Floria Tochter der Diva - Ursula Tintelnot - E-Book

Floria Tochter der Diva E-Book

Ursula Tintelnot

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Beschreibung

Der schwere Vorhang der Metropolitan Opera senkte sich langsam. Die Lichter im Saal gingen an. "Werde ich jemals wieder singen können?" Ausgerechnet in einer ihrer Paraderollen war der Albtraum einer jeden Sängerin für sie Wirklichkeit geworden. Die Stimme der Diva hatte versagt, Floria war auf offener Bühne zusammengesunken. Zerrissen vom Wunsch für die Kunst und für die Liebe zu leben, fällt sie in eine tiefe Depression. Sie flüchtet aus New York, der Stadt, die ihr zur zweiten Heimat geworden ist, zurück in den Garten ihrer Kindheit, zu Emma, ihrer Großmutter. Hier, im Norden Deutschlands, in dem riesigen Bauernhaus, in dem sie aufgewachsen ist, hofft sie Ruhe zu finden. Eine vergebliche Hoffnung, wie sich herausstellt. Schicksalsroman über eine Diva. Gibt es für Floria neben der Kunst noch ein anderes Leben? Vielleicht auch Liebe? Der Weg einer Sopranistin in die Höhen des Ruhms und Ihren Fall. Kann sie Kunst und Liebe miteinander verbinden?

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Seitenzahl: 626

Veröffentlichungsjahr: 2017

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 Floria

Tochter der Diva

 

 

 

Ursula Tintelnot

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte:                           ©Ursula Tintelnot

Umschlagfoto:               ©Martin Langos

Umschlaggestaltung:       ©Medusa Mabuse

Satz/Layout:                 ©Medusa Mabuse

 

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 1

Ein Albtraum

Nachdem Floria über dem Leichnam ihres Geliebten, Mario Cavaradossi, zusammengesunken war, klatschten die Zuhörer frenetisch. Cavaradossi lag in seinem Bühnenblut vor einer gemauerten Brüstung, über die sich Floria als Tosca in den Tod stürzen sollte. Aber die Sopranistin wusste, dass ihr die Kraft fehlte, zu tun, was Puccinis Oper von ihr verlangte. Diesmal würde Tosca sich nicht aus Kummer über den Tod des Malers von der Mauer der Engelsburg stürzen. Diesmal musste man sie von der Bühne der Metropolitan Opera tragen. Ihre Stimme hatte sie verlassen. Noch nie hatte dieses präzise arbeitende Instrument sie im Stich gelassen.

Nur langsam begriff das Publikum, was gerade geschehen war. Gemurmel erhob sich, das sofort wieder verstummte, als der General Manager auf die Bühne trat.

»Es tut mir leid, ich muss Ihnen mitteilen, dass Floria Mura …, dass unsere Sopranistin erkrankt ist. Ein momentaner Ausfall der Stimme. Dieses lebendige Musikinstrument ist diffizil und lässt sich nicht stimmen wie die Saite einer Violine. Wir wünschen Madame Mura eine schnelle Genesung.«

Jetzt senkte sich der schwere Vorhang langsam. Die Lichter im Saal gingen an.

Floria lag auf einer abgewetzten Couch in ihrer Garderobe. Ihr dichtes blondes Haar hatte sich gelöst. Der Theaterarzt war bei ihr. Ängstlich sah sie zu ihm auf. »Werde ich wieder singen können?«

Ausgerechnet in einer ihrer Paraderollen hatte sie versagt. Der Albtraum einer jeden Sängerin war Wirklichkeit geworden. Wenigstens hatte sie bis zum Ende des letzten Aktes durchgehalten. Ein schwacher Trost.

Sie versuchte sich aufzusetzen.

»Bleiben Sie noch ein wenig liegen.« Der Arzt drückte sie sanft auf die Kissen zurück. »Sie müssen sich jetzt schonen, keine Aufregungen.«

Floria lächelte matt.

Sie sollte sich nicht aufregen? Musik war ihr Leben. Singen brauchte sie wie die Luft zum Atmen.

 

Die Diagnose ihres Spezialisten war niederschmetternd gewesen.

»Sagen Sie mir, was Sie bedrückt.« Ihr Arzt sah sie an. John war nicht nur ihr Arzt, sondern auch ein verschwiegener Freund.

»Sie wissen, Floria, auch Ihre seelische Verfassung kann Ihre Stimme angreifen.« Sie wusste, worauf er anspielte.

Christof Corman, ein junger Komponist, war wenige Tage zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Kurz nach der Vollendung einiger Konzertarien, die er ihr auf den Leib geschrieben hatte.

Sie hatten sich bei einer Operngala kennengelernt. Es hatte buchstäblich auf den ersten Blick zwischen ihnen gefunkt. Sie war seine Geliebte geworden. Ein dreiviertel Jahr später war er tot. Und sie bekam einen Tag nach dem Absturz ein Paket, mit den für sie komponierten Arien. Der Brief an sie begann mit den Worten: Deine Stimme in meinem Herzen …

Sie hatte sich zusammengerissen, war trotzdem auf die Bühne gegangen, mit dem Erfolg, dass sie zusammenbrach und ihre Stimme versagte. Vor drei Tagen noch hatte sie seinen lebendigen Körper an ihrem gespürt. Sie hatten kein Geheimnis aus ihrer Liebe gemacht. ‚Nie wieder’, war ein furchtbarer Gedanke.

Floria weinte nicht, als sie den Arzt anblickte. Er hatte ihr, ohne sie zu unterbrechen, zugehört.

»Sie sollten Ihren Kummer nicht unterdrücken, nicht gegen Ihre Trauer angehen. Solange Sie das tun, Floria, werden Ihre Wunden nicht heilen.«

 

Jetzt sah sie New York unter einer Dunstglocke verschwinden. Ein langer Flug lag vor ihr. Sie nahm nur ungern Abschied von dieser aufregenden Stadt, aber Aufregung jeglicher Art hatte man ihr verboten.

»Wenn Sie wieder singen wollen, nehmen Sie eine Auszeit.« Johns Aussage war eindeutig gewesen. Floria hatte schweren Herzens sämtliche Termine für die nächsten Monate abgesagt. Sie drückte Christofs Partitur an sich, als handelte es sich um ihn selbst, aber weinen konnte sie nicht.

 

 

Oktober

Das Wetter passte zu ihrer Stimmung. Floria hatte, obwohl es in ihrem Jeep ausreichend warm war, einen dicken Schal mehrfach um den Hals geschlungen. Auf den stoppeligen Feldern lag Nebel, in dem Gruppen von hochbeinigen Vögeln zu schweben schienen. Die Kraniche sammelten sich um diese Zeit. Wie oft hatte sie als kleines Mädchen, mit ihrer Großmutter zusammen, diese eleganten grau-weiß gefiederten Vögel beobachtet. Die kleinste Bewegung vertrieb die scheuen Tiere. Wenn sie auf den Äckern durch die tiefen Furchen stapfte, die breite Reifen riesiger Traktoren hinterlassen hatten, hielt die fette feuchte Erde ihre Stiefel fest. Florias dünne Beinchen hatten in dicken, mindestens eine Nummer zu großen Gummistiefeln gesteckt.

»Da wächst du noch rein, Flo. Zieh zwei Socken übereinander an.«

Und mehr als einmal stand sie, ohne Stiefel auf dicken Socken, mitten im Schlamm. Ihre Großmutter hatte nur gelacht.

Du hattest Recht, ich bin hineingewachsen, Emma, dachte sie.

Floria fuhr schneller. Es gefiel ihr nicht, in der schnell einfallenden Dunkelheit Auto zu fahren. Sie war es nicht mehr gewöhnt, selbst am Steuer zu sitzen. In den Zentren dieser Welt, in denen sie sich normalerweise aufhielt, ließ sie sich chauffieren. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, in Mailand, Wien oder New York selbst zu ihren Auftritten zu fahren.

Sie sah auf die Uhr. Noch nicht mal fünf und es war stockdunkel. Die Scheiben beschlugen von innen. Ein sanfter Regen hatte eingesetzt. Sie kannte sich mit dem Auto nicht aus und tastete vergeblich nach dem Hebel für den Scheibenwischer. Floria stöhnte auf. Bitte nicht!

Sie hielt am Wegrand. Der Motor soff ab. Nur noch ein Paar Kilometer zum Haus ihrer Großmutter und sie hätte es geschafft.

Sie erschrak, als sie das Klopfen hörte.

Eine dunkle Gestalt, eingehüllt in eine schwarze Regenjacke, stand neben ihrem Wagen.

»Wenn Sie noch ein bisschen näher an den Rand gefahren wären, hätten Sie mich zerquetscht.«

Floria konnte sein Gesicht nicht erkennen. Das Licht im Wagen beleuchtete sie, nahm ihr aber die Sicht nach draußen.

Sie öffnete das Seitenfenster einen Spalt breit. »Tut mir leid«, stammelte sie, »ich kann nichts sehen.«

»Das empfiehlt sich aber beim Autofahren.«

»Ich finde den Schalter für die Wischer nicht.«

»Du meine Güte! Sie fahren blind mit einem Auto, das Sie nicht einmal kennen?« Er stand plötzlich auf der Fahrerseite neben ihr.

»Wo müssen Sie hin?«

»Zur Deichstraße, hier ganz in der Nähe.«

»Kenne ich, rücken Sie mal.«

Als er ihr Zögern wahrnahm, sagte er: »Ein Auto besitze ich selbst und an Frauen bin ich nicht interessiert.«

Floria hievte sich auf den Beifahrersitz.

Die Kapuze noch immer tief ins Gesicht gezogen, stieg er ein. Er startete und fand auf Anhieb den Hebel für den Scheibenwischer.

Wenn dieser Mann ein Straßenräuber wäre, dann wenigsten einer mit einer angenehmen Stimme.

Floria lehnte sich nach vorne. Aber außer einem Kinn mit Dreitagebart konnte sie von ihrem Chauffeur nichts erkennen.

»Wo genau?«

Sehr gesprächig war er nicht.

»Deichstraße 17.« Sie passte sich seiner kargen Sprache an.

»Zu Emma?«

»Kennen Sie Emma?«

»Ja.«

Konnte er nicht einmal mit einem ganzen Satz antworten?

»Wir sind Nachbarn.«

Floria gab auf.

Er fuhr den Jeep in einer eleganten Kurve in den Hof ihrer Großmutter hinein, sprang aus dem Auto und verschwand in der Dunkelheit, ohne sich zu verabschieden. Floria hörte noch ein »Gruß an Emma«.

Was für ein Rüpel, aber dieser Rüpel hatte ihr geholfen. »Danke«, rief sie hinter ihm her und kam sich ziemlich lächerlich vor, als er nichts erwiderte.

 

 

Emma

Emmas Haus, ein zweistöckiges Gebäude, lag direkt am Kanal. Nur die weißgestrichenen Balken der Front schimmerten, die dunkelroten Ziegelsteine versanken in der Nacht. Charmant und ein bisschen heruntergekommen lag das Haus, in dem sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte, vor ihr. Die Tür öffnete sich. Im Schein der Außenbeleuchtung stand ihre Großmutter.

Sie war kleiner, als sie die alte Dame in Erinnerung hatte.

»Emma!« Floria stürzte auf sie zu.

»Vorsicht, Kind, du wirfst mich ja um.«

Sie hielt ihre Großmutter im Arm. Wie alt sie geworden ist, dachte sie mit Schrecken.

Im Haus roch es nach Lavendel. Sein Duft hatte ihre Kindheit begleitet. Die Schränke, Schubladen, das ganze Haus war erfüllt von

seinem überwältigenden Wohlgeruch. Getrocknet hing er an den Deckenbalken der Zimmer, lag, eingenäht in kleine Säckchen, zwischen Stapeln von Tisch und Bettwäsche.

Gegen Ungeziefer, hatte Emma ihr erklärt. Aber Emma hatte ihres Wissens noch nie etwas gegen Ungeziefer unternommen. Sorgsam pflückte sie Spinnen aus den Ecken, wenn sie überhand nahmen. Meist allerdings ließ sie Netze und Spinnen hängen, gegen Mücken, wie sie sagte. Kakerlaken im Keller überließ sie den Mäusen. Nur mit den Nacktschnecken kannte sie kein Erbarmen. Sie ertränkte sie in Dosen voller Bier oder zerschnitt sie schonungslos, wenn sie eine Gartenschere zur Hand hatte. Und ohne Gartenschere war Emma eigentlich nur im Bett anzutreffen.

»Ach, Emma …« Jetzt begann Floria doch zu weinen.

Sie hatte nicht geweint in Rom, wohin sie sich nach der niederschmetternden Diagnose geflüchtet hatte. Von ihrer Mutter, Diane, bekam sie keinen Trost.

»Damit muss man rechnen, wenn man sich übernimmt. Ich sage meinen Schülern immer …« Diane war eine berühmte Sängerin gewesen. Eine Diva. Schon bevor sie für die Sopranrollen der Oper zu alt geworden war, hatte sie begonnen junge Sängerinnen und Sänger auszubilden.

Floria kannte auswendig, was ihre Mutter predigte: »Achte auf deine Stimme, übernimm nicht zu früh Rollen, die dich überfordern.«

Ja, sie hatte recht, aber trösten konnte Diane sie nicht. Das hatte sie nie gekonnt. Ihre Mutter hatte sie in die Welt gesetzt und nichts mit einer Tochter anfangen können, die ihr zu ähnlich war.

Liebevoll nahm Emma ihre Enkeltochter am Arm. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihr den Schal abzunehmen. Floria zog ihre Jacke aus und betrat die Küche. Erleichtert ließ sie sich auf das Sofa fallen. Es war Floria nie merkwürdig vorgekommen, dass in Emmas Küche ein Sofa stand. Hier hatte sie ihrer Großmutter von ihren Kümmernissen erzählt, sich verarzten lassen, wenn sie sich verletzt hatte. Hier hatte sie mit Emma gespielt und gemalt. Und gesungen! Sie musste lachen, als sie an Emmas Bemühungen dachte, ihr Kinderlieder beizubringen.

Emma konnte keinen Ton halten, nicht einmal Hänschen klein konnte sie singen.

»Was ist?« Emma brachte eine Kanne an den Tisch und goss Floria eine Tasse Tee ein.

Sie dachte ‚Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt’. Dieser Vers aus Goethes ‚Egmont’, passte auch auf ihre Enkeltochter. So war Flo immer gewesen.

»Ich musste daran denken, wie du mir Kinderlieder vorgesungen hast, Emma. Erinnerst du dich?«

»Natürlich. Ich erinnere mich aber vor allem daran, dass meine despektierliche Enkelin sich vor Lachen gekugelt hat, weil ich keinen Ton halten konnte.«

Sie stellte eine Schale mit Keksen neben Florias Tasse und ließ sich neben ihr nieder.

»Du hast gebacken.«

Emma backte immer um diese Zeit schon die ersten Weihnachtskekse. Es überfiel sie wie ein Rausch. Es juckte sie in den Fingern endlich wieder Tannenbäume, Monde und Sterne auszustechen. Floria hatte ihr dabei geholfen, allerdings mehr von dem köstlichen Teig genascht als verarbeitet. Zum ersten Mal seit Jahren aß sie die Kekse wieder zu Hause. Emma hatte ihr das Gebäck dorthin geschickt, wo sie an den Festtagen auftrat. Egal, wo sie sich aufhielt, Mailand, New York oder Dresden.

»Magst du reden, Flo?«

»Nein, Emma, ich habe genug mit meiner Mutter geredet. Lass mich erst mal bei dir ankommen.«

»Wie du willst, meine Kleine. Aber vielleicht erzählst du mir, wer bei dir im Auto saß?«

»Woher weißt du?«

»Mein Gehör ist noch ganz gut, ich habe zwei Türen gehört.«

»Ich hatte eine merkwürdige Begegnung.«

Floria erzählte ihrer Großmutter von dem unrasierten Unbekannten mit der schönen Stimme.

»Er kannte dich, ich soll dich grüßen. Weißt du, wer das gewesen sein könnte?«

»Hier kennt jeder jeden Flo, das weißt du doch.« Sie schenkte noch einmal Tee nach.

»Wie du ihn geschildert hast, könnte es Julian gewesen sein, wortkarg ist er manchmal. Aber hier im Norden redet niemand mehr, als er muss. Wenn einer zweimal ‘Moin’ sagt, gilt er als geschwätzig.«

Sie nahm Florias Hand. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Ich bin glücklich, wenn du hier bist.«

»Ich hab dich lieb, Emma.«

»Ich weiß.«

Als Floria in ihrem Bett lag, wie früher unter rotweiß karierten Bezügen, dachte sie an die elegante Kühle, mit der sich ihre Mutter umgab.

Oft hatte sie sich gefragt, wie ihre Mutter es schaffte, die Menschen zu berühren. Auf der Bühne wurde sie eine Andere. Eine Sängerin, die mit ihrer silbernen Stimme Gefühle auszudrücken und auszulösen vermochte wie niemals im wirklichen Leben. Sie wirkte kühl und diszipliniert. Dianes Distanz ihrer Tochter gegenüber kam einer Zurückweisung gleich.

Floria konnte sich nicht vorstellen, wie ihre warmherzige, liebevolle Großmutter zu solch einer Tochter kommen konnte. Was war mit diesen unterschiedlichen Frauen geschehen?

 

Am Morgen weckten sie vertraute Geräusche. Die Schütte im Herd, als Emma die Glut rüttelte, um das Feuer neu zu entfachen. Das Klopfen an der Haustür, als der Lehrling des Bäckers Brötchen und Zeitung brachte. Als sie das Pfeifen des Wasserkessels hörte, stand sie auf und tastete mit den Zehen nach ihren Hausschuhen.

Emma, du hast dir noch immer keinen elektrischen Wasserkocher zugelegt. Du bist eine Frau, die es nie eilig hat, dachte sie.

Emma ruhte in sich. Sie kannte keinen Stress. Beneidenswert.

Seit sie auf der Bühne der Met zusammengebrochen war, hatte Floria nicht mehr so gut geschlafen wie in dieser ersten Nacht in Emmas Haus. Aber mit dem Erwachen kam auch die Erinnerung wieder. Sie sah hinaus in den grauen Himmel. Nebel hüllte die Landschaft ein. Sie konnte durch den Torbogen kaum bis zu der Schotterstraße sehen, die den Hof vom Kanal trennte. Ein zartes Spinnennetz zog sich fast über die ganze Fensterscheibe.

Floria stieg die hölzernen Stufen der Treppe hinab. Sie registrierte das Knarren der drittletzten Stufe, die sie meiden musste, wenn sie sich nachts in die Küche schlich, um einen plötzlichen Heißhunger zu stillen.

Jetzt lockte der Duft von starkem Kaffee.

Emma sah hoch, als Floria eintrat. »Hast du gut geschlafen?«

»So gut wie lange nicht mehr.«

Sie küsste Emma, setzte sich ihr gegenüber und griff nach der Kaffeekanne.

»Immer noch zuerst einen Kaffee?«

Emma faltete die Zeitung zusammen und legte sie zur Seite. Sie schob den Korb mit den Brötchen näher zu ihrer Enkelin.

Floria nickte. »Ja, zuerst Kaffee, daran hat sich nichts geändert.«

Meine Enkelin, dachte Emma, ist dünn geworden. Seit sie nach dem Abitur ihre Gesangsausbildung begonnen hatte, hatten sie sich selten gesehen. Gegen Dianes Willen und mit Emmas Geld hatte Floria einen schwierigen Weg eingeschlagen. Sie war Sängerin geworden.

Diane hatte mit allen Mitteln versucht, Floria diesen Berufswunsch auszureden. Sie hatte mit ihrer Tochter nie darüber gesprochen, aber Emma war sicher, dass Diane eifersüchtig auf ihre schöne Tochter war.

Ihre Enkelin war bei ihr aufgewachsen, nicht bei ihrer Mutter, die mit ihrer Karriere beschäftigt war. Dieses späte Kind, mit Sicherheit kein Wunschkind, machte sie älter. Als Diane feststellte, dass Floria sich zu einer sehr aparten jungen Frau entwickelte, verbot sie Flo, Mamá zu ihr zu sagen. Die wenigen Begegnungen zwischen Mutter und Tochter verliefen, je älter Floria wurde, zunehmend unerfreulich. Am Ende hatte ihre Enkelin sich geweigert, Diane in Rom zu besuchen, was ihre Mutter eher erleichtert zur Kenntnis nahm.

»Woran denkst du, Emma?«

Die Eingangstür quietschte. Eilige Schritte enthoben Emma einer Antwort.

»Emma, bist du da?«

Die Tür zur Küche öffnete sich einen Spalt breit. Ein kleines Gesichtchen erschien.

»Wo sollte ich sonst sein, Katja?«

Floria wandte den Kopf zur Tür. Ein Kobold. Staunende dunkle Augen, helle dichte Locken und ein breiter, halb geöffneter Mund.

»Komm rein, Kind, und mach die Tür zu. Es wird kalt.«

»Du hast Besuch, Emma.«

»Das ist Floria, meine Enkelin.«

»Papa sagt, ich darf dich nicht stören. Störe ich dich?«

»Nein. Komm her und sag Floria guten Tag. Ich mach dir deinen Kakao.«

Die Hand, die Katja Floria hinhielt, war ziemlich schmutzig und lag feucht in ihrer.

»Wohnst du jetzt hier?«

»Für eine Weile.«

»Eigentlich passe ich auf Emma auf. Du kannst ruhig wieder abfahren.«

Emmas Hüsteln klang eher wie unterdrücktes Kichern.

»Ah.« Floria bemühte sich ernst zu bleiben.

»Katja hilft mir bei der Hausarbeit und holt das Holz aus dem Schuppen.«

Floria amüsierte sich. Die Kleine war bezaubernd und hatte nicht die geringste Scheu auszusprechen, was ihr in den Sinn kam.

»Wenn du erlaubst, werde ich noch ein bisschen bleiben.«

»Trink deinen Kakao Katja und dann holst du mir Holz.« Emma stellte einen Becher auf den blanken Holztisch. »Das Holz, das du mir gestern gebracht hast, ist schon wieder verbrannt.« Sie deutete auf ein Körbchen, das neben dem Herd stand. Es war so klein, dass ein Kind es tragen konnte. Mein Holzkörbchen, dachte Floria. Vor knapp dreißig Jahren, erinnerte sie sich, hatte sie selbst damit den Holzvorrat geholt.

Dass Emma später den großen Korb gefüllt und in die Küche getragen hatte, war ihr damals nicht aufgefallen.

»Schau mal, das wird ein wunderschöner Tag, Flo.«

Die Sonne hatte sich gegen den Nebel durchgesetzt. Helle Flecken tanzten auf dem Dielenboden der Küche. Katja schwatzte mit Emma. Als sie begann, die Namen ihrer Freunde in der Kindergartengruppe aufzuzählen, erhob Floria sich.

»Ich glaube, ich werde heute einen langen Spaziergang machen.«

Floria sehnte sich nach frischer Luft und Alleinsein. Beides hatte ihr gefehlt in Rom.

Es war noch warm gewesen in den engen, stickigen Straßen voller Menschen. Ihre Mutter führte ein unruhiges gesellschaftliches Leben, was Floria nicht abgelenkt, sondern eher tiefer in ihren Kummer hineingetrieben hatte. Bei Emma hoffte sie Ruhe zu finden.

»Mach das. Stiefel sind in der Kammer.«

Nach einer ausgiebigen Dusche fand sie in ihrer Kommode einen dicken Wollpullover. Auch hier der Duft von Lavendel. Emma hatte nichts in ihrem Zimmer verändert, sondern alles liebevoll gepflegt. Floria bekam ein schlechtes Gewissen.

Du hast Emma in den letzten Jahren vernachlässigt, dachte sie.

Genau wie ihre Mutter war sie nur mit ihrer Karriere beschäftigt gewesen. Sie stand nun seit fünf Jahren auf den bekanntesten Opernbühnen der Welt. Wollte sie, dass es so bliebe für die nächsten Jahre? Sie würde auf vieles verzichten müssen. Die Geborgenheit, die sie hier fand, gab es nirgendwo sonst. Christof gab es nicht mehr und Emma war nicht unsterblich. Sie erschrak. Ohne Emma konnte sie sich ihr Leben nicht vorstellen. Bitte nicht, dachte sie … Emma war fast neunzig Jahre alt.

Floria ging in die Kammer, in der Gartengeräte, Gießkannen und Eimer für die Gartenarbeit aufbewahrt wurden. An einfachen Eisenhaken hingen Arbeitshosen und Gummijacken, darunter standen in einer akkuraten Reihe schwarze Stiefel in unterschiedlichen Größen. Auf einem langen Arbeitstisch warteten die Vasen, die Emma für ihre Blumensträuße brauchte. Der Wasserhahn tropfte. Floria registrierte Zeichen leichter Vernachlässigung. Emmas Leidenschaft war der Garten. Sie war keine Hausfrau.

Während sie in die Stiefel stieg, erinnerte sie sich an die Bemühungen ihrer Großmutter, diese Leidenschaft mit ihr zu teilen. Aber Floria hatte nie wirklich zugehört, wenn Emma über Jahreszeiten, Pflanzennamen oder die richtige Art zu düngen sprach. Sie hatte sich rote Stachelbeeren vom Strauch direkt in den Mund gestopft. Mit der Zunge hatte sie die haarigen Häutchen zerdrückt, sie ausgespuckt und das überraschend süße Innere geschluckt.

In Emmas Garten wuchsen Blumen und Gemüse in scheinbar wildem Durcheinander. Ein Beet stand ganz für sich und es war ihr verboten die Kräuter, die dort wuchsen, auch nur zu berühren. Ein kleiner Holzzaun grenzte es zum restlichen Garten hin ab.

»Sie sind giftig, Flo, und allein eine Berührung kann gefährlich sein.«

Sie hatte Emmas Worte genau im Ohr.

Floria nahm eine der Jacken vom Haken und öffnete die Tür der Kammer zum Hof.

Ein leises Wuff ließ sie zur Haustür sehen. Dort saß, hoch aufgerichtet, ein riesiger grauer Hund. Floria hatte keine Angst vor Hunden, dieser flößte ihr Respekt ein.

»Das ist Ramses.« Katja war mit dem kleinen Korb voller Holz neben dem Hund erschienen. Das Tier war sitzend größer als das Kind.

»Hallo, Ramses«, sagte Floria.

 

 

Alex

Floria genoss die Einsamkeit und die Stille am Kanal. Wie oft war sie hier mit Emma gegangen? Diese Landschaft hatte für sie einmal Geborgenheit bedeutet. Diese Geborgenheit spürte sie auch jetzt.

In der Schulzeit hatte Floria nicht viele Freundinnen. Sie war gerne alleine. Ihr besonderes Interesse für Musik schloss sie in gewisser Weise aus. Sie sang im Schulchor und ihr Lehrer hatte bald ihr Talent entdeckt. Immer öfter sang sie die Soli. Emma hatte sie, nach einem Gespräch mit dem Musiklehrer, zusätzlich zu ihrem Klavierunterricht bei einer Gesangslehrerin angemeldet. Nein, für Freundschaften hatte Floria wenig Zeit gehabt.

Der Kanal glich einem silbernen Band, das sich schier endlos neben ihr herschlängelte. Auf der anderen Seite des Kanals standen Schafe so dicht am Wasser, dass sie sich darin spiegelten. Floria stieg die Holzstufen zu einem kleinen Steg hinab, an dem ein gelbes Boot vertäut lag. Sie blieb lange dort sitzen, horchte auf das Gluckern des gekräuselten Wassers und die leisen Rufe, die aus dem Schilf zu ihr drangen. Ein paar Enten paddelten zwischen den Halmen.

Sie saß so lange, bis sie die Kälte spürte. Steif stieg sie die Stufen zum Ufer hoch und begann zu laufen. Floria hatte nicht bemerkt, wohin sie lief, bis sie vor seinem Haus stand. Neben der blau gestrichenen Eingangstür hing ein neues Praxisschild.

Doktor Alex Mendel praktizierte seit Jahren nicht mehr. Der alte Arzt, der Emmas und Florias Hausarzt gewesen war, wohnte noch über seiner ehemaligen Praxis und ging seiner Liebhaberei nach. Er züchtete hinter dem Haus Rosen. Alex Mendel mochte etwa fünf Jahre jünger als Emma sein. Floria lehnte gebückt, die Hände auf den Knien, am Zaun, um wieder zu Atem zu kommen.

»Sieh einer an«, hörte sie seine Stimme hinter sich. Sein Bass war unverkennbar.

»Alex!« Sie öffnete das Gartentor und fiel ihm um den Hals. Er ließ die Schubkarre los und erwiderte ihre Umarmung.

»Emma wird sich freuen, dich wieder hier zu haben. Komm mit in den Garten. Ich glaube, es ist noch etwas Kaffee da. Oder möchtest du etwas Stärkeres?« Er blinzelte ihr zu.

»Nein, Alex, keinen Alkohol.« Sie sah auf die Uhr. »Ich bin seit Stunden unterwegs und habe noch nichts gegessen.«

Er hatte sich gut gehalten. Sein weißes welliges Haar war dicht, sein Gang aufrecht. Obwohl der Oktober schon recht fortgeschritten war, gab es noch blühende Rosen. Er war offensichtlich dabei gewesen, die gelben Blätter von den Stängeln zu entfernen.

»So halten sie sich länger«, meinte er und zupfte im Vorbeigehen Laub von einem Rosenbäumchen.

»Wie geht es dir, Flo? Wirst du eine Weile bleiben?« Er klang besorgt. Sie hatte den Eindruck, dass hinter der Frage eine Besorgnis mitschwang, die nicht ihr galt.

»Ich denke, ja. Meine Ärzte haben mir Ruhe verordnet, keinen Stress.«

»Ich weiß, was passiert ist. Es tut mir wirklich leid, Kindchen.«

Er trank einen Schluck Kaffee, der inzwischen eiskalt sein musste, und verzog das Gesicht.

»Du bist jung, du wirst dich erholen«, meinte er. »Emma macht mir Sorgen.«

Floria erschrak. »Sie sieht sehr zart aus, aber sie macht mir nicht den Eindruck, als sei sie krank, Alex. Sie ist fast neunzig Jahre alt.«

»Ich weiß, wie alt sie ist!« Er sah sie zornig an.

Ich weiß, dass du sie liebst, dachte sie.

Er war, so lange sie denken konnte, an Emmas Seite gewesen. Zehn Jahre nach dem Krieg hatte er sich in eine Praxis hier in der kleinen Stadt eingekauft und war geblieben.

Zu der Zeit musste ihre Mutter elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein und Emmas Mann hatte noch gelebt. Er war der Bürgermeister des Ortes gewesen. Emma hatte selten von ihm gesprochen. Ihre Mutter nie. Es gab kein Bild von ihm, weder in Emmas Haus, noch in der Wohnung ihrer Mutter.

Es war, als habe es ihn nie gegeben.

»Hast du meinen Großvater gekannt?«

Der Doktor hob die Brauen. »Wie kommst du jetzt auf ihn?«

»Keine Ahnung, vergiss es. Für mich warst immer du Emmas Partner.«

Aber Floria wusste sehr genau, warum sie jetzt darauf kam. Mit seiner Bemerkung über Emma hatte er ihr gründlich Angst eingejagt. Emma würde eines Tages sterben. Eine entsetzliche Vorstellung. Für sie war ihre Großmutter unsterblich. Wo würde sie beerdigt werden? Sie hatten nicht ein einziges Mal das Grab ihres Großvaters besucht. Sie wusste nicht einmal, ob es eines gab.

Erst auf dem Heimweg fiel ihr auf, dass Alex ihre Frage nach dem Bürgermeister nicht beantwortet hatte.

Als sie sich Emmas Haus näherte, erfasste sie Panik. Sie rannte los.

Emma, ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.

Sie konnte sie doch nicht alleine lassen. Floria rannte in die Kammer, schleuderte die Stiefel von sich und warf die Jacke über einen Eimer.

»Da bist du ja«, sagte Emma, ohne sich nach ihr umzudrehen. Sie stand am Herd und sprach in einen großen Kochtopf hinein. »Es gibt Kartoffelsuppe mit viel Muskat. Ich hab sie auf Schinkenknochen gekocht, wie du sie am liebsten magst.«

Floria betrachtete die alte Frau. Sie war kleiner als in ihrer Erinnerung. Konnte sie wirklich in den wenigen Monaten, in denen sie Emma nicht gesehen hatte, so abgebaut haben? Oder übertrieb sie in ihrer Sorge? In den letzten vier Jahren war sie immer nur wenige Tage geblieben. Hatte sie nur ihre Karriere im Kopf gehabt und nicht gesehen, was um sie herum vorging?

»Wunderbar, ich habe einen Wolfshunger.«

»Kein Wunder, du bist nach dem Frühstück aus dem Haus gegangen und nun ist es schon wieder dunkel.«

Floria umarmte Emma. »Ich soll dich grüßen.«

»Von wem?«

»Auf dem Rückweg stand ich plötzlich vor Alex’ Haus. Er hat mir einen Schnaps angeboten.«

Emma lachte. »Lass mich los. Wenn ich nicht rühre, brennt die Suppe an. Was sagt der alte Mann?«

»Emma, Alex ist einige Jahre jünger als du.«

»Ich weiß, Kind. Das macht ihn aber noch nicht jung, nicht wahr?« Floria musste lachen. Ihre Großmutter hatte einen Hang zur Sachlichkeit, die ihr selbst fremd war. Sie mochte es blumiger, gefühlvoller, leidenschaftlicher.

»Apropos, was hörst du von deinem Dirigenten?«

»Wenig, er hat mich in Rom angerufen. Er ist sehr beschäftigt.«

»Kann er nicht mal, wenn es seiner Frau schlecht geht …?«

»Das hatten wir doch schon, Emma. Er kann nicht einfach seine Termine hinschmeißen, Verträge brechen, um seine ‚kleine Frau’, die im Übrigen schon lange nicht mehr seine Frau ist, in die Arme zu nehmen und zu trösten.«

Sie dachte an ihren zukünftigen Ex-Mann. Antonio war ein gefragter Dirigent. Ihre intensive Zusammenarbeit hatte zu mehr geführt. Sie hatten sich verliebt und vollkommen unüberlegt geheiratet.

Er war ein charismatischer Mann. Für jedes Orchester eine Zumutung. Er verlangte viel, zu viel, und sein Wunsch nach Vollkommenheit hatte auch sie manches Mal an den Rand gebracht.

Seine Auffassung von der Ehe hätte einem Sultan alle Ehre gemacht. Vielweiberei war der Begriff, der ihr dazu einfiel.

»Wir lassen uns scheiden, Emma.«

»Jetzt schon?«

Floria musste lachen. »Das klingt, als hättest du fest mit einer Scheidung gerechnet. Nur nicht schon nach zweieinhalb Jahren.« In Wahrheit, dachte sie, war ihre Ehe schon nach drei Monaten nur noch eine Farce.

»Hab ich auch.« Emma rührte heftiger. »Du musst geliebt werden, nicht einem hässlichen Zwerg als Schmuck dienen.«

»Emma!«

Ein schöner Mann war Antonio in der Tat nicht. Aber er war erfolgreich und allein das schien die Frauen zu beeindrucken. Er war nicht groß und versuchte diese Tatsache mit hohen Absätzen zu kaschieren. Sein Haar trug er lang und gelockt, was ihn ein paar Zentimeter größer aussehen ließ. Aber Emma hatte nicht recht. Körperlich klein war er als Dirigent doch ein Riese. Damit hatte er auch sie betört.

»Ich zieh mich um.«

»Wir haben Besuch zum Abendessen.«

Floria hörte Emma nicht mehr. Sie duschte lange und heiß. Dann wühlte sie in ihrer Kommode und förderte sehr bequeme Hosen und ein warmes kariertes Männerhemd zutage. Dazu zog sie dicke geringelte Wollsocken über die Füße. Das Haar fiel ihr feucht über den Rücken. Floria setzte eine riesige Brille auf die Nase. Ihre Kontaktlinsen ließ sie im Bad liegen.

Nach einem Blick in den Spiegel dachte sie, wie gut, dass keine Fotografen in der Nähe sind.

Nein, Fotografen würden sie hier vermutlich nicht finden, aber sie musste zugeben, dass der Hype um ihre Person ihr geschmeichelt hatte. Solange sie erfolgreich gewesen war, hatte es nicht an Kontakten gemangelt. Würden die alten Freunde sich noch melden? Oder fiele sie in das tiefe schwarze Loch, das Vergessen hieß? Von ihrer besten Freundin Susan hatte sie noch nichts gehört. Floria ließ das Handy liegen und flüchtete zu Emma in die Küche, bevor die Verzweiflung sie überfiel.

 

 

Julian

Schon auf der Treppe hörte sie Emma. »Lass mich sofort hier runter, du unverschämter Kerl.«

Katjas helles Lachen. Dann Klappern von Geschirr und Besteck. Was tat die Kleine um diese Zeit hier? Hatte sie kein Zuhause?

Floria öffnete die Küchentür. Emma saß auf dem halbhohen Schränkchen zwischen zwei Fenstern an der linken Küchenwand. Ihre Füße baumelten fünfzig Zentimeter über dem Küchenboden. Katja verteilte Suppenteller auf dem Tisch. Ein Mann mit einem Brotmesser in der Hand stand vor ihrer Großmutter.

»Du wirst da sitzen bleiben, Emma, bis wir den Tisch gedeckt haben.« Er drehte sich um und blickte direkt in Florias aufgerissene Augen. Sie starrte auf das Messer in seiner Hand.

Er legte es, ohne den Blick von ihr zu nehmen, neben den Brotlaib auf der Anrichte. Langsam verzog sich sein Gesicht. Floria war sich nur allzu bewusst, was er sah.

»Ah, Sie besitzen wenigstens eine Brille«, sagte er.

»Floria, das ist Julian, Katjas Vater. Und nun lass mich endlich hier runter. Was soll denn meine Enkelin denken?«

»Ich glaube, sie denkt gar nichts.«

Floria hatte sich noch nicht gerührt.

»Ich besitze selbst ein Auto und an Frauen bin ich nicht interessiert.«

Floria dachte an die erste Begegnung mit ihm. Wie hatte er denn diesen Kobold zustande gebracht?

»Guten Abend«, stieß sie endlich hervor und kam sich unendlich dämlich dabei vor.

»Emma hat Kartoffelsuppe gekocht, meine Lieblingssuppe. Isst du mit uns?«

Katja fragte ganz unbefangen. Floria fühlte sich plötzlich von diesem Kind ausgeschlossen.

Das ist meine Lieblingssuppe und Emma gehört mir, nicht dir.

Floria ließ sich auf einen Stuhl fallen. Mein Gott, was denke ich denn nur. Bin ich etwa eifersüchtig auf ein kleines Kind, das wie alle Kinder glaubt, die Welt gehöre ihm? Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie am Morgen mit der Frage erwacht war, was der Tag für sie bereithielte. Sie fühlte sich plötzlich alt. Alt und hässlich.

Floria wünschte sich weit weg. Weg aus dieser Küche, in der sie sich wie ein Eindringling vorkam.

»Deine Socken gefallen mir«, sagte Katja ernsthaft.

»Ja, meine Tochter hat einen exzellenten Geschmack, die gefallen mir auch.«

Wie reizend sie aussieht, dachte Julian. Riesig saß die Brille in ihrem ungeschminkten Gesicht. Die kräftigen Farben ihres Hemdes ließen ihre Wangen schimmern. Die Schlabberhosen über den dicken Ringelsocken waren an Garstigkeit kaum zu überbieten. Er stellte den schweren Suppentopf auf den Tisch.

»So, Emma, jetzt darfst du dich zu uns setzen.« Er hob ihre Großmutter von der Kommode, als sei sie gewichtslos.

Wieder kroch die Angst, sie zu verlieren, in ihr hoch.

Wie eine Herbergsmutter teilte Julian die Suppe aus. Er gab einen Klacks Creme fraiche auf jeden Teller. Die eiserne Pfanne mit den in Butter gebratenen Brotwürfeln stellte er mit einem Untersetzer ebenfalls auf den Tisch.

»Nein, Katie, du wartest bis Emma anfängt.« Die Kleine ließ den Löffel sinken.

»Warum?«

»Weil dies Emmas Küche ist und hier ist sie die Bestimmerin wie du in deinem Kinderzimmer.«

Sie nahm Katjas unbefangenes Geplauder wahr. Sie hörte Emmas Gelächter und Julians Stimme. In Gedanken war sie weit weg. In den letzten Jahren hatte sich alles um sie gedreht. Floria Mura. Ein neuer Stern am Opernhimmel. Es hagelte Preise. Kein Tag, an dem nichts über sie in der Zeitung stand, nicht ein Bild erschien oder Rezensionen über ihren letzten Auftritt auf einer der großen Bühnen der Welt. Sie hatte nicht den Eindruck, dass dieser Julian je von ihr gehört hatte. Er kannte sie nur als Emmas Enkelin. Sie war nicht sicher, ob ihr das gefiel. Jetzt, in diesem Aufzug, hätte sie sowieso kein Mensch erkannt, dachte sie in einem Anfall von Selbstironie.

»Du musst lauter sprechen, Liebling. Floria sieht schlecht und hören tut sie offenbar auch nicht so gut.«

Als sie ihren Namen hörte, hob sie den Kopf.

»Was?«

»Man sagt, wie bitte.«

Emma lachte. »Das hab ich Floria auch immer gesagt, Katja, aber sie gehorcht manchmal nicht, genau wie du.«

»Zeigst du mir dein Zimmer?« Katja wiederholte ihre Frage.

»Nicht heute, Katja, ein andermal.« Floria fror trotz der heißen Suppe und war unendlich müde.

Emma stand auf. »Ich habe einen Pudding im Kühlschrank.« Katja war sofort abgelenkt.

»Für mich nicht mehr, Emma. Ich gehe schlafen.« Floria schleppte sich die Treppe hoch und stieg, so wie sie war, in ihr Bett.

 

 

Thomas

Am nächsten Morgen wachte Floria verschwitzt und zerschlagen auf. Immer wieder träumte sie diesen Traum: Sie stand auf der Bühne und starrte in einen dunklen Zuschauerraum. Sie musste singen, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle.

Floria setzte sich auf. Ihr war schwindelig, sie hatte Kopf und Halsschmerzen.

Das kann ja heiter werden, dachte sie unglücklich.

Sie hatte jahrelang an nichts anderes als an ihre Stimme gedacht. Sie mied klimatisierte Räume, ging nur gelegentlich in Restaurants und umarmte selten jemanden. Erkältungen konnte sie sich nicht leisten. Sie versuchte sich so gut wie möglich vor Ansteckungen zu schützen.

In ihrer Tasche wühlte sie nach Medikamenten.

Leises Klopfen ließ sie hochblicken.

»Ja?«

Emma öffnete die Tür und blieb erschrocken stehen. Die Hand, die einen Becher hielt, zitterte ganz leicht.

»Flo, wie siehst du denn aus?«

Sie kam herein, stellte den Becher ab und meinte resolut: »Du legst dich sofort wieder hin. Ich lasse den Doktor kommen.«

Floria wurde wieder zum Kind. Sie ließ sich ohne Widerstand in die Kissen drücken, hob brav den Kopf und trank ein paar Tropfen Tee, die Emma ihr einflößte.

Floria spürte die Hand ihrer Großmutter auf der Stirn und dämmerte wieder weg. Ein Gefühl, als ob sie flöge. Sie ließ sich treiben, hörte nicht mehr, dass Emma das Zimmer verließ, nicht das Knarren der drittletzten Stufe und auch nicht Emmas Stimme, die ins Telefon brüllte.

Sie könne ihre Gesprächspartner auch ohne Telefon erreichen, behauptete Alex Mendel immer. Aber Emma lachte nur und meinte ungerührt: »Sicher ist sicher.«

Während sie Ingwer raspelte, dachte Emma über ihre Enkelin nach. Ihr eigenes Leben ging zu Ende, Florias begann erst. Flo sah so entsetzlich traurig aus, blass und ohne ihren sprühenden Witz war sie kaum wiederzuerkennen. Floria hatte sich verändert. In ihren dunklen Augen sah Emma den Schmerz und sie fragte sich besorgt, was sie tun könnte, um ihre einzige Enkelin aufzuheitern. Ihr einen Weg zu zeigen, auch ohne Gesang, wenn das sein müsste, glücklich zu werden. Ihre Ehe war gescheitert, sie hatte ihre große Liebe verloren, ihre Stimme …

Mein armes Mädchen, dachte sie.

Floria hatte den tödlichen Unfall des jungen Komponisten, seit sie zurück war, mit keinem Wort erwähnt. Sie hatte nicht über ihren Kummer gesprochen. Aber Emma las Zeitung. Sie las alles, was über Floria Mura geschrieben wurde. Und ihre Enkelin war für sie ein offenes Buch.

Ich muss dich zum Reden bringen, meine Kleine. Wenn du nicht über deine Gefühle sprichst, kannst du nicht gesund werden.

Ohne es zu ahnen, kam Emma zu dem gleichen Schluss wie Florias Spezialist in New York.

Als das Wasser kochte, gab sie den geraspelten Ingwer mit einem Löffel Honig zusammen in den Topf und ließ alles gut zwanzig Minuten köcheln.

Emma schloss ihre Türen am Tage nie ab. Alle, die zu ihr kamen, standen unvermittelt in ihrer Küche oder gingen in den Garten hinter dem Haus. Sie hatte einen guten Ruf als Kräuterhexe, wie die Leute sagten, wenn sie nicht in der Nähe war. Heilerin war der Begriff, den sie selbst verwandte.

Was heilte, konnte auch töten, dachte sie, als sie den Topf mit dem Ingwersud vom Herd zog.

»Das duftet sehr gesund. Guten Morgen, Emma.« Doktor Thomas Müller umarmte die alte Frau vorsichtig. »Ich sehe, du brauchst mich gar nicht.« Er betrachtete die Kräuter. Lindenblüten, Salbei und Thymian lagen auf dem Tisch. Er hob den Deckel von ihrem Kochtopf.

»Setz dich, Thomas, und nimm die Finger von meinem Topf. Kaffee?«

»Gerne.« Er stellte seine Arzttasche neben einen Stuhl. Emma war noch sehr beweglich. Aber er musste aufpassen, dass sie sich nicht übernahm. Sie war nicht unsterblich, wie er mit Bedauern feststellte. Er mochte diese kluge Frau, wie alle in der kleinen Stadt. Sie gehörte einfach dazu und würde eine schmerzhafte Lücke hinterlassen, wenn sie einmal nicht mehr war.

Genau wie der alte Gauner, sein Vorgänger, Doktor Alex Mendel. Thomas spielte am Abend gerne mit ihm Schach. Er trank seinen ausgezeichneten Brandy und hörte die Geschichten an, die Mendel erzählte.

Das dröhnende Gelächter der beiden hörte man oft nach Praxisende aus den geöffneten Fenstern bis auf die Straße. Der Doktor und sein Nachfolger, Mendel und Müller, sagten die Leute und blieben einen Moment stehen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hatte sich Emma etwas Mädchenhaftes bewahrt. In ihrer Jugend musste sie eine sehr anziehende Frau gewesen sein. Diese Anziehungskraft hatte sie nicht verloren. Er konnte Mendel gut verstehen. Der Alte war immer noch in sie verknallt.

»Was ist?«

»Ich soll dich von Alex grüßen. Er kommt heute noch vorbei.«

»Und, ist das ein Grund frech zu grinsen?«

»Ich hab mich nur über eure junge Liebe gefreut.« Bevor sie ihm das Handtuch an den Kopf werfen konnte, schnappte Thomas sich seine Tasche und verschwand nach oben.

»Ich seh mal nach der Patientin.«

»Mach das.« Emma sah ihm nach. Junge Liebe? Ja, sie liebte Alex Mendel. Wenn er nicht gewesen wäre … Ihr Leben hätte eine andere Wendung genommen, nach dem Tod des Bürgermeisters, vor fast sechzig Jahren. Damals hatte Alex gerade in der Praxis eines älteren Kollegen angefangen, der einen Nachfolger suchte. Alex hatte den Totenschein für den Bürgermeister ausgestellt. Tod durch Herzversagen.

Dein Herz hat versagt, dachte sie, in jeder Beziehung. Falls du überhaupt eines hattest.

Diane war zwölf, als der Bürgermeister starb.

»Warum weinst du nicht, Mamá?«, hatte sie gefragt, während sie selbst in Tränen zerfloss.

»Ich weine innen drin, Diane. Meine Tränen sieht man nicht.«

Aber Emma weinte nicht, jetzt nicht und auch später nicht. Diane war untröstlich und nahm ihrer Mutter übel, dass es ihr nicht genauso erging. Ihre Entfremdung hatte damals begonnen. Manches Mal hatte sie sich gefragt, was ihre Tochter wahrgenommen hatte.

Emma räumte die Kaffeetassen vom Tisch. Sie lauschte den Schritten des jungen Arztes, hörte, wie oben eine Tür geöffnet wurde.

Er erinnerte sie mit den dunklen Haaren und den fast schwarzen Augen ein wenig an den Jungen, den sie als Siebzehnjährige geliebt und verloren hatte. Damien. Ein französischer Kriegsgefangener auf der Flucht. In einem Verschlag hinter seinem Atelier hatte ihr älterer Bruder Theo den Franzosen versteckt und verpflegt. Kurz vor Ende des Krieges waren sie aufgeflogen. Trotz seines Schwures, es nicht zu tun, hatte der Bürgermeister die beiden jungen Männer verraten. Dass er es war, hatte sie erst gut zwölf Jahre später erfahren. Nach zwölf Jahren Ehehölle.

Ihr großer Bruder war für Emma alles gewesen. Nachdem ihre Eltern nicht mehr lebten, hatte er für seine kleine Schwester gesorgt.

Sie sah Theos hagere Gestalt in seinem Atelier vor der Staffelei stehen. Den Pinsel wie einen Taktstock in den schlanken Händen. Er dirigierte die Farben auf die Leinwand.

Immer wieder hatte er sie gemalt. Sie war sein Modell gewesen.

Sie blickte auf, als sie den Doktor kommen hörte. »Ich fürchte, Emma, nur mit Kräutern kommen wir hier nicht weiter. Ich werde ein paar Medikamente aufschreiben. Ich lasse sie dir schicken.«

Er sah sie an. »Im Zimmer deiner Enkelin hängt ein zauberhaftes Mädchenbild.«

»Ich weiß, eines der vielen Bilder, die mein Bruder von mir gemalt hat.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, es zu verkaufen?«

»Nein, Thomas.«

»Falls du je darüber nachdenkst, Emma, denk an mich.« Er zog sich seine Jacke über.

»Du kannst deiner Enkelin mit deinen Hexenkünsten die Schmerzen erleichtern. Aber das Heilen überlässt du diesmal mir.«

Er umarmte sie kurz. »Ich komme morgen wieder.«

Emma hörte die Haustür zufallen.

 

Floria fühlte sich immer noch zerschlagen und müde. Sie war mager geworden. Der Doktor kam jeden Tag. Er konnte sich nicht erklären, warum seine Patientin sich nicht erholte.

»Gibt es etwas, was Sie bedrückt?«

»Ich fühle mich schon viel besser, Doktor.«

Thomas glaubte ihr kein Wort. Sie machte einen depressiven Eindruck.

»Wenn Sie reden wollen …«

Floria schloss die Augen und wandte den Kopf ab. »Danke, Doktor.«

Als er ihr Zimmer verließ, fiel sein Blick wieder auf das Portrait. Ein junges Mädchen oder schon eine junge Frau im Halbprofil. Er sah noch einmal zurück zu Floria und erkannte nicht zum ersten Mal die Ähnlichkeit zwischen Emma und ihrer Enkelin.

Emma saß am Küchentisch. Darauf ausgebreitet lagen farbige Gartenkataloge, die sie konzentriert studierte. Als Thomas die Küche betrat, nahm sie die Brille von der Nase und legte ein großes rundes Vergrößerungsglas zur Seite.

»Ich mach mir Sorgen um deine Enkelin. Mir scheint, sie will nicht gesund werden.«

Er nahm den Kaffee, den Emma ihm reichte.

»Danke.«

»Aber das Fieber ist runter?«

»Ja. Eben deswegen verstehe ich ihre Apathie nicht. Sie könnte wieder für ein paar Stunden aufstehen. Sie schläft zu viel.«

»Ich weiß«, sagte Emma. »Aber ich habe keine Ahnung, wie ich daran etwas ändern kann.«

»Gibt es etwas, das ich wissen müsste?«

Emma zögerte. Sollte sie über etwas reden, worüber Floria sich weigerte zu sprechen?

»Keine Antwort ist auch eine.«

»Thomas, du musst verstehen, dass ich nicht …«

»Emma, ich verstehe. Ich werde versuchen, sie zum Reden zu bringen. Mach dir keine Gedanken.«

 

 

Schach

»Wie geht es Floria?« Der alte Arzt sah vom Schachbrett auf und fixierte seinen jungen Kollegen.

»Was weißt du über sie, Alex?«

»Viel. Ich kenne sie schließlich, seit sie geboren ist.«

»Neigt sie zu Depressionen?«

»Nein. Aber in der letzten Zeit ist viel passiert in ihrem Leben.«

»Was?«

»Schachmatt!« Alex warf den König des jungen Arztes um und

lehnte sich zufrieden zurück.

»Verdammt.«

»Liest du eigentlich keine der Zeitschriften, die in deiner Praxis rumliegen?«

»Nie.«

»Ich wette, du weißt nicht wer Floria Mura ist.«

»Emmas Enkelin?«

Alex Mendel stand auf, suchte eine Weile in einem Zeitungsständer herum und reichte Thomas eine Hochglanzzeitschrift. Auf dem Cover posierte eine bildschöne elegante Frau: Floria Mura.

»Lies das! Das beantwortet wenigstens zum Teil deine Fragen. Noch einen Brandy?«

»Nein danke.« Thomas verschwand erstaunlich schnell im unteren Teil des Hauses. Das Heft nahm er mit.

»Wenn das mal nur ärztliches Interesse ist.«

Doktor Mendel goss sich noch ein Glas ein.

Sein Interesse an Emma war niemals nur ärztlicher Natur gewesen. Sie hatte ihn vor zirka sechzig Jahre gerufen. Damals war er ein junger Arzt. Neu in einem gemütlichen Städtchen mit roten Backsteinhäusern, an deren Mauern Rosen blühten, engen Straßen mit Kopfsteinpflaster und einem weiß verputzten Rathaus. Der Marktplatz in der Mitte des Ortes wurde eingerahmt vom Haus des Bürgermeisters, zwei alten Hotels und einem grässlichen Neubau. Ein schmales Gewässer zog sich durch die ganze Stadt. Aber Alex Mendel wollte mehr. Sein Ziel war es, in einer Großstadt, vielleicht sogar im Ausland zu arbeiten. Als die Frau des Bürgermeisters ihm zum ersten Mal die Tür öffnete, wusste er, dass er seinem Schicksal gegenüberstand. Er hatte sich auf den ersten Blick in diese Frau verliebt, die ihn mit einem kräftigen Händedruck begrüßte. Schönen kräftigen Händen, denen man ansah, dass sie zupacken konnten.

Doktor Mendel trank seinen Brandy aus, löschte die Lichter und begab sich zur Ruhe. Er hatte nie bereut, geblieben zu sein. Sein Zuhause war da, wo Emma war.

 

 

Sauerkrautauflauf

Emma hatte die Pflanzenkataloge zur Seite gelegt und den Tisch gedeckt. Vielleicht würde der Sauerkrautauflauf mit Kartoffelbrei, der praktisch aus Butter bestand, Floria aus ihrem Zimmer locken. Das Sauerkraut, in Sekt und Honig gekocht, gehörte zu den Lieblingsspeisen ihrer Enkelin.

Auch Alex liebte diesen Auflauf. Sie hatte ihn eingeladen. Er steckte so voller wunderbarer Geschichten. Sie hoffte, dass er Flo damit ein wenig aufheitern konnte.

Alex hatte ihr die Lust am Leben und der Liebe wiedergegeben. Sie sah ihn als jungen Arzt bei ihrer ersten Begegnung. Emma hatte am Morgen, an dem sie den Bürgermeister tot in seinem Bett fand, darum gebeten, Doktor Mendel zu schicken, nicht den alten Arzt, der ein Freund ihres Mannes gewesen war. Dieser Bitte war die Arzthelferin nachgekommen. Es wäre zu bitter gewesen, hatte Emma argumentiert, wenn ein Freund seinen Tod bescheinigen müsse.

»Selbstverständlich, Frau Bürgermeister.«

Nach der Feuerbestattung ihres Mannes war Emma mit ihrer Tochter in das geräumige alte Bauernhaus ihrer Eltern am Kanal gezogen. Im Haus am Markt zog der neue Bürgermeister ein. Seit beinahe sechzig Jahren waren sie und Alex nun ein Paar.

Als sie ihn kommen hörte, griff sie sich ordnend in ihr weißes Haar. Ihr Gesicht war gerötet von der Hitze, des Herdes. Emma nahm die Schürze ab und wandte sich zur Tür, als Alex eintrat. Sie war immer noch eitel.

»Mein Schöne.« Er nahm sie in den Arm. »Hier duftet es paradiesisch.«

»Lass mich los, alter Zausel. Flo könnte…« Er drückte sie fester. »Weißt du noch, wie sie am Sonntagmorgen immer in unser Bett gekrochen kam? Floria hat sicher schon bemerkt, dass du mich liebst.«

»Tu ich das?«

Er lachte. »Ja, das weiß ich, auch wenn du es zu verbergen suchst.«

Er sah sich um. »Wo ist das Kind?«

»Oben. Du könntest sie herunterlocken.«

»Bin schon unterwegs.«

Als Emma die Treppenstufe knarzen hörte, nahm sie den Korkenzieher aus der Schublade und legte ihn neben die Weinflasche, die er mitgebracht hatte.

Wie lange werden wir uns noch haben, mein Lieber. Emma wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Reiß dich zusammen, du dumme alte Frau.

Sie öffnete die Herdklappe und stellte den Auflauf auf den Tisch.

Floria war totenbleich. Die Grippe hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestand. Doktor Mendel erschrak. Dass sein junger Kollege sich Sorgen machte, konnte er bei ihrem Anblick verstehen.

»Na, Kleine. Emma hat dein Lieblingsgericht gekocht.«

»Sauerkrautauflauf? Ich kann es riechen. Und deines, wenn ich mich recht erinnere?«

»Genau. Deshalb gehen wir zwei jetzt in die Küche und essen. Wir können sie nicht enttäuschen.«

Nein, das konnten sie nicht. Wenn sich in ihr auch alles sträubte, sie würde sich zum Essen zwingen. »Ich zieh mir was über, Alex, bin gleich da.«

Flora trug einen uralten Kapuzenpullover und viel zu weite Jogginghosen. Elegant ist anders, dachte sie, als sie die warme Küche betrat.

»Da bist du ja, Flo. Das Essen ist fertig, wir können gleich anfangen.«

Floria biss in die braune knusprige Kruste, die den Auflauf bedeckte. Mit dem Geschmack kamen ihre Erinnerungen wieder, an die Zeit, die sie hier verbracht hatte.

Sorglos, so würde sie ihre Kindheit und Jugend beschreiben. Alex und Emma waren immer für sie da gewesen. Ihre Mutter hatte ihr nicht gefehlt. Dianes seltene Besuche waren eher störend gewesen, um nicht zu sagen, desaströs. Von ihrem Vater hatte sie nichts gewusst und nichts gewollt. Die Kerzen auf der Fensterbank flackerten. Florias Wangen bekamen im Lauf des Abends Farbe. Ihre Gespräche drehten sich um die gemeinsame Vergangenheit.

 

 

Tim

Am nächsten Morgen weckte Katjas helle Stimme Floria. Gestern, in Alex’ und Emmas Gesellschaft, hatte sie für Stunden ihr Unglück vergessen können. Jetzt überkam sie die Angst vor der Zukunft mit aller Macht. Sie war allein. Nie wieder würde Christof sie in die Arme nehmen. Mit ihm hatte sie ihre Stimme und ihre Zukunft verloren.

Du musst aufstehen, es nützt nichts, dir das Kissen über den Kopf zu stülpen.

Sie hörte ihr eigenes Kinderlachen, wenn sie am Morgen mit Emma in den Garten ging. Vorbei an der Sandkiste und der hohen Schaukel, die auch jetzt noch an dem alten Apfelbaum hing. Floria konnte hören, dass Katja darauf saß. Das leise Knarzen der Seile am Ast des Baumes verriet es ihr.

»Wir müssen sie für den Winter abnehmen, Katja.«

»Warum, Emma?«

»Damit die Seile, wenn es friert, nicht brechen.«

»Kannst du da hochklettern?«

Emmas Lachen.

»Nein, Katja. Tim nimmt sie ab, und nächstes Jahr im Frühjahr hängt er sie für dich wieder auf.«

Jedes Jahr hatte Floria sehnsüchtig auf die Schaukel gewartet. Der Baum, glaubte sie damals, wartete mit ihr. Er sah doppelt kahl aus, ohne seine Blätter und ohne die starken Seile, die ihre Schaukel hielten.

»Sei ruhig, Ramses. Das ist doch nur Tim.«

Katjas Stimme wurde leiser. Das Bellen des Hundes brach ab.

»Moin, Emma.« Die tiefe Stimme des Gärtners klang wie immer, fröhlich und gelassen.

»Moin, Tim.«

»Wir kriegen Schnee.«

»Wann?«

»In den nächsten Tagen.« Tim war so wortkarg wie alle hier.

»Du musst meine Schaukel abnehmen, Tim, hat Emma gesagt.«

»Dann wollen wir mal, Mädchen. Nimm mir den Höllenhund von den Füßen, damit ich die Leiter anstellen kann.«

»Mach auch gleich den Schnitt.«

»Alles klar, Emma.«

»Tut das weh?«

»Ne, Mädchen, ist wie Haare schneiden.«

Floria hörte das metallene Scheppern der Leiter, die Tim unter dem Baum aufbaute. Tim, dachte sie, war schon immer Emmas Helfergewesen.

Er konnte alles und ihn als Gärtner zu bezeichnen, griff viel zu eng.

Er strich Emmas Haus an, deckte das Dach, falls es durchregnete und kümmerte sich um alles, was anfiel. Tim hatte ihr auch gezeigt, wie man Würmer ausgrub und auf den Angelhaken spießte.

Wenn sie einen oder zwei winzige Fische aus dem Kanal gezogen hatte, schabte Emma die Schuppen ab, nahm sie aus, rieb sie mit Kräutern und Gewürzen ein und briet sie in Butter. Floria lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen.

Die Haustür ging auf und klappte wieder zu. Floria warf Kissen und Daunendecke zur Seite und stellte die bloßen Füße auf den kalten Fußboden.

In der Küche roch es nach Hefeteig und schwarzem Kaffee. Frische Rosinenschnecken standen auf der Anrichte und die Kaffeekanne stand dampfend auf dem Tisch.

»Guten Morgen.«

Floria küsste Emma auf die Wange. Sie war eiskalt.

»Du bist ja ganz kalt, Emma.«

»Kein Wunder, ich war bis eben draußen. Tim ist da.«

»Ich weiß, hab Katja und ihn gehört.«

Emma stellte die Schnecken auf den Tisch und schenkte Floria Kaffee ein.

»Wir müssen den Garten auf den Winter vorbereiten.«

»Ja, den Apfelbaum beschneiden, Rosen abdecken und sicher hast du noch ein oder zwei Zwiebeln im Keller, die vor dem Frost in die Erde müssen?«

Emma sah ihre Enkelin amüsiert an. »Du hast ja doch aufgepasst.«

Floria sah Emma nach. »Ich will nur eben noch Tim ein bisschen unterstützen.«

Sie kannte diesen Satz. Wenn Emma ‚ein bisschen’ in den Garten ging, konnte das bedeuten, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder hereinkam.

Sie aß eine der Rosinenschnecken und trank ihren Kaffee. Floria blätterte durch die Gartenprospekte auf dem Tisch. Ganz zuunterst fand sie eine Zeitschrift.

Trauer um Christof Corman

Die Schlagzeile flimmerte vor ihren Augen. Sie sah nach dem Datum des Artikels. Die Zeitschrift war drei Wochen alt. Exakt der Tag, an dem sie in ihren Fieberträumen versank. Die Trauerfeier hatte in seiner Heimatstadt ohne sie stattgefunden. Sie hatte sich nicht einmal verabschieden können. Schwerfällig stand sie auf. Warum hatte niemand sie benachrichtigt?

 

 

Susan

Floria stieg die Treppe nach oben, ließ sich auf ihr Bett sinken und starrte an die Decke. Ihr Handy lag nutzlos und leer auf dem Tisch, auf dem sie es vor Wochen abgelegt hatte. Die Stimmen von Emma und Tim klangen zu ihr hinauf. Katjas Lachen und Ramses verhaltenes Bellen.

Würde sie je wieder singen? Im Moment würden sie keine zehn Pferde auf eine Bühne bringen. Sie zitterte, wenn sie nur daran dachte, wieder auftreten zu müssen. »Sie müssen ihre Trauer zulassen, Ihr Problem ist nicht so sehr ein physisches als vielmehr ein psychisches.« Ihr Arzt in New York war sehr deutlich geworden. »Solange Sie nicht auf Ihre Seele hören, werden Sie nicht auftreten können.«

Floria schlief ein und erwachte Stunden später. Aber ihr Schlaf war kein erholsamer. Sie wachte, wie immer in den letzten Wochen, verspannt und verschwitzt auf.

»Floria?« Sie schlug die Augen auf.

»Susan!« Floria streckte die Arme nach der Freundin aus. »Du bist da. Ich dachte, ich hätte dich verloren.«

»Du siehst furchtbar aus.« Susan nahm sie in die Arme. Sie hatte eine sehr direkte Art, die Dinge auszusprechen. »Warum kann man dich nicht erreichen? Ich habe geschrieben, du weißt, dass ich in China war. Ein furchtbares Volk, aber wahnsinnig interessiert an westlicher Musik. Sie haben dort so viele unglaublich begabte junge Leute. Das kannst du dir nicht vorstellen. Ich konnte deiner Mutter nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, aber die Frau ruft ja nicht zurück.«

Susan holte Luft, was Floria in die Lage versetzte zu antworten.

»Susan bitte …«

»Ich weiß, ich rede zu viel.« Sie lachte.

»Steh auf! Ich seh mal nach Emma. Ich glaube, sie kocht. Außerdem brauche ich einen von ihren grässlichen Kräuterschnäpsen.« Im Vorbeigehen schnappte sie sich Florias Handy, sah kurz auf das dunkle Display und meinte: »Das solltest du vielleicht mal aufladen.«

Susan, dachte Floria, glich einem freundlichen Sturmwind, der allen Kummer wie Herbstblätter hochwirbelte und vor sich her trieb.

Kaum war ihre Freundin aus dem Zimmer, überfiel sie der Wunsch, in ihrem Bett zu bleiben.

Steh auf, sagte sie sich, lass dich nicht hängen, reiß dich zusammen.

Floria schloss ihr Handy an und lief die Treppe hinunter, in eine warme gemütliche Küche. Susan saß, die Füße hochgezogen, in einer Ecke des Sofas. Sie hielt ein Glas mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit in der Hand.

Emma stand am Herd und rüttelte an einer Pfanne.

»Es gibt Apfelpfannkuchen mit Zimt und Zucker.« Emma brachte eine große Platte, beladen mit einem Turm von duftenden Pfannkuchen, an den Tisch.

Susan unterhielt sie mit Tratsch aus der Theaterszene. Florias Probleme wurden nicht angesprochen. Als Emma sich erhob, um abzuräumen, schickte Susan sie ins Bett.

»Geh schlafen, Emma, Floria und ich erledigen den Abwasch.«

»Deine Großmutter gefällt mir nicht. Sie wirkt müde.«

Floria nickte bedrückt. »Sie hat abgebaut, ich weiß. Emma wird neunzig.«

»Du solltest ihr ein wenig helfen, solange du da bist.« Susan stellte das Geschirr in die Maschine und dachte, ich sollte lieber sagen: Solange sie da ist.

Erst auf der Treppe spürte Emma, wie erschöpft sie wirklich war.

Du bist eine alte Frau, musst dich also nicht wundern, sagte sie sich.

Sie freute sich über Susans Besuch. Vielleicht konnte sie Floria etwas aufheitern, ihr selbst war es bisher nicht gelungen. Ganz im Gegenteil. Ihre Enkelin hatte ganz offenbar den Artikel über Christof Cormans Trauerfeier gefunden.

Die Zeitschrift hatte Emma kurz vor Susans Eintreffen aufgeschlagen auf dem Tisch entdeckt. Thomas hatte sie bei einem seiner häufigen Hausbesuche mitgebracht.

Im Bett griff sie nach dem Telefon.

»Alex, mein Lieber, ich will dir nur eine gute Nacht wünschen.«

»Gibt es etwas Besonderes, Emma?«

»Heute ist Susan gekommen. Du kennst Florias Freundin. Ich erwarte mir viel von ihrem Besuch.«

»Ja, das ist sicher gut. Ich werde gleich Thomas Schachmatt sagen.«

Emma hörte Thomas schnauben und sein: »Wenn er sich da mal nicht täuscht.«

»Gute Nacht, Alex.«

»Schlaf gut, Emma.«

Du hast mich glücklich gemacht, Alex Mendel, dachte Emma, bevor sie einschlief.

Susan hatte die Nacht in Florias breitem altmodischem Eisenbett verbracht. Sie hatten sich zu viel zu erzählen, als dass sie sich hätten trennen können. Es stellte sich heraus, dass Diane Floria die Post nicht nachgeschickt hatte.

»Ich habe die Post aus deiner Wohnung in NY geholt und ihr geschickt. Ich habe versucht sie zu erreichen und Nachrichten hinterlassen.«

»Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.« Floria wunderte sich.

»Sie hat nicht davon gesprochen, verreisen zu wollen, als ich bei ihr in Rom war.«

Floria nahm ihr Handy vom Nachttisch und traute ihren Augen nicht. Der Speicher war voll. Unter anderem mit Susans SMS-Mitteilungen.

»Vielleicht hat sie mit Emma gesprochen?«

»Sei nicht albern, deine Großmutter hätte es dir doch gesagt.«

»Ich werde Diane nachher anrufen.« Floria ließ sich zurück in die Kissen fallen.

»Nein, nein, meine Liebe, kein Chance. Wir stehen jetzt auf, trinken einen Kaffee und dann rufst du an.«

Susan sprang aus dem Bett und riss die Vorhänge auf. Schnee, der Hof war weiß.

»Flo, steh auf, es hat geschneit.«

Floria grummelte und wühlte sich tiefer in ihr Kopfkissen.

»Bitte nicht.«

»Jetzt!«

Mit einem Ruck wurde ihr die Bettdecke weggerissen.

»Lass mich. Noch eine Minute.«

»Oh, nein. Du stehst sofort auf.«

Susan stand über ihr, ein Rachengel mit der Decke vor der Brust.

»Emma hat sicher nichts dagegen, dass wir im Schlafanzug frühstücken.«

Floria musste lachen. Susan war einfach nicht kleinzukriegen. Sie packte Florias Hand und zog sie vom Bett hoch.

»Komm, heute machen wir einen Spaziergang. Ich möchte den Kanal wiedersehen und die Felder. Ich war so lange nicht mehr hier.«

»Ah, da seid ihr ja.« Emma saß, eingehüllt in ihren Lieblingsschal, auf dem Sofa.

Im Herd brannte ein Höllenfeuer. Der Frühstückstisch war gedeckt.

»Es hat wirklich geschneit. Wie gut, dass Tim die dringendsten Arbeiten noch geschafft hat.«

»Guten morgen, Emma.«

»Habt ihr gut geschlafen? Ich meine, ich hätte euch noch lange gehört.«

»Haben wir dich gestört?« Susan schenkte sich Kaffee ein und setzte sich zu ihr auf die Couch.

»Aber nein, ihr hattet sicher noch viel zu reden.«

»Emma«, fragte Floria, »hast du etwas von Diane gehört?«

»Nein.« Emma sagte nicht, dass sie so gut wie nie von Diane hörte. Ihre Tochter rief sie ein bis zwei Mal im Jahr an. Das war bedauerlich, aber nicht zu ändern. Diane hatte sich nicht mit Alex anfreunden können. In ihren Augen betrog ihre Mutter ihren Vater. Auch wenn der Bürgermeister nicht mehr lebte, verzieh sie Emma diesen sogenannten Treuebruch nicht. Was sie allerdings nicht davon abhielt, ihrer Mutter knapp dreißig Jahre später ihr Baby zu schicken.

Und Emma war ihr zutiefst dankbar dafür. Floria war das schönste Geschenk ihres Lebens. An ihr hoffte sie, wieder gut machen zu können, was sie vielleicht mit ihrer Tochter falsch gemacht hatte.

Floria liebte Alex vom ersten Moment an. Und wenn sie ihn mit großen Augen ansah, schmolz sein Herz.

»Emma! Emma!« Susan musste sie zwei Mal ansprechen, bevor sie reagierte.

»Ja, Susan?«

»Wir wollen raus, Emma.«

»Hmpf« Floria verschluckte sich beinahe. »Susan will raus, ich nicht. Es schneit.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass du früher so verpimpelt gewesen wärest.«

Emma kicherte. Kaum war Susan da, ging es Floria besser. Sie aß mit offensichtlichem Appetit, ein dick mit Butter und Honig beschmiertes Brötchen.

»Ihr solltet nicht zu lange draußen bleiben.«

»Sollen wir einkaufen?«

»Nein, meine Liebe. Ich habe meinen Nachbarn gebeten, mir ein paar Sachen mitzubringen.«

»Julian?«, hakte Floria nach.

»Ja, er wohnt nur ein paar Häuser weiter. Wenn er in die Stadt geht, fragt er immer nach, ob ich etwas brauche.«

Susan erhob sich. »Netter Nachbar.«

»Sehr nett. Mit einer reizenden kleinen Tochter. Nicht wahr, Flo?«

»Geht so.« Floria sah nicht begeistert aus.

»Du hast ihn nur zweimal gesehen, Flo. Und beide Begegnungen …«

»Emma! Es genügt, wenn du ihn magst. Und wenn er hilfsbereit ist, soll es mir recht sein.«

Susan sah ihre Freundin erstaunt an. Sie wirkte ungeduldig und genervt.

»Und Katja ist eine kleine altkluge Nervensäge.«

So wirklich auf dem Damm bist du noch nicht.

Susan hörte verblüfft zu und sah, dass auch Emma ihre Enkelin mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.

»Komm, Susan. Wenn es sein muss, sollten wir uns gleich aufmachen. Es wird früh dunkel.«

Floria ließ ihr Geschirr stehen und verließ die Küche.

Emma sah seufzend hinter ihr her.

»Ich erkenne sie kaum wieder, Susan.«

»Lass ihr ein bisschen Zeit, Emma. Sie hat Schweres erlebt.«

»Ich weiß.« Emma zog ihren Schal fester um die Schultern.

Susan begann den Tisch abzudecken.

»Lass nur Kind, das kann ich doch machen.«

»Nein, Emma, solange ich hier bin, wirst du dich mal bedienen lassen.«

Sie gab der alten Frau einen Kuss.

»Ich werde mich jetzt um deine ungezogene Enkelin kümmern. Flo muss an die Luft, vielleicht bringt sie das wieder zu sich.« Sie grinste wie ein Lausbub. Das dunkle kurze Haar ließ sie tatsächlich wie einen hübschen Jungen aussehen.

»Bis nachher.«

Floria kann sich glücklich schätzen, eine solche Freundin zu haben, dachte Emma.

Susan war eine gefragte Mezzosopranistin. Ihr fehlte der Ehrgeiz, der Floria antrieb, aber sicher auch erschöpfte. Floria war stark und begabt mit einer wunderbaren Stimme. Aber aus dem Schatten einer Diva, wie ihrer glamourösen Mutter, herauszutreten war eine besondere Herausforderung.

Sie selbst war so unmusikalisch wie eine Nacktschnecke. Ihre Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lächeln. Plötzlich fühlte sie sich von denen, die sie einst geliebt hatte, umgeben.

Damien, du hattest Musik im Blut