Flexen in Miami - Joshua Groß - E-Book

Flexen in Miami E-Book

Joshua Groß

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Beschreibung

Auf Einladung der Rhoxus Foundation verschlägt es den Erzähler Joshua nach Miami. Dort findet er sich in einem smarten Apartment wieder: Geld und Astronautennahrung werden von einer Drohne geliefert, die Temperatur automatisch reguliert, der Kühlschrank ist sein einziger Gesprächspartner. Das Computerspiel "Cloud Control" bietet die einzige Abwechslung, es speist sich in Echtzeit aus den Daten der Gamer. Bei einem NBA-Spiel trifft Joshua die Meeresbiologin Claire, und die beiden reisen nach wenigen Wochen nach Nassau, wo Claire ihm eröffnet, dass sie schwanger ist, jedoch offenlässt, ob das Kind von ihm ist. Flexen in Miami ist eine Liebesgeschichte, die auf vielfachen Ebenen danach fragt, woher wir wissen können, dass wir da sind, und wie wir einander begegnen können: als Menschen oder Avatare, im Leben genauso wie in der Cloud. In seinem lang erwarteten Roman erzählt Joshua Groß von den diversen Einkerbungen, Traps, Glitches und Unsicherheiten in der Realität, die wir unsere Gegenwart nennen.

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Joshua Groß

Flexen in Miami

Wir werden von unverbesserlichen Energien überflutet. Es gibt keinen Weg aus der eigenen Haut, der Sprache, den Leidenschaften. Wird der Zusammenbruch des Daseins in diesem Universum stattfinden oder in einem anderen?

– Etel Adnan

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

1.

Ich ahnte überall Glitches, das geht zurück auf meine Mutter. Ein Misstrauen gegenüber dem Wirklichen, eine parawissenschaftliche Wachheit bezüglich der Instabilität. Ich wurde von Immersionen gemartert und meine eigene Existenz war eine entsetzliche Mühsal. Deshalb rauchte ich so viel Marihuana. Es entspannte mich und gleichzeitig kam ich mir vor, als würde ich schlafwandeln. Das war erträglicher als meine innere Gefangenschaft, als das klarsichtige Ausgesetztsein in der Trap, umgeben von Außerirdischen und meiner Niedergeschlagenheit. Trotzdem kam ich nicht runter und war nervös und glaubte, mein Herz sei kurz davor, zu explodieren. Ich redete mit ihm und murmelte Beschwörungsformeln. Um meinen Hals hingen zwielichtige Amulette. Ich lief umher, in Desert Boots, alten Hosen und weißen Shirts. Ich wollte kein Bleichgesicht sein. Ich nutzte die Vorsatzblätter meiner Notizbücher, um Filter für Joints zu rollen, aus chlorfreiem Recyclingpapier. Morgens kaute ich müde auf Müsli rum, während ich meine Küche verdächtigte, nur eine Kopie zu sein. Manchmal dachte ich, mit dem Aufwachen würde ein Rendering einsetzen, das mich zurück in mein Bewusstsein schleust. Und ich wusste nicht, wie fehleranfällig das war. Die Angst davor, in der Nacht verschleppt worden zu sein, verflüchtigte sich nach wenigen Minuten. Aber zurück blieb ein parasitäres Schuldgefühl, eine tiefe Scham vor mir selbst. In diesen Momenten kam mir alles fragwürdig vor. Als würden wir uns selbst systematisch in die Einsamkeit locken. Ich glaubte, dass wir uns gegenseitig langsam verlieren.

Ich war erst seit wenigen Wochen in Miami. Ich kannte hier niemanden. Ich hatte ein einjähriges Aufenthaltsstipendium der Rhoxus Foundation erhalten und bewohnte ein kleines Apartment, das sich im vierten Stock eines ehemaligen Hotels befand. Ich konnte die Raumtemperaturen nicht kontrollieren. Die Klimaanlage machte Jagd auf mein Karma und ich flexte tagsüber so hart in meinen Wollsocken. Außerdem trug ich einen Poncho. Dabei hatte es draußen 35 Grad im Schatten und die Sonne kippte in Korridoren durch die hohen Fenster. Ich las fröstelnd auf dem Holzboden, saß vor meinem Laptop oder spielte Playstation. Oft wich ich deshalb auf Malls oder Cafés aus, wo ich das kostenlose WLAN nutzte, um auf Twitter rumzuhängen. Die Foundation hatte nach meiner Ankunft den Kontakt abgebrochen. Sie antworteten nicht mehr auf meine Mails. Allerdings landete in unregelmäßigen Abständen eine Drohne auf meinem Balkon, die Pakete für mich abstellte. Darin befanden sich üblicherweise getrocknete Heilkräuter, Astronautennahrung, Dope und ein Bündel Bargeld.

Der Horror begann, als ich eines Nachts eine weitere Drohne bemerkte. Ich lag in meiner mexikanischen Hängematte und rauchte. Ich hatte mir angewöhnt, während des Sonnenuntergangs auf den Balkon umzusiedeln, weil es draußen dann nicht mehr unerträglich heiß war, und außerdem sah der Himmel oft aus, als hätte er ein Aneurysma; also er war innerlich tiefrot. Ich hatte mir Burritos geholt und Guacamole. Ich war aus meinen Wollsocken geschlüpft und trank barfüßig Softdrinks. Erst streamte ich ein NBA-Spiel über mein Tablet. Die Miami Heat waren in den Playoffs. Ich hatte Stöpsel in den Ohren. Dabei drehte ich einen Joint. Ich erahnte den blassen Lichtschaum der Neonreklamen vom Hotel gegenüber. Er sank in mich ein. Irgendwann, während der Stream bufferte, belauschte ich kurz den Verkehr. Manchmal rauschten die Palmen in mein Hirn rein. Hin und wieder wurde alles von Sirenen unterbrochen. Die Luft war noch immer dick und mein Gehirn sumpfte. Ich hatte nicht mal ein Shirt an. Langsam wurde es dunkel. Ich weiß nicht, wie lange mich die Drohne schon gefilmt hatte, als ich sie entdeckte. Sie schwebte einige Meter entfernt über dem Balkon. Ich richtete mich auf, wobei ich fast aus der Hängematte kippte, weil ich high war. Nachdem ich die Kopfhörer rausgenommen hatte, hörte ich das leise Surren der Rotoren. Ich beugte mich über das Geländer und konzentrierte mich. Meine Höhenangst hinderte mich daran. Ich ging ein paar Schritte zur Seite und sah, dass mir der Kamerasensor folgte. Unten leuchteten orange Straßenlampen. Ich betrachtete die überirdischen Stromleitungen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich steckte mir die Kopfhörer wieder in die Ohren. Zuerst tanzte ich ein bisschen zur White Girl mit Luger-EP von Haiyti. Dann überlegte ich lange, ob ich die Drohne irgendwie abschießen sollte. Aber ich hatte keine Waffen. Schließlich verschanzte ich mich in meinem Apartment. Ich ließ die Rollos runter und spielte Playstation. Mir war dabei unheimlich zumute. Nach einer halben Stunde legte ich mich hin und lugte vorsichtig unter dem Rollo hindurch. Aber ich konnte nur das weiß getünchte Geländer sehen. Ich verbrachte die halbe Nacht damit, nach versteckten Kameras zu suchen. Ich fand nichts. Allerdings kam es mir permanent so vor, als wäre da noch etwas anderes, das wahrnimmt. Bis die Sonne aufging, versuchte ich, im Internet Hinweise über die Rhoxus Foundation zu finden. Es gab keine Treffer und wenn ich die Mailadresse eingab, über die der Stiftungsrat mit mir kommuniziert hatte, gelangte ich über die Suchmaschine auf ein irrlichterndes Sportwettenportal – andauernd wollten sich Popup-Fenster öffnen – sowie in einige daran angeschlossene Foren, in denen über Wettquoten und Videospiele diskutiert wurde. Ich hatte noch nie von den Games gehört, auch nicht von denen, die immer wieder genannt wurden, Cloud Control zum Beispiel, oder Die letzten Ruinen, oder Kalender der Trauer. Letztendlich blieb ich übermüdet bei einem GIF hängen, das ein User namens merwan86 gepostet hatte; es befand sich ohne erkennbaren Zusammenhang in der Abfolge aufeinander bezugnehmender Beiträge. Das GIF zeigte, wie sich der Planet Erde klont; kurz darauf wird einer der beiden Planeten unsichtbar. Ich konnte aber nicht erkennen, welcher von beiden es war, obwohl ich mir das GIF mindestens hundertmal anschaute. Ich schlurchte in die Küche und kochte mir Tee aus Goldmohn und Johanniskraut. Dann wollte ich schlafen. Aber ich musste ständig pinkeln.

2.

Mein Wecker klingelte um 9 Uhr. Ich erwachte mit leichten Halsschmerzen. Ich stand auf und schlug den alten Kaffeesatz aus dem Filter meiner Espressokanne. Dann ging ich gähnend auf den Balkon. Es regnete. Die Drohne, die mir am Abend zuvor aufgelauert hatte, war verschwunden. Allerdings war zwischenzeitlich ein neues Paket für mich abgestellt worden. Ich trug es zum Küchentisch. Nachdem ich im Bad gewesen war, verband ich mein Phone mit den Bluetoothlautsprechern und hörte fluorescence von Jellyfish P. An diesem Morgen klang das Album drückend wie eine tropische Depression und der Autotune-Gesang flirrte fies in meinen Nebenhöhlen. In meinem Magen kämpfte der Bass gegen die gezuckerten Cornflakes, die ich aß, während ich heftig zur Musik vibte. Möglicherweise skypte ich später mit meiner Mutter oder ich onanierte oder ich trieb mich im Internet rum. So ungefähr war die Mischung. Einmal hatte ich Nacht und Nebel von Alain Resnais gestreamt und gleichzeitig ein Grand-Slam-Achtelfinale und zwischendurch hatte ich Nacktbilder auf mein Phone bekommen, die ich zumindest kurz betrachtete, bevor ich sie von der Oberfläche wischte. Kam daher der Selbsthass? Von dem Geflecht, das geduldig unter der Oberfläche lauerte? Vielleicht ekelte ich mich deshalb so sehr vor der Klimaanlage; weil sie unsichtbares Gas in mein Apartment schleuste, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte. Ich nahm die Plastikverkleidung ab und stocherte mit einem hölzernen Küchenschaber im Schacht rum. Aber es gelang mir nicht, das Gebläse zu zerstören. Die Digitalanzeige verharrte auf 18 Grad. Die grünen Zahlen kamen mir entrisch vor. Kurz überlegte ich, ob ich noch eine Mail an die Foundation schreiben sollte, entschied mich aber dagegen. Gelangweilt öffnete ich das Paket. Ich zog kiloweise Bio-Haferflocken, Geld und eine Taucherbrille (?) hervor. Alles war mit Luftpolsterfolie umwickelt. Ich stapelte das Geld wie immer in meinem Safe, weil ich eh nicht wusste, was ich damit anfangen sollte. Daraufhin verfasste ich ein paar Tweets. Meine Mutter schrieb mir mittenrein, dass die Google Alerts, die sie für mich eingerichtet hatte, nichts bringen würden, weil es nichts Neues über mich gäbe. Ich würde ja nicht mal bloggen.

Als der Regen weniger wurde, verließ ich mein Apartment und nahm ein Taxi zum Strand. Die Taucherbrille trug ich wie eine Kette um meinen Hals. Es war windig. Ich setzte mich in den nassen Sand und betrachtete die Wellen. Sie wirkten gleichzeitig erhaben und kontrolliert und wie Schluckauf. Der Himmel sah aus wie eine Karaokeversion seiner selbst.

3.

Ich war in der Mall. Wasserfontänen kreuzten sich knapp unter der Decke. Ich saß im Lichthof, umgeben von tiefgrünen Zimmerpflanzen, trank Milchkaffee und las die Briefwechsel zwischen Albert Hofmann und Ernst Jünger. Beide hatten überlegt, ob es ratsam sei, immer eine Ampulle LSD bei sich zu tragen, um sich im Notfall in den Tod trippen zu können. Das machte mich nachdenklich. Ich überlegte, ob Kryoniktanks, in denen man sich direkt nach dem Herzstillstand einfrieren lässt, um in einer fernen Epoche wiedererweckt werden zu können, das Gegenteil von LSD sind. Ich überlegte, was Ernst Jünger über Kryoniktanks gesagt hätte. Ich sah ihn vor mir, einen hundertjährigen Ernst Jünger, der auf einem verlassenen Parkdeck gegen Kryoniktanks kämpfte und sie mit Kung-Fu-Schlägen in der Mitte zerteilte. Im matten Licht von Leuchtstoffröhren stieg dichter Dampf auf. Ich sah, wie er sich in Zeitlupe im Stil des weißen Kranichs bewegte und die zerstörten Kryoniktanks telekinetisch von sich fernhielt. Die Bedienung riss mich aus meinen Gedanken. Sie fragte mich, ob ich noch einen Milchkaffee wolle. Ich nickte. Das Wasser, das sie mir dazu brachte, schmeckte nach Chlor. Ich schüttete es kurzerhand in einen Blumentopf, ärgerte mich aber gleich über mich selbst, weil der Papyrus auch nichts mit dem Chlor anfangen konnte. Also bestellte ich mir eine Flasche Wasser und schüttete es hinterher, um ein Gegengewicht zu schaffen. Danach trank ich meinen Milchkaffee aus, zahlte und ging in ein Elektrogeschäft, um mir eine Universalfernbedienung für meine Klimaanlage zu kaufen. Ich lief an riesigen Flachbildfernsehern vorbei, die alle die gleiche Sendung übertrugen: eine Naturdoku von National Geographic, in der es um Füchse ging, die in Städten leben. Die Bildschirme waren zweigeteilt: Auf der einen Seite sah man die Tiere in gewöhnlicher Qualität, also vergleichsweise dumpf und unscharf, während die andere Seite zeigte, zu welcher Hyperrealität das hochauflösende Gerät fähig war. Meine Augen hüpften eine Weile hin und her. Als ich pinkeln war, wirkte die Zweiteilung noch in mir nach, beispielsweise, während ich das Waschbecken anstarrte.

Die folgenden Stunden verbrachte ich damit, VR-Brillen zu testen, na ja, ich schoss hauptsächlich auf einem fliegenden Teppich durch ein antiseptisches und nur undeutlich programmiertes Weltall, bis mir schwindlig wurde. Die Steuerung funktionierte über einen Controller, den ich in der linken Hand hielt. Einmal hatte ich das Gefühl, auf extraterrestrische Intelligenz zu treffen, weil ich auf eine monströse, unsichtbare Wand gestoßen war, die ich nicht durchdringen konnte. Aber es war nur der Rand des Universums. Ich versuchte, die Wand zu umfliegen. Ich fühlte mich wie ein Insekt an einer Fensterscheibe. Das war enttäuschend. Immerhin hatte ich hinterher kein Problem, eine Fernbedienung zu finden. Eine Mitarbeiterin des Shops versicherte mir, dass ich meine Klimaanlage damit hundertprozentig würde ausschalten können. Erleichtert schlurchte ich zur Kasse. Unterwegs kam ich allerdings an glänzenden Auslagen vorbei, auf denen Drohnen aufgereiht waren. Nach kurzer Beratung mit einem anderen Mitarbeiter entschied ich mich für ein Modell, das ich über meinen Laptop steuern konnte. Die Drohne hieß MiraX2.

Den restlichen Nachmittag verbrachte ich mit Probeflügen in meinem Apartment. Die Klimaanlage war zumindest im Standby-Modus, auch wenn sie sich zwischenzeitlich manchmal von selbst wieder einschaltete. In kürzester Zeit war aber die trockene Kälte aus den Räumen entwichen. Endlich fühlte ich mich imstande, eine Duftlampe auszupacken. Ich zündete ein Teelicht an. Ein paar Tropfen des ätherischen Kiefernöls genügten für eine psychospirituelle Veränderung. Erst jetzt war Miami für mich kein feinstoffliches Schleudertrauma mehr. Ich saß am Küchentisch vor meinem Laptop und steuerte MiraX2 durchs Wohnzimmer. Ich fühlte mich entrückt. Mal abgesehen davon, dass ich auf dem Bildschirm in HD meine Bücher sah, meine Teekanne, meinen Tabak, meine Lavalampe, meine Konsole, meine Poster oder mich selbst, wenn ich die Drohne im Türrahmen auf der Stelle schweben ließ. Ich schaute über den Laptop hinweg in die Kamera der Drohne und sah im Augenwinkel, dass ich mich selbst aus dem Bildschirm heraus anstarrte. Als ich einigermaßen mit der Steuerung zurechtkam, schloss ich MiraX2 ans Ladegerät an. Ich drehte einen Joint und vertiefte mich in die mysteriösen Forenwelten, die ich über die Mailadresse des Stiftungsrates entdeckt hatte. Einzelne Posts druckte ich aus und befestigte sie mit Klebestreifen an der Wand. Vor allem faszinierte mich ein Spiel, das Cloud Control hieß und das in verschiedenen Threads immer wieder auftauchte.

ceramicrest hatte vor vier Tagen gepostet:

hat noch jemand den eindruck dass in cc irgendwas seltsames passiert?? ich glaube mein avatar wird verfolgt aber ich weiß nicht ob avatare hinter mir her sind oder spams?? ich spiele nur noch nachts bis ich weiß was los ist will auf jeden fall nicht gesehen werden … noch jemand paranoid hier lol^^??

Auch andere User teilten diese Einschätzung; die Antworten ließen darauf schließen, dass eigentlich alle der Meinung waren, ihre Avatare seien in Gefahr, wenngleich sie nicht wussten, um was für eine Bedrohung es sich handelte oder wovon sie ausging. Verschiedene Theorien wurden diskutiert. Man kam überein, die eigenen Avatare optisch umzugestalten, greller und abwegiger, damit sie sich von den sogenannten Spams abheben würden.

Ich erstellte mir einen Account und sendete eine Direktnachricht an ceramicrest:

hi, ich interessiere mich für cloud control. wo bekomme ich das her? um was geht’s eigentlich dabei? wäre wavy, wenn du mir helfen kannst. danke schon mal, joshua.

Ich steckte den Joint an und ging auf den Balkon. Ich inhalierte und betrachtete währenddessen die Möwen und die Wolkenkratzer. Auf den Straßen war viel los. Ich hörte Autoradios und Gehupe und Lachen. Eine Frau, die ein gelbes Kleid trug und mit Inlinern unterwegs war, hielt sich an einem Moped fest. Einen Block weiter war die Kreuzung gesperrt, für einen Filmdreh oder so. Ich grüßte die Palmen mit einer Kopfbewegung, die ich quasi selbst kaum bemerkte, das war fast eine Marotte von mir. Nachdem ich die Überreste des Joints in einem Teebecher versenkt hatte, ging ich zurück zu meinem Laptop.

ceramicrest hatte mir schon geantwortet:

hi, in cc geht’s eigentlich um nichts. wir alle sind wolkenforscher und wenn wir verschiedene wolkenformationen untersuchen mit spaceshuttles oder helikoptern oder indem wir einfach im gras liegen bekommen wir karmacoins. so verbessert sich das karma des avatars … die welt ist komplett offen und alles ist zugänglich. aber die welt verändert sich ständig. es ist so: cc greift auf die sozialen netzwerke und die mailaccounts der spieler zu und generiert daraus die welt. es gibt also spams die so aussehen wie unsere freunde in real life oder bekanntschaften von tinder oder facebook oder instagram oder etc. das ist ziemlich creepy und belastend weil die halt auch oft sachen sagen die sie wirklich sagen oder irgendwas über einen wissen was dann wirklich unheimlich ist. das ist so irre an cc. also es ist gar nicht so leicht spams von anderen avataren zu unterscheiden vor allem wenn deine real life freunde auch cc zocken weil ihre avatare oder die spams von ihnen dann ständig in deiner umgebung auftauchen. und gerade geht irgendwas ab in cc vielleicht hast du es schon gelesen. wenn du dir einen avatar erstellen willst dann kreiere ihn auffällig und seltsam so wie ihn der algorithmus nicht hinbekommen würde. am besten gar nicht menschlich oder nur verzerrt menschlich. und besorge dir gleich irgendeine waffe oder so. und sei vorsichtig weil gerade avatare eingefroren werden. wir wissen nicht wie das passiert. aber es gibt avatare die können nicht mehr bewegt werden und andere avatare oder eben spams führen tänze um sie herum auf wie rituale fast. im forum gibt’s videos dazu. es passiert noch mehr irres zeug. hoffe, das hilft dir für den anfang. vielleicht sehen wir uns mal in cc ich habe einen leopardenschwanz der meinem avatar aus dem rücken wächst und ein drittes auge.

Unter der Nachricht war ein Link angegeben. Ich bedankte mich bei ceramicrest und folgte dem Link. Ein Fenster öffnete sich:

Sind Sie sicher, dass Sie Cloud Control wirklich herunterladen möchten? Mit Ihrer Zustimmung genehmigen Sie dem Programm vollen Zugriff auf ihre persönlichen Dateien. Cloud Control garantiert, dass Ihre Daten nicht weitergegeben werden. Ihre Daten werden ausschließlich genutzt, um für Sie ein nie dagewesenes Erlebnis zu schaffen.

Kurz wägte ich ab und fragte mich, ob ich noch bei Trost war. Dann dachte ich, dass Leichtfertigkeit prinzipiell entweder durch Neugier oder Naivität entsteht. Oder durch beides. Ich setzte einen Espresso auf. Mit dem Ausatmen drehte ich meinen Kopf langsam zur Seite; eine Yogaübung, um die Nackenmuskulatur zu entspannen. Ich schloss die Augen, bis ich hören konnte, dass der Espresso fertig war. Dann schlürfte ich halbseiden an dem heißen Gebräu rum und klickte auf Zustimmen. Der Download startete. Ich schaute zu, wie sich der grüne Balken nach rechts immer weiter ausbreitete. Die anschließende Installation dauerte nur ein paar Minuten. Ich beschloss, das Spiel erst zu starten, wenn es dunkel werden würde. Auch wenn ich nicht wusste, ob Cloud Control die wirklichen, diesseitigen Zeitverhältnisse simulierte. Stattdessen schlurchte ich wieder auf den Balkon und bemerkte die Drohne der Foundation, sofern es überhaupt die Drohne der Foundation war. Ich stützte mich aufs Balkongeländer und beobachtete sie, was dazu führte, dass sie ein paar Meter zurückflog. Ich kratzte mich am Kopf. Gemächlich ging ich zurück in die Küche und griff nach MiraX2. Dann legte ich mich auf den Boden und robbte wieder bis zum Balkon. Im Schutz des Geländers stellte ich MiraX2 draußen ab und ließ die Rollos so weit runter, dass nur noch schmale Schlitze offen blieben, durch die ich die Drohne der Foundation weiterhin erkennen konnte. Ich holte meinen Laptop und setzte mich auf einen Stuhl.

Die Drohne observierte mein Apartment noch zwei weitere Stunden lang, bevor sie Richtung Südwesten wegflog. Nur noch ein bisschen Dämmerung war übrig geblieben. Der Himmel sah aus, als könnte man ihn wie einen Granatapfelkern aus dem Sonnensystem lösen. Ich wartete kurz und dann startete ich MiraX2.

Die Straßenzüge glühten, die Dächer der Wolkenkratzer leuchteten silbern, an Verkehrsknotenpunkten kumulierten sich die elektrischen Lichter, orange und rosa und überwältigend. Die Bildübertragung funktionierte problemlos und ich lenkte MiraX2 mit genügend Sicherheitsabstand über Miami hinweg. Ich hielt mich unterhalb meines Zielobjekts; so war die tiefschwarze Drohne der Foundation im Abendrot leichter zu verfolgen. Allerdings wurde sie schneller, als wir uns Downtown näherten. Es war windstill, wie in einem Solarium. Ich beschleunigte MiraX2, um die Drohne der Foundation zwischen den Wolkenkratzern nicht zu verlieren. Das war gar nicht so einfach, weil sich die Drohne farblich jetzt fast nicht mehr abhob. Sie wurde quasi zu einem Geist. In den Glasfronten spiegelten sich die Lichter des Abends, sie reflektierten und gleißten und blendeten mich. Ich konnte am Bildschirm beinahe nichts mehr sehen, also drehte ich die Kontraste in meinem Programm hoch, was aber nur bedingt half. Ich schwitzte und flog eine Rechtskurve um ein Gebäude. Plötzlich musste ich feststellen, dass die Drohne der Foundation verschwunden war. Ich fragte mich, ob das ein beabsichtigtes Manöver gewesen war, um mich abzuschütteln. Dann schob sich eine Mail des Stiftungsrates auf meinen Bildschirm: Ich wurde darüber informiert, dass ich demnächst einen neuen Kühlschrank erhalten würde. Ich klickte die Nachricht weg und versuchte, mich zwischen den Wolkenkratzern zu orientieren. Langsam flog ich die Blocks ab. Ich ließ MiraX2 mittendrin verharren und sondierte die Umgebung. Ich achtete dabei auf winzige Veränderungen. Ich zoomte. Ich variierte die Flughöhe. Irgendwann wechselte ich in den Autopiloten und holte mir gefrorenen Joghurt aus dem Eisfach, mit verficktem Mangogeschmack. Nachdem ich wieder vor dem Laptop saß und meine Schneidezähne schmerzten, zeigte mir das System an, dass der verbleibende Akku nicht ausreichen würde, um MiraX2 zurück zur Homebase zu fliegen. Ich wurde nervös. Ich zündete einen Joint an. Ich inhalierte Marihuana und aß gefrorenen Joghurt gleichzeitig. So gelangte kalte Luft in meine Lunge und das half mir, mich zu konzentrieren. Ich suchte mir einen vergleichsweise niedrigen Wolkenkratzer und landete MiraX2 behutsam auf dem Flachdach, in einem leeren Swimmingpool. Ich verglich die Aufnahmen mit der Satellitenansicht von Google Maps und notierte mir die Adresse. Ich wartete, bis es Mitternacht wurde. Dann nahm ich ein Taxi nach Downtown. Als wir ankamen, sagte ich dem Fahrer, dass er rechts ranfahren und halten solle. Ich öffnete die Tür, klappte meinen Laptop auf und verband mich mit MiraX2. Sie hatte noch genug Power, um zu starten, auch wenn die Akkuanzeige rot leuchtete. Ich steuerte sie vorsichtig aus dem Swimmingpool heraus und ließ sie an der Front des Gebäudes langsam nach unten fliegen, so dass sie direkt in meiner ausgestreckten Hand landete. Es war nicht mehr viel los auf den Straßen. Ich stellte MiraX2 neben mir auf der Sitzbank ab und ließ mich wieder zu meinem Apartment fahren. Zu Hause öffnete ich die Rollos. Die Drohne der Foundation schwebte bedrohlich über meinem Balkon. Sie wich zurück, als ich rauskam. Ich tippte in mein Phone: »Was, wenn ich gerade telepathiere?«, und hielt es der Drohne hin. Als ich hörte, dass der Zoom betätigt wurde, steckte ich mein Phone ein. Danach verschanzte ich mich, kochte Tee und las in einem Buch von Alan Landsburg, das ich in einem Antiquariat gefunden hatte. Die Klimaanlage schaltete sich ein. Ich lachte, während das Gas einsickerte. Aber es war ein wahnwitziges Lachen, das ich von mir selbst nicht kannte. Als hätte sich in mir eine Keimzelle für Geisteskrankheit entpuppt. Ich rollte einen Joint aus Johanniskraut und Dope. Das benebelte mich. Beinahe fiel ich in Ohnmacht. Dann schaltete ich per Knopfdruck die Klimaanlage aus und besorgte mir online eine Karte für das Play-off-Spiel zwischen Miami Heat und den Milwaukee Bucks. Ich zahlte 1500 Dollar dafür. Das Spiel würde am nächsten Abend in der American Airlines Arena stattfinden. Ich schrieb noch ein paar Mails, bevor ich schlafen ging.

4.

In Cloud Control legte ich meinen Avatar, der so heißen musste wie ich, folgendermaßen an: 1,93 Meter groß, rosa Locken, in den Augen Polarlichter, Thug Life-Tattoo auf dem Bauch, tiefblauer Zauberumhang, weiße Sneaker, Badmintonschläger in der Hand, Stirnband mit Hologramm-Projektor, drei Teleporte als Geheimwaffen und eine fluoreszierende schwebende Kompassqualle als Begleiter. Ich fand meinen Avatar in einem futuristischen Wohnmobil wieder. Er stand einfach vor mir und atmete. Im Interface konnte ich auf meine Gadgets zugreifen. Meine Karmacoins (0) wurden in der linken oberen Ecke angezeigt, oberhalb meines Energiebalkens (100). Nachdem ich mich mit der Steuerung vertraut gemacht hatte, verließ ich das Wohnmobil. Mein Name stand auf der Tür. Außenrum befanden sich spiegelnde Sümpfe, sterile Farne ragten daraus empor, am Horizont leuchteten spitz zulaufende Türme. Der Himmel war lila. Es gab zwei Monde. Meine Kompassqualle sondierte die Umgebung. Ich schlug mit dem Badmintonschläger ein paar Farne ab. Dann richtete ich meinen Blick nach oben und entdeckte Cirruswolken. Ich machte einen Screenshot. Offenbar reichte das als Nachweis meiner Forschungstätigkeit, weil ich sofort Karmacoins (3) erhielt. Im Interface erschien ein Text; allerdings in einer Sprache, die ich nicht kannte, geschweige denn verstand. Alligatoren kamen aus den Sümpfen gekrochen und bewegten sich langsam auf mich zu. Sonst war nur Gräserrauschen zu hören. Ich machte einen Rückwärtssalto aus dem Stand. Davon ließen sich die Alligatoren nicht beeindrucken. Sie kamen näher. Ich hob drohend meinen Badmintonschläger. Die Kompassqualle setzte sich in Bewegung, ließ ihre Tentakel über den Rücken eines Alligators streichen; er hob röchelnd den Kopf und krümmte sich dann zusammen. Kurz darauf verschwand er. Seine Halbwertzeit glich der von Kondensstreifen. Stattdessen ploppte ein Geldbündel auf. Ich ging hin und sammelte es ein. So stockte ich meinen Kontostand auf. Als keine Alligatoren mehr nachkamen, kletterte ich in mein Wohnmobil. Die Kompassqualle schwebte über dem Beifahrersitz. Mit einem Tentakel drückte sie auf den Fensterheber und ließ die Scheibe runter. Ich startete den Motor. Ein Song von Marvin Gaye kam aus den Lausprechern. Driftend durchquerte ich die Sümpfe, bis ich auf eine Palmenallee traf. Spaceshuttles flogen über mich hinweg. Ich blieb auf der Straße. In den Außenbezirken einer Siedlung fand ich ein Einkaufszentrum. Ich blieb vorsichtig und hielt Ausschau, ob irgendwelche Spielfiguren meinen echten Freunden ähnelten. Aber niemand kümmerte sich um mich. Ich kaufte einen Revolver. Danach legte ich mich auf das Dach meines Wohnmobils und beobachtete Wolken. In der Ferne glimmte eine Raumstation. Durch Screenshots bekam ich Karmacoins, sogar doppelt, wenn ich die Formationen der richtigen wissenschaftlichen Bezeichnung zuordnen konnte; das funktionierte, indem ich sie im Interface in einen interaktiven Wolkenatlas einsortierte. Die Kompassqualle schien währenddessen freischwebend zu schlafen.

Ich hatte mich eigentlich immer für PC-Games interessiert, war vom Spielen selbst aber meistens gelangweilt gewesen; und von der Zeit, die es brauchte, bis ich halbwegs kapiert hatte, was zu tun war. Deshalb hatte ich oft nur zugeschaut, wenn die anderen zockten, in heruntergekommenen Reihenhäusern, die nach kaltem Rauch und asiatischem Fastfood rochen. Ich hatte keine Lust, stundenlang durch virtuelle Welten zu streifen. Schon die Autofahrten, um zu irgendwelchen Orten zu kommen, nervten mich; die Zwischensequenzen, die man nicht überspringen konnte; die monokausalen, mechanistischen Reaktionsmuster der Charaktere; und dann die elenden Zeitsprünge, die nervenaufreibenden Déjà-vus, wenn man Missionen nicht schaffte und immer wieder von vorne starb. Mit Cloud Control ging es mir ähnlich, ich empfand das Spielen beinahe als psychische Belastung. Allerdings wollte ich wissen, ob sich tatsächlich ein Paralleluniversum entfalten würde, wie es ceramicrest angedeutet hatte. Um die dabei entstehende Verwirrung zu minimieren, löschte ich alle Facebook-Freunde, mit denen ich nichts zu tun hatte und die ich wahrscheinlich nicht mal erkennen würde, wenn ich ihnen begegnete, in einem Club oder einem Café oder sonst wo.

Am Abend nahm ich ein Taxi zur American Airlines Arena. Ich schlurchte noch ein bisschen über die Promenade, bevor ich ins Stadion ging. Überall waren Hotdogstände und Foodtrucks und Fanshops zwischen den Palmen; und ein roter Zeppelin kreiste am Himmel; und man konnte sich in den Mannschaftsfarben schminken lassen; und Erinnerungsbilder mit Doubles von Heat-Legenden machen; und Tradingcards verkaufen; und Freiwürfe werfen; und Internetverträge abschließen, mit Playoff-Rabatt; und bei Umfragen mitmachen; und für die Fernsehkameras ausrasten – ein verrückter Fan schrie hyperventilierend, mit geballten Fäusten, es würde der größte Tag in der Geschichte Amerikas werden, dabei stand es 2:2 in der Serie und kein Team konnte heute weiterkommen, weil der Modus best of seven war. In diesem Moment holte ich mein Phone raus und besuchte das dubiose Sportwettenportal, das ich bei meiner Suche über die Foundation entdeckt hatte. Mein Forumsaccount reichte aus, um mich einzuloggen. Ich überwies per PayPal 1000 Dollar und setzte alles auf einen hohen Sieg der Milwaukee Bucks. Ich erhielt eine Bestätigungsmail, in der es hieß, dass ich bei Gewinn eine Auszahlung von 3744 Dollar erhalten würde. Ein paar Meter weiter stand eine Möwe und beobachtete, wie ich nickte. Ein Double von Shaquille O’Neal setzte sich neben mich. »Alles klar bei dir?«, fragte er unverbindlich.

Wir wurden von einem Kamerateam umringt. Ich kapierte, dass es kein Double war, sondern Shaquille O’Neal selbst, der als Experte für TNT arbeitete.

»Was machst du hier?«, fragte er, während die Scheinwerfer ausgerichtet wurden. Dabei aß er Rosinen.

»Ich warte, bis das Spiel beginnt«, sagte ich grinsend.

»Mache ich auch«, antwortete er und lachte.

Eine Frau, die für den Fernsehsender arbeitete, schickte mich weg. Sie war verkabelt und schaute ständig auf ein Tablet, das sie in der Hand hielt.