf das Wohnheimleben einlassen sollten – zumal unsere Eltern von Anfang an dafür waren.

Sie schwärmten vom Studentenleben, welches wir, sollten wir weiterhin zu Hause wohnen, nicht in vollen Zügen genießen konnten. Damit waren aber sicherlich keine Partys gemeint. Das nicht! Auf keinen Fall! Sondern eher der notwendige Abnabelungsprozess von Mamas Schoß. So wird es immer betont. Insgeheim denke ich mir, sie wollen einfach ihr Leben zurück...

Deswegen saßen wir gestern auch so lang zusammen. Wir machten unsere Liste, was wir alles mitnehmen wollen und wie wir uns das Studentenleben ab dem nächsten Semester vorstellen konnten. Wir freuen uns riesig!

Vielleicht war meine Nacht deshalb so verwirrend und bunt und voller Aufregung. Vielleicht! Jetzt haben wir aber erst einmal Semesterferien, es war Sommer und ich...

… ich war allein, weil Jess nicht da war und Chloé natürlich zu Ihren Eltern nach Frankreich fuhr. Das sei ihr natürlich vergönnt. Frankreich ist weit weg und manchmal braucht man seine Familie doch. Also sind meine zwei engsten Freundinnen nicht da und das legt sich etwas schwermütig auf mein Herz. Versteht mich nicht falsch. Ich liebe es, auch mal alleine zu sein – aber nicht durchgängig. Ich habe schon gern Kontakt zu anderen Menschen.

Ich ziehe mir gerade meine Jeans über meinen Hintern, als es von unten jetzt doch etwas energischer ruft:

»Amy, jetzt mach schon! Du bist schon eine viertel Stunde im Bad. Was machst du so lang? Du kommst zu spät!« Das werde ich definitiv nicht vermissen! Ich freue mich darauf, meine Zeit selbstbestimmt einteilen zu können, verdrehe trotzdem amüsiert die Augen. Ich liebe meine Mom und weiß, dass sie es nur gut meint. Aber manchmal übertreibt sie.

Zu meinen hellblauen Jeans trage ich meinen weißen, löchrigen Sommerpullover, der mir locker über die rechte Schulter fällt. Mein BH, der bei meinem recht kleinen, überschaubaren Busen eigentlich nur Zierde ist, schimmert etwas durch, aber nicht soviel, dass es unanständig ausschaut.

Im Gegensatz zu den meisten Mädchen in meinem Alter bin ich zufrieden mit dem, was ich im Spiegel sehe. Ich habe die gute Haut meiner Mutter geerbt und die haselnussbraunen Augen meines Vater. Ich habe etwas zu viel Hintern, dafür etwas zu wenig Busen – also eigentlich wieder ausgeglichen. Ich habe straffe Oberschenkel und ein kleines Bäuchlein.

Das hat bis jetzt nie jemanden gestört – was wahrscheinlich daran liegt, dass sich kein Typ die Mühe gemacht hat, soweit vordringen zu wollen. Das Thema platonisch und leidenschaftslos hatten wir ja vorhin schon mal kurz.

Also lächle ich mein Spiegelbild an und eile in die Küche, bevor meine Mutter tatsächlich einen Herzinfarkt bekommt, weil sie schon um diese Uhrzeit wie ein aufgeregtes Wiesel durch die untere Etage unseres kleinen Häuschens rennt. Außerdem – jetzt, wo ich wach bin – schreit mein Innerstes nach Kaffee! Ich LIEBE Kaffee. In jeder Form – Cappuccino, Latte, Espresso, Eiskaffee – oder der stinknormale Filterkaffee aus Omas alter Kaffeemaschine. Mehr brauche ich nicht, um meine müden Geister zu wecken und in den Tag zu starten.

Meine Tasche, in der sich heute tatsächlich nur Block, Stifte und Planer befinden, lasse ich geräuschvoll neben der Küchentheke fallen, damit meine Mom mitbekommt, dass ich es endlich auch mal geschafft habe. Als sie sich perplex umdreht, grinse ich frech und setzte mich. Ein dampfender Kaffee steht bereits da und ein Donut grinst ebenfalls frech zurück.

Vorsichtig hebe ich die Tasse an und atme den Kaffeeduft genüsslich ein. Ich liebe den Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Er erwärmt meine Seele und mein Herz und der erste Schluck durchflutet mein Innerstes. Ich schließe die Augen und genieße. Dann erst sehe ich meine Mom an, die mit dem Rücken an unserer Spüle steht. Mit hochgezogener Augen-braue wartet sie, bis ich die Tasse wieder abgesetzt habe.

»Was?«, frage ich verwirrt.

»Kannst du nicht einmal pünktlich sein? Ich dachte, wir frühstücken zusammen? Wenn du im Wohnheim wohnst, können wir das nicht mehr. Und ich hätte gern...«

Sie atmet geräuschvoll ein und aus. Dann klärt sich ihr Gesicht und sie lächelt. Ich schlucke schwer. Ich wusste nicht, dass Sie es doch so sehr mitnimmt, dass ich ab dem neuen Semester nicht mehr hier wohne.

»Mom, wenn ich... gewusst hätte, dass... Du...« Mir fehlen kurz die Worte, dann lacht sie und der komische Moment zwischen uns ist vorbei.

»Schon gut, Schatz. Ich bin nur etwas aufgeregt und durch den Wind. Du weißt doch, dass Jennifer morgen kommt. Wir haben uns seit der Scheidung nicht mehr gesehen und ich bin total aufgeregt.« Sie putzt sich imaginäre Fusseln von ihrem T-Shirt und schaut mich etwas durcheinander an.

Jetzt fällt es auch mir wieder ein. Moms Studienfreundin – eigentlich ihre beste Freundin noch aus Kindertagen (das, was Jess für mich ist) kommt uns besuchen. Sie hatten über Jahre nur telefonisch oder per Brief Kontakt, weil sie mit Kind und Kegel nach Amerika gezogen ist. Ihr Mann war Amerikaner und es war für meine Mom und wohl auch für Jennifer sehr schwer, diesen Kontakt nur so halten zu können. Sie führten immer sehr lange Telefonate, bei denen gelacht und oft auch geweint wurde. Daher kann ich mir vorstellen, wie aufgeregt meine Mutter wirklich sein muss, wenn Sie nach all den Jahren ihre beste Freundin wieder in den Armen halten kann.

»Das hatte ich ganz vergessen, Mom. Ich bin mit meinen Gedanken irgendwie schon im Wohnheim, obwohl das ja noch Wochen Zeit hat.« Entschuldigend sehe ich meine Mutter an und kann ihr ein verständnisvollen Nicken abringen.

»Ich will nur, dass sie sich wohl fühlt und habe ein bisschen Angst, wie es sein wird. Nach all den Jahren!«, seufzt sie.

»Mom, ihr habt bestimmt gestern erst miteinander telefoniert, oder?« Sie nickt und ich lächle.

»Es wird, als wäre sie nie weg gewesen. Hast du schon einen Plan, was ihr alles machen wollt?« Unbewusst rühre ich meinen Kaffee und lasse Mom nicht aus den Augen.

»Nicht wirklich. Ich denke, wir werden viel reden und lachen und in Erinnerungen schwelgen. Und dann müssen wir uns auf Wohnungssuche machen. Sie will ja wieder hierher kommen, jetzt wo Bobby auch wieder hier lebt und sie sich in Amerika alleine nicht mehr wohl fühlt...« Ich schnappe nach Luft. Bobby? Sie allein in Amerika? Irgendwie fehlen mir essentielle Informationen, um dem Gespräch folgen zu können. Meine Mom muss mir meine Verwirrung ansehen. Sie lächelt und spricht weiter.

»Jennifers Mann ist doch vor einem Jahr gestorben und ihr Sohn Bobby ist berufsbedingt wieder hier. Das hatte ich dir doch erzählt. Er kommt übrigens auch mit. Er will seine Mutter hier unterstützen und hat sich extra frei genommen. Vielleicht kannst du ihn hier ein bisschen herumführen und...« Meine Augen weiten sich.

»Was? Wie bitte? Was soll ich? Wer kommt mit hierher?« Meine Wangen werden heiß und meine Augen sind weit aufgerissen.

»Jennifers Sohn Bobby hat sich ein paar Tage frei genommen und will seine Mutter bei der Wohnungssuche unterstützen. Das hatten wir doch besprochen. Du weißt doch, dass die beiden die nächsten 2 Wochen bei uns wohnen werden. Ich habe doch extra oben die beiden Zimmer vorbereitet.«

Ungläubig schaue ich nach oben – als würde ich auf magische Weise durch die Decke blicken können, um die Räume darüber zu inspizieren. Dann fällt mein Blick immer noch irritiert wieder auf meine Mutter.

»Jetzt sieh mich doch nicht so an. Du kennst Bobby. Sie haben uns schon besucht. Ihr wart früher ein Herz und eine Seele.« Ich kneife die Augen zusammen und versuche mich daran zu erinnern, kann aber nichts genaues ausmachen. In Gedanken schweife ich viele Jahre zurück...

Undeutlich sehe ich unseren Garten im hinteren Teil unseres Hauses vor mir. Die Sonne scheint und Schmetterlinge fliegen über unseren großen Lavendelstrauch. Nicht nur Schmetterlinge, auch Bienen und Hummeln surren durch die sommerliche Luft. Ich kann ein verschwommenes Gesicht mit kurzen dunklen Haaren und Brille vor meinem geistigen Auge sehen. Es ist das verschwommene Gesicht eines 10jährigen Jungen, der wie am Spieß brüllt und nach seiner Mutter ruft.

Das ist das Einzige, woran ich mich spontan erinnern kann... Ich zucke mit den Schultern, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Das war vor 15 Jahren. Dadurch kenne ich ihn nicht gleich. Es ist ja nicht so, das wir uns einmal im Jahr getroffen haben.

»Was soll ich ihm denn zeigen. Er wird wahrscheinlich mehr Zeit mit euch verbringen. Vielleicht kann ich ihn mit zum Stadtfest nehmen, aber ich werde hier ganz sicher nicht seinen Unterhalter spielen«, versuche ich mich zu wehren und irgendwie aus der Affäre zu ziehen.

Kann sein, dass ich dabei wie ein kleines, genervtes Kind klinge, aber ich bin nicht wirklich eine gute Unterhalterin. Das weiß auch meine Mom.

»Du sollst ihn doch nicht bespaßen, aber er hat sicherlich keine Lust, die ganze Zeit mit uns zwei alten Schachteln zu verbringen.« Ich verdrehe die Augen. Meine Mutter ist alles, aber ganz sicher keine alte Schachtel.

»Mom, du bist Anfang 40 und nicht Ü70! Und ein bisschen klingt es, als würdest du mich verkuppeln wollen...«, sage ich mit gespieltem Entsetzen, weil ich hoffe, dass das nicht der wahre Grund für den Vorschlag meiner Mutter ist. Sie schmunzelt ebenfalls und schüttelt kaum merklich den Kopf.

»Ich will dich nicht verkuppeln. Bobby ist schon über ein Jahr verlobt und somit vergeben. Ich dachte nur, dass die Jugend gern auch mal Zeit miteinander verbringen kann. Wenn Jennifer wieder hierher zieht, dann sehen wir uns bestimmt öfter. Da wäre es doch schön, wenn er hier schon jemanden kennt...«.

»Verlobt?«, frage ich ungläubig und verschlucke mich fast am letzten Schluck meines Kaffees. »Er ist doch höchstens 25. Da ist er schon verlobt? Gott! Warum?«

Mittlerweile ist mein Donut bereits auf dem Weg in meinen Verdauungstrakt und ich kann nur noch die Krümel vom Teller picken. In Gedanken formt sich das Bild eines schlaksigen, hageren jungen Mannes mit Hornbrille und gegeltem, bravem Scheitel. Mom dreht sich wieder zur Spüle und wischt energisch im Becken herum. Sie streift sich umständlich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und atmet erneut geräuschvoll ein und aus.

»Amy, jetzt mal ernsthaft. Ich war mit 25 auch schon verheiratet und du bereits 2 Jahre alt.« Ich nicke. Sie hat ja Recht.

»Überlege es dir bitte, ja? Mir zuliebe. Ich will, dass es den beiden gut geht. Jennifer hat jetzt ein Jahr Trauer hinter sich. Sie soll sich hier wohlfühlen.« Ich seufze schuldbewusst.

»Mom, ernsthaft. Ich werde mich schon benehmen. Habe ich mich je nicht benommen?« Ich klimpere mit meinen Augen als wäre ich 4 und würde meine Mutter um den Finger wickeln wollen. Bei meinem Dad klappt das meistens sofort. Meine Mutter braucht etwas länger bis sie lächelt.

»Aber ich verspreche dir nichts! Wenn sich was ergibt, kann ich ihn ja einbeziehen. Aber ich werde sicherlich nicht den Stadtführer für ihn spielen. Und vielleicht will er das auch gar nicht«, flüstere ich mehr zu mir als zu meiner Mutter. Während ich Tasse und Teller zusammenstelle, schaue ich verstohlen zu unserer Küchenuhr und springe sofort auf.

»Mom, ich muss los. Warte nicht auf mich. Ich gehe nach dem Kurs mit Chloé und Jess nochmal ins Wohnheim, bevor mich die beiden für diesen Sommer allein lassen. Danach will ich wahrscheinlich noch zu Dad und Granny. Wird also spät.« Ich stehe auf, schnappe mir meine Tasche und gebe meiner aufgeregten Mutter zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Sie nickt, lächelt mich an und wünscht mir einen schönen Tag. Dann bin ich auch schon verschwunden und auf dem Weg zur Uni.

Kapitel 2

UNSER LETZTER KURS ist wahrscheinlich der letzte auf dem gesamten Unigelände. Gefühlt befinden nur wir uns noch hier auf den Gängen. Wir gehen eingehakt zu dritt über den großen Rasen Richtung Wohnheim und genießen die Sonnen-strahlen auf unseren Gesichtern. Wir schweigen gern auch mal zu dritt, denn keiner von uns dreien will die Traurigkeit zulassen, die ein wenig drohend über unseren Köpfen hängt. Erst als wir uns auf die Couch in unserem zukünftigen Zimmer fallen lassen, halte ich es nicht mehr aus.

»Mädels, so wird das nichts. Wir sind doch nicht aus der Welt, nur weil ihr die Ferien nicht hier verbringt. Jetzt freut euch gefälligst auf eure Ferien! Wir bleiben doch in Kontakt. Und...« Ich mache eine Pause und schaue sie mit gespielter Theatralik an. Mit einer Hand auf meinen Brustkorb gepresst, sage ich: »... schließlich bin ich diejenige mit den trübsinnigsten Ferienplänen und ihr lasst mich im Stich.« Ich habe kaum ausgesprochen, da trifft mich auch schon ein Sofakissen am Kopf und bringt mich kurz aus dem Konzept.

»Jetzt mal im Ernst... Jess hat Spaß am Strand...« Ich zwinker ihr zu, weil ich genau weiß, dass sie definitiv Spaß am Strand haben wird. Sie ist viel lockerer als ich und kann jeden Typen um den Finger wickeln. »... und Chloé verbringt ihre Ferien in Frankreich. Hallo! In Frankreich! Muss ich dazu noch mehr sagen? Jede Menge Matthieus und Pierres, die ihr verträumt Gedichte schreiben.« Chloé wird augenblicklich rot.

Wir wissen alle drei, dass es für sie in den Ferien nur einen geben wird – den kleinen, süßen, zweijährigen Sohn ihres Bruders. Sie kann nicht genug von dem kleinen Racker kriegen. Sie spricht seit Wochen über nichts anderes.

Zugegeben, ab und zu erwähnt sie auch den besten Freund ihres Bruders und jedes Mal leuchten ihre Augen, wenn sie nur kurz und nur am Rande erwähnt, dass er wahrscheinlich auch seine Semesterferien auf dem Gestüt ihres Bruders verbringen wird. Das gleiche Gestüt, auf dem auch sie sein wird. Schelm ist, wer böses dabei denkt. Allerdings hat sie noch nicht viel über ihn gesprochen. Ich muss sie bei Gelegenheit unbedingt dazu ausfragen. Mir scheint, als hätten die beiden ihre eigene Geschichte. Ich seufze und setze mich mit dem Kissen auf den flauschigen Teppich.

»Jetzt mal ehrlich, Mädels. Es wird schon werden. In ein paar Wochen seid ihr wieder da und wir machen es uns dann zu dritt hier gemütlich, wenn wir unsere Zimmer einräumen. Bis dahin komme ich klar. Ich habe eine lange Leseliste, eine Liege am See, die ich für mich bereits reserviert habe und kann an ein paar Kunstprojekten arbeiten. Wir schreiben oder rufen per Video an.« Jess verzieht ihre Lippen zu einem Schmollmund und Chloé grinst.

»Ja, Jess. Sie hat recht. Wir lassen Amy ja allein.« Chloé zwinkert und stupst Jess an. Nun gibt auch sie sich einen Ruck und lächelt.

»Okay, ihr habt Recht. Aber wenn was ist...« Sie zeigt auf mich. »... sag bitte Bescheid. Du kannst uns jederzeit anrufen. Und jetzt erzähl uns von dieser Bobby-Sache.« Beide drehen sich neugierig zu mir um und starren mir praktisch Löcher in den Kopf. Dabei gibt es nichts zu erzählen. Ich zucke mit den Schultern.

»Was soll ich sagen? Bobby...« Ich betone den Namen extra lang. Er passt zu der Erinnerung eines schreienden 10jährigen Jungen. »... ist der Sohn der besten Freundin meiner Mutter. Beide sind die nächsten beiden Wochen bei uns einquartiert.« Ich schüttel kurz den Kopf.

»Er hilft seiner Mutter, eine Wohnung zu finden, weil diese aus Amerika wieder zurückkommt. Bobbys Vater ist wohl vor einem Jahr gestorben und jetzt will sie einen Neuanfang machen.«

»Ui, ein Amerikaner... Heiß!« Jess wackelt mit ihren Augenbrauen. Ich verdrehe die Augen und werfe ihr mein Kissen an den Kopf. Das hat sie nun davon.

»Sicherlich nicht. Er ist verlobt und ich habe lediglich eine verschwommene Erinnerung an sein 10jähriges Ich. Glaub mir, das möchte ich nicht ausschmücken.« Jess zeigt mit dem Zeigefinger auf mich und lächelt.

»Vielleicht überrascht er dich! Manchmal braucht es nur einen winzigen Augenblick...«, flüstert sie kryptisch. Ich schüttel den Kopf. Das wird wohl eher nicht passieren und außerdem habe ich es nicht so mit Überraschungen. Chloé sieht uns beide an und lächelt.

»Ihr werdet mir auf jeden Fall fehlen. Amy, halt uns auf dem Laufenden – du weißt schon. SMS, Video-Call, Skype, Insta... wie auch immer.« Sie zwinkert, weil sie weiß, dass ich eher schreibfaul bin. Ich bin zwar auf Facebook und Instagram angemeldet, poste aber so gut wie gar nichts.

»Okay. Also Schluss jetzt. Ihr müsst los.« Ich erhebe mich und ziehe meine beiden Freundinnen vom Sofa. Wir sehen uns kurz an, bevor wir uns seufzend in die Arme fallen und uns eng aneinander drücken. Sie werden mir fehlen.

Vor dem Wohnheim trennen sich unsere Wege. Chloé fährt zusammen mit Jess zum Flughafen. Jessicas Mom nimmt gleich beide mit, weil beide Flüge ähnlich starten.

Das Taxi, dass sich die beiden gerufen haben, wartet bereits vorm Wohnheim. So muss Chloé ihre Sachen nicht durch die halbe Stadt schleppen. Ich brauche nur ein paar Straßen laufen, dann bin ich bei meinem Dad und Granny. Sie werden sich bestimmt freuen. Ich will sie überraschen.

Ich warte noch, bis das Taxi verschwunden ist, dann starte auch ich meine Sommerferien. Mit geschlossenen Augen recke ich meinen Kopf in den Himmel, der Sonne entgegen. Ich liebe es, welches Gefühl die Sonnenstrahlen auf meiner Haut auslösen.

Mit den Händen in die Taschen atme ich tief durch, lasse die Sommerluft meine Haare noch ein bisschen mehr zerwühlen und wende mich mit halb geschlossenen Augen Richtung Straße und setze einen Fuß nach vorn, ohne mich zu vergewissern, ob frei ist.

Da ich völlig in Gedanken bin , kann ich auch das Geräusch quietschender Reifen und die lauten Zurufe umstehender Passanten auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht richtig zu-ordnen. Doch als das Reifenquietschen immer lauter wird, öffne ich verwirrt die Augen und kann gerade noch erschrocken zurückspringen, bevor ein Jeep Millimeter vor mir zum Stehen kommt. Mein Puls beschleunigt sich von Null auf Hundert und meine Atmung geht stockend, während mein Herz versucht, mein Blut durch meine Adern zu pumpen.

Irritiert trete ich einen weiteren unsicheren Schritt zurück, treffe den Bordstein aber nur halb, rutsche ab und knicke zwischen Bordstein und Reifen mit meinem rechten Fuß ab. Hilflos halte ich mich irgendwie an der Motorhaube fest und versuche mehr schlecht als recht wieder aufzustehen, um dieser peinlichen Situation zu entkommen. Mittlerweile sind mehrere Schaulustige stehen geblieben und beobachten, wie ich ungeschickt versuche, wieder hochzukommen.

Ich rutsche immer wieder ab und schaffe es nicht, auch nur ansatzweise elegant und souverän aufzustehen. Dann plötzlich stehen zwei schlanke Beine vor mir – verpackt in Bluejeans und schwarzen Boots. Mein Blick folgt den Beinen höher. Er heftet sich auf eine silberne Gürtelschnalle und ein weißes, enges Shirt, dass dem Betrachter nicht wirklich viel Fantasie lässt. Man erkennt sofort sportliche Bauchmuskeln und einen breiten Brustkorb. Ich traue mich nicht, meinen Blick weiter schweifen zu lassen. Ich habe Angst, dass ich mir vielleicht doch den Kopf gestoßen habe und es hier gleich richtig peinlich wird.

Da drängt sich ein muskulöser Arm in mein Sichtfeld und lenkt mich von dem Oberkörper ab. Ein muskulöser Arm mit Tribaltattoos, die bis unter den Ärmel reichen und am Kragen – unterhalb des sehr markanten, sexy Kehlkopfes – seit wann ist denn ein Kehlkopf bitte sexy? - wieder hervortreten.

Meine Hände fangen an zu schwitzen. Klasse! Jetzt werde ich es recht nicht schaffen, mich an dem polierten Lack der Motorhaube hochzuziehen. Kann ich bitte im Erdboden versinkend? Der Typ räuspert sich und bringt mich dazu, meinen Blick noch etwas höher zu richten. Gar nicht gut. Ganz und gar nicht gut.

Ich sehe in ein kantiges, bartstoppeliges Gesicht mit weichen, vollen Lippen und einer winzigen Narbe an der linken Oberlippe. Eine klitzekleine Unebenheit, die ihn noch verwegener ausschauen lässt. Es folgen eine gerade Nase und die unglaublichsten grünen Augen, die ich je gesehen habe. Er hat volles, schwarzes, wuscheliges Haar, welches ihm locker in die Stirn fällt, während er sich zu mir vorbeugt.

»Hey, alles in Ordnung?«, fragt er mit ruhiger, tiefer Stimme, als wolle er mich nicht erschrecken. Und ich schwöre, seine Stimme hat mir an Ort und Stelle zu einem kleinen Miniorgasmus verholfen. Anders kann ich mir das erneute Hochschnellen meines Pulses und das elektrisierende Kribbeln in sämtlichen Körperregionen nicht erklären.

Ich bin zwar, was den zwischenmenschlichen Kontakt mit dem anderen Geschlecht angeht, noch etwas ungeübt, aber nicht gänzlich unerfahren. Die ein oder andere Erfahrung habe auch ich schon gemacht, genug gelesen und ich bin mir meiner sexuellen Gefühlslagen durchaus bewusst. Es hapert nur an der Umsetzung und an Gelegenheiten...

Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass das, was gerade in meinem Körper vor sich geht, nicht normal ist. Ich schlucke schwer und kann immer noch nichts sagen. Das Funkeln seiner grünen Augen nimmt mich vollkommen ein.

»Ist alles okay bei dir?«, fragt er mich wieder mit dieser ruhigen und besonnenen Stimme, die so gar nicht zu seiner dominanten Präsenz passen will. Ich starre weiter dümmlich in sein Gesicht und versuche, in meinem Kopf Sätze zusammenzusetzen, die nicht gleich darauf schließen lassen, was gerade in mir vorgeht. Ich sitze immer noch halb auf dem Bordstein und versuche mich zu sammeln.

»Du warst so schnell auf der Straße. Eben standest du noch am Straßenrand und plötzlich auch schon vor meinem Auto. Hab ich dich erwischt? Ich meine...« Er wirkt aufgebracht und erschrocken. Ich sollte etwas sagen, um ihn zu beruhigen, aber ich bekomme keinen Ton heraus. Mein Mund ist staubtrocken. Ich räuspere mich und ergreife seine Hand, um hier nicht noch länger trottelig in der Gegend herumzuliegen. Seine Haut ist weich und warm und elektrisierend. Ich zucke kurz zusammen, bevor ich mir von ihm aufhelfen lasse. Mit einem Ruck zieht er mich hoch und ich stehe vor ihm. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, um ihn ansehen zu können. Er ist riesig im Vergleich zu meinen 1,64.

»Mir... mir geht es gut. Ich weiß auch nicht... ich...«, stottere ich unbeholfen. Mir fällt auf, dass er immer noch meine Hand hält. Wärme breitet sich von der Stelle aus, an der wir uns berühren. Die Luft um uns knistert. Ich kann den Blick nicht abwenden. Er geht einen Schritt zurück und zieht mich vorsichtig mit sich. Ich versuche zu folgen und setze einen Fuß vor den anderen. Ein stechender Schmerz zieht sich von meinem rechten Knöchel ins Schienbein und ich sacke leicht zusammen.

»Autsch!«, fluche ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sofort ist sein Griff fester. Sein linker Arm umschließt meine Taille und stützt mich so, damit ich nicht wieder umknicke. Röte, die nicht vom Schmerz in meinem Knöchel kommt, steigt mir in die Wangen. Ich blicke ihn schuldbewusst an.

»Es tut mir leid. Ist sicherlich nichts. Ich komme schon klar. Du kannst ja nichts dafür. Ich bin dir ja schließlich vors Auto gerannt.«, versuche ich die Situation herunterzuspielen. Nur zu deutlich spüre ich seine Finger auf meiner Hüfte und den Druck, den seine Hand ausübt. Am liebsten würde ich im Boden versinken. Das darf doch alles nicht wahr sein.

»Keine Widerrede. Ich bringe dich zu einem Arzt. Da muss mal drüber geschaut werden. Das sage ich dir als Sportler.« Er grinst schief und zwinkert und das Grün seiner Augen leuchtet schon fast in Smaragdtönen.

Er lehnt mich vorsichtig an die Seite seines Jeeps und hebt meine Tasche auf. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass mir diese von der Schulter gerutscht ist. Dann öffnet er die Beifahrertür und führt mich vorsichtig herum. Ich will mich gerade am Rahmen der offenen Scheibe hochziehen, als sich seine starken Hände von hinten um meine Taille schließen und mich mühelos in den Jeep heben. Ich halte die Luft an.

Erneut geht ein Feuer durch meine Blutbahnen und meine Ohren rauschen. Was ist das nur? Ich rutsche tief in den Sitz und halte meine Tasche schützend vor meine Brust. Ich will nicht, dass er sieht, wie schnell mein Herz schlägt, denn das scheint mir förmlich aus der Brust springen zu wollen. Das kann man garantiert bestimmt nicht übersehen.

Keine fünf Sekunden später sitzt er neben mir und schaut mich an. Ich wende mich ihm zu und versuche mich an einem Lächeln.

»Danke.«

»Dafür, dass ich dich angefahren habe?« Ich lächle.

»Du hast mich nicht angefahren. Ich bin nur unglücklich gestürzt. Dummer Zufall. Nein! Danke, dass du mir hilfst. Du hast bestimmt besseres zu tun.« Na bitte, ich kann ja doch in ganzen Sätzen reden. Ich streife mir eine verirrte Strähne hinters Ohr.

Er folgt der Bewegung und seine Lippen öffnen sich einen Spalt, ein ganz klein wenig und nur ganz kurz. Aber ich kann es sehen und spüren und sofort hebt sich mein Brustkorb beim Atmen noch ein bisschen mehr.

Was ist das hier gerade?

Wir schauen uns weiter an. Es ist, als würde die Zeit irgend-wie in einer anderen Geschwindigkeit fließen. Als wäre das unsere eigene kleine Blase mit unserer eigenen Realität. Ich kann es nicht beschreiben, so surreal ist das alles. Erst, als es hinter uns zu hupen beginnt, lösen wir unsere Starre und sein Blick richtet sich auf die Straße. Ich rücke auf dem Sitz ein wenig höher und will ihm gerade den Weg zur Notaufnahme erklären, als er mich unterbricht und grinsend nach vorn zeigt.

»Dort vorn rechts, richtig? Habe vorhin die Beschilderung gelesen – als hätte ich gewusst, dass es wichtig ist, mir das zu merken.« Er zwinkert und konzentriert sich wieder auf den Verkehr.

Ich nutze die Zeit und betrachte sein Profil. Kann ein Profil sexy sein? Naja, wenn schon ein Kehlkopf sexy ist, dann ist das dazugehörige Profil Sex pur. Gott! Das habe ich jetzt nicht wirklich gedacht! Innerlich schüttel ich meinen Kopf. Ich habe in den letzten 5 Minuten öfter an „Sex“ gedacht als in den vergangenen 5 Jahren. Ich schnaube. Zu laut. Er hört mich und sieht mich fragend an. Verlegen schüttel ich den Kopf.

»Nichts. Die Situation ist nur...« Ich suche nach einem Wort.

»Schräg?« Hilft er mir mit einem Raunen auf die Sprünge.

»Ja, irgendwie schon.« Bestätige ich ihm mit einem Schulter-zucken.

»Aber gut schräg.«, sagt er leise und lächelt. Auch die kleinen Lachfältchen um seine Augen sind sexy – so ganz neutral betrachtet. Ich lächle ebenfalls. Als würden wir uns schon ewig kennen. Als wäre es das normalste auf der Welt, sich von ihm in die Notaufnahme fahren zu lassen und dabei zu wissen, dass das wahrscheinlich die intensivste Zeit ever sein wird.

Zehn Minuten später steht er auf dem Parkplatz vor der Notaufnahme und hilft mir aus dem Jeep. Ich schwöre, das Auto ist nur für Menschen seiner Größe gebaut. Ich bräuchte schon im Normalfall eine extra Leiter zum Ein- und Aussteigen. Abermals mühelos hebt er mich raus und hält mir seinen Arm zum Abstützen hin. Ich ergreife natürlich die Gelegenheit und schmiege mich vielleicht etwas zu eng an ihn. Er hält mich nicht ab, also belasse ich es bei der neuerlichen Nähe.

Nur vorsichtig versuche ich, meinen Fuß aufzusetzen. Es tut fast nicht mehr weh. Das muss er aber nicht wissen, nicht dass er mich loslässt, wo es doch gerade so schön ist.

Es sind tatsächlich nur zwei Leute vor mir in der Notaufnahme, sodass wir nur eine halbe Stunde warten müssen. Er besteht darauf zu bleiben und mich an-schließend nach Hause zu fahren. Er scheint sich wirklich Gedanken zu machen. Jedes Mal, wenn ich mein Gewicht verlagere und aus Versehen meinen Fuß belaste, zucke ich vorsichtshalber zusammen und er verzerrt kurz sein Gesicht – als würde es ihm selbst wehtun. Wir sitzen nebeneinander und ich stoße mit meiner Schulter seinen Oberarm, da er mich auch im Sitzen überragt. Ich habe das Gefühl, ihn beruhigen zu müssen.

»Es ist nicht mehr so schlimm. Wirklich.« Und er knurrt. Er knurrt wirklich. In meinen Büchern knurren die Kerle auch immer. Ich konnte das nie richtig einordnen. Jetzt habe ich ein Geräusch dazu, dass mir durch Mark und Bein geht und Stellen an mir zum Leben erweckt, denen ich sonst nicht soviel Aufmerksamkeit schenke. Das sollte ich vielleicht ändern. Dann wäre ich bestimmt auch nicht so überreizt!

»Hey, ich bin nicht aus Zucker und nur umgeknickt.« Er sieht mich an. Sein Blick trifft meinen und mein Herz setzt für einen kurzen Moment aus. Lange sieht er mir nur in die Augen, dann wandert er weiter zu meinen Lippen und bleibt dort hängen, sekundenlang, minutenlang, gefühlt ewig und je länger er schaut, desto trockener wird meine Kehle. Ich würde meine Lippen gern mit meiner Zunge befeuchten, nur fürchte ich, hätte das den gegenteiligen Effekt. Er beißt auf seine Unterlippe, was ein innerliches Zittern bei mir auslöst und ich schwöre, er beugt sich mir entgegen, stutzt und zieht sich wieder zurück, als eine viel zu hohe, schrille Stimme: »Der nächste bitte« ruft und wir erschrocken irgendwie aus-einander fahren.

Der Moment ist vorbei, weil er mir mit einem Nicken zu verstehen gibt, dass ich die nächste bin. Ich drehe mich um und richte mich auf, nur weiß ich nicht, ob ich laufen kann.

Das liegt aber nicht an meinem Knöchel, sondern an meinen weichen Knien, die eindeutig nichts mit dem Beinah-Unfall zu tun haben. Eher mit dem Unfallverursacher, dessen Blick ich prickelnd in meinem Rücken spüre. Ich atme einmal tief durch, versuche Luft in meine Lungen zu pumpen und gehe wankend ins Untersuchungszimmer.

Kapitel 3

NACHDEM DER DIENSTHABENDE CHIRURG und der Röntgenassistent alle notwendigen Untersuchungen vorgenommen haben und mir höchst offiziell bestätigen, dass ich tatsächlich nichts Schlimmes habe, was einer intensiveren Behandlung bedarf, darf ich gehen. Mein nicht vorhandenes Zeitgefühl sagt mir, dass ich Stunden hier verbracht habe. Die Uhr an der Wand erklärt mir allerdings sehr deutlich, dass es tatsächlich nur 20 Minuten waren.

Mit einem bandagierten Fuß und einem neuen Kühlakku gehe ich zurück in den Wartebereich der Notaufnahme. Und freue mich, dass er Wort gehalten hat und tatsächlich noch da ist. Er stöbert in einer schwarzen Mappe, von der ich nicht mit-bekommen habe, dass er diese vorhin mit hierher genommen hat. Er bemerkt mich nicht, also kann ich ihn ein wenig genauer betrachten.

Er ist groß, bestimmt 1,90 m. Seine langen, schlanken Beine hat er ausgestreckt und die Knöchel über-einander geschlagen. Auf seinem Schoß liegt besagte Mappe, in der er gedankenverloren mit sehr männlichen Händen – Gott, ich stehe auf männliche Hände – blättert. Fast fange ich an zu sabbern, als mein Blick die muskulösen Unterarme nach oben gleitet und an seinem sehnigen Hals verharrt. Seine Haut ist leicht gebräunt, aber die dunklen Bartstoppeln fallen mir trotzdem sofort auf. Am liebsten wäre ich die Linie seines markanten Kinns nachgefahren. Wie sich die Stoppeln wohl an meiner Haut anfühlen würden? Ich seufze. Zu laut. Wieder! Er blickt auf und ein Lächeln umspielt seine Augen.

»Da bist du ja«, strahlt er. Er schließt die Mappe und richtet sich auf. Seine Aufmerksamkeit liegt ganz auf mir. Ich räuspere mich, weil mein Mund schon wieder so trocken ist, dass ich befürchte, keinen Ton herauszubekommen.

»Ehm, ja, ging... ging schneller, als gedacht«, antworte ich nervös und wedele mit den Kühlakkus vor seinen Augen. »Ich habe eine Bandage. Die kann ich aber heute Abend wieder abnehmen. Dient nur heute dazu, den Fuß ein wenig zu stabilisieren und nicht über zu belasten. Ansonsten soll ich kühlen. Nichts gebrochen, verstaucht oder gerissen. Tada...!« Ich spreize beide Arme von mir und hebe den verletzten Fuß ein wenig an, damit er sieht, dass wirklich alles in Ordnung ist. Sieht vielleicht ein bisschen bescheuert aus, aber er lacht, also lache ich auch.

»Da bin ich beruhigt. Ich hatte mir schon die schlimmsten Dinge ausgemalt.« Er steht auf, klemmt sich seine Mappe unter den einen Arm und fasst mit dem anderen nach mir, um mich aus der Notaufnahme zu geleiten. Langsam gehen wir zu seinem Auto. Ich fühle mich ein wenig traurig. Ich will nicht, dass es jetzt schon vorbei ist. Mir gefällt es, Zeit mit ihm zu verbringen, obwohl ich ihn gar nicht kenne. Meine Mädels wären stolz auf mich.

Am Jeep angekommen, öffnet er mir wieder die Beifahrertür und als wäre es das normalste von der ganzen Welt, umfasst er meine Hüfte und hebt mich ins Wageninnere. Als ich sitze und mich umdrehe, um mich anzuschnallen, steht er immer noch an der geöffneten Tür – unsere Gesichter fast auf Augenhöhe. Er schaut nachdenklich und zögert kurz, dann sieht er mir in die Augen, verharrt und atmet tief ein. Die Spannung zwischen uns ist unbeschreiblich. Er greift nach vorn, kommt mir noch näher.

Ich halte den Atem an. So nah war mir schon lang keiner mehr und noch nie hat sich so intensiv angefühlt. Wir berühren uns kaum und doch spüre ich mit jeder Faser meines Körpers seine Nähe. Langsam greift er an mir vorbei, um seine Mappe auf das Armaturenbrett zu legen, dabei beugt er sich noch etwas näher.

Er muss meinen aufgeregten Herzschlag hören, so laut pocht es gegen meinen Brustkorb. Meine Hände sind im Sitz verkrallt. Ich weiß nicht, wohin mit ihnen und ich will nicht, dass er merkt, wie ich zittere. Und doch sitze ich hier mit geschlossenen Augen und atme seinen Duft ein – eine dezente Mischung aus Duschgel und... ihm.

Wenn er sich nicht bald bewegt, falle ich ihn an wie eine ausgehungerte Hyäne. Er stoppt in seiner Bewegung, als hätte er meine Gedanken gehört, legt die Mappe vorsichtig ab, zögert abermals und sieht mir dann direkt in die Augen. Die Luft zwischen uns ist so aufgeladen und elektrisierend, dass ich selbst fast vergesse, wie atmen geht. Um irgendetwas zu tun, fahre ich kurz mit meiner Zunge über meine Lippen und sein Blick fällt augenblicklich dorthin. Immer wieder schwankt er zwischen meinen Augen und meinen Lippen, als würde er nicht wissen, was interessanter ist. Er räuspert sich... mehrfach. Und ich schmelze noch ein kleines Stückchen mehr.

»Ich sollte dich wirklich... heim fahren, aber... Hättest du Lust... also, magst du noch einen Kaffee mit mir trinken?«, fragt er fast schüchtern. Mein Lächeln wird breiter.

»Das würde ich sehr gern.« Er nickt, schaut nochmal auf meinen Mund, fährt sich selbst unbewusst mit seiner Zunge über seine Lippen, als würde er mich schmecken. Und augenblicklich geht ein Schauer durch meinen Körper.

Dann endlich löst er seinen Blick von mir, schließt die Beifahrertür, geht um den Jeep und setzt sich schwer atmend auf den Fahrersitz. Ich nutze die Zeit, um meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, falls ich wieder kurzzeitig vergesse, wie diese natürliche Körperfunktion geht.

Und obwohl wir jetzt keinen Blickkontakt mehr haben, ist zwischen uns nach wie vor dieses unsichtbare Band, was uns immer wieder zueinander zieht, ohne dass wir das bewusst steuern und ich weiß, dass auch er das spürt.

»Da musst du mir aber jetzt helfen. Ich kenne mich hier nicht so gut aus«, sagt er nach einer kurzen Zeit, die wir beide gebraucht haben, um uns zu sammeln.

»Das ist kein Problem. Nicht weit vom Campus ist ein nettes, kleines Café. Die haben dort die besten Cupcakes, die du dir auf diesem Planeten vorstellen kannst«, schwärme ich. Er tippt Name und Adresse des D'Angelos in sein Navi und fädelt sich dann mühelos in den Verkehr. Ich drehe mich ein bisschen in seine Richtung. Ich will nichts von dem verpassen, was hier gerade passiert. Dafür ist es einfach zu intensiv.

Immer wieder schaut er kurz rüber und lächelt. Ich erwidere sein Lächeln – jedes Mal. Wenn Jess mich jetzt sehen könnte...! Ob sie genauso überfordert wäre von der Situation? Ich denke nicht. Jess ist nicht so. Ich bin zwar nicht auf den Mund gefallen, aber leicht „beschränkt“ bei so einem Exemplar von einem Mann. Da fällt es mir schwer, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Und plötzlich fällt mir etwas sehr Offensichtliches ein.

»Sag mal, Fremder. Wie heißt du eigentlich?«, frage ich ihn süffisant. Er grinst, sieht mich aber nicht an.

»Ich heiße Robert. Rob.« Rob! Das passt zu seinem Äußeren und der einnehmenden Person, die er zweifelsohne ist.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Rob.«, betone ich seinen Namen. »Ich bin Amy.« Er schaut mich an und grinst und verweilt – etwas zu lange, als würde ihm gerade ein Gedanke durch den Kopf gehen.

Als er sich besinnt, dass er Auto fährt, richtet er seinen Blick schnell wieder auf die Straße und kann gerade noch ein Vollbremsung machen, weil die Ampel in diesem Moment auf rot wechselt. Als er zum stehen kommt, schlittert seine schwarze Mappe quer über das Armaturenbrett und fällt dann zu meinen Füßen. Schnell hebe ich auf, was herausgefallen ist.

Ich weiß nicht warum, aber ich weiß, dass ihm der Inhalt der Mappe sehr wichtig ist. Ihm liegt viel daran. Ich will die Blätter zurück in die Mappe legen, werfe aber unbeabsichtigt einen kurzen Blick darauf – es handelt sich um Fotografien, allerlei Naturaufnahmen in schwarz-weiß Tönen. Auch Porträts und einige Nahaufnahmen von älteren Menschen sind darunter. Mir stockt der Atem. Ich will nicht neugierig sein, aber die Fotos fordern meine volle Aufmerksamkeit, dass ich einfach nicht wegschauen kann.

Besonders ein Bild lässt mich tief einatmen. Es zeigt eine alte Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Stolz ziert das Gesicht der alten Frau, welche mit unendlicher Liebe auf den Säugling in ihren Armen hinunter schaut. Eine Stille umgibt beide, als würden sie nicht mitbekommen, dass sie gerade fotografiert werden. Das Foto strahlt Ruhe und Frieden aus – so unendlich viel Gefühl liegt in diesem Augenblick, dass mir sogar kurz Tränen in die Auge treten.

»Wow!« Ich räuspere mich und packe alles behutsam wieder in die Mappe. Dann erst traue ich mich, Rob anzusehen. Er lächelt zufrieden in sich hinein.

»Das ist auch mein Lieblingsbild«, sagt er mit einem kurzen Blick auf das Foto, was ich immer noch betrachte. Er scheint sich nicht daran zu stören, dass ich mir einen Blick auf die Fotos erlaubt habe. Als die Ampel auf grün schaltet und Rob weiterfährt, halte ich die Mappe ehrfürchtig fest – als wäre sie ein großer Schatz.

»Hast du die gemacht?«, frage ich vorsichtig.

Er will zu einer Erklärung ansetzen, als uns das Navi freundlich darüber informiert, dass wir unser Ziel erreicht haben.

»Da sind wir.« Ich lege die Mappe auf die Rückbank, damit sie nicht wieder herunterfällt. Sie erscheint mir auch zu wertvoll und zu intim, als dass ich sie freiwillig hier vorn auf dem Armaturenbrett hätte liegen lassen wollen. Während ich mich abschnalle, ist Robert auch schon ausgestiegen und steht bereits an der geöffneten Beifahrertür. Er hilft mir erneut aus seinem Jeep (für mich ja eher ein Monstertruck). Ich könnte mich daran gewöhnen...

Wir betreten das kleine idyllische italienische Café und Robert kümmert sich sofort um zwei sehr abgelegene Plätze im hinteren Teil mit Blick auf den Park und den Teich. Hier sind wir fast abgeschottet vom hektischen Treiben vorn und können noch etwas länger in unserer Blase bleiben. Wir bestellen beide einen Kaffee und den Cupcake des Tages, dann schauen wir uns wieder an.

»Also, was hat es mit dieser Mappe auf sich? Hast du diese ganzen Fotos gemacht?«, frage ich ein klein wenig zu neugierig. Ich hoffe, dass man mir meine Nervosität nicht anhört, denn innerlich bin ich ein zappelndes, aufgewühltes, hibbeliges Etwas.

Er grinst verlegen und streicht sich einmal kurz über den Nacken. Bitte!? Er grinst tatsächlich verlegen! Mit seiner anderen Hand spielt er an der Tischdecke herum, bis er beide Hände auf den Tisch legt, meinen Blick nicht eine Sekunde loslässt, sondern mich direkt ansieht. Ein Schauer geht durch mich hindurch. Seine grünen Augen fixieren mich bevor er mir antwortet:

»Ja, das sind meine Fotos. Ich mache das nebenbei. Ich fotografiere gern alte Menschen.« Meine Augenbraue muss wohl fragend in die Höhe gehüpft sein, weil er beschwichtigend seine Hände auf den Tisch legt.

»Das muss ich wohl etwas ausführlicher erklären.« Er grinst frech, zwinkert und fährt fort: »Es hat mit meiner Grandma angefangen. Als sie ins Heim kam, war sie so verloren und hat immer von früher gesprochen, als sie noch nicht so zerbrechlich war und so alt und faltig. Ich habe das immer gehasst, wenn sie so gesprochen hat, denn ich habe sie gar nicht so gesehen. Ich habe in ihrem Gesicht immer nur Mitgefühl und Verständnis und Weisheit gesehen – auch wenn ich mal wieder über die Strenge geschlagen habe.« Er zwinkert und ich nicke. Ich weiß, was er meint. Ich fühle das gleich bei meiner Nanna.

»Jedenfalls wollte ich ihr beweisen, dass sie so viel mehr zu sagen hat und habe angefangen, sie in den verschiedensten Situationen zu fotografieren... beim Lesen, beim in den Garten schauen, wenn wir Schach gespielt haben. Irgendwann habe ich Momente herausgesucht, wo sie sich unbeobachtet gewähnt hat. Das waren immer die schönsten Fotos. Meine Mutter liebt diese am meisten. Ich habe ihr ein Album gemacht, um ihr zu beweisen, wie wunderschön sie in diesen Momenten für ihre Mitmenschen war. Wie viel Erfahrung – schlechte und gute – aus ihrem Blick oder jeder Körperhaltung gesprochen hat. Das hat sie glücklich gemacht. Sie ist mit dem Album im ganzen Heim hausieren gegangen, manchmal wurde sie sogar ein klein wenig hochnäsig.« Er lächelt in seine Erinnerung hinein und mein Herz schwillt ein klein wenig mehr an. Das ist das Süßeste, was mir je ein Mensch erzählt hat.

»Jedenfalls hat das den anderen im Heim so sehr gefallen, dass ich immer mehr Anfragen von Angehörigen bekam, die gern solche tiefgründigen, ungestellten Fotos von ihren Verwandten haben wollten. Das wurde irgendwie zu einem Selbstläufer. Ich habe sogar schon den ein oder anderen Fotoband dazu herausgebracht«, sagt er stolz und zugleich verlegen.

»Manche dieser Menschen haben so viel Schlimmes durchgemacht, dass es mich immer wieder fasziniert, wie würdevoll sie trotz allem im Alter sind und mit wie viel Lebenserfahrung und Lebensweisheit sie uns zur Seite stehen. Ich finde, dass sollten wir viel öfter annehmen, obwohl ich es eine Zeitlang selbst nicht getan habe.« Er zuckt mit den Schultern, als wäre es nichts. Kurz kann ich einen Schatten sehen, der sich über seinen Blick lehnt. Er fasst sich aber schnell wieder und sieht mich mit strahlend grünen Augen an. Fasziniert halte ich seinen Blick nd lausche jedem seiner Worte.

»Das ist so toll. Ich glaube nicht, dass viele in deinem Alter je solche Gedanken haben. Wahnsinn!« Ich bekomme das anerkennende Lächeln einfach nicht aus dem Gesicht, auch nicht, als der Kellner unsere Bestellung vor uns abstellt und uns wieder allein lässt.

»Aber jetzt genug von mir. Jetzt zu dir«, zwinkert er mir zu. »Als ich dich vorhin aufgegabelt habe...« Provokant wackelt er mit den Augenbrauen und ich muss fast losprusten. »... das war das Unigelände, richtig? Studierst du?« Ich nicke und versuche, nicht an dem Bissen Cupcake zu ersticken, den ich mir gerade unbeholfen in den Mund stecke.

Ich schiebe ein paar Krümel hinterher und gebe ihm mit meinem erhobenem Zeigefinger zu verstehen, dass ich ihm gleich antworten werde. Er verschluckt sich fast an seinem Kaffee. Ich muss wohl lustig aussehen. Innerlich zucke ich mit den Schultern. Was soll's?

»Ja. Ich bin im dritten Semester. Ich studiere Kunstgeschichte und Literatur des 20. Jahrhunderts. Jetzt gerade sind Semesterferien.«

»Und da bist du noch nicht auf dem Weg nach Hause?«

»Nein, das ist nicht nötig. Ich wohne hier gleich um die Ecke.« Unbestimmt zeige ich mit meinem Löffel über den Park.

»Ah, also kein normales Studentenleben?«, fragt er verschmitzt.

»Ich arbeite daran«, sage ich und zwinkere nun ihm zu. Das war ja einfach!

»Literatur und Kunstgeschichte also... Willst du mal in einem Museum arbeiten?« Er zeigt mit dem Löffel auf mich und grinst.

»Das ist ja fast genauso wie eine sexy Bibliothekarin.« Er zeigt mir ein schiefes Lächeln, was mich unruhig auf meinem Sitz hin und her rutschen lässt und meine Wangen rot färbt. Das war definitiv ein Flirtversuch. Das erkenne selbst ich.

»Hm...«, mache ich unbestimmt. Was sagt man auf so etwas? Verlegen lecke ich über meine Lippen. Abermals folgt er der Bewegung, räuspert sich und kommt mir ein weiteres Stück entgegen. Dann hebt er seine Hand, sein Daumen schwebt über meinem Mund und hauchzart wischt er über meine Oberlippe. Ich schwöre, ich sehe lauter Funken, als ich die kurze Berührung spüre. Ich halte die Luft an, will den Moment weiter in die Länge ziehen.