Fliegen oder fallen - Missy Marston - E-Book

Fliegen oder fallen E-Book

Missy Marston

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Beschreibung

Ihre Mutter und ihre Schwester haben mit 17 ihr erstes Kind bekommen. Als auch Trudy früh schwanger wird, beschließt sie, abzutreiben. Das Leben in der kanadischen Kleinstadt in den Siebzigern hat ihr bisher nicht viel zu bieten. Aber es muss doch noch etwas anderes geben, als frühe Mutterschaft, abwesende Männer und harte Arbeit. Wo bleibt das Abenteuer, das Glück? Trudy lebt mit ihrer Mutter und ihrer vierjährigen Nichte direkt am Sankt-Lorenz-Strom, der natürlichen Grenze zwischen Kanada und den USA. Das Trio versucht, sich so gut es geht über Wasser zu halten. Trudy glaubt nicht an die große Liebe - bis sie den Draufgänger Jules trifft. Die beginnende Romanze wird schnell von Jules' großem Traum überschattet: Er will mit seinem getunten Raketenauto über den zwei Kilometer breiten Fluss springen, der die Stadt teilt. Ein Fernsehteam bietet ihm viel Geld dafür. Doch kann der lebensgefährliche Stunt gutgehen? Frei inspiriert vom Stuntman Ken Carter, "The Mad Canadian", der in den 1970er Jahren den großen Sprung über den Sankt-Lorenz-Strom wagen wollte, ist Missy Marston ein witziger und kluger Roman über Unzulänglichkeiten und die Tücken des Lebens gelungen, der lange in Erinnerung bleibt. Aus dem Englischen von Alexandra Rak. Das gleichnamige Hörbuch erscheint bei GOYALiT

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Seitenzahl: 258

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Missy Marston

Fliegen oder fallen

Roman

Die Autorin

Missy Marston ist eine kanadische Schriftstellerin. Sie wuchs in der Nähe von Iroquois, Ontario, auf, in derselben Straße, in der der Stuntman Ken Carter in den 1970er Jahren eine riesige Rampe baute, um über den Sankt-Lorenz-Strom zu springen. Sie gewann den Ottawa Book Award, war Finalistin des CBC Bookie Awards und des Scotiabank Giller Prize Readers’ Choice. Inzwischen lebt Missy Marston in Ottawa.

 

Die Übersetzerin

Alexandra Rak, geboren 1968, studierte in Frankfurt am Main Germanistik mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur. Nach zehn Jahren als Lektorin bei einem großen Hamburger Verlagshaus arbeitet sie heute als freie Lektorin, Übersetzerin und Referentin und begleitet Autoren bei der Verwirklichung ihrer Projekte. Sie übersetzte u. a. Claire Legrand, Stephenie Meyer und Sylvia V. Linsteadt.

Das Buch

Trudy lebt mit ihrer Mutter und ihrer vierjährigen Nichte in einer kanadischen Kleinstadt. Das Trio versucht, sich so gut es geht über Wasser zu halten. Trudy glaubt nicht an die große Liebe – bis sie den Draufgänger Jules trifft. Die beginnende Romanze wird schnell von Jules’ großem Traum überschattet: Er will mit seinem neugetunten Raketenauto über den zwei Kilometer breiten Fluss springen, der die Stadt teilt. Ein Fernsehteam bietet ihm viel Geld dafür. Doch kann der lebensgefährliche Stunt gut gehen? Frei inspiriert vom Stuntman Ken Carter, »The Mad Canadian«, der in den Siebzigern den großen Sprung über den Sankt-Lorenz-Strom wagen wollte, ist Missy Marston ein witziger und kluger Roman über Unzulänglichkeiten und die Tücken des Lebens gelungen, der lange in Erinnerung bleibt.

 

 

 

Für John & Cathy, Don & Dave

Warum tun die das?

Warum tun die das? Was bringt sie dazu, ihre Fäuste durch Wände, Fenster oder einander ins Gesicht zu rammen? Was bringt sie dazu, sich glimmende Zigaretten auf den Handrücken zu drücken, während sie einander anstarren? Warum steigen sie auf wilde Pferde, buckelnde Bullen, Motorräder oder irgendwelche sonstigen verrückten, gefährlichen und idiotischen Dinge, auf die sie raufkommen? Und wenn sie abgeworfen und niedergetrampelt werden und sich alle Knochen brechen, warum in Gottes Namen klettern sie dann wieder rauf?

Was bringt einen Mann zu der Vorstellung, er könnte mit dem Auto eine Rampe hochfahren und über Heuballen, Busse, Bäche und Schluchten fliegen, und dabei zu vergessen, dass er sich beim Landen die Knöchel oder Rippen bricht, seine Lunge durchbohrt oder sein Gehirn gegen die Schädeldecke prallt? Falls er Glück hat. Falls sein armseliges Leben noch einmal verschont wird.

Und warum waren es ausgerechnet die? Die Lauten, die zu viel Platz in Anspruch nahmen. Die Vernarbten, die eigentlich tot sein müssten. Die ohne gesunden Menschverstand. Warum waren das die Einzigen, in die sie sich je verliebte?

Und da kommt schon der Nächste – mit tragischer Vergangenheit und allem Drum und Dran. Seine Jeans sitzt ziemlich tief, sein T-Shirt ist ziemlich dünn, seine Augen ziemlich dunkel. Herr im Himmel. Sie ist verloren.

Wieder einmal.

Teil 1

Trudy

Weil es schon Jahre her war

Als diese Fremden ins Jubilee spazierten, war Trudy Johnson zweiundzwanzig Jahre alt, und sie hatte seit fünf Jahren keinen Sex mehr gehabt. Ihre Lust beherrschte jeden ihrer Gedanken. Das machte sie nervös und gereizt. Aber sie hatte es sich geschworen. Sie hatte beschlossen, eine Zeit lang auf alles Körperliche zu verzichten. Sie war auf Entzug.

Trudy hatte die Art von Körper, die reichlich Ärger verursachte. Ihre Mutter ebenfalls. Ihre Schwester Tammy auch. Und ihre kleine Nichte, Mercy, würde ihn, Gott steh ihr bei, eines Tages höchstwahrscheinlich auch bekommen. Die Art von Körper, die zu früh zu schnell erwachsen wurde und die in den erst später heranreifenden Klassenkameradinnen Eifersucht weckte. Einen Körper, der die Aufmerksamkeit der falschen Männer auf sich zog. Vielleicht brachte er Männer ja auch dazu, sich falsch zu verhalten. Er brachte sie zumindest dazu, eine Frau anzubeten und sie trotzdem wie das Letzte zu behandeln. Sie zu befruchten und zu verduften. Momentan lebten im Haus der Familie Johnson drei Generationen Frauen und null Generationen Männer.

Sie hatte die Art von Körper, die einen im Laufe der Jahre in Bezug auf die Liebe verunsicherte. Er verleitete zu der Annahme, dass der Mann, der sich wirklich für einen interessierte, keinen Sex mit einem haben wollte. Weil er erkennen würde, dass sich bei ihr nicht alles nur um Sex drehte. Dass sie noch andere Sachen zu bieten hatte. Bisher war ihr so ein Mann noch nicht begegnet.

Außer einmal, wenn man so wollte.

Einmal war ihr ein Mann begegnet, der nicht im Geringsten an Sex mit ihr interessiert war. Vielleicht weil er jeden Tag nackte Menschen sah und dadurch alle Körper ihren Zauber verloren hatten – selbst ihrer. Dr. Noel Cameron hatte ihr einmal das Leben gerettet. Ganz unbestreitbar. Jedes Mal, wenn sie ihm in der Stadt begegnete, nickte er ihr zu und schaute dann weg. Die Sonne schien immer hinter ihm zu stehen und umgab seinen Kopf wie eine strahlende Gloriole.

Genau das war er: die strahlende Ausnahme von der Regel. Ein anständiger Mann. Alle anderen waren, das stand für Trudy so gut wie fest, komplette Mistkerle.

Weil die Luft zu Wasser wurde

Dieser erste Frühlingsabend schien inzwischen schon lange her zu sein. In sieben Monaten kann eine Menge passieren. Und eine Menge den Bach runtergehen. Trudy würde sagen, dass es wie in einem Kinofilm war, bloß dass sie bisher noch keinen Film gesehen hatte, der auch nur im Entferntesten an einem Ort spielte, der Preston Mills in Ontario ähnelte. Eine armseligen Drecksstadt, die am Ufer des kalten, grauen Sankt-Lorenz-Stroms klebte.

Achthundert Einwohner, ein Lebensmittelgeschäft, eine Tankstelle, ein Eckladen namens Smittys, in dem man kleine Papiertüten mit hart gewordenen Penny-Bonbons füllen konnte. Karamellbrocken, Himbeerbonbons, Salmiakkugeln, Lakritzschnecken.

Ein Billardsalon, in den keine Frau jemals einen Fuß setzen würde und aus dem allabendlich im Stundentakt lärmende, streitende Männer herausstolperten.

Sechs Kirchen, eine davon katholisch, eine evangelikal – samt Schlangenbeschwörer und Zungenredner – und vier, die zu kaum unterscheidbaren Richtungen des Protestantismus gehörten: die Presbyterianer, Unierten, Lutheraner, Anglikaner.

Eineinhalb Kilometer östlich der Stadt eine gewaltige Schleusenanlage, in die riesige Tankschiffe einfuhren und dann langsam abgelassen wurden, um danach auf dem Fluss ihren Weg zum Meer fortzusetzen.

Außerdem gab es eine Fabrik, die WestMark Linen Mill, in der Trudy und ihre Mutter, Claire, wie auch die meisten anderen berufstätigen Erwachsenen der Stadt beschäftigt waren.

Irgendwann einmal musste es noch andere Mühlen gegeben haben, mindestens eine weitere, die den Städtenamen rechtfertigte. Wahrscheinlich vor langer Zeit, als es noch Preston Mills das Erste gab. Denn das hier war Preston Mills das Zweite. Preston Mills das Hässliche.

In den 1950ern war die Stadt auseinandergenommen und zwischen Fluss und Eisenbahnstrecke wieder aufgebaut worden, weil der Binnenschifffahrtsweg durch sie hindurchführte. H2O Highway wurde er genannt. Der Weg in die Zukunft. Das kunterbunte kleine Preston Mills – mit seinen Höfen und kurvenreichen Straßen, seinen Scheunen und Hühnerställen und verwinkelten Gassen, seinen Anlegestellen und Bootshäusern und Kieselstränden – war auseinandergenommen und in geraden Reihen wieder zusammengesetzt worden. Häuser waren aufgebockt, mit einem Ruck aus ihrem Fundament gerissen, auf Lkw-Auflieger gehievt, vom Wasser weggezogen und auf unbefestigte Grundstücke entlang eines neuen Straßennetzes abgeladen worden. Schulen und Kirchen wurden Stein für Stein abgetragen und wieder neu aufgebaut. Unten auf dem Grund des Flusses existierten noch die Narben der alten Stadt: die Straßen, die Gehwege, die rechteckigen Betonfundamente, die Zaunpfosten. Die landkartenähnlichen Umrisse der gesamten Stadt als Spuren im Flussbett. Und jeden Tag zogen riesige Schiffe darüber hinweg und warfen ihre dunklen, wolkenähnlichen Schatten auf die versunkene Stadt.

Friedhöfe waren auch verlegt worden. Ausgegrabene Särge und Grabsteine wurden auf plane, baumlose Felder gebracht. Die Leute befürchteten, dass die Arbeiter den Überblick verloren hatten und die Toten nicht mehr zu den Namen auf den Steinen passten. Aber hätten sie jemals Gewissheit? Hatten sie nicht. Die leeren Gräber wurden zusammen mit allem anderen überflutet. Allmählich von Schlick und Steinen und Muscheln und Feldern aus wogendem Seegras ausgelöscht.

(Allerdings lagen dort unten noch immer Leichen. Das wusste jeder. Denn bei einigen Toten konnten keine lebenden Verwandten ausfindig gemacht werden, und in Ermangelung eines Entscheidungsträgers wurden die Leichen dort gelassen, wo sie waren. Andere waren zu zart besaitet oder zu abergläubisch, um die Totenruhe ihrer Angehörigen zu stören. Über diese Gräber wurden Steinplatten gelegt, um sicherzustellen, dass nach der Flutung keine Särge nach oben trieben. Eine traurige Flotte kleiner gespenstischer Boote, die hier und da auf dem Wasser herumdümpelte. Das wollte niemand.)

Nach Norden wurde Preston Mills von einem neuen, kerzengeraden Highway begrenzt. Der alte Highway stand rund dreißig Meter vom Ufer entfernt unter Wasser. An ein paar Stellen erhob er sich wie die Höcker des Monsters von Loch Ness aus dem Fluss und verschwand wieder darin. Durch die Asphaltdecke hatte sich inzwischen so viel Gras gebohrt und war unkrauthoch gewachsen, dass die Hügel kleinen Inseln glichen. Aber wenn man zu einer hinausschwamm, sah man, dass es eine Straße war. In der Mitte verlief eine blassgelbe Linie, und man konnte dort entlangspazieren, bis die Straße wieder im Wasser versank. An einige Stellen konnte man sogar fast einen Kilometer weit gehen, bevor man den Boden unter den Füßen verlor und über der Straße schwamm.

 

Genau so hatte Trudy sich gefühlt, als sie ihn zum ersten Mal sah: als würde ihr plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen, als wäre die Luft zu Wasser geworden und sie triebe nach oben zum strahlend blauen Himmel.

Weil sie kein Recht dazu hatten

Es war April 1978. Mercy war vier Jahre alt, und es schien, als bestünde die komplette Stadt plötzlich nur noch aus Grautönen. Der graue Fluss schwappte gegen das graue Ufer. Graue Bäume zeichneten sich vor dem grauen Himmel ab, harrten der Dinge und weigerten sich, zu blühen. Trudy und Mercy saßen in einer Nische im hinteren Teil des Jubilees. Mercy pulte den Käse von ihrem Pizzastück und stopfte ihn sich in den Mund. Ihre kleinen Hände waren voller Sauce. Trudy rauchte und starrte an Mercy vorbei aus dem vorderen Fenster des Restaurants, als die Tür geöffnet wurde und die Glocken bimmelten. Zwei Männer traten ein, und während sie an der Theke vorbeiliefen, lachten sie so sehr, dass sie torkelten und gegeneinanderstießen.

Beide groß. Beide schlank.

Beide so angezogen, als kämen sie von woandersher. Tiefer geschnittene, eng anliegende Jeans. Auf den Shirts dämliche Sprüche.

Ich gehöre zu dem Dummen. Weiter so.

Einer der Männer war blass und hatte Sommersprossen, dunkle Locken und riesige Koteletten. Der andere Mann hatte breite Schultern und ein breites Lächeln. Seine Haut war tiefbraun. Das war echt der Hingucker. Jeder einzelne der achthundert Einwohner aus Preston Mills war so weiß wie ein Bettlaken – mit englischen, irischen, niederländischen oder deutschen Wurzeln –, und keiner von ihnen hatte, außer im Fernsehen, jemals einen Schwarzen gesehen.

»Was ist denn?«, fragte Mercy, als sie mitbekam, wie überrascht Trudy war. »Wo schaust du hin?«

Trudy warf ihr einen finsteren Blick zu, schüttelte den Kopf, streckte den Arm aus und legte einen Finger auf die Lippen des kleinen Mädchens. Leise.

Mercy schlang die Hand um den Finger ihrer Tante und zog ihn zur Seite. »Was ist denn, Trudy?«, flüsterte sie, wartete die Antwort aber nicht ab, sondern kniete sich hin, um über die Trennwand ihrer Tischnische zu schauen.

»Setz dich, Mercy.« Trudy drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und warf einen verstohlenen Blick auf die übrigen Gäste. Neun oder zehn weitere, hauptsächlich Männer. Wie erstarrt. Glotzend. Dieser Riesentrottel, Jimmy Munro, schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, stand auf und reckte den Fremden sein Kinn entgegen. Er war immer auf einen Streit aus. Trudy konnte sehen, wie er die Neuankömmlinge taxierte und sich seine Chancen ausrechnete. Mercy wischte sich eine Fliege von der Stirn und schaute von Jimmy zu den Fremden und wieder zurück. »Können wir euch irgendwie weiterhelfen?«, fragte Jimmy.

Der mit den Sommersprossen schob seine Hände tief in die Hosentaschen, verlagerte sein Gewicht auf die Absätze seiner Stiefel und lächelte. Zwischen seinem Gürtel und dem Saum seines T-Shirts konnte Trudy gut acht Zentimeter gebräunter Haut sehen. Außerdem in der Mitte eine Spur dunkler Haare. Wie eine Oase in der Wüste. Unfähig – oder vielleicht auch unwillig –, ihre Augen von diesem willkommenen Anblick abzuwenden, fasste sie, ohne hinzusehen, über den Tisch und zog hinten an Mercys Shirt, sodass das kleine Mädchen auf ihren Platz zurückplumpste.

»Weißt du was?«, sagte der Fremde. »Das ist nett von dir, aber wir wollen hier bloß unsere Freunde treffen.« Er fing Trudys Blick auf und nickte. Dann liefen er und sein Begleiter direkt zu ihrem Tisch und setzten sich.

Als würde das stimmen. Als gäbe ihnen irgendetwas das Recht dazu.

»Danke, dass wir euch Gesellschaft leisten dürfen, meine Damen. Was für eine freundliche kleine Stadt.«

Trudy wusste, dass sie beobachtet wurde. Sie war wütend auf diese Fremden, fühlte sich aber gleichermaßen angezogen. Und sie war fürchterlich müde. Ihre Augen brannten vom Zigarettenrauch. Vor ihr lag eine komplette Nachtschicht in der Fabrik, und sie war schon den ganzen Tag über Mercy hinterhergerannt. Und jetzt befand sie sich auf einmal inmitten dieser absurden, verfahrenen Situation.

»Hört mal«, sagte sie.

»Jules«, unterbrach er.

»Was?«

»Jules Tremblay. So heiße ich. Und das ist James.« James nickte. Es fehlte nicht viel, und Trudy würde aus der Haut fahren.

»Hör mal, Dchuuls. Und James. In diesem Restaurant glaubt euch keiner, dass ihr meine Freunde seid.«

»Warum nicht?«

Trudy seufzte. »Weil die mich alle kennen und wissen, dass ich keine Freunde habe.«

»Ich bin deine Freundin«, sagte Mercy.

»In Ordnung«, sagte Trudy. »Ich habe eine Freundin.« Sie schaute zu Jimmy und seinem Tisch voller Trottel. Zeigte ihnen den Mittelfinger. Sie schauten weg. »Wir müssen los, Mercy. Verabschiede dich.«

»Tschüss, Freunde«, sagte Mercy leise.

»Ihr solltet wahrscheinlich auch besser gehen. Hier erwartet euch nichts Gutes.«

Trudy schnappte ihre Jacke. Die Männer standen auf, um sie rauszulassen. Mercy schaute zurück und winkte, während Trudy sie zum Eingang des Restaurants zerrte, um zu bezahlen.

 

Und da wusste sie es bereits. Obwohl es unverzeihlich war, obwohl er nichts getan hatte, wodurch er sich von den anderen unterschied, obwohl sie nichts über ihn wusste, war Trudy sich sicher, dass sie an ihn denken würde.

 

Sie würde an ihn denken, bis sie ihn wiedersah, und sonst an fast nichts anderes mehr.

Weil alles plötzlich keinen Sinn mehr ergab

Bevor er auftauchte und die festen grünen Knospen des Frühlings mit sich brachte, waren für Trudy die Dinge in Ordnung gewesen. Langweilig vielleicht. Aber in Ordnung. Mit Mercy hatte sie alle Hände voll zu tun, besonders, als das Kind noch kleiner war. Ständig zog sie an Trudys Hosenbein. Oder nahm wie ein kleines Tier das Haus auseinander. Überall hinterließ sie eine Spur aus angeknabbertem Essen und Schnodder. Nichtsdestotrotz – sie waren nur zu dritt, und alles war recht übersichtlich. Trudys Mutter, Claire, arbeitete in der Frühschicht der Stofffabrik. Trudy arbeitete in der Nachtschicht. Um Mercy kümmerten sie sich abwechselnd: Trudy tagsüber, Claire nachts. Zumindest machten sie das so, seit Trudys Schwester, Tammy, sich verpisst, in Luft aufgelöst und ihren Nachwuchs zurückgelassen hatte.

Trudy verbrachte ineinander verschwimmende Tage vor dem laufenden Fernseher auf der Couch, wo sie immer wieder einschlief, mit einem Ohr aber ständig nach Mercy lauschte. Manchmal hüpfte das kleine Mädchen aus heiterem Himmel auf sie, sodass sie kaum noch Luft bekam, und schmiegte ihren warmen, kleinen Körper hinter Trudys Knie oder an ihren Bauch.

Die Nächte vergingen wie in einem nebligen, immergleichen Traum. Sie saß hinter ihrer Nähmaschine und nähte Kopfkissenbezug um Kopfkissenbezug, während über ihr die Neonlichter summten. Eine gerade Naht auf der linken Seite, am Handrad kurbeln, die Nadel in den Stoff versenken, den Nähfuß anheben, um neunzig Grad drehen. Den Nähfuß auf den Stoff absenken – rosa oder blau oder grün oder irgendein pastellfarbenes Paisleymuster – und oben einen geraden Saum nähen. Nadel in den Stoff versenken, neunzig Grad drehen, gerade Naht auf der rechten Seite. Den Nähfuß anheben. Faden abschneiden. Den Kopfkissenbezug über den Tisch in den Kasten schieben.

Nächster.

Schön einen Schritt nach dem anderen, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Eine Stange Zigaretten, die sie am Zahltag kaufte. Ein Stapel Schachteln, jede einzelne von der Zellophanfolie befreien und diese entsorgen. Das Silberpapier erst auf der einen Seite abziehen, dann auf der anderen. Aschenbecher füllen und ausleeren und alles wieder von vorn. Bis er auftauchte.

 

Danach wurde alles kompliziert.

Weil »niemals« eine lange Zeit ist

In einer Stadt wie Preston Mills sagten die Leute immer, dass eine junge Frau einen »gewissen Ruf« hatte. Dabei gab es nur eine Art von Ruf. Trudy wusste schon, so lange sie sich zurückerinnern konnte, was das bedeutete. Ihre Mutter hatte einen gewissen Ruf. Und Trudy wollte keinen. Sie hatte eine Verteidigungsstrategie entwickelt. Wenn Erwachsene sie fragten, ob sie einen festen Freund habe, antwortete sie, dass sie Jungs nicht möge. Sie seien widerlich. Was sie beinahe glaubte. Als sie dreizehn war, hörten die Erwachsenen auf, sie nach Jungs zu fragen, und die Kinder nannten sie schwul oder warme Tante – Preston-Mills-Sprech für Lesbe. Sollten sie das ruhig glauben. Die Jungen, die sie anfassen durften, kamen normalerweise von außerhalb (Sportturniere und Besuche von Cousins versorgten sie mit zeitweiligen Knutschpartnern), wurden zur Geheimhaltung verpflichtet und mit dem Tod bedroht.

Und sie ließ es niemals, wirklich niemals bis zum Äußersten kommen.

Diese Verteidigungsstrategie hatte fast ihre gesamten Teenagerjahre über funktioniert. Bis Jimmy Munro sie schließlich mürbe gemacht hatte.

Jimmy Munros Gesicht sah aus, als hätte jemand mit einem Schaufelblatt draufgeschlagen: eingedrückte Stirn, gebrochene Nase, demolierte Zähne. Seine dunklen Augen glitzerten verschlagen, und seine Haare frisierte er Elvis-Presley-mäßig: pomadig glatt und hinter die Ohren gekämmt. Trudy kannte Jimmy schon seit dem Kindergarten. (Sie kannte jeden seit dem Kindergarten.) In ihrem ersten gemeinsamen Highschooljahr begann er, sie zu verfolgen. Er setzte sich in jeder Unterrichtsstunde neben sie und piesackte sie ständig.

»Hey, Trudy. Biste schwul?«

»Halt’s Maul, Jimmy.«

»Was für eine Verschwendung. Mit dem Hintern? O mein Gott.«

Trudy schaute dann immer stur geradeaus und versuchte, sich auf den Lehrer zu konzentrieren.

»Du weiß gar nicht, was dir entgeht, Trudy. Ich könnte dir was zeigen. Willste was sehen?«

»Ekelhaft. Kein Interesse.«

Er ließ nicht locker.

In jeder Stunde, an jedem Tag ein endloser Strom von zunehmend obszöneren Sticheleien. Bis seine Worte bedeutungslos wurden. Bis sie Trudy nicht mehr wütend machten. Bis seine unermüdliche Verfolgung fast etwas Tröstliches an sich hatte. Und bewirkte, dass sie ihn ein klein wenig mochte. Außerdem brachte er sie zum Lachen. Und wenn sie mit Jimmy herumhing – er war riesengroß –, wehrte das die Annäherungsversuche der anderen Jungen ab.

Selbst mit vierzehn oder fünfzehn hatte Jimmy bereits die Statur eines Bullen. Breite, kräftige Schultern und einen kleinen Hintern. Er war oben so viel schwerer als unten, dass es so wirkte, als könnte man ihn mit einem kleinen Schubs umwerfen. Aber das konnte man nicht. Das wusste Trudy. Wenn sie herumalberten, warf sich Trudy manchmal ungestüm gegen ihn, allerdings ohne Erfolg. Sie prallte dann einfach von ihm ab. Er war so unverrückbar wie ein Berg.

Eines Tages aber, als sie von der Schule nach Hause lief, überrumpelte sie ihn. Sie entdeckte ihn ungefähr fünfzehn Meter weiter vorn auf dem Weg hinter der katholischen Kirche. Dort sprang sie ein wenig schräg mit Anlauf auf ihn drauf und stieß ihn zu Boden. Rumms! Lachend kullerte sie über ihn. »Ich habe gewonnen!«

»Himmel, Trudy! Du hast mich zu Tode erschreckt.«

Sie sprang auf und reckte die Faust zum Himmel. »Die Siegerin! Danke. Danke.« Dann machte sie einen Kratzfuß und verbeugte sich tief.

Er stand auf, stürzte sich auf sie und packte sie von hinten. Dabei presste er sein Schaufelgesicht in ihren Nacken und flüsterte in ihr Ohr. »Trudy Johnson, wirst du mich niemals ficken? Ernsthaft? Wie kann das sein?«

»Niemals.« Berühmte letzte Worte. »Und jetzt lass mich los.«

Weil man die Dinge manchmal schon von weitem kommen sieht

Trudy hatte die Schule mit sechzehn verlassen, um in der Fabrik zu arbeiten. Als Tammy mit Mercy schwanger war, arbeitete Trudy bereits ein Jahr dort. Ein Jahr, das sich wie vierzig anfühlte. In diesem Sommer war sie jeden Abend früh zur Arbeit aufgebrochen, damit sie vorher noch schwimmen gehen konnte. Sie hatte sich die Tasche über die Schulter geschlungen und war zu Fuß losgelaufen.

Um zehn Uhr abends war alles wie ausgestorben. Der Nachthimmel war immer dunkel, die silbernen Sterne glänzten, die Straßen lagen verlassen da. In kaum einem Haus brannte noch Licht. Der leichte Sommerwind roch nach dem Fluss.

Sie lief dann langsam mitten auf der Straße entlang. Sollte doch ruhig ein Auto kommen, sollte das Universum doch ruhig versuchen, ihren perfekten Rekord zu brechen: Während der gesamten Zeit, die sie jetzt schon in der Fabrik arbeitete, hatte sie zu dieser späten Stunde noch kein einziges Mal ein Auto oder einen Menschen gesehen. Geradeaus den Hügel hinauf, hinter dem Park, konnte sie die Lichter der Fabrik erkennen. Aber anstatt geradeaus zu laufen, bog sie nach links ab, überquerte den Schulparkplatz und das Baseballfeld und ging den Schotterweg zum Strand hinunter. In diesem Sommer lief sie an jedem Abend bis zum äußersten Ende des Strandes, wo die Anlegestelle und die Bootshäuser waren, legte ihr zusammengefaltetes Handtuch oben auf die Tasche, zog sich komplett aus und lief ins Wasser, bis es ihr an den Hals reichte. Dort stand sie dann, im schwarzen Wasser, zitterte leicht und betrachtete die Spiegelung des Mondes auf der Oberfläche, bis ihr Herzschlag ruhiger wurde.

Ein Moment kühler Ruhe zwischen der Hitze und dem Lärm zu Hause und dem Summen und den feindseligen Blicken auf der Arbeit.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses, der die natürliche Landesgrenze zwischen Kanada und den USA bildet, konnte sie am amerikanischen Ufer die Lichter der Fabriken sehen, und im Westen den hoch aufragenden, dunklen Staudamm.

Eines Nachts stand sie dort, etwa sechs Meter vom Ufer entfernt, und drückte ihre Zehen in das weiche, lehmige Flussbett, als sie das Dröhnen eines Schiffsmotors durch den Boden hindurch spürte. Vor ihr blinkte ein grünes Licht an der Spitze einer Boje. Sie hörte das Schiffshorn und blickte nach Osten, wo das Schiff sich in der Ferne schwach abzeichnete. Während es Gestalt annahm und auch die Vibrationen immer stärker wurden und sie durchrüttelten, blieb sie unbeirrt dort stehen. Sie dachte gerade darüber nach, wie lang man Dinge manchmal kommen sah – manchmal ein ganzes Leben lang –, als sie sich umdrehte und ihn am Ufer entdeckte.

Jimmy schaute sich um und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. Dann zog er sein Shirt aus und anschließend seine Hose. Vor dem Lichtschein der Stadt war er nur ein flüchtiger Schatten. Trotzdem wusste Trudy genau, wer das war. Sie kannte seine Silhouette. Als sie ihn dort am Ufer betrachtete, spürte sie, wie unter Wasser etwas an ihrem Knöchel entlangstrich. Sie trat danach und stolperte ein paar Schritte Richtung Land. Da war es wieder, glatt und kraftvoll. Diesmal weiter oben an ihrem Bein. War das ein Aal? Sie taumelte weiter, ihre nackten Brüste guckten inzwischen ein gutes Stück aus dem Wasser heraus. Das Schiff zog jetzt genau hinter ihr vorbei und erstreckte sich bis zum Horizont. Der Boden bebte. Jimmy rannte spritzend ins Wasser und stolperte vorwärts, bis er ihr vor die Füße fiel.

Und das war’s dann. Das Ende der Vernunft. Drei Jahre entschlossener Widerstand, schließlich überwunden von seiner Hand auf ihrem Knie unter Wasser. Und von seinem Atem. Und den Luftblasen, die ihr nacktes Bein hinaufstiegen.

 

Einmal, sagte sie zu ihm, und danach nie wieder. Und in dem Moment meinte sie es wirklich ernst.

Weil jeder Fehler macht

Das Haus der Johnsons, das Trudys Großeltern ihnen vermieteten, war so klein, dass es schon fast zum Lachen war. Ein winziger, mit nachgemachten Ziegelklinkern verkleideter Würfel, der von einem Satteldach gekrönt wurde. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche und das Wohnzimmer, das gleichzeitig als Claires Schlafzimmer diente. (Jeden Morgen zog sie die Bettlaken ab, legte sie auf den Beistelltisch und klappte das Schlafsofa wieder zusammen.) Auf das Erdgeschoss war das Schlafzimmer gestapelt, das Trudy und Tammy – und später noch Mercy – sich teilten, und dazu ein Badezimmer von der Größe eines Kleiderschranks. In jedem Zimmer gab es Flickenteppiche. Und Tapeten. Tapeten mit Holzmaserung, Tapeten mit Blumenmuster und sogar (im Bad) Tapeten mit Elfen. An der Rückwand des Wohnzimmers eine Fototapete, darauf ein Birkenwald mit Wasserfall.

Klein, mit Teppichen ausgelegt, zu Tode tapeziert und erdrückend heiß.

Am Ende des Sommers, als die sechzehnjährige Tammy im achten Monat schwanger war, fand Trudy, dass sich das Haus sogar noch kleiner anfühlte als sonst. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass ihre Schwester ihren Zustand als Ausrede nutzte, um sich Freiheiten herauszunehmen. Daher beschloss sie, ihre Schwester in die Schranken zu weisen.

»Warum bist du so zickig, Trudy? Hol mir einfach mein Gingerale. Ich habe Durst.«

»Und ich hab gesagt, hol es dir selbst. Du bist schwanger, nicht verkrüppelt.« Der Gestank der Kohlrouladen verpestete das Haus. Claire weinte und kochte nun schon seit Monaten wie wild. Seit Tammys Schwangerschaft nicht mehr zu leugnen war. Claire war mit siebzehn Mutter geworden, und jetzt wurde sie mit vierunddreißig Großmutter. Sie war vor Scham und Sorge ganz außer sich. Überreizt. Der Gefrierschrank war mit Aufläufen so vollgepackt wie Tammy mit ihrem Kind. Trudy hatte das Gefühl, sie müsse sich übergeben. Warum war es in diesem Haus immer so abartig heiß?

»Du hast mich schon immer gehasst. Hast dich immer für was Besseres gehalten. Eine schöne große Schwester bist du.«

Trudy stand auf, hatte ihren Körper plötzlich nicht mehr unter Kontrolle, er war eine Maschine, die einfach unaufhaltsam ihre Aufgabe verrichtete. Sie ging rüber, stieß mit dem Handballen gegen Tammys Brust und drückte sie gegen die Couch. Sie konnte Tammys Herzschlag spüren, die feuchte Haut unter ihrer Hand. »Was hast du gerade zu mir gesagt?«

»Geh runter von mir! Mom!«

»Mädels?«, drang Claires Stimme nervös aus der Küche.

Trudy setzte sich rittlings auf ihre Schwester; ein Knie links und eins rechts neben deren Oberschenkel auf der Couch drückte sie ihre Hand fester auf Tammys Brust und spürte, wie das Brustbein leicht nachgab. Warum machte sie das? Ihr Atem zitterte. »Halt den Mund, Tammy. Weshalb denkst du eigentlich immer nur an dich? Gott, du hast recht. Manchmal hasse ich dich echt.«

Trudy drückte sich von der Couch hoch und drehte sich weg. Der heftige Gestank nach gekochtem Kohl schnürte ihr die Kehle zu. Sie stürmte die Treppe hinauf.

Während sie in die Kloschüssel würgte, machte sich hartnäckig ein Gedanke in ihr breit.

Der größte Fehler ihres Lebens.

Verfickter Jimmy Munro. Was sonst.

Weil es ihre Mutter umbringen würde

»Trudy, alles in Ordnung? Lass mich rein.«

»Lass mich in Ruhe, Tammy.«

Tammy saß mit dem Rücken an der Badezimmertür im Flur. Ihr riesiger Bauch presste ihr die Luft aus der Lunge und zwang sie, sich möglichst aufrecht zu halten, damit sie überhaupt atmen konnte. »O mein Gott. Bist du schwanger, Trudy?«

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Tammy kam aus dem Gleichgewicht. Sie kippte fast um. »Rein mit dir. Sag so was nicht. Willst du Mom umbringen?«

»Also, bist du’s?« Tammy setzte sich auf den Badewannenrand. »Das wäre nicht das Ende der Welt, weißt du. Wir könnten unsere Kinder gemeinsam großziehen! Glückliche Familien.« Den letzten Teil trällerte sie in einer durchgeknallten Singsangstimme.

Psycho, dachte Trudy. Sie stellte ihre Zahnbürste in den schmutzigen Becher neben dem Waschbecken und drehte sich zu ihrer Schwester um. »Man muss Sex haben, um schwanger zu werden, Tammy. Du weißt, dass ich so was nicht mache.«

»Ja, klar.«

»Mir ist bloß schlecht. Ich muss zum Arzt.«

Weil kleine Städte unerträglich sind

Trudys Hand zitterte dermaßen stark, dass der Telefonhörer an ihrem rechten Ohr schlackerte. Sie hatte das Telefon so weit ins Schlafzimmer gezogen, wie es das Kabel zuließ. Mit der Hand über dem Mundstück saß sie auf dem Teppich zwischen den beiden Betten und sprach leise in den Hörer.

»Worum geht es denn, Trudy?« Dr. Camerons Sprechstundenhilfe wartete auf eine Antwort. Sie hörte auf den Namen Janet McElroy. Als Trudy und Tammy klein waren, hatte sie oft auf die Mädchen aufgepasst. Sie wohnte noch immer direkt gegenüber. Kleine Städte. Unerträglich.

»Das ist privat.«

»Du weißt, dass wir die Dinge hier vertraulich behandeln, Trudy. Ich muss ihm etwas sagen können. So funktioniert das nun mal.« Trudy glaubte das nicht eine Sekunde lang. Sie kannte genug Geschichten, um zu wissen, wie das funktionierte. So-und-so hatte Krebs. Und Mrs So-und-so hatte Warzen am Hintern. Jemand hatte Baby So-und-so auf den Kopf fallen lassen. Sie wusste, mit wem sie sprach: Freies Radio Preston Mills.

»Es geht um meine Periode. Sie hört nicht auf.« Das ging in die richtige Richtung. Auch wenn das Gegenteil der Fall war. Mit einem blauen Kugelschreiber schrieb sie ihren Termin auf die Innenseite ihres Handgelenks. Nur Nummern und Symbole. Wie ein Geheimcode: 3:00280873.

Drei Tage, zwei Stunden und zehn Minuten in der Zukunft.

Weil es jetzt reichte

Trudy verkündete Jimmy, dass es jetzt reichte. Sie hätten das gar nicht erst tun dürfen, und jetzt musste es aufhören. Auch wenn sie ihm natürlich nicht den Grund mitteilte.

»Kein Problem«, sagte Jimmy. Ein bisschen zu schnell, fand Trudy.

»Schon klar.«

»Nein, echt, das ist okay. Ich habe jetzt ohnehin eine Freundin.«

Trudy horchte in sich hinein, ob ihr das etwas ausmachte. Eigentlich nicht. Zumindest nicht allzu sehr. »Gut.«

»Bist du sauer auf mich?«

»Nee.« Und das stimmte. Sie war sauer auf sich selbst, auf das Universum, ihre Mutter, ihre dumme Schwester. Aber nicht auf Jimmy. Sie verstand einfach nicht, wie sie so viel für so wenig aufs Spiel setzen konnte. Warum ihr Körper ihren Verstand ausgeschaltet hatte. Nun, das war jetzt vorbei. Verstand, bitte wieder das Steuer übernehmen.

»Hey, Jimmy.«

»Ja?«

»Fick dich.«

»Ja, ja. Du bist ’ne ganz Taffe, Trudy.«

»Vergiss das besser nicht.«

Taff. (Bis auf eine Lücke im Sicherheitssystem, ein Überdruckventil in Form einer kleinen, kahlen runden Stelle oben auf ihrem Kopf. Trudy hatte sich die Haare ausgerissen. Dabei starrte sie dann immer ins Leere, wickelte sich ein paar Strähnen um den Zeigefinger, ließ die Haare durch die Finger gleiten und seitlich runterfallen, bis nur noch eine Strähne zwischen Daumen und Zeigefinger klemmte. Und dann, zack, riss sie die Haare mit einem schnellen Ruck heraus und wischte sie von der Hand auf den Boden. Bis sie Dr. Cameron aufsuchte, war daraus ein vierteldollargroßes Stück geworden, an dem man ihre weiche Kopfhaut sehen konnte. Manchmal trug sie ein Kopftuch, um es zu verstecken. Ab und zu kämmte sie sorgfältig ihre Haare, sprühte Haarspray darauf und drückte sie vorsichtig über die Stelle. Das würde nie jemand erfahren.)

Taff. (Bis auf ihre fürchterlichen Albträume. Erdbeben, die das Haus um sie herum zum Einsturz brachten. Oder Überschwemmungen. Wasser, das durch das Haus rauschte und auf einer Riesenwelle Haarbürsten, Hausschuhe und Zigarettenpäckchen mit sich riss. Oder Schlangen. Schlangen, die aus dem Boden im Garten hervorquollen, durch offene Fenster und unter Türen hindurch glitten, sich über Teppiche schlängelten und sich um ihre Fußknöchel wanden. Dann wachte sie auf, weil sie die Bettdecke wegstrampelte und um sich trat, während Tammy von der anderen Seite des Zimmers durch die Dunkelheit zu ihr starrte.)

Weil manche Lösungen alle möglichen Probleme beheben