Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die beiden Frankfurter Abiturienten David und Lu lernen sich auf einer Busreise nach Rom kennen. Während der 19-Jährige seinen Vater Raul und seinen blinden Onkel Ray bei deren Suche nach einer vermissten jungen Frau begleitet, ist die 17-jährige Bratschistin mit ihrem Ensemble zu einem Gastspiel auf einem renommierten Nachwuchsfestival unterwegs. Außer ihrer Leidenschaft für Superhelden, scheint es, verbindet die beiden nicht viel. David, der sich nach dem unverletzlichen X-Man Wolverine selbst Logan nennt, ist ein lässiger Träumer, der gerne unnahbare Frauen aufreißt, die Zahl Drei verklärt und Angst davor hat, auf Gullydeckeln oder zwischen Zebrastreifen einzubrechen. Lu, eine hochbegabte und ehrgeizige junge Frau mit ausgeprägtem Ordnungssinn, überlässt nichts dem Zufall und hat selbst ihre Defloration und Entjungferung minutiös geplant. Bald entdecken die beiden jenseits aller Gegensätze Gemeinsamkeiten und kommen sich im Laufe ihrer Reise immer näher. Bis sie einander ihre eigentlichen Geheimnisse offenbaren: Logan ist nur mit nach Rom gereist, um seiner Mutter nachzuspüren, die vor 13 Jahren unter rätselhaften Umständen verschwand, wogegen Lu sich aus der erdrückenden Umklammerung von M, wie sie ihre Mutter nennt, verzweifelt zu befreien versucht. Dem ersten Kuss folgen erste Missverständnisse, zumal beide in Rom unterschiedliche Wege gehen. Während Lu ein umjubelter Auftritt gelingt, erkennt Logan, dass es Menschen gibt, die nicht gefunden werden wollen. Zurück in Frankfurt, bereiten sich die beiden auf ihre mündlichen Prüfungen vor. Um das bestandene Abitur gemeinsam zu feiern, haben sie sich in einem Club verabredet, wo Lu jedoch vergebens auf Logan wartet. Den Grund erfährt sie am nächsten Morgen: Logans Onkel Ray liegt aufgrund einer vermeintlichen Medikamentenverwechslung im Krankenhaus; sein Zustand ist so ernst, dass ihn die Ärzte ins künstliche Koma versetzen mussten. Lu verbringt fortan mehr Zeit an Rays Krankenbett als daheim bei ihrer Familie, worauf sie mit ihrer Mutter in einen heftigen Streit gerät, in dessen Folge sie von daheim flieht und in einer Pension im Frankfurter Bahnhofsviertel unterkommt. Als Logan sie dort aufsucht, verbringen sie einen wunderbaren Tag miteinander, an dessen Ende Lu die letzten beiden Punkte ihrer Bucket-List abhaken kann. Ein atemberaubender, witziger und wendungsreicher Coming-of-Age-Roadtrip um das Streben nach Freiheit, das Bedürfnis nach Sicherheit und die Suche nach Nähe.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Pete Smith
wurde 1960 als Sohn einer Spanierin und eines Engländers in Soest geboren. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster studierte er Germanistik, Philosophie und Publizistik. Er schreibt Kinder- und Jugendbücher, Essays, Kurzgeschichten, Erzählungen und Romane. Für seine Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Der Autor lebt in Offenbach am Main.
Logan‘s loss
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Lus Lust
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Rays Rast
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Logans Last
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Lus List
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Edition Gegenwind
Eisiger Wind wehte ihn an. Am Eingang stand ein Kunde. Blaugetönte Brille, Bart, Anzug, schwarzer Trench. Hielt die Tür auf. Wartete. Auf wen auch immer.
„Rein oder raus?“
Der Alte am Eck wedelte mit seiner Zeitung. Gespräche verstummten. Eine Frau am Müttertisch schlug ihre Strickjacke um ihr Baby.
„Es ziehieht!“
„Tür zu!“
„Hallo?“
Mara trat hinter der Theke hervor. Da der Bärtige nicht reagierte, stellte sie ihr Tablett ab und lief auf ihn zu. Er wandte den Kopf. Kniff seine Lippen zusammen.
„Die Tür.“
„Ja?“
„Es zieht.“
Der Bärtige nickte, drehte sich aber wieder um und spähte hinaus, als juckten ihn weder Mara noch die Babys noch die schwelende Wut des Alten.
„Tüüür zu!“
„Geht’s noch?“
„Das darf doch nicht wahr sein!“
Der Alte stemmte sich hoch und knallte seine Zeitung auf den Tisch. „Da könnt ich schon wieder ausrasten!“
Die Küchentür schwang auf. Maras Kollege, doppelt so groß wie sie und dreimal so schwer, baute sich vor dem Bärtigen auf.
„Entweder Sie kommen jetzt rein, oder Sie gehen wieder! Aber machen Sie die Tür zu. Jetzt!“
Offenbar brauchte der Vogel klare Ansagen. Achselzuckend trat er ein. Während hinter ihm die Tür ins Schloss schnappte, sah er sich um. Der Alte sackte zurück auf seinen Stuhl, Maras Kollege verschwand in der Küche.
Logan wandte sich wieder den Stichworten auf seinem Arbeitsblatt zu. Verstädterung, Entfremdung, Verarmung. Krieg, Katastrophen. Darwin, Nietzsche, Freud. Bedrohung, Ohnmacht, Verfall, Weltende. Er zählte die Wörter. Drei plus zwei plus drei plus vier geteilt durch vier gleich drei. Nebenan klirrten Gläser. Offenbar hatte eines der Mädel Geburtstag. Aus einer spontanen Idee heraus schloss er das Minimikro an sein Smartphone und startete eine Aufnahme. Ray liebte Feiern. Und vor allem liebte er das Gelächter junger Frauen.
Logan sah zum Eingang. Bunte Tragetaschen, blonder Zopf und schwarzes Kostüm. Da die Tür aufschwang, jagte erneut ein Windstoß durch das Café. Servietten wirbelten auf, und die Hälfte seiner Arbeitsblätter fegte es vom Tisch. Er sprang hinterher und sammelte sie auf. Einige waren bis vor die Füße der Blondine geflattert. Als Logan sich bückte, trat sie zurück. Schwarze Pumps mit blauen Absätzen. Er nickte ihr zu, doch sie reagierte nicht. Hellblaue Knöpfe am schwarzen Blazer, darunter eine schneeweiße, kragenlose, bis oben zugeknöpfte Bluse. Er fing einen Blick des Bärtigen auf, der, seinen Trench überm Arm, am Tresen stand und ihm zusah. Das Hemd unter dem Sakko spannte, auch seine Hose war zwei Nummern zu eng.
„Der Tisch da vorn ist reserviert“, erklärte Mara den beiden und deutete zur Fensternische. „Ansonsten können Sie sich gern einen Platz aussuchen.“
Der Bärtige setzte sich in Bewegung und ließ sich in der hintersten Ecke auf ein Sofa fallen, während die Blonde zunächst unschlüssig zwischen Theke und Tür verharrte, einmal tief Luft holte und ihm langsam folgte.
Logan setzte sich wieder. Eine Weile versuchte er, die Arbeitsblätter zu ordnen, gab es aber auf. Bis gestern hatte er nicht daran gezweifelt, die fürs Abi nötigen fünf Punkte in Deutsch zu ergattern – doch jetzt ... Sein Blick streifte das zuoberst liegende Blatt. Zwei Gedichte, ein Titel. Weltende. Er las die Anfänge. Es ist ein Weinen in der Welt. Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut. Was sollte das? In seinem Rücken schrie ein Baby. Logan wandte sich um. Eine Frau wiegte ihr Kind. Weiter hinten räkelte sich der Bärtige ins Polster, während die Blonde unbeteiligt zum Fenster hinaussah. In Gedanken skizzierte Logan ihr Profil, den Schwung der Brauen, ihre mandelförmigen Augen, die doppelte Steilfalte auf ihrer Stirn. Mara zückte ihren Block, um die Bestellung der beiden entgegenzunehmen. Der Kunde nickte grinsend und schob seine blaugetönte Brille ins schüttere Haar. Da Mara sich seiner Freundin zuwandte, stand er auf, streifte sein Jackett ab und lockerte seine Krawatte. Unter seinen Achseln klafften dunkle Flecken. Die Blonde senkte den Blick. Logan hatte das Gefühl, dass sie ihn von der Seite ansah. Ihre Lippen bewegten sich. Während die beiden aufeinander einredeten, schüttelte sie wieder und wieder den Kopf, wogegen der Bärtige in einem fort nickte. Ihre Finger zupften an ihrer Kette. Wenig später brachte Mara ihre Getränke. Aperol und Prosecco. Der Bärtige fummelte eine grüne Geldbörse aus seinem Trench. Offenbar hatte er nicht vor, lange zu bleiben.
Lustlos blätterte Logan um und las den ersten Satz der nächsten Seite. Die Wiederentdeckung des Halley’schen Kometen 1910 verstärkte die düstere, aus Fortschrittsängsten gespeiste Endzeitstimmung. Er war Juri ja dankbar, dass er ihm seine Arbeitsblätter überlassen hatte, aber sein Gekritzel ging ihm zunehmend auf den Keks. Git. Was sollte das jetzt wieder heißen? Gott ist tot? Nietzsche und Freud, das hatte er verstanden, nur was hatte das mit Darwin zu tun?
Mara kam an seinen Tisch. „Magst du noch eine Schorle?“
„Gern.“
Sie nickte zum Sofa, rollte die Augen und wischte sich theatralisch über die Stirn. Logan sah ihr nach. Er hätte die Rechnung bestellen sollen. Um anderswo weiter zu lernen. An einem ruhigeren Ort.
Weltuntergang. 13 Buchstaben. Die Angst vor der Zahl 13 nannte man Triskaidekaphobie. Ein Wort mit 17 Buchstaben. Ray zufolge verhieß in Italien nicht die 13 Unglück, sondern die 17.
Der Alte faltete seine Zeitung zusammen. Da könnt ich schon wieder ausrasten! Ein Wutbürger, dessen schlabbrige Jeans von einem Cowboygürtel und Hosenträgern gehalten wurde. Logan dachte an Henry Fonda in Spiel mir das Lied vom Tod. „Wie soll ich einem Mann trauen, der noch nicht mal seiner eigenen Hose vertraut?“
Konzentrier dich! Juris Aufzeichnungen waren immerhin eine Chance auf die verfickten fünf Punkte. Er blätterte weiter. Doch kaum, dass er sich der Ästhetik des Hässlichen zuwandte, drangen erregte Stimmen herüber. Die Blonde gestikulierte mit beiden Händen, während sich der Bärtige, jetzt gar nicht mehr lässig, immerzu durchs Haar fuhr. Jäh sprang er auf, schnappte seine Sachen und ließ sich zwei Tische weiter nieder. Seine Freundin – oder seine Ex – streckte sich theatralisch. Dann federte sie hoch, packte ihre Tüten und stolzierte mit gerecktem Kinn zur Vitrine. Neugierige Blicke folgten ihr. Eine Ewigkeit begutachtete sie die Torten, Tartes und Petits Fours, legte den Kopf schief, bückte sich, wandte sich endlich um und steuerte direkt auf Logan zu.
„Ist hier noch frei?“
Er nahm den Rucksack vom Stuhl, zog den Stapel Arbeitsblätter auf seine Seite und ließ das Mikrophon verschwinden. Nachdem sie ihren Blazer abgestreift hatte, setzte sie sich über Eck, sodass sie das gesamte Café im Blick hatte. Gleich nebenan hätte sie einen Tisch für sich allein haben können. Warum er? Spielten die beiden ein Spiel? Am Ende war er der Antagonist ihrer Inszenierung.
Mara brachte seine Cranberry-Schorle. „Haben die Herrschaften noch einen Wunsch?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
„Ja, bitte, die Mokkatorte.“ Die Blonde deutete zur Vitrine. „Die lacht mich ja schon die ganze Zeit so an. Nur ...“ Sie legte die Fingerspitzen an die Schläfe. „... die Stücke sind so riesig.“
„Wenn Sie lieber die Hälfte möchten ...“
„Oh ja, das wäre wunderbar. Und einen Latte Macchiato, bitte. Flavoured. Mit Karamell.“
Sie sprach schnell, als wolle sie nun, da sie sich endlich von dem Bärtigen losgesagt hatte, keine Zeit mehr verlieren. Sich zurücklehnend, spitzte sie die Lippen und atmete hörbar aus. Dabei rollte sie eine Haarsträhne um ihren Mittelfinger. Logan schätzte sie auf Mitte 20. Ein Ring an jeder Hand. Dazu der eine an ihrer Kette. Go ahead. Make my day!
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“
Sie sah ihn an, als hätte sie ihn eben erst bemerkt. Ihre mandelförmigen Augen hatten die Farbe von Bernstein.
„Ganz und gar nicht.“
„Ich dachte nur wegen ...“ Sie deutete auf seine Arbeitsblätter.
Er sah an ihr vorbei zur Wanduhr. Minimum zwei Stunden könnte er ihr abtreten.
„Meine Freunde nennen mich Logan“, sagte er. „Aber eigentlich habe ich gar keine Freunde.“
Sie lachte so laut, dass die gerade erst wieder aufgenommene Unterhaltung am Nebentisch jäh abbrach, die Kaffeekranzfrauen herüber starrten und die Mädchen am Fenster die Köpfe zusammen steckten.
„Wie der Dacia Logan?“, fragte die Blonde.
„Wie Wolverine.“
„Ich versteh kein Wort.“
„Kennen Sie die X-Men?“ Sie schüttelte den Kopf. „Eine Comicreihe über Mutanten. Einer der Protagonisten heißt Logan. Sein Superheldenname ist Wolverine. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Selbstheilungskräfte ist er praktisch unverwundbar.“
„Beneidenswert.“
„Im Film wird er von Hugh Jackman gespielt.“
„Der aus Kate und Leopold?“ Sie reichte ihm die Hand. „Zoey“, sagte sie lächelnd. „So nennen mich nicht nur meine Freunde.“ Sie legte ihre Stirn in Falten. „Ich weiß ja nicht, wie Hugh Jackman als X-Man aussieht. Aber Leopold? Das passt gar nicht.“
Zwei Arbeiter, beide im Blaumann, betraten das Café und stellten sich an die Theke. Logan fing einen Blick des Bärtigen auf, der sich den Anschein von Gelassenheit gab, doch permanent mit dem Fuß wippte.
Die Blonde, Zoey, deutete ein weiteres Mal auf Juris Arbeitsblätter.
„Referat oder Prüfung?“
„Ein Skript“, log er.
„Sie sind Schauspieler?“
Er nickte.
„Das glaub ich jetzt nicht.“ Sie legte ihren Kopf schief und musterte ihn, wie sie Augenblicke zuvor die Törtchen begutachtet hatte. „Müsste ich Sie kennen?“
Irgendwer schlug die Klappe. Ton ab, Kamera läuft.
„Unbedingt!“
Ihr Lächeln ließ ihn im Unklaren, wie weit zu gehen sie bereit war. Sie legte den Arm über die Lehne. Unter ihrer blütenweißen Bluse zeichneten sich die Konturen eines Spitzen-BHs ab.
„Theater oder Film?“
„Wie es sich gerade ergibt.“
„Habe ich Sie vielleicht schon mal im Schauspiel gesehen?“
„Ich hoffe nicht.“
Halb amüsiert, halb irritiert sah sie ihn an.
„Wenn Sie sich nicht an mich erinnern, habe ich entweder nicht mitgespielt – gut – oder keinen bleibenden Eindruck hinterlassen – gar nicht gut.“
„Aaah ja.“
Ihre Augen weiteten sich, wobei die Spitze ihrer Zunge über die Innenseite ihre Lippe glitt. „Ist schon eine Weile her, dass ich im Theater war“, erklärte sie. „Aber seien Sie beruhigt, Ihr Gesicht hätte ich mir gemerkt.“
„Und Sie?“ Ihm gefiel das Sie, es erhöhte den Einsatz. „Was machen Sie, wenn Sie nicht einkaufen oder ...“
„... mich mit meinem Freund streite?“
„Oh, ich hatte gehofft, er sei Ihr Bruder.“
„8. Semester Jura.“ Sie verzog ihren Mund zu einem selbstironischen Grinsen. „Zurzeit bereite ich mich aufs 1. Staatsexamen vor.“
Logan beugte sich vor. „Das glaub ich jetzt nicht!“
Sie lachte auf. „Wie bitte?“
„Vorhin, als Sie hereinkamen ...“ Er zögerte.
„Ja?“
„Jura wäre wohl das Letzte, an das ich gedacht hätte.“ Er setzte seine Kennermiene auf. „Auf mich wirkten oder besser wirken Sie wie ein Model oder eine Schauspielerin, die sich in unser schnödes Nordend verirrt hat.“
Die Steilfalten auf ihrer Stirn waren kaum noch zu sehen. „Früher“, entgegnete sie, „habe ich tatsächlich gemodelt und als Hostess gejobbt, was im Grunde dasselbe ist. Inzwischen aber nicht mehr. Jetzt mache ich dasselbe wie Sie: Ich lerne Texte auswendig.“
„Mein Opa modelt auch.“
„Ihr Opa?“
„Ernsthaft. Im Moment kann er sich vor Aufträgen kaum retten. Letzte Woche war er auf einer Modenschau im Kurhaus Bad Brückenau, vorgestern hatte er ein Fotoshooting für ein Reformhaus, und am Wochenende reist er nach München, um einen Werbespot für eine Lebensversicherung zu drehen.“
„Alle Achtung.“
Logan blinzelte ihr zu. „Sind gerade Semesterferien, oder machen Sie blau?“
Sie antwortete nicht.
„Um zu shoppen?“ Er deutete auf ihre bunten Tüten.
„Auch.“ Sie hielt seinem Blick stand. „Aber vor allem um Spaß zu haben.“
„Nur dass Ihr Freund ...“
„... keinen Spaß versteht.“ Sie zog ihre Brauen hoch. „Genau das ist das Problem.“
Mara brachte ein schmales Stück Mokkatorte und einen Latte macchiato. Da sie sich abwandte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Zoey leckte den Schaum vom Rand ihres Glases und ließ ihre Blicke durchs Café schweifen. Der Bärtige starrte inzwischen verdrossen vor sich hin. Wenn er sich nicht bald entschied, hatte er es nicht besser verdient. Logan wartete, bis Zoey ihre Gabel zum Mund führte, und flüsterte kaum hörbar ihren Namen.
Überrascht sah sie auf. „Wie bitte?“
Er mimte den Ertappten. „Ich dachte nur gerade, dass Zoey ...“ Er zögerte. „Ich finde, dass Ihr Name perfekt zu Ihnen passt.“
„Finden Sie?“
„Ein Name wie eine Verheißung.“
Sie legte die Gabel aus der Hand und sah ihm ruhig in die Augen.
„Sagen Sie das bitte noch einmal?“
Das Licht fiel so, dass er sich in ihren Bernsteinaugen selbst sah. Er trank sein Glas leer und lehnte sich zurück. Er hatte Lust, sie zu küssen. Wenn sie auf seine nächste Frage mit Ja antwortete, würde er es tun.
„Haben Sie schon Pläne für die Zeit nach dem Examen?“
„Hm.“
„War das ein Ja?“
Sie beugte sich vor, legte ihre Hände auf den Tisch und schob ihre Finger ineinander. „Am liebsten würde ich erstmal ins Ausland.“
„Wohin genau?“
„Egal. Hauptsache weit weg.“
Logan legte den Kopf schief. „Wollen Sie darüber reden?“
„Nichts für ungut, aber die Rolle des Therapeuten nehme ich Ihnen nicht ab.“
„Ich deute das mal als Kompliment.“
„Nur zu.“
Einige Atemzüge lang sahen sie sich in die Augen. Alles war möglich, alles gleich gut. Eine der Mütter huschte vorüber. Dampf zischte aus der Kaffeemaschine. Gläser klirrten. Irgendwo schlug eine Tür. Jeder schien mit jedem zu reden und niemand den anderen zu verstehen. Zoey lächelte. Dann glitt ihr Blick fort, er sah es auch, der Bärtige, ihr Freund, er ging, nein, stelzte, den Trench überm Arm, Richtung Ausgang, die Angeberbrille ins Haar geschoben, Hände in den Hosentaschen. Nur wie er seinen Mund verzog, fügte sich nicht ins Bild, passte nicht zu Mister Cool, was widerte ihn denn so an, dass sie hier saß, bei ihm, oder dass er zu feige war, sie zu holen? Schon drückte er gegen die Tür, blies der Wind durchs Café, fegte ihn raus, seine Silhouette tauchte hinter der Scheibe auf, sein aufgeblähter Mantel, dann flog der Vogel fort.
„Nur zu“, wiederholte Zoey, um den Augenblick zu dehnen, wiederzubeleben, einen neuen zu beschwören.
Logan stützte den Kopf in seine Hände und betrachtete sie. Ihre Verletzlichkeit rührte ihn. So wie die Kerbe an ihrem perfekt lackierten Nagel und der Lippenstift auf ihren Zähnen.
„Wissen Sie, wie viele Namen die Angst hat?“
Sie nickte, als habe sie mit eben dieser Frage gerechnet. „Verraten Sie es mir?“
„541!“
„Und Sie kennen sie alle auswendig.“
„Die meisten.“
„Dann lassen Sie mal hören.“ Sie legte ihren Finger ans Kinn, den mit dem Ring, der hellbraune Stein gefiel ihm, er passte perfekt zu ihren Augen. „Wie wär‘s mit der Angst, Verantwortung zu übernehmen?“
„Ich wusste, dass Sie das fragen.“ Logan lächelte. „Hypegiaphobie!“
„Die Angst, Entscheidungen zu treffen?“
„Decidophobie!“
„Die Angst vor dem Glücklichsein?“
„Cherophobie!“
Sie schürzte die Lippen. „Das muss ich Ihnen jetzt wohl glauben, nicht wahr?“ Ihr Zeigefinger strich über ihre Nasenspitze. In ihren Augen blitzte es. „Gibt es auch einen Namen für die Angst, sich zu verlieben?“
Einen Moment überlegte er, ob er passen sollte. Dann zuckte er die Schultern. „Ich glaube Philophobie.“
„Philophobie“, wiederholte sie und rückte näher. „Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“
„Nur zu.“
„Was ist Ihre größte Angst?“
„Nun, das ist leicht“, antwortete er aufs Geratewohl, „die Angst, dass mir Erdnussbutter am Gaumen klebenbleibt.“
Sie lachte ungläubig. „Ich nehme mal an, auch dafür gibt es einen Namen?“
„Natürlich.“
„Und darf ich den erfahren?“
„Arachibutyrophobie.“
„Immerhin lässt sich diese Angst beherrschen.“
„Wollen wir gehen?“
Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss ihre Augen, atmete tief ein und nickte. Mara war nicht wieder aufgetaucht. Logan winkte ihrem Kollegen, zahlte und half Zoey in ihren Blazer. Auf dem Weg zum Ausgang kamen sie an der Theke vorbei. Im Vorübergehen fing er Satzfetzen des alten Blaumanns auf.
„Haben wir gekämpft. Haben wir verloren. Müssen wir wieder aufstehen, hörst du? Müssen wir lernen zu siegen!“
Nach dem wortlosen Abflug ihres Freundes brauchte es einen Plan, er las es in Zoeys Augen, die Leichtigkeit war dahin, zumindest für den Moment.
„Wenn Sie mögen, zeige ich Ihnen unser Viertel“, schlug er vor.
„Das Nordend.“
„Es sei denn ...“
„Nein, nein, Ihr Viertel kennenzulernen, fände ich schön.“
Logan betrachtete sie von der Seite, ihr hellblondes Haar, vom Wind verwirbelt, den Glitzerstein in ihrem Ohr, ihren schlanken Hals, der helle Flaum auf ihrer Haut. Hin und wieder sah sie herüber, hielt aber Abstand. Wenn er sie nicht bald auf andere Gedanken brächte, würde sie dem Bärtigen folgen – wohin auch immer.
„Da vorn“, Logan deutete voraus, „der Inder an der Ecke, sehen Sie? Sollten Sie einmal das dringende Bedürfnis haben, sich von innen grundreinigen zu wollen, vergessen Sie Heilfasten, genießen Sie das Chicken Vindaloo Chef, das wirkt wie eine Pyrolyse.“
„Pyro wie?“
„Pyrolyse. Die Selbstreinigung des Backofens unter großer Hitze.“
„So scharf?“
„Schärfer.“
Er dachte an jenen erhabenen Augenblick, da sie alle miteinander staunend in den Backofen gestarrt hatten, wo von den erbärmlich verkrusteten Käseresten ihrer Pizza nur mehr eine feine Rußschicht übrig war, und sein Vater, mit einem feuchten Lappen über die glatten Flächen wischend, verkündete, dass die Dinge manchmal erstaunlich einfach seien, worauf Ups ihn und Ray wortlos an sich gezogen hatte und die drei sich in den Armen gelegen hatten, das gutmütige Model und seine versehrten Söhne, der eine blind, der andere verzweifelt einsam.
„Wohnen Sie allein?“, hörte Logan Zoey fragen.
Abwesend schüttelte er den Kopf.
„Okay, das geht mich auch gar nichts an.“
„Nein, doch ...“ Er suchte ihren Blick. „Ich wohne in einer Art Männer-WG.“
„Schauspieler?“
„Wie man’s nimmt.“ Vor seinem geistigen Auge ließ er seine Mitbewohner der Reihe nach antreten. „Von meinem Opa habe ich Ihnen ja schon erzählt. Er liebt die Bühne und hat sich sogar mal bei Germany’s Next Topmodel beworben, aber die wollten ihn nicht. Mein Vater dagegen hasst es, im Rampenlicht zu stehen, was sich beruflich allerdings nicht immer vermeiden lässt. Bei Onkel Ray weiß man nie. An guten Tagen rockt er ein ganzes Stadion, an schlechten setzt er keinen Fuß vor die Tür. Schließlich wäre da noch Tobi, mein grenzdebiler Bruder. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was aus dem einmal wird.“
„Eine Männer-WG – wie habe ich mir das vorzustellen?“
„Nun.“ Er parodierte sie, indem er den Kopf schief legte und sie von unten her ansah. „Erster Vorteil: Keine Doppelnamen an der Klingel. Zweiter Vorteil: Niemand muss sich beim Pinkeln hinsetzen.“ Sie verzog ihr Gesicht. „Dritter Vorteil: Wir verstehen uns auch blind – zumindest mein Onkel und ich. Vierter Vorteil ...“
„Gibt es auch Nachteile?“
„Jede Menge“, antwortete Logan. „Aber wenn ich erst damit anfange, muss ich am Ende weinen.“
Unversehens kam ihm Sinan in den Sinn, der Gummibärchen immer erst den Kopf abbiss, um sicherzugehen, dass sie tot waren, bevor er sie herunterschluckte, worauf ihm Rays Spruch vom Vortag einfiel, dass alles miteinander verwoben sei, die Vergangenheit zwar vergangen, aber immerzu fortwirke, im Grunde also gegenwärtig sei. Er berührte Zoeys Finger. Sie ließ es geschehen, ließ sich nichts anmerken, ließ ihn im Unklaren, was für sie real war, was vergangen, gegenwärtig oder ohne Zukunft.
„Und die Frauen?“, fragte sie, „sind die in Ihrem Herrenclub tabu?“
„Auf keinen Fall!“
„Was ist mit Ihrer Mutter?“
„Die ist tot.“
Ein Stich durchfuhr ihn, da er fast auf einen Gullydeckel getreten wäre. Zoey merkte nichts, weil sie vorauslief, sein Herz pochte, der Bürgersteig war zu schmal, jetzt ärgerte er sich, dass sie ihre sperrigen Tüten nicht im Café deponiert hatte, von wo sie sie später hätte abholen können, hier störten sie nur, hemmten ihr Gespräch, täuschten Innigkeit vor, als ob sie die Kleider darin gemeinsam ausgesucht hätten.
Dabei ärgerte er sich weniger über sie denn über sich selbst. Wenn es nach seinem Vater ginge, müsste ihm einer nur mal kräftig den Kopf auspusten, so wie man an Ostern Eier ausblies, da sich in seinem Eierkopf zu viel Schleim festgesetzt habe, der entsorgt gehöre, um Platz zu schaffen für die wahren Märchen, schließlich sei das Leben gespickt von Heldengeschichten, die man nur einsammeln müsse, tragische, komische, kuriose Histörchen, Geschichten voller Irrungen und Verwirrungen mit einem wenn nicht immer glücklichen, so doch wahrhaftigen Ende.
An der nächsten Ecke blieb er stehen und wies auf eine Kneipe, deren Eingang mit schwarzrotgoldenen Wimpeln und Fähnchen dekoriert war.
„Der Tempel der Wolgadeutschen“, erklärte er. „Der Wirt, Kelle, war früher Türsteher und ein paar Jahre wegen Totschlags im Knast. Der Legende nach hatte er in seiner Zelle eine Erleuchtung. Seither ist er Buddhist. Ein Erleuchteter mit Hang zum deutschen Liedgut.“
Zoey lachte. „Schlager oder Volkslied?“
„Gibt es da einen Unterschied?“ Er rümpfte die Nase. „Was ich weiß, ist, dass Kelle zur heiligen Helene betet. Die steht bei ihm sogar hinter der Theke – als Pappaufsteller, den er bei Ebay ersteigert hat.“ Logan beugte sich zu ihr und senkte seine Stimme. „Sollten Sie jemals über diese Schwelle treten, schalten Sie unter allen Umständen Ihr Smartphone aus, hören Sie? Auf Klingeltöne reagiert der Erleuchtete nämlich extrem unbuddhistisch. Noch bevor Sie Hallo sagen, pflückt er Ihnen Ihr Handy vom Ohr und versenkt es in einem Bembel Äppler.“
Ihr Lachen versöhnte ihn mit sich selbst, weshalb er seinem Vater für seine heiteren Histörchen seinen tief empfundenen Dank sandte.
„In der Bar da vorn“, fuhr er, einmal in Fahrt, fort, „trifft sich donnerstags die Selbsthilfegruppe der Altachtundsechziger. Die meisten wurden von ihren antiautoritär erzogenen Kindern vor die Tür gesetzt. Ihren Frust ertränken sie Abend für Abend in fair gehandeltem Rum aus Kuba, wobei sie sich die Köpfe heiß reden, ob sie bei der Erziehung ihrer Kinder nicht vielleicht doch hätten härter durchgreifen sollen – zumindest ein bisschen.“
Zoey hörte ihm kichernd zu, aber manchmal, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, warf sie einen Blick über ihre Schulter, als wollte sie sich vergewissern, dass ihnen der Vogel nicht doch heimlich folgte.
Am Ende der Glauburgstraße bogen sie in den Oeder Weg und erreichten kurz darauf den Holzhausenpark, Logans eigentliches Ziel.
„Unser Hausgarten“, erklärte er. „Wenigstens früher einmal. Dort drüben“, er deutete zum Spielplatz, „habe ich meinen ersten Sandkuchen gegessen. Ups hat getobt.“
„Ups?“
„Mein Opa.“
„Oops wie Mein Gott, ist der ungeschickt?“
„Ups wie United Parcel Service”, erwiderte Logan, „für die hat Opa früher als Paketzusteller gearbeitet.“
Zoey hängte sich eine Tüte über die Schulter und nahm die beiden anderen in eine Hand. Ihre Arme berührten sich, sie kamen sich eindeutig näher.
„Sehen Sie diesen Mammutbaum da?“ Logan deutete auf eine schief gewachsene Buche am Rand der Wiese. „Der war Schauplatz einer weiteren Kindheitstragödie. Ich war schon fast bis zur Krone geklettert, als ich abrutschte und ...“
„Autsch.“
„Autsch ist weit untertrieben.“
Er hakte sich unter, wie er es bei Ray immer tat, und führte sie zu seiner Lieblingsbank, von wo man den gesamten Park überblickte.
„Auf diesem Acker habe ich zum allerersten Mal gegen einen Ball getreten.“
„Mit Ihrem Vater, nehme ich an?“
„Und meinem Onkel. Die beiden gegen mich. Zwei gegen einen. Groß gegen klein.“
„Sie Armer.“
Er beugte sich zu ihr. „Wenn Sie mir über den Kopf streicheln möchten ...“
Lächelnd fuhr sie ihm mit der Hand durchs Haar. Bei einem Blick auf seine Füße lachte sie laut auf.
„Das glaub ich jetzt nicht, Sie haben ja nur einen Strumpf an!“
„Ja, und?“
„Wie kann man denn seinen Socken vergessen?“
„Habe ich gar nicht“, antwortete Logan. „Ich wollte nur wissen, wie sich die Asymetrie anfühlt.“
Wind rauschte durch die Bäume und wehte die Schreie der Kinder herüber. Ihm war, als hätte er all das schon einmal erlebt: auf dieser Bank gesessen, eine Frau wie Zoey an seiner Seite, ihre Wärme, ihr Duft, ein Ring an beiden Händen und der dritte an ihrer Kette. Ihre Augen fingen das Licht, jetzt wäre der Moment, jetzt, doch wieder entglitt sie ihm, schweifte ihr Blick von ihm fort. Unweit von ihnen saß eine alte Frau im Rollstuhl und sah einem Knäuel Kinder beim Fußballspielen zu. Gerade trieb der Ball auf sie zu, ein kleines Mädchen mit allzu großen Shorts rannte ihm nach, stoppte ihn und drosch ihn nach vorn, sodass der Junge hinter ihr ins Leere grätschte.
Bald zogen sie weiter. An den Boulespielern vorbei gelangten sie zum Café, wo Zoey mit ihrem Smartphone das verspiegelte Pissoir ablichtete und sich dem Kubus zuwandte. Logan sollte unbedingt mit aufs Bild, zusammen mit einer Traube von Kindern, die für Flutschfinger anstanden, sowie ihren maulenden Eltern.
„Wenn Sie noch einen Latte macchiato mögen.“ Er deutete auf eine Tafel, die in verschnörkelten Buchstaben die Getränke anpries. „Gibt es auch laktose- und glutenfrei, wie sich das fürs gentrifizierte Nordend gehört.“
Sie lehnte ab, da ihr, sobald sie länger sitze, kalt werde, weshalb sie erneut aufbrachen, zwei Getriebene, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Er zeigte ihr das Wasserschlösschen, worauf sie um den Weiher herum schlenderten und wieder zurück in den Park, wo die Mütter allmählich ihre Kinder einfingen und sich die ersten Jogger warmliefen. 500 Meter eine Runde, er sah ihnen nach, früher hatte er es auf 25 Runden gebracht, aber das war Jahre her.
Irgendwann standen sie auf einem Sonnenfleck unweit der Holzeisenbahn, in der drei Kinder hockten und ein Lied sangen. Er erinnerte sich, früher hatten sie es oft gesungen, er, Ray und Pa, hintereinander auf einem Baumstamm hockend, die Hände auf den Schultern des Vordermanns, während sie vor und zurück wippten und sich in die Kurven legten. Seltsam, dass immer nur Männer in ihrem Zug gesessen hatten, obwohl es in ihrem Herrenclub doch häufig auch Frauen gegeben hatte, die Nachbarin, die am Sonntag einen Googlehupf vor die Tür gestellt, die Mutter des Freundes, die ihnen auf dem Spielplatz mit einem Pflaster ausgeholfen hatte, die Erzieherinnen, nicht zuletzt Rays Geliebte, von denen die ein oder andere bei ihm übernachtet und am Morgen mit den Männern gefrühstückt hatte und die gerne länger geblieben wäre, hätte Ray nur gewollt.
Nach der dritten Strophe kletterten die Kinder aus dem Zug und rannten vorbei Richtung Ausgang. Zoey sah ihnen nach. Von der Seite schoben zwei Kinderwagen heran. Die Stimmen der Mütter stahlen sich in das Lied, das Logan im Stillen noch immer sang.
„War das nicht der Laurenz?“
... woll’n wir nicht ...
„Welcher Laurenz?“
... dann nehmen wir die Lara mit.
„Der war doch mit der Ella in der Kita.“
An einem anderen Tag, wer weiß, in einem anderen Dasein, aber hier und jetzt drängte die Zeit, nahte der Abschied, er sah es ihr an, sie wollte zurück in ihr altes Leben.
„Ich bin mir nicht sicher, ob es für Sie okay wäre ...“
Er sah ihr in die Augen, während hinter ihr, über den Bäumen, die Abendsonne aufschien und den Park in goldgelbes Licht tauchte, schnulzig wie ein Lied der blonden Helene.
„... oder ob Sie womöglich an Philemaphobie leiden, Sie wissen schon.“
„Ja?“
„Der Angst, geküsst zu werden.“
Sie neigte den Kopf und blinzelte ihn an, bis sich ihre Augen weiteten, das Licht darin, ein helles Gold, elektron, sein Vater hatte ihm gezeigt, wie sich Bernstein, wenn man ihn an der Kleidung rieb, elektrostatisch auflud, Flusen anzog, Watte, sogar Taubenfedern, Wunderstein hatte er das versteinerte Harz genannt, Träne der Sonne, Mas Herz, ihr Talisman, aber Logan hatte sich weder für elektrostatische Phänomene noch für Sonnentränen oder Talismane interessiert, allenfalls für die im Wunderstein eingeschlossenen Flügel, Flügel einer Trauermücke, wie sein Vater behauptete, doch das nahm er ihm nicht ab, weil Mücken nicht weinten.
„Du bist irgendwie schräg“, flüsterte Zoey, legte ihre Finger an seine Wange und küsste ihn genauso, wie er es sich ausgemalt hatte. Da sie sich von ihm löste, schimmerten ihre Augen, fragend sah er sie an, aber sie schüttelte nur stumm den Kopf, wandte sich ab und ging.
Vorm Aposto drängte sich eine Gruppe Raucher unter einen Schirm. Unweit von ihnen beugte sich ein Greis mit Cord-Weste und umgeschlagenen Jeans über einen Mülleimer, fuhr einen Greifarm aus und fischte eine mit gelber Soße besudelte Plastikflasche heraus. Hinter ihm kettete eine Frau ihr Fahrrad ans Geländer. Als der Alte sich umdrehte, traf ihn ihr angewiderter Blick.
„Wat guckste so?“, krächzte er. „Uns ging es auch lieber jut, kannste mir glauben!“
Logan sah auf die Uhr. Fünf Minuten bis zur Werbung. Er lief erneut um die Litfaßsäule herum und stutzte beim Anblick zwei nebeneinander hängender Plakate. Abi. Weltende. Echt? Spöttisch grinste die asiatische Geigerin auf ihn herab. Abo jetzt! Daneben wellte sich die Abbildung einer versteinerten Schildkröte. Logan schnaufte. Welterbe Grube Messel. Er lehnte sich gegen die Säule, hielt die Luft an und zählte die Tage, bis der Wahnsinn endlich vorbei war. Die schriftlichen Klausuren fanden in zwei Wochen statt. Mathe, Deutsch, PoWi. Vor den Prüfungen in Sport dann fünf Wochen Party. Ob er statt Skaten doch besser Kanu hätte wählen sollen? 26 Minuten für die 10 Kilometer bedeutete zehn Punkte. Beim Dreikampf sollte nichts schiefgehen. Langsamer als 12,5 Sekunden war er die 100 Meter nie gelaufen. Und die fünfeinhalb Meter beim Weitsprung brächten mindestens 14 Punkte.
Der Blick einer Frau streifte ihn. Blondgewelltes Haar, orange glänzende Lippen, blutrote Fingernägel. Als er sie anlächelte, sah sie weg. Wenige Momente später drehte sie sich zu ihrer Freundin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die streckte sich und tat so, als ob sie nach jemandem Ausschau hielte. Unauffällig ging anders.
Hinter den beiden tauchte ein glatzköpfiger Rollstuhlfahrer auf, Hand am Steuerpult, Smartphone am Ohr. Er kurvte um die Wartenden herum, zwang einen Skater, ihm auszuweichen, und hielt direkt auf Logan zu. „Geld, Geduld“, erklärte er und sah Logan in die Augen, „leg die Worte übereinander und schau mal, was nicht passt. Das bist du, DU, weißte, wie ich mein?“
Ein dumpfes Grollen kündete die nächste U-Bahn an. Logan begann zu zählen. Bei 81 kamen die ersten Fahrgäste die Treppe herauf. Drei hoch drei. Ein Milchbubi sah sich suchend um, eine Gruppe schnatternder Girlies verschwand im Kino. Ray ließ sich wie immer Zeit. Von der 163. Sekunde an vernahm Logan das bodenständige Schaben seines Stocks. Kurz darauf tauchte sein Onkel auf, erst der Haarknoten, dann seine dunkle Brille, schließlich sein anthrazitfarbenes Jackett. Ray schnitt eine Grimasse, hob den Kopf und schnüffelte. Meine Nase sieht dich! Mit ausgestreckten Armen steuerte er auf Logan zu. Seit ihrem Spanien-Trip bestand er auf einer Umarmung. Unvermittelt trat er zurück, schob seine Brille ins Haar und kniff die Augen zusammen.
„Sag mal, ist das da Lippenstift an deinem Ohr?“
Logan grinste. „Kann schon sein.“
„Ich dachte, du wolltest lernen.“
„Wollte ich auch.“
„Und dann kam ...“
„Zoey.“
„Welch verheißungsvoller Name!“
Ray faltete seinen Stock zusammen, steckte ihn in die Innentasche seines kragenlosen Jacketts und tastete nach Logans Ellbogen. Im Gänsemarsch schlängelten sie sich an den Grüppchen der Wartenden vorbei zum Eingang.
„Drei Schritte zur Treppe“, raunte Logan, als sie den Vorraum betraten.
Ray drückte seinen Arm. „Geländer linker Hand, zehn Stufen, Absatz, Schwenk links, zwölf Stufen, Ankunft. Sag mal, ist heute Kinotag?“
Obgleich alle Kassen besetzt waren, staute sich die Menge bis zum Aufgang. Ray schnaufte. Logan bahnte ihnen einen Weg bis zur Einlasskontrolle, wo sie sich in die Schlange einreihten. Während sie langsam vorrückten, checkte er seinen Messenger. Eine Tina wollte wissen, ob er sich an sie erinnere, aber da er sich weder ihres Namens noch des lächelnden Mädchens auf dem angehängten Foto entsann, löschte er ihre Nachricht, ohne zu antworten. Sultan fragte, ob er einen Job für ihn wüsste. Logan schrieb Dippemess und Erschrecker in der Geisterbahn, worauf Sultan postwendend mit einem Mittelfinger-Smiley antwortete. Yannick schlug vor, sich am Sonntag im Magic zu treffen. Warum nicht.
Ray stupste ihn an. „Im Ernst, wie kommst du voran?“
„Geht so.“
„Wenn ich dir helfen kann ...“
„Kannst du.“
„Wobei?“
„PoWi.“
„Thema?“
„Freiheit und Sicherheit in Zeiten des globalen Terrors.“
„Was genau brauchst du?“
„Darf, sollte, muss der Staat unsere Freiheit einschränken, um die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten.“
„Keywords?“
„Ausnahmezustand, Vorratsdatenspeicherung, Abbau der Menschen- und Bürgerrechte, Verschärfung der Asylgesetze, Einschränkung der Pressefreiheit ...“
„Hab’s kapiert.“
Der Hänfling am Einlass scannte den Barcode und reichte ihnen zwei 3 D-Brillen. Logan gab ihm eine zurück. Augenzwinkernd deutete er auf Rays Ray Ban.
„Integrierte Interferenzfilter, vakuumbeschichtet und trennscharf.“
Der Hänfling glotzte blöd und winkte sie durch.
„Böser Junge“, raunte Ray.
„Böse Welt.“
An der Popcorntheke mussten sie erneut warten. Rays Hand verschwand in der Hosentasche und kam mit einem zerknüllten Zwanziger zum Vorschein.
„Für mich das Übliche. Den Rest darfst du behalten. Und wegen der Karten fühl dich gedrückt.“
Auf einem Sofa beschnippten sich zwei Jungs mit Popcorn. Unweit von ihnen kuschelte ein Pärchen. Blicke streiften sie, glitten aber gleich wieder fort.
„Wie ist der Plan?“, fragte Ray.
„Was meinst du?“
„Wann ist die Prüfung?“
„Bis wann könntest du denn liefern?“
„Gib mir fünf Tage.“
„Klingt gut.“
Während das Mädchen hinter der Theke einen Eimer mit Popcorn füllte und eine Portion Nachos vorbereitete, wanderte ihr Blick immer wieder zu Ray. Logan meinte, ihre Stimme zu hören – Müsste ich Sie kennen? – und die Antwort seines Onkels – Unbedingt! Mit seiner hautengen, schwarzen Stretchjeans und seinem schicken Sakko, Beatle Style, legte es Ray geradezu darauf an. Zu schweigen von seiner Matrix-Brille und seinem Man-Bun, angeblich band er sich die Haare bloß hoch, um größer zu wirken, doch statt Schuhen mit Absätzen trug er lieber Converse.
Logan drückte ihm die Nachos in die Hand und zog ihn sanft weiter. Auf der Rolltreppe hörte er Ray seufzen. „Oh, wie hab ich euch vermisst!“ Mit den Zähnen fischte er einen Chip aus der Schale und ließ ihn knacken.
„Gibt‘s was Neues von Tanja Schubert?“, fragte Logan.
Ray schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich.“
„Hast du inzwischen ihre Kommilitonin erreicht?“
„Hab ich.“
„Und?“
„Die hat sie zuletzt auf dem Flohmarkt gesehen, aber nicht angesprochen, weil Tanja angeblich gerade mit einem Händler feilschte und sie sie nicht habe stören wollen.“
„Um was ging es?“
„Um eine Handtasche.“
„Und was ist mit Tanjas Freundin – wie hieß sie nochmal?“
„Hellen.“ Ray schüttelte den Kopf. „Hat Wort für Wort wiederholt, was im Ermittlungsprotokoll steht: dass Tanja sie an besagtem Tag vom Zug aus angerufen habe, weil sie sich spontan dazu entschlossen hatte, bei ihr zu übernachten, und dass sie fröhlich geklungen habe, beinahe heiter. Mitten im Gespräch, du weißt, sei die Verbindung abgebrochen. Das letzte Wort, das sie verstand, war …“
„Rosebud?“
„So ähnlich.“
„Fuck.“
„Korrekt.“
„Und was sagt Pa dazu?“
„Was glaubst du?“
„Wer aufgibt, hat schon verloren.“
Als sie den Kinosaal betraten, flimmerte gerade der Abspann der Eis-Werbung über die Leinwand. Kaum, dass sie ins schummerige Licht traten, schossen überall im Saal Hände in die Höhe. Offenbar hielt man sie für die Eismänner.
„Was sehen wir uns eigentlich an?“, fragte Ray scheinheilig, nachdem sie es sich in ihrem Love-Chair bequem gemacht hatten.
„Schweinsohrhasen.“
„Im Ernst.“
„Den neuen Woody Allen.“
„Ich dachte, der wär tot.“
„Wonach stünde dir denn der Sinn, Onkel?“
„Nach niveauvoller Unterhaltung, du kennst mich, mit intellektuellem Anspruch, ein wenig Erotik und einer Prise Humor.“
„Mark Wahlberg versus Kristen Stewart?“
„Komm schon.“
„Vin meets Milla?“
„Weißt du, warum ich dich so lieb hab?“
„Sag schon – ich hör‘s immer wieder gern.“
Die ersten drei Teile von Resident Evil hatte Logan in der längsten Nacht seines Lebens gesehen, Rays Gebinde zum dreizehnten Geburtstag seines Neffen. Sein Vater war wieder einmal unterwegs gewesen, in irgendeinem Kaff an der Ostsee, und Tobi schlief bei Opa und Oma, die immer nur einen ihrer Enkel ertrug, aber nie beide auf einmal. Der Nierentisch im Wohnzimmer quoll über von Bierflaschen, Coladosen, Pizza und Popcorn, während er neben Ray auf dem Sofa kauerte und Alice dabei zusah, wie sie eine Schlacht nach der anderen austrug: gegen das T-Virus, gegen Spence, gegen Nemesis, gegen Zombies, gegen nackte Ratten, gegen ein Heer von Umbrella-Söldnern, gegen die Red Queen und gegen Dr. Isaac, den ersten Mutanten in Logans dreizehnjährigem Leben. Als Mr. Blue musste Logan ständig die Fragen von Mr. Black beantworten, der sich allerdings ausschließlich für Alice‘ wechselnde Outfits interessierte, ob sie Hose, Rock oder Kleid trug, Jacke oder Korsage, Lack oder Leder, Stiefel oder Strapse, wie sie ihre Waffen schwang und an welchen Körperstellen sie sie versteckte, Alice, stets eine Hand am Abzug, atemberaubend, unverwundbar, unfassbar schnell, nein, es war nicht bloß seine bis dahin längste Nacht gewesen, sondern die schönste, aufregendste, erstaunlichste und spektakulärste seiner endenden Kindheit.
Er sah auf. Um sie herum setzten die Zuschauer ihre 3 D-Brillen auf. Jetzt war Ray nur einer von vielen.
„Wie sieht sie denn aus?“, raunte sein Onkel.
„Wen meinst du?“
„Zoey.“
„Wie die junge Milla“, antwortete Logan, denn das wollte Ray hören.
Auf der Leinwand stürzten Häuser ein, eine Straße riss der Länge nach auf, ein Fußballfeld brach ein und versank in einem gigantischen Krater. Logan dachte an Weltende, Pathos und Ekstase und an Zoey, eingeklemmt in der Tür, das Flackern in ihren Augen, an ihren Blick, da er sie küsste, das Begehren darin und die Angst, das Falsche zu tun. Vermutlich war sie wieder bei ihrem Lover, dem schwitzigen Spaßverderber, mit dem sie sich an normalen Tagen ihre Tortenstückchen teilte und womöglich sogar die Joghurts im Kühlschrank.
Drei rußverschmierte Gesichter tauchten auf der Leinwand auf, angstweite Augen, Vater, Mutter, Kind, starrten entsetzt auf die Ruinen ihrer einstigen Heimat. Das Bild rief eine weitere Erinnerung hervor, eine Szene, die sie neulich im Fernsehen gesehen hatten, ein zerbombter Krankenhauskeller in einer zerstörten Stadt, ein schreiender Junge, seine weinende Mutter und hinter ihnen das müde Antlitz eines Arztes. Ups war kopfschüttelnd aus dem Zimmer geschlurft, während er selbst immerfort auf den mit Tüchern bandagierten Stumpf des Kindes hatte starren müssen, wo früher einmal eine Hand gewesen war. Der Junge auf der Leinwand, kaum älter als der im Keller, würde sich wehren, man sah es an seinem Blick, sich stellen, wem oder was auch immer, ein Held sein, die Menschheit retten, den Siegern gehörte die Zukunft.
Kurz darauf begann der Hauptfilm. Logan schloss die Augen. Seit Ray auf die Audiodeskription verzichtete, tauchten sie zu Beginn jeden Films gemeinsam in dessen Klangwelten ein. Ein metallischer Sound, elektronisch verzerrt, düster und beklemmend, blähte sich auf, ebbte ab, hallte nach. Schlagartig Stille. Logan wappnete sich, doch die Detonation blieb aus. Stattdessen vernahm er ein unstetes Knispeln und Knistern, das schon bald wieder verstummte. Erneut setzte Musik ein, diesmal unterlegt mit harten Beats, ein wummernder Techno, der jäh abbrach. Eine Tür schlug zu. Auf den metallischen Hall folgte bedrohliche Stille. Logan assoziierte ein U-Boot oder einen Bunker. Schritte näherten sich. Jemand stürzte eine Treppe herauf. Bist du dir sicher? Eine junge Frau oder ein Mädchen. Verängstigt, skeptisch, kurz davor, die Fassung zu verlieren. Mach dir keine … Die Antwort des Mannes ging in einem ohrenbetäubenden Zischen und Brodeln unter. Leitungen, Rohre, Tanks. Wieder Schritte. Schneller als vorhin. Von irgendwoher hob ein Brausen an, schwoll über sich hinaus, die panische Stimme der jungen Frau, ein jäher Schrei …
Logan riss die Augen auf. Rays Gesicht war ganz nah.
„My name is Alice”, flüsterte er.
„Fuck!” Logan würgte ihn. Dann senkte er seine Stimme auf Albert-Wesker-Niveau. „Alice – how nice to see you again.”
Die Story war dünn, doch Milla schlug sich wie stets tapfer, metzelte Hunderte Zombies nieder und rettete sich zum Ende hin ein schmales Tortenstück ihrer ehemals heilen Welt. Ray löcherte ihn den gesamten Film lang mit Fragen, weshalb er Millas aufregende Outfits noch ausschmückte, ihre tümpelgrünen Augen besang, ihr seidiges Haar, ihren formvollendeten, anmutigen, beispiellos ordinären Mund. Dass ihr Bauch noch immer so flach, ihre Beine so glatt und ihre Muskeln derart austrainiert waren, dass sie den aufstrebenden Jungdarstellerinnen in nichts nachstand, entzückte Ray, der beim Abspann schwärmte, dass sich Millas Schönheit im Alter sogar vervollkommne, ein Urteil, das im Grunde auf ihn selbst gemünzt war, hielt ihn Milla Jovovich, im selben Jahr wie Ray geboren, doch auf ewig jung.
„Wie sieht’s aus?“, fragte sein Onkel, da sie dem Strom der Zuschauer nach draußen folgten. „Wollen wir noch irgendwo ein Bierchen zischen?“
Logan zögerte.
„Ach, komm schon!“ Ray schob seine Sonnenbrille ins Haar und gewährte ihm einen Blick in seine milchigen Augen. „Lass dich nicht so feiern.“
„Wenn’s bei einem bleibt.“
„Langweiler!“
Logan sehnte sich nach Schlaf, gab sich aber geschlagen.
Ray legte ihm die Hand auf die Schulter. Er liebte Spaziergänge, bei denen er seine Stadt mit ihrer beider Sinne neu erfahre, was ihm angeblich dabei half, seine ergrauenden Erinnerungen in frische Farben zu tunken. Also malte Logan, während sie über den Oeder Weg schlenderten, die Welt möglichst bunt, die filigranen Verführungen im Petit Boudoir ebenso wie die Raritäten im Schaufenster des British Food Shop und die Köstlichkeiten auf der Speisekarte des Fischhauses, das sein mehliertes Rotzungenfilet anpries.
Ihr erstes Pils zischten sie im Bully, das zweite im BrauStil, wo sich Logan von Ray zu einem Absacker im Logenhaus überreden ließ. Dort dauerte es wie erwartet nicht lange, bis sein Onkel in einem Sumpf aus Weltschmerz und Selbstmitleid versank.
„Sieh dich doch um, Kumpel“, schnaufte er. „Unsere Wohlfühlorte – wo sind sie hin?“
Logan hörte nur mit halbem Ohr hin, da Ray wieder von den buttrig duftenden Croissants im Haus des Schmerzes, einer vor vielen Jahren geschlossenen provenzalischen Backstube erzählte, vom Special T’s, dessen Pleite ihm noch immer nachhing, weil er nie wieder einen Aufstrich gekostet habe, der es nur ansatzweise mit der T-schen Chili-Marmelade aufnehmen konnte, und selbstredend vom Zauber des 21. Jahrhunderts, einer von Ray verklärten Kneipe, in der er früher Stammgast gewesen war, die dem neuen Jahrhundert aber kaum mehr als ein Dutzend Jahre abgetrotzt hatte.
„Du weißt, wem wir das alles verdanken?“ Rays Zunge wurde immer schwerer.
„Der globalen Hegemonie des Neoliberalismus?“
„You name it!“
Ray kippte seinen London Dry Gin und hob die Hand, doch Logan machte dem Wirt ein Zeichen, dass sein Onkel genug hatte.
„Den verfickten Marktfundamentalisten und ihren verfickten Politsklaven“, brummte Ray. „Die Eier sollte man euch rausschneiden aus euren verschrumpelten Säcken!“
„Wie viel Geld hast du noch?“
„Wie viel brauchst du denn, Kumpel?“
„Ich denke mal, alles.“
Ray wühlte in seiner Hosentasche und förderte einen Zwanziger, zwei Fünfer und einen Haufen Münzen zutage. Logan hatte gehofft, mit dem Taxi heimzufahren, doch das hatte sich damit erledigt. Er legte sein letztes Geld obendrauf und winkte dem Salonmeister, der die Scheine glättete, die Münzen ungezählt in seine Geldbörse schaufelte und ihnen einen schönen Abend wünschte.
Die Nacht war frostig und ihr Viertel menschenleer. Der beißende Wind trieb sie vor sich her, wobei Ray sich angesichts seines Zustands erstaunlich aufrecht hielt.
Am Aufzug klebte ein Zettel.
Aufgrund einer Hausgeburt könnte es an einem der nächsten Tage unerwartet laut werden. Sollten Sie Schreie der werdenden Mutter hören, sehen Sie bitte davon ab, die Polizei zu verständigen. Wir haben alles im Griff. Danke!
„Aufgeben ist keine Option“, erklärte Ray. „Keine Option, hörst du?“
Logan schwieg betroffen.
„Sie lebt.“ Ray schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. „Ich kann sie fühlen. Da drin.“
Arm in Arm schlichen sie durch den schummrig beleuchteten Flur zu ihrer Wohnung. Leise schloss Logan auf und wünschte Ray eine gute Nacht. Der umarmte ihn ungestüm.
„Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen, hörst du?“
„Tun wir nicht.“
„Das darfst du niemals vergessen.“ Sein Onkel ließ ihn endlich los. „Schlaf gut, Kumpel. Ich liebe dich. Du hast ein großes Herz.“
„Schlaf du auch gut.“
Später wälzte Logan sich von einer Seite auf die andere, ohne einschlafen zu können. Tobi fiepte wie ein Welpe. Mit dem ersten Licht des Morgens glitt er in einen dämmrigen Schlaf. Durch die düsteren Kulissen seiner Wachträume kämpften sich ausschließlich Frauen. Ich kann sie fühlen. Logan schrak hoch. Sie lebt. In den Schatten hörte er Ray mit seinem Bruder flüstern. Etwas geschah. Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen. Was war so besonders an Tanja Schubert?
„Nochmal von vorn.“ Logan nahm den brutzelnden Speck aus der Pfanne und ließ das Fett abtropfen. „Hab ich dich richtig verstanden, du willst ...“
„... nach Rom, wieso auch nicht, liegt schließlich nahe.“ Sein Vater sah ihn nicht an. „Und wenn wir schon da sind, könnten wir ein paar Tage dranhängen, schließlich ist es Anfang Mai in Rom am schönsten.“
„Sagt wer?“
„Sage ich.“
Logan goss die verrührten Eier in die Pfanne. „Und woher willst du das wissen?“
„Weil ich Anfang Mai schon einmal dort war.“
„Hast du uns nie erzählt.“
Ray hob die Hand. „Also, ich bin dabei.“
„Ich auch“, echote Tobi, der soeben herein schlurfte, um den Hals ein Handtuch, als käme er vom Boxen.
Sein Vater senkte den Daumen. „Negativ.“
„Aber ...“
„Vergiss es!“
„Aber ich ...“
„Ende der Diskussion!“
Logan schaltete die Dunstabzugshaube ab und nahm die Pfanne vom Herd. „Wann war denn das?“
„Was meinst du?“
„Wovon reden wir denn die ganze Zeit?“
„Du meinst Rom?“ Sein Vater schnitt eine Laugenstange auf und legte sie Ray auf den Teller. „Ach, das ist schon eine Ewigkeit her.“
„So lange auch wieder nicht“, bemerkte Ray, tastete nach der Butter und fing an, die eine Hälfte seiner Laugenstange zu beschmieren.
„Guten Morgen allerseits!“
Logan wandte sich um. Ups strahlte. Sein Haar glänzte feucht, und unter seinem blaurotweiß gestreiften Bademantel lugte ein Zipfel jener Boxershorts hervor, die er neulich auf der Art Silver Ager präsentiert hatte.
„Irgendwer Kaffee?“
„Gerne.“
„Mir auch.“
Ray schob sich die Brille ins Haar, drehte sich zur Seite und sah so aus, als blickte er seinem Bruder direkt in die Augen.
„Der Padre, weißt du noch, Raul, ich dachte, der lässt dich nie wieder los.“
Logans Vater hielt seine Henkeltasse hoch. „Mir auch. Aber nur bis zur Hälfte.“
„Antonia, Antonia …“ Ray wedelte mit den Händen. „Hausmann!“, platzte es aus ihm heraus. „Antonia Hausmann, nicht wahr? Oh Gott, ohne das Foto …“
„War’s das jetzt?“, fiel ihm Logans Vater ins Wort. „Wir haben verdammt nochmal Wichtigeres zu bereden, findest du nicht?“
Logan hielt die Luft an. In die jähe Stille drang das leise Geläut der Epiphaniaskirche. Sein Großvater stellte die Kaffeekanne ab, während sich Tobi behutsam hinsetzte.
Ray rückte seine Brille zurecht. „Wärst du so lieb?“ Er schob seinen Teller in die Mitte.
Logan tat ihm auf, stellte die Pfanne auf einen Untersetzer und nahm ihm gegenüber Platz. Ray tastete nach seiner Gabel und hob den Kopf.
„Speck auf elf Uhr“, half ihm sein Bruder.
Als hätte es ihren Disput nie gegeben, spießte Ray einen Streifen auf und probierte mit verzücktem Ausdruck das Ei.
„Exquisit, Kumpel! Mein allergrößtes Lob! Mit Schnittlauch mag ich‘s am liebsten.“
Unterdessen tunkte Logans Vater wortlos den Honiglöffel ins Glas, träufelte Robinien-Honig auf sein Croissant und biss eine Ecke davon ab. Kauend bestrich er die zweite Hälfte von Rays Laugenstange mit Butter.
„Was war denn mit diesem Padre?“ Tobi liebte es, Steine in Minenfelder zu werfen.
„Nicht so wichtig“, erwiderte Ray.
„Aber ...“
„Ein Insider unter Brüdern.“
„Und wer ist Antonia Hausmann?“
„Niemand.“ Ray schmatzte übertrieben. „Ein hölzernes Kreuz auf einem Friedhof.“
„Aber das Foto ...“
„Ach, vergiss das.“ Logans Onkel rümpfte die Nase. „Das Portraitfoto einer Nonne, schön, jung und viel zu früh verstorben.“
Tobi ließ nicht locker. „Was wolltet ihr denn an ihrem Grab?“
„Nichts.“
„Aber du hast ...“
„Mehr gibt es nicht zu erzählen.“
„Und wieso ...?“
„Lass es gut sein“, mischte sich sein Vater ein. „Ray hat recht. Mehr gibt es nicht zu erzählen.“
Umständlich stocherte er mit der Gabel in der Pfanne herum. Da es ihm nicht gelang, einen Speckstreifen aufzuspießen, pickte er ihn entgegen seinen üblichen Gepflogenheiten mit den Fingern heraus und stopfte ihn sich in den Mund.
„Bist du dabei?“, wandte Ray sich an Logan.
„Ihr fahrt wann?“
„Wie gesagt, Anfang Mai.“
„Die Präsentationsprüfungen sind erst einen Monat später.“
„Ist das ein Go?“
„Meinetwegen.“
Ray tätschelte das Bein seines Bruders. „Fratello, quanto costa il viaggio?“
„38 Euro mit dem Fernbus und 98 mit dem Flieger.“ Logans Vater schien die Frage erwartet zu haben. „Einfach, versteht sich.“
„Und die Bahn?“
„Deutlich teurer.“
„Wie wär’s?“ Ray grinste übermütig. „Wir könnten uns eine dieser Karossen mieten, ihr wisst schon, mit Spur- und Abstandassistenten, sodass ich mal wieder ans Steuer könnte.“
Logans Großvater ließ ein verächtliches Schnauben hören.
„Cosa c’è, papà?”, fragte Ray mit der typisch wegwerfenden Geste eines Italieners.
„Das weißt du sehr wohl“, erwiderte Ups, ohne aufzusehen.
„Ein Silberrücken vergisst nie und verzeiht nie, hab ich recht?“ Ray schürzte die Lippen. „Dabei war ich damals jung und leichtsinnig.“
„Jung bist du jedenfalls nicht mehr.“
Ray faltete seine Hände und beugte sein Haupt. „Vater unser, der du sitzest am Kopfende unserer Tafel, geheiligt werde dein, oops, Name, dein Wille geschehe, wie im Nordend, so auch in Rom, dein Croissant gib mir heut, und vergib mir meine Schuld, wie auch ich vergebe meinem Bruder gern, denn reich ist der Scheich und bleich der Leich seiner Lenden, Amen.“
Tobi lachte, wogegen Ups nur müde den Kopf schüttelte. „Um dich täte es mir nicht leid“, schnaufte er. „Aber bitte sorg dafür, dass dein Bruder und sein Sohn wieder heil zurückkehren.“
Ray schnüffelte wie Hannibal Lecter. „Wie, du kommst nicht mit?“
„Nee, fahrt ihr mal lieber alleine.“
„Und wer“, Ray setzte seine wenig überzeugende Unschuldsmiene auf, „passt dann auf mich auf?“
„Da werdet ihr euch sicher einig.“
„Sag schon, womit habe ich dich verärgert, Paps?“
„Ausnahmsweise geht es gar nicht um dich, mein Lieber“, erwiderte Ups. „Anfang Mai habe einen Termin.“
„Ein Date?“
„Anlässlich der Secret Fashion Show in München ...“
„Hört, hört!“
„... findet im Kurhaus von Bad Wörishofen eine große Trachten-Gala statt.“
„Nicht dein Ernst.“ Ray kicherte. „Unser alter Herr in Krachledernen – das fehlt uns noch in unserer Sammlung.“
„Ich dachte, du wolltest kürzer treten?“, wandte Logans Vater ein.
„Mir geht es gut.“
„Woher willst du das wissen?“ Jetzt legte Ray es drauf an.
Ups würdigte ihn keines Blickes. „Mir geht es gut, weil ich weiß, wie es ist, wenn es mir schlecht geht.“
Tobi schnippte mit dem Finger. „Und was ist mit mir?“
„Was soll mit dir sein?“
„Wenn ihr alle weg seid ... was soll ich dann machen?“
„Die Betten“, schlug Ray vor.
„Sauber“, fügte Logan hinzu.
„Uns hoffentlich keine Sorgen“, bemerkte Ups.
„Sehr gut, dann sind wir also zu dritt“, erklärte Logans Vater und schloss die Augen. „Wartet mal, drei mal 38 mal zwei … nach Adam Riese macht das hin und zurück 228 Euro für den Bus, dazu kommen vier, fünf Nächte im Dreibettzimmer inklusive Verpflegung – grob geschätzt müssen wir von 800, 900 Euro ausgehen. Kriegen wir das hin?“
Logan suchte seinen Blick. „900 Euro?“
„Wenn wir die Spesen anpassen.“ Ray grinste.
Logans Vater pickte einen weiteren Streifen Speck aus der Pfanne und schob ihn sich in den Mund. „Ich rechne das mal durch und sag euch Bescheid.“
„Und diese Frau ist Buchrestauratorin?“, fragte Logan.
„Sagt mein Informant. Ihre Mutter …“
„... mit der du natürlich ein Erfolgshonorar ausgehandelt hast.“
„Stopp!“ Sein Vater warf ihm einen strengen Blick zu. „Erzähl mir nicht, wie ich meinen Job machen soll!“
Logan hielt seinem Blick stand. „Ich versteh’s einfach nicht.“
„Was gibt es da nicht zu verstehen?“, ereiferte sich sein Vater. „Selbst die Mutter hält es für denkbar, dass ihre Tochter inzwischen in Rom lebt.“
„Für denkbar?“
Ray hob die Hand. „Was ist los, Kumpel?“
Logan beachtete ihn nicht. „Wenn du mich fragst ...“
„Tu ich aber nicht“, unterbrach ihn sein Vater.
„... sind die Hinweise deines Informanten ziemlich dürftig.“ Logan legte sein Brötchen zurück auf den Teller. „Selbe Größe, selbes Alter, richtig?“
„Außerdem mag sie Bücher.“
„Und liebt sicher auch Katzen.“
„Sag mal ...“
„Ich will auch mit“, fing Tobi wieder an.
„Du musst zur Schule“, erwiderte sein Vater, sanfter als vorhin.
„Aber der Mai hat doch jede Menge Feiertage!“
„Genau genommen zwei.“ Sein Vater lehnte sich zurück. Der Themenwechsel kam ihm gelegen. „1. Mai und Christi Himmelfahrt. Der eine ist dieses Jahr zu früh und der andere später als sonst.“
„Du willst mich bloß nicht dabei haben!“
„Gewiss.“ Sein Vater wuschelte ihm durchs Haar. „Deinen Bruder habe ich sowieso viel lieber als dich, nicht wahr?“
„Das kommt mir bekannt vor“, warf Ups ein.
Ray hob den Kopf. „Nicht schon wieder.“
„Hast du auch“, murmelte Tobi.
Logan räusperte sich. „Was, wenn du dich irrst?“
„Und wenn schon!“ Sein Vater gähnte. „Dann müssten wir eben die Spesen abschreiben, na und? Wenigstens haben wir ein paar schöne Tage in Rom verbracht. Das ist es doch wert, nicht wahr?“
„Seh ich genauso“, bemerkte Ray.
„Hast du nicht vorige Woche erst gesagt, wir müssten – Zitat – unsere paar Kröten zusammenhalten?“
„Hab ich wirklich Kröten gesagt?“ Sein Vater verzog den Mund. „Im Ernst. Große Sprünge können wir uns nicht erlauben, das ist wahr, doch das hier ...“ Er nahm die Kaffeekanne vom Tisch. „Sonst noch jemand?“ Ray hob die Hand. „Mein Herz sagt mir, dass mein Informant richtig liegt.“
„Seit wann vertraust du denn deinem Herzen?“ Logan sah zu Ray, offenbar hatten die beiden sich abgesprochen. „Verrätst du mir jetzt endlich, worum es euch eigentlich geht?“
„Worauf willst du hinaus?“
„Hat dein Informant nicht gesagt, dass die Frau in Rom glatte schwarze Haare hat?“
„Schon mal was von Perücken gehört?“
„Und grüne Augen?“
