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Wer bin ich? Dieser Frage muss sich Violetta nach einer Testamentseröffnung stellen, die ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellt. Die alleinerziehende Mutter von Zwillingen ist leidenschaftlich, klug und sehr distanziert. Gerade diese Distanz reizt die Männer, die diese attraktive, anziehende Frau treffen. Sie lässt sich lieben, aber liebt sie auch? Liebt sie die Männer oder nur den Sex? Nur die Vorstellung von Liebe? Violetta ist eine Frau auf der Suche nach dem richtigen Weg, nach ihrer Identität! Diese Suche führt sie von Hamburg nach Dresden, nach Wien, und in die Toskana. Findet sie ihr Glück da, wo sie es niemals gesucht hat? Wird sie in Lucca, der Stadt der Oper, dem Geburtsort Puccinis, ihrem Schicksal begegnen?
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Violetta
Vom Wege abgekommen
Ursula Tintelnot
Impressum:
Copyright © 2015 Ursula Tintelnot
Umschlagsfoto: © Ursula Tintelnot
Covergestaltung: © Medusa Mabuse
ISBN 978-3-7375-3917-3
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Hamburg im September
„Eine Testamentseröffnung, an der ich teilnehmen soll.“
Violetta hielt den Brief einer Anwaltskanzlei aus Lucca in der Hand und sah ihre Mitarbeiterinnen verunsichert an. „Ich habe keine Verwandten in Italien. Aber ein kleines Erbe würde uns gut tun“, seufzte sie.
„Du musst auf jeden Fall fahren“, war Hannahs Kommentar. „Stell dir vor, ein Palast in Lucca, italienisches Essen, Sonne und Glutaugen“. Sie grinste heraufordernd.
Violetta lachte. „Wahrscheinlich stellt sich alles als falsch heraus, als typisch italienische Schlamperei. Der Palast, von dem du träumst, ist, wenn es ihn überhaupt gibt, eine Ruine kurz vor dem endgültigen Zerfall mitten in der Wildnis.“
Sie kannte Lucca und liebte diese Stadt. Auf den Hügeln ringsherum besaßen die reichen und vielleicht auch weniger reichen Italiener Landhäuser, in die sie, wenn die Hitze die Ebene unerträglich machte, flüchteten. Dort oben gab es Kühle und einen immer sanften Wind, der die Glut des Sommers vergessen ließ.
Wenige Tage später saß sie im Auto und fuhr Richtung Toskana. Die Zwillinge hatte sie bei ihrem Ex untergebracht. Die pubertierenden Halbwüchsigen hatten zwar gemeint, dass sie alleine zurechtkämen, aber das wollte Violetta lieber nicht riskieren.
Paul freute sich, er liebte seine Söhne und die Jungs liebten ihn. Sein Atelier lag direkt neben der Wohnung, die er mit seiner Freundin bewohnte. Graziella trug Klamotten, zu denen Violetta ihr eher nicht geraten hätte, nun ja... Aber auch sie konnte gut mit ihren Söhnen.
Wie Paul es mit dieser Frau aushielt, war ihr ein Rätsel. Sie ist nett, oberflächlich und doof, dachte sie.
Gut, das war sein Problem. Violettas Gedanken wandten sich dem Abenteuer zu, das ihr bevorstand.
~~~
Italien
„Modena“, verkündete das Straßenschild, das Violetta gerade passierte. Sie hatte den Autozug von Hamburg nach München genommen. Das verkürzte die lange Fahrt erheblich. Ihre Buchhandlung konnte sie ohne Probleme Hannah überlassen.
Sie war kompetent und überaus beliebt bei ihren Kunden. Eigentlich war Hannah überqualifiziert für die Arbeit in einer Buchhandlung. Sie hatte ein vollständiges Literaturstudium hinter sich und war, bevor Violetta sie eingestellt hatte, Leiterin einer großen Bibliothek gewesen. Nach der Geburt ihrer Tochter wollte sie mehr Zeit für die Kleine haben und gab ihre Stellung auf. Ihr Mann, Juraprofessor mit einem gut dotierten Job an der Uni, hatte sie bestärkt in ihrem Wunsch, sich mehr um ihre Tochter kümmern zu können.
Hannah war einige Jahre lang Violettas liebste Kundin gewesen. Die beiden Frauen hatten sich auf Anhieb verstanden, waren schnell Freundinnen geworden. Als Hannah sie fragte, ob sie bei ihr arbeiten könne, hatte Violetta ja gesagt und diese Entscheidung nie bereut.
Violetta wollte unbedingt noch heute Lucca erreichen. Sie griff nach ihrem IPod und sah auf das Display.
„Sonnambula“, las sie leise. Eine ihrer Lieblingsopern.
Allein das Ende Bellinis, des Komponisten, bot Stoff für eine Oper. Sein früher Tod gab Anlass zu Spekulationen. Es wurde von Gift gemunkelt. Sein Liebesleben war legendär gewesen und ebenso legendär die Zahl seiner möglichen Mörder, der gehörnten Ehemänner, Liebhaber, der Brüder und der Väter, die ihn lieber tot als lebendig gesehen hätten. Er hatte es mit den Weibern in Theaterlogen, in Kammern, hinter Wandbehängen und in fremden Ehebetten getrieben.
Energisch beendete Violetta die Liebesarie. Schließlich fuhr sie in die Heimatstadt Puccinis und es wäre angebracht, sich seine Musik anzuhören.
Sie hatte Hunger und hielt Ausschau nach einer Pizzeria. Kurz hinter Modena bog sie nach rechts ab. Ein Blick auf die Karte sagte ihr, dass sie noch mindestens drei Stunden Fahrzeit bis Lucca haben würde. Nein, so lange konnte sie nicht mehr warten. Nicht nur der Hunger plagte sie, auch ihre Blase meldete sich.
Violetta griff nach der Wasserflasche und legte sie wieder zurück auf den Beifahrersitz. Fast hätte sie das kleine Schild übersehen. „Ristorante da Pino“. Sie bog in einen schmalen Weg ein, der sie nach wenigen Metern zu einem Haus führte, dessen Anblick ihr Herz höher schlagen ließ.
Weiß verputzt lag ein hohes Gebäude vor ihr. Über halbhohen Türen, die zwischen rundbögigen Maueröffnungen angebracht waren, sah sie Pferde, deren sanfte Augen ihr neugierig entgegenblickten. Auf dem Parkplatz neben dem Haus standen einige sehr edle Autos. Violetta parkte, stieg aus und streckte sich.
~~~
Drei ziemlich räudige Kiefern, die sich bemühten, dem Namen des Ristorante einen Sinn zu geben, warfen ihre zitternden Schatten über die Hauswand, an der einige Steinstufen zum Eingang führten.
Schade, dachte Violetta. Sie wäre lieber auf einer Terrasse draußen geblieben. Es war warm und der leichte Wind hätte ihr nach der langen Autofahrt gut getan. Sie stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür, um einen Moment lang verwirrt stehen zu bleiben.
Der Raum vor ihr war eine Überraschung. Lichtdurchströmt, von blendender Helle führte er direkt auf eine offene große Terrasse hinaus.
Ein Kellner kam auf sie zu und brachte sie ganz selbstverständlich an weiß gedeckten Tischen vorbei hinaus. Violetta bestellte eine Flasche Wasser. Bevor der Kellner zurück war, stand sie auf, um die Toilette aufzusuchen.
Das Lokal ist gut besucht, dachte sie. Sie hatte den letzten freien Tisch erwischt. Eine wohltuende Mattigkeit überkam sie, als sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken ließ. Sie schloss die Augen.
„Ah, Signora. Darf ich?“
Träge blickte Violetta auf. Der Mann, der diese Frage gestellt hatte, wartete ihre Antwort nicht ab. Er zog den zweiten Stuhl vom Tisch und setzte sich.
Dunkles lockiges Haar, ein vernarbtes Gesicht und ein Lächeln, das Himmel und Hölle in Bewegung setzen konnte. Er sah aus wie ein Pirat. Ein hässlicher Pirat mit breiten Schultern. Wenn da nicht dieses Lächeln gewesen wäre. Seine grauen Augen musterten sie ungeniert.
„Alessandro Orsini, Signora.” Ein Bariton, schmeichelnd.
Reiß dich zusammen, Violetta, dachte sie. Bass und Bariton verkörpern, zumindest in Opern, immer die Bösen.
„Sie sind schön, Signora.“
Violettas grüne Augen blitzten kampflustig auf. „Und Sie sind unverschämt, Signore.“
Er grinste.
„Ah, Sandro.“ Der Wirt tauchte neben ihrem Tisch auf. Er schien sehr vertraut mit ihrem Gegenüber. Die beiden plauderten leise und benahmen sich, als sei Violetta nicht vorhanden.
Als sie bestellen wollte, wandte der Wirt sich ab.
Orsini sagte: „Ich habe für Sie mitbestellt, Signora.“
Violetta verschlug es die Sprache.
„Ich habe das einzige Gericht ausgesucht, das für Sie an diesem Tag, zu dieser Stunde und bei dieser Temperatur in Frage kommt.“
„Haben Sie auch den Stand des Mondes bedacht, Signore?“
Er lachte. „Nein”, sagte er, „aber da Sie heute noch weiterfahren werden, habe ich etwas Leichtes bestellt.“
Violetta sagte nichts, sie drehte den Stil ihres Glases zwischen den Fingern und sah ihn genau so ungeniert an wie er sie.
Das Essen, das ihr in diesem Augenblick serviert wurde, war in der Tat leicht und sehr köstlich. Antipasti, die noch frisch und nicht in Öl ertränkt worden waren, offensichtlich selbst gebackenes Brot, dazu ein kühler leichter Weißwein.
Violetta genoss das Essen und das Schweigen zwischen Orsini und ihr, das sich so selbstverständlich anfühlte.
„Was veranlasst Sie zu der Annahme, ich führe heute noch weiter?“ Violetta legte die Serviette neben ihren Teller und sah Orsini neugierig an.
„Die Straßenkarte in Ihrem Auto.“
„Bitte?“ Sie fuhr hoch. Dieses Lächeln verdammt, damit konnte er ...
„Sie ist so geknickt, dass man sofort sieht, wohin es Sie zieht“, wieder dieses vermaledeite Lächeln.
„Spionieren Sie mir nach?“
„Nein, aber ich habe Sie aus einem überaus“, er zögerte und suchte die Antwort, indem er seinen Wein konsultierte, „baufälligen Gefährt aussteigen sehen.“ Wusste diese Frau überhaupt, wie anziehend sie war? Alessandro hob das Glas mit dem Wein hoch, bis er Violetta durch das Getränk betrachten konnte. Grüne Augen, störrisches blondes Haar. „Außerdem gibt es hier weit und breit kein Hotel. Und dass Sie nicht aus dieser Gegend kommen, na ja ...“
Er hatte sie kommen sehen? Hatte er gewartet, bis sie einen Platz gefunden hatte, um sich dann zu ihr zu setzen?
„Ich wohne hier“, sagte er. „Dies ist mein Rückzugsort, wenn ich Ruhe brauche und gutes Essen.“ „Kommen Sie. Lassen Sie uns ein Stück gehen.“ Orsini streckte die Hand nach ihr aus.
Violetta ignorierte sie, erhob sich aber folgsam.
Über einige Stufen gelangten sie in einen ausgedehnten Garten, in dem offensichtlich das Gemüse gezogen wurde, das hier auf den Tisch kam. Ein hoher Holzzaun verwehrte den Blick nach außen.
Orsini zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete das Tor. Violetta hielt unwillkürlich die Luft an. Ein atemberaubender Ausblick auf die dahinter liegende Landschaft tat sich auf. Hingerissen blieb Violetta stehen und sah in das Tal, das sich unter ihr ausbreitete. Ihr kamen die ersten Takte einer der schönsten Arien, die sie kannte, in den Sinn. Mit ihr hatte Händel die Schönheit der Platanen in Musik verwandelt.
„Ombra mai fu“
<Nie war der Schatten
einer Pflanze,
lieblich und angenehm,
süßer.
Schöne wachsende Smaragde,
Blätter zart und schön...>
Eine endlose Platanenallee öffnete einen dramatischen Blick auf ein Haus von wundervoller Ausgewogenheit.
„Villa Ombra“, murmelte Orsini.
Säulen bewachten die Eingangstür, zu der man über Stufen, die sich über die gesamte Länge des Hauses hinzogen, hinauf gelangte. Die oben von der Sonne beleuchteten Stämme der gewaltigen Bäume wurden nach unten hin dunkler und endeten im geheimnisvollen Schattenspiel des Weges.
Violetta sah sich um. Alessandro Orsini war hinter sie getreten. Er hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Er zog sie sofort zurück, als er ihren Blick sah.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Sie müssen vorsichtig sein“, sagte er, ohne ihre Frage zu beantworten. „Diese Hänge können jederzeit in die Tiefe stürzen.“
Sie machte einen Schritt rückwärts. Obwohl sie ihn nicht berührte, spürte sie seine Nähe auf der Haut.
„Keine Sorge, heute wird das nicht geschehen.“
„Sind Sie Hellseher?“
„Ich bin hier aufgewachsen. Nur starke Regenfälle könnten diese Hänge in Bewegung setzen.“
„Hatten Sie nicht gerade „jederzeit“ gesagt?”
Orsini grinste. Wie ein Wolf, dachte Violetta.
„Ich brauchte eine Erklärung für meine Hand auf Ihrer Schulter. Ihr Blick war zu beängstigend für eine zarte Seele wie mich.“
Violetta dachte: Dieser Mann bringt mich um den Verstand. Ich sollte mich in mein Auto setzen und mich so weit wie möglich von ihm entfernen.
Sie hatte sich nicht entfernt, sondern war gegen ihre Vernunft mit Orsini zum “da Pino” zurück geschlendert.
Orsini entschuldigte sich und balancierte kurze Zeit später ein Tablett mit Caffe’ macchiato, einem Glas Wasser, Cappuccino, in den er den mitgebrachten Grappa kippte, und zwei Stück Torta Marengo an ihren Tisch.
„Mit dieser Torte im Magen wollen Sie mich auf die Reise schicken? Das hier kann man kaum als leicht bezeichnen.“
Torta di meringa, dachte Violetta, besteht zu gleichen Teilen aus Zucker, Eiern und Sahne und muss im Himmel kreiert worden sein. Der Teufel soll dich holen, Alessandro!
Er sah amüsiert ein großes Stück des Halbgefrorenen in ihrem Mund verschwinden, das sie genussvoll auf der Zunge zergehen ließ. Ihre grünen Augen leuchteten, wie die eines kleinen Mädchens angesichts einer neuen Puppe.
Ich kann nicht aufhören, sie anzusehen, dachte er. Ich möchte, dass sie bleibt. „Vielleicht will ich gar nicht, dass Sie heute noch reisen?“ Er langte über den Tisch und wischte mit dem Daumen einen Rest Sahne von ihrer Oberlippe. Während er seinen Daumen ableckte, griff er, ohne sie anzusehen, nach seinem Milchkaffee.
Dieser Mann gehört eingesperrt, dachte Violetta. Seine Dreistigkeit war kaum zu überbieten.
Orsini sah zu ihr hinüber und sagte: „Sie sehen auch mit offenem Mund hinreißend aus.“
Violetta schloss ihren Mund, um ihn gleich darauf wieder zu öffnen. „Ich muss fahren. Morgen früh habe ich einen wichtigen Termin in Lucca.“
„Wie schade, Signora, es wäre mir eine Freude, Ihnen bei der Suche nach einer geeigneten Unterkunft behilflich zu sein.“ Sein Mund zuckte.
Sie sah ihm in die Augen und fragte sich, was er wohl unter geeignet verstehen mochte. Dann senkte sie den Blick und rief sich zur Ordnung. Sie erhob sich. „Ich muss gehen“, wiederholte sie. Meine Stimme wird mich verraten, dachte Violetta. Sie war wütend, ja, aber auch fasziniert. Und das machte sie noch wütender.
Orsini begleitete sie zum Parkplatz. „Was für ein schreckliches Auto“, sagte er.
„Aber es fährt“, knurrte Violetta, jetzt wirklich aufgebracht. „Nicht jeder kann sich solche Wagen ...“ Sie wies mit dem Kopf angewidert auf die Nobelkarossen.
Er lachte. „Nein, in der Tat, und manche dieser Karossen“, sagte er, „stehen mehr in der Werkstatt als auf der Straße. Aber dieser kleine Dinosaurier wird bald unter Ihnen zusammenbrechen, und dann werde ich Sie blutend auf der Straße finden und mich über Sie werfen und ein Leben lang trauern.“
Violetta dachte, er redet wie ein Opernheld. Sie öffnete die Wagentür. „Leben Sie wohl, Signore.“ Sie hatte ihn nicht ein einziges Mal mit seinem Namen angeredet. So, als ob dies eine unerlaubte Intimität wäre.
Oh Gott, er wird mich küssen, dachte sie, als er sich über sie beugte. Und das tat er. Er küsste sie leicht auf beide Wangen.
„Wenn ich Sie jetzt richtig küsse, werden Sie morgen zu spät in Lucca sein. Aber ich werde Sie finden und nachholen, was wir heute versäumt haben.“ Sein Blick ließ, trotz aller Ironie, keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte.
Violetta stieg in ihr Auto. „Sie sind unfassbar ungezogen, Signore. Wir werden uns ganz bestimmt nicht wiedersehen.“
„Oh doch, Violetta Valery, das werden wir!“
Warum nur hatte er sie mit diesem Namen angesprochen? Aus Verdis wohl berühmtester Oper? Dem Namen einer Kurtisane, die, viel zu jung, am Ende an der Schwindsucht sterben musste. Sie war berühmt gewesen für ihre außergewöhnliche Schönheit, ihre Eleganz und ihren Stil. Gebildet und belesen.
La Traviata, die vom Wege Abgekommene.
~~~
Jetzt befand sich Violetta auf der Fahrt nach Lucca. Sie lächelte. Fürchtete Orsini wirklich, dass ihr altes Auto sie vom Weg abkommen ließ? Er konnte nicht wissen, dass sie diese Oper ganz besonders liebte und dass ihr zweiter Vorname tatsächlich Valery war. Er konnte nicht einmal wissen, ob sie überhaupt in die Oper ging. Noch viel weniger konnte er wissen, dass ihre Mutter ihr diesen Namen gegeben hatte, weil sie Verdi verehrt und seine Opern geliebt hatte. Orsini hatte Violetta zum Lachen gebracht mit seiner Frechheit, seinem Spott und seiner verrückten Fantasie. In Gedanken war sie noch auf der Terrasse des Ristorante. Bei ihm.
Jetzt konzentrierte sie sich auf die letzten Kilometer.
Es wurde bereits dämmrig. Sie wollte, bevor es ganz dunkel wurde, in Lucca sein. Ob es das Hotel in der Altstadt noch gab, in dem sie vor Jahren mit Paul abgestiegen war? Es war nicht gerade preiswert gewesen, aber es lag so günstig, dass man Lucca von hier aus wunderbar zu Fuß erkunden konnte. Und es hatte einen unschätzbaren Vorteil, es gab Parkplätze hinter dem Hotel.
Nachdem sie in Lucca Est abgefahren war, hatte sie keine Mühe, das Hotel in der Nähe der Via Fillungo, einer schmalen Einkaufsstraße, zu finden.
~~~
Lucca
Während sie durch die nächtlichen Straßen der alten Stadt schlenderte, fragte sie sich, was sie morgen erwartete. Violetta stand in der Via Sant’Andrea vor dem Guinigi-Turm, dem letzten der zahlreichen Geschlechter und Glockentürme, mit denen die Stadt sich Anfangs des 14. Jahrhundert geschmückt hatte. Lucca war sehr stolz auf ihre große Anzahl.
Sie war, als sie die Stadt zum ersten Mal mit Paul besuchte, über hohe Steinstufen fünfzig Meter nach oben auf den Turm geklettert. Die letzten Meter hatte sie sich von ihm ziehen lassen müssen. Es war heiß damals und ihre Kondition war, mit den Zwillingen im Bauch, nicht mehr besonders gut gewesen.
Der Blick über die Dächer der Stadt und die bergige Landschaft rings herum belohnte sie für die Anstrengung. Er war atemberaubend. Auf der Spitze dieses Turmes wuchsen uralte Steineichen. Sie starrte so lange zu den Bäumen hoch, bis sie das Gefühl bekam, sie würden auf sie niederstürzen.
Lucca war einmal die Hauptstadt der Toskana gewesen. Eine Stadt, deren Reichtum sich auf der Herstellung von kostbaren Stoffen, vor allem Seidenstoffen, gründete. Langsam ging sie durch die belebten Gassen, ließ sich treiben, nahm die Blicke, die ihr folgten, gar nicht wahr. Ihre Gedanken waren noch bei dem gesprenkelten Licht des Nachmittags und dem vernarbten Gesicht eines Mannes, dessen spöttischen Charme sie nicht vergessen konnte
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Antico Caffè di Simo. Violetta erinnerte sich gut daran. Hier war die Zeit stehengeblieben. Die Inneneinrichtung war eine Symphonie aus Gold, Marmor, funkelndem Kristall und glänzend poliertem altem Holz. Kurz entschlossen öffnete sie die Tür.
Violetta sah sich um und entdeckte einen kleinen Tisch in der Nähe des Einganges.
„Con permesso?“, fragte sie den dunkelhaarigen Mann, der an dem Tisch saß und auf seinen Laptop starrte.
Er nickte nur ohne aufzusehen. Angenehm, dachte Violetta, so konnte sie weiter ihren Gedanken nachhängen.
Vor ihr stand das Glas Rotwein, das sie am Tresen bestellt und bezahlt hatte. Sie nahm einen Schluck und zog das Schreiben der Anwaltskanzlei aus ihrer Tasche, um noch einmal in dessen kryptischen Zeilen zu versinken. Der Brief war in perfektem Deutsch geschrieben und forderte sie auf, sich nach Lucca zu begeben, um an einer Testamentseröffnung teilzunehmen. Keine Namen, kein Hinweis auf den Verstorbenen oder das eventuelle Erbe. Beinahe hätte sie laut gelacht, ihre Lippen zuckten und als sie aufschaute, sah sie direkt in die dunklen Augen eines teuflisch gut aussehenden Italieners. Meine Güte, dachte sie, da sind die Glutaugen, die Hannah dir versprochen hat.
Ihr Gegenüber hatte den Kopf gehoben, den Laptop zugeklappt und sah ihr jetzt neugierig in die Augen. Er sprach Deutsch mit einem ganz leichten italienischen Akzent. „Was ist so komisch?“, fragte er lächelnd.
Violetta lächelte zurück. „Es gibt Dinge, Signore, die ich lieber für mich behalte.“
„Roberto. Mi scusi, Signora.“ Er erhob sich halb.
Schlank und groß, dachte sie. Violetta nickte und steckte das Couvert in die Tasche zurück. Sie stellte sich nicht vor.
„Ich bin ganz sicher, Signora, dass es wundervolle Dinge in Ihrem Leben gibt, die Sie für sich behalten wollen. Aber sollten Sie es auch? Ich bin sehr neugierig.“
Darauf würde ich wetten, dachte sie.
Er griff nach seinem leeren Glas, hob es hoch und schnippte mit den Fingern. In Sekundenschnelle eilte ein Kellner herbei und brachte ihm ein neues.
„Gut abgerichtet. Ich würde vermutlich vergeblich mit den Fingern...“ Violetta schnippte. Noch bevor sie ausgesprochen hatte, stand der gleiche Kellner vor ihr. „Oh.“
Sie war sprachlos. Roberto deutete auf ihr Glas und brach in ansteckendes Gelächter aus. Was habe ich nur für ein Glück, dachte Violetta, an einem Tag gleich zwei verrückte Italiener zu treffen.
Der Kellner brachte grinsend zwei Champagnerkelche.
„Das ist mein Vetter Rinaldo. Sag der Signora guten Abend.”
Rinaldo verbeugte sich und sah Violetta direkt in die Augen. Ohnein, dachte sie, diese Glutaugen scheinen ein Familienerbe zu sein.
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Violetta saß im Frühstücksraum des Hotels. Sie dachte an den gestrigen Abend. Es war nicht bei dem einen Glas Champagner geblieben. Sie grinste in ihren Kaffee. Roberto hatte sich als charmanter Unterhalter erwiesen, der alles über die Geschichte seiner Heimatstadt wusste. Er besaß eine wunderbar selbstverständliche, ironische Art, über sich und seine Liebe zu Lucca zu sprechen. Er sprach von seiner Stadt wie von einer unerreichbaren Geliebten.
„Vor einem halben Jahrtausend wurde mit dem Bau der mehr als vier Kilometer langen und zwölf Meter hohen Stadtmauer um Lucca begonnen“, hatte er Violetta erklärt, ohne den Blick aus dunklen Augen von ihr zu wenden. Nach Jahren des Studiums im Ausland war er in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Er hatte sich nach dem schützenden Mauergürtel seiner Heimatstadt gesehnt. Alle Lucceser, behauptete er, fielen ohne diese Mauer in tiefste „Melancholia“.
Der Spott in seinen Augen strafte seine Worte Lügen. Violetta lachte Tränen und konnte nicht nein sagen, als er ihr anbot, sie über die „Passeggiata delle Mura“, die Promenade, zu führen. Er stand auf und streckte die Hand nach ihr aus und diesmal ergriff Violetta sie. Sie dachte, das habe ich heute schon einmal erlebt. Ein Mann, der mir die Hände entgegenstreckt, um mich irgendwohin zu führen.
Bei Mondschein über diese Aussichtsterrasse zu schlendern sei ein Muss, erklärte ihr Roberto. Hier oben öffnete sich ein überwältigender Ausblick über die ganze Stadt bis hin zu den Apenninen. Die roten Dächer Luccas schimmerten geheimnisvoll im Mondlicht.
Violetta war hingerissen. Und sie war nicht überrascht, als er sie in die Arme nahm. Roberto küsste sie auf die gleiche Art, wie er erzählte, gründlich und verspielt. Violetta hatte seinen Kuss genossen.
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Dr.R. Nappini. Die Anwaltskanzlei hatte praktischerweise ihren Sitz nur wenige Häuser entfernt von ihrem Hotel, in der Via Fillungo. Acht Namen standen auf der silbernen Metalltafel, die innerhalb der hohen Eingangstür angebracht war. Keine ganz kleine Kanzlei, so schien es.
Eine Testamentseröffnung, zu der es notwendig war, nach Italien zu reisen? Violetta betrat einen begrünten glasüberspannten Innenhof. Zwei schön geschwungene Eisentreppen führten zu einer Galerie im ersten Stock, die sich einmal um den Hof herumzog.
Sie holte ihr Handy aus der Tasche, um auf die Uhr zu sehen. Ich habe, dachte sie, nicht ein einziges Mal an meine Söhne gedacht. Auch nicht an Hannah, der ich die Verantwortung für meinen Laden überlassen habe. Ich bin eine schlechte Freundin und eine noch schlechtere Mutter.
Sie seufzte, als sie fünfzehn Nachrichten auf ihrer WhatsApp fand. Alle von Niklas. Auch ihn hatte sie vergessen. Keine von Paul. Das war so typisch für ihn. Er machte sich niemals Sorgen und ging davon aus, dass sie sich meldete, wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Ein unbeschwerter, liebenswerter Chaot.
Niklas dagegen war ein Mann, auf den sie sich verlassen konnte. Sie liebte ihn auf eine sanfte unaufgeregte Weise und sie mochte es, wie er sie liebte. Es gefiel ihr, nach der Liebe in seinen Armen zu liegen, seine Wärme zu spüren, manchmal zu reden und häufig zu lachen: Ja, mit ihm konnte Sex auch komisch sein. Ein Mann, der danach nicht sofort einschlief.
Ein Blick auf die Uhr. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit. Die Finger auf dem glatten Handlauf des Gitters, das die Besucher der Galerie vor dem Absturz bewahrte, ging sie langsam weiter. Hinter sich hörte sie schnelle Schritte. Sie sah einen jungen Mann, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufjagen. Er stürmte an ihr vorbei, direkt auf die Tür der Kanzlei zu, vor der sie gerade angekommen war.
Ohne Rücksicht drängte er an ihr vorbei und ließ die Tür hinter sich zufallen. Der kurze Blick, den sie auf ihn hatte werfen können, ließ Violetta an einen gehetzten Papagei denken.
Seine Sitzstange scheint zu brennen, dachte sie amüsiert und ärgerlich zugleich, als sie die Tür nach ihm wieder öffnete. Der Lachanfall, der sie dann schüttelte, war nicht zu bremsen.
Da stand sie in dem hocheleganten Vorraum einer fremden Anwaltskanzlei und lachte. Ein Papagei dessen Sitzstange brennt, würde wohl eher die Feuerwehr anfliegen. Als ihr dieser Gedanke kam, fing sie von neuem zu lachen an.
Verschiedene Türen gingen von dieser weiten, sparsam eingerichteten Empfangshalle ab. Sparsam und sehr teuer, dachte sie. In einer hohen Amphore auf dem glänzenden Fußboden ein üppiger Strauß weißer Blüten. „Entschuldigung“, stammelte sie, als sie in das verstörte Gesicht einer ausnehmend gepflegten Vorzimmerdame blickte, die sich ihr vorsichtig näherte.
„Kann ich Ihnen helfen? Ein Glas Wasser vielleicht?“
Violetta riss sich zusammen und flüsterte mühsam beherrscht: “Ich bin Violetta Vermont und ich werde erwartet. Ein Glas Wasser wäre nett, danke.“
Keine der Türen hatte sich geöffnet während ihres hysterischen Gelächters. Entweder waren die Türen schalldicht oder die Anwälte waren derart exzentrische Anfälle ihrer Klientel gewöhnt.
Violetta ließ sich in eine der puristischen Sitzgelegenheiten fallen und bereute es augenblicklich. Nein, zum Sitzen war dies hier sicher nicht geeignet. Unbequem war eine milde Umschreibung, dachte sie. Wenn ich nicht bald ein paar Auskünfte bekomme und das Affentheater aufhört, bekomme ich noch einen Anfall. Was für eine absurde Situation.
In diesem Moment hätte sie alles gegeben, in ihrer gemütlichen Buchhandlung zu stehen, mit Niklas einen ruhigen Abend zu verbringen, einfach nur zu Hause zu sein.
„Dottore Nappini wäre dann für Sie da.“
Endlich. Violetta erhob sich und folgte der Frau, die auf schwindelerregend hohen Absätzen vor ihr her stöckelte. Sie öffnete eine Tür und ließ sie eintreten.
„Signora Vermont“, kündigte sie Violetta an und schloss leise die Tür von außen.
Lass mich tot umfallen, sofort bitte, betete sie stumm.
Hinter einem riesigen, bis auf einen Laptop und einen schmalen Ordner, vollkommen leeren Schreibtisch saß Roberto. Der Papagei stand, eine Hand theatralisch gegen die Stirn gepresst an einem der Fenster. In einem hohen Lehnstuhl saß eine alte Dame mit schneeweißem Haar und aristokratischen Zügen, auf einem Stuhl neben ihr eine kleine schwarzgekleidete Frau.
Er hat es gewusst, dachte Violetta, als sie das diabolische Grinsen, mit dem Roberto sie begrüßte, sah. Dieser Teufel, er hat es gewusst. Und nur der Zorn, hintergangen worden zu sein, verhinderte einen weiteren Lachanfall.
Wenn das hier vorbei ist, dann gnade dir Gott, Roberto, dachte Violetta, als sie sich auf einem der Stühle niederließ, die vor Robertos Schreibtisch bereit standen.
„Roberto“, die ungeduldige Stimme durchschnitt die erwartungsvolle Stille, „fang um Gottes Willen an. Du weißt, ich kann sehr ungehalten werden, wenn ich warten muss.”
Roberto sah die alte Dame unbeeindruckt an, grinste und sagte: „Ich weiß, Contessa. Davor hatte schon mein Großvater großen Respekt.“
Ihr Mund zuckte. „Rede keinen Unfug, mein Junge. Er war genau so respektlos wie du.“
Also hatte Roberto die Kanzlei seines Großvaters übernommen, dachte Violetta. Und mit ihr auch deren Klienten. Sie sah zur Tür. Ein junges Mädchen trug ein Tablett mit Getränken herein und stellte es auf einem Tischchen ab.
„Setz dich, Pippo“, herrschte die Contessa jetzt den jungen Mann an.
Pippo also, Violetta war kurz davor erneut die Fassung zu verlieren, passender hätte der Name für diesen Gecken nicht sein können.
Pippo trug rote Röhrenhosen, die in hohen pinkfarbenen Stiefeln steckten, ein gelbes bis zum Nabel aufgeknöpftes Rüschenhemd und ein Jackett vervollständigte sein farbiges Äußeres. Pippo flatterte auf den Stuhl neben Violetta zu und ließ sich nieder.
Roberto zog den Ordner zu sich heran und öffnete ihn. „Erschienen sind“, jetzt holte er die Vorstellung nach, die in Violettas Augen längst fällig gewesen wäre.
Contessa Agatha Bergonzi
Signora Violetta Valery Vermont
Pietro Bergonzi
Paulina Gilli
Es folgte eine endlose Aufzählung von Vermögenswerten, Gegenständen, kleineren Legaten und Beträge für verschiedene soziale Einrichtungen.
Violetta hörte nicht mehr zu. Sie schreckte erst auf, als sie ihren eigenen Namen hörte.
„An meine Tochter, Violetta Valery, geht das Landhaus Casa irgendwas und...“
Violetta erstarrte. Ich habe es gewusst, dachte sie. Italienische Schlamperei. Sie stand auf. „Nein, Signore, das muss eine Verwechslung sein. Mein Vater war Friedrich Vermont.“ Jetzt wurde sie langsam wirklich wütend. „Ich werde jetzt gehen.“ Sie hatte die Stimme erhoben. „Dies hier ist übelstes Schmierentheater. Ich werde mir das nicht länger anhören. Und wenn es ein Scherz sein sollte, dann ist er nicht komisch...“
„Bitte, Signora setzen Sie sich wieder.“ Die Stimme der Contessa unterbrach Violettas Ausbruch. „Sie werden Ihre Erklärung bekommen.“ Sie kramte in ihrer Tasche und förderte ein Päckchen zutage.
In dem Moment öffnete sich die Tür.
Ein Chauffeur in Uniform betrat den Raum und war der Contessa beim Aufstehen behilflich. Sie gab ihm das Päckchen. “Geben Sie das der Signora, Giorgio.“ Sie wandte sich an Roberto. „Ich denke, wir sind hier fertig.“
„Contessa!“ Roberto kam um den Schreibtisch herum und küsste Agatha Bergonzi die Hand. Nachdem er sich auch von Paulina verabschiedet hatte, schob er den widerstrebenden Papagei durch die Tür. „Nicht jetzt, Pippo, wie reden später.“ Er lehnte sich ächzend gegen die Tür.
Roberto saß auf der Kante seines Schreibtisches. Violetta stand vor ihm, bebend vor Zorn und verunsichert. Diese Frau darf man nicht frei herumlaufen lassen. Alles an ihr kann einen Mann in den Wahnsinn treiben. Ihre Augen, ihre Beine, Brüste... und das Lachen…, dachte Roberto. Aber jetzt lachte sie nicht, sie schnaubte vor Wut.
„Du hast es gewusst. Gestern schon.“
„Nein Violetta, ich hab es vielleicht geahnt, aber gewusst, nein, das nicht.“
„Lüg mich nicht an, Roberto.“ Violetta verlor die Fassung. Dieser Mistkerl. Er wird, wie alle italienischen Anwälte, zur Mafia gehören. Verbrecher alle miteinander. Er hat gewusst, dass ich erben würde. Erbschleicher.
„Bitte, Violetta, glaub mir. Als ich das Couvert sah, das du bei dir hattest, konnte ich zwar erkennen, dass es aus meiner Kanzlei stammen musste, aber ich konnte nicht wissen, wer du bist. Wir haben viele Klienten.“ Sie war zum Greifen nah. Er zog sie an sich.
Ich sollte das nicht zulassen, dachte sie. Du liegst in den Armen eines Lügners, der dich betört mit seinem Charme. Und er wird dich weiter belügen und du wirst ihm nicht glauben, aber so tun als ob.
Sein Kuss war keine Lüge. Violetta kam zu sich. „Ich habe Hunger“, sagte sie.
„Ich auch.“ Robertos Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht vom Essen sprach.“
Roberto führte sie durch die Altstadt. Es war spät geworden und bereits dunkel. Die Straßenlaternen warfen ihr schütteres Licht auf die gelb gestrichenen Häuser der Arena. Die Steine des Anfiteatro, erklärte Roberto gerade, waren zum Bau von Wohnhäusern verwendet worden. Der Platz selbst hatte seine Ellipsenform behalten und wurde heute als Marktplatz genutzt.
Roberto führte sie ins „Antica.“ Sie bekamen einen Tisch, obwohl das Lokal gesteckt voll war. Auf den wenigen Tischen, die noch nicht besetzt waren, standen kleine Schilder mit der Aufschrift „riservato“
Der Kellner nahm mit schwungvoller Geste eines der Schilder vom Tisch. Auch hier, wie konnte es anders sein, gab es einen Kellner, den Roberto kannte.
Vermutlich noch ein Vetter, oder der Vetter eines Vetters, oder der Bruder einer Cousine, oder ... der Bruder einer Freundin? Ob Roberto eine Partnerin hat? Ich will es gar nicht wissen, dachte Violetta. Über den Rand ihrer Lesebrille hinweg sah sie ihn nachdenklich an. Vermutlich gibt es eine Frau. Ein so attraktiver Mann läuft ganz bestimmt nicht alleine herum.
Er sah auf. Violetta fühlte sich ertappt und senkte den Blick auf die Karte.
Mit Brille sieht sie jünger aus, kindlich fast. Ich möchte sie in den Armen halten.Jetzt. Roberto nahm Violettas Hand und küsste sie. Dann bestellte er, ohne sie nach ihren Wünschen zu fragen.
Das scheint eine italienische Eigenart zu sein, dachte sie. Über das schöne Antlitz Robertos schob sich das Piratengesicht Orsinis.
„Was?“ Roberto sah sie fragend an.
„Bestellen hier immer die Männer, ohne die Frauen nach ihren Wünschen zu fragen?“
„Hast du das schon mal erlebt?“
Violetta lächelte, nahm die Brille ab und griff nach ihrem Glas. Sie antwortete nicht. Der Pirat vor ihrem inneren Auge war verschwunden.
„Das war ganz wunderbar. Ich danke dir.“ Violetta sah Roberto an.
Die Vorspeise aus gebratenen Steinpilzen mit Zitrone war köstlich gewesen. Die Dorade an Estragon... ein Gedicht.
Eine angenehme Müdigkeit überkam sie, aber jetzt wollte sie Antworten. Erst als sie die Brille zurück in ihre Tasche steckte, erinnerte sie sich wieder an das Päckchen, das die Contessa ihr am Nachmittag gegeben hatte. Nicht jetzt Violetta, sagte sie zu sich. Morgen ist auch noch ein Tag.
Nachdem der Espresso zusammen mit dem Cognac, den Roberto sorgfältig ausgewählt hatte, serviert worden war, begann er.
„Die Contessa war in ihrer Jugend eine begnadete Sängerin. Der Conte”, fuhr er fort, „der zweite Sohn einer alten Adelsfamilie, war zum Leidwesen seiner Familie ebenfalls Sänger geworden, ein beliebter Tenor, der mit Agatha zusammen viele Opern des Bel Canto gesungen hatte.“ Roberto machte die Geschichte offenbar großen Spaß. „Sie waren das Traumpaar der Oper“. Er grinste. „Bis es zu einem ernsten Zerwürfnis zwischen den beiden kam. Jedenfalls soll Agatha sich nach der Vorstellung kreischend auf den armen Bernardo Rossi ...“
„Du meinst, der Conte war der berühmte Rossi?“ Die Espressotasse klirrte, als Violetta sie auf den Unterteller setzte.
„Kennst du ihn?“
Oh ja, mein Lieber, und ob ich ihn kenne. Es verging kein Tag im Haus meiner Eltern, an dem ich seine Stimme nicht gehört hätte. Laut sagte sie: „Ich kenne seine Stimme.“
„Geht es dir gut?“ Roberto klang besorgt. Sie war so blass. Er dachte, wenn sie zuhört, gibt sie sich ganz. Ihre Aufmerksamkeit gehört nur dir. Ich habe mich in dich verliebt, Violetta.
„Bring mich nach Hause, Roberto, ich bin müde. Es war ein langer Tag. Ich sollte seit zwei Stunden im Bett liegen.“
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“
Du siehst aus, Roberto, wie ein Kater vor der Sahneschüssel. Gegen ihren Willen musste sie lachen.
Zwei Uhr Nachts. Die Straßen Luccas waren noch immer belebt. Der Herbst begann, aber die Tage waren warm, die Nächte lau. Trotzdem fröstelte Violetta plötzlich. Vielleicht war das, was sie heute erfahren hatte, doch ein bisschen viel gewesen. Sie war Roberto dankbar, als er ihr sein Jackett um die Schultern legte.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Rossi!
Sie dachte an ihren Vater. Friedrich Vermont war ein liebevoller Vater gewesen, der sie in den Kindergarten brachte, sie auf Schaukelpferde und später auf Ponys setzte. Er las ihr vor und brachte ihr bei, wie man Nudeln an die Wand warf, um zu prüfen ob sie gar waren. „Wenn sie kleben bleiben, mein Liebling, können wir essen.“ Ach Dad, warum musstest du so früh gehen. Ich vermisse dich.
Sie seufzte. Roberto legte einen Arm um ihre Schultern, sagte nichts und ließ sie ungestört mit ihren Gedanken. Sie waren vor der Kanzlei angekommen. Violetta blieb stehen und studierte das Schild, auf dem die Namen der Anwälte standen. Sieben Männer, eine Frau. Typisch.
„Du hast tatsächlich eine Frau bei dir aufgenommen?“
Roberto lachte. „Mir blieb nichts anderes übrig. Ich wurde überstimmt.“
“Lass mich raten, sie ist klug, attraktiv, blond und sehr sexy.“
Roberto berührte ihre Nasenspitze. „Ein sehr treffendes Selbstportrait, Signora Vermont. Aber etwas fehlt.“
„Was?“
„Der goldene Schimmer in deinen Haaren, wenn Licht darauf fällt.“
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Als Violetta erwachte, fiel eine blasse Morgensonne auf ihr Gesicht. Wenn er dich gestern Nacht gefragt hätte, wärest du mit ihm gegangen, wenn nicht ...
Eine Horde junger Italiener hatte sich ihnen genähert, laut und offenbar betrunken.
Pippo! Seine exaltierte Stimme klang boshaft. „Ah Dottore, machst du dich an die Erbin heran?“
„Verschwinde, Pippo!“ Roberto schob Violetta hinter sich.
Pippo reckte den Hals. „Unser Avvocato wird Sie erst in sein Bett und dann über den Tisch ziehen, wenn Sie nicht aufpassen, Signora.“
Roberto hatte zugeschlagen. Seine Faust landete direkt auf Pippos Nase. Blutend ging der junge Mann in die Knie. „Schafft dieses Würstchen nach Hause.“
Er hatte Violetta zu ihrem Hotel gebracht. Sie schwiegen beide. Ihr Misstrauen war erneut geweckt. Hatte Roberto doch schon an jenem Abend im Caffè di Simo gewusst, dass sie ein sicher nicht ganz wertloses Haus und einiges Geld erben würde?
Der Abend jedenfalls war Dank des grässlichen Papageis verdorben. Träge fragte sie sich: Kannst du diesem Mann vertrauen? Wie kommt Pippo auf seinen Verdacht? Hat Roberto schon einmal zu solchen Spekulationen Anlass gegeben?
Violetta duschte, zog sich an und ging, das Frühstücksbuffet im Hotel missachtend, in die nächste Bar. Sie suchte sich die zuckrigsten Teilchen aus, bestellte einen Cappuccino, zahlte und setzte sich. Während sie auf die Bestellung wartete, zog sie das Päckchen der Contessa aus ihrer Tasche.
Nachdenklich betrachtete sie das Papier und das Band, mit dem das kleine Packet verschnürt war. Du hast Angst, es zu öffnen. Wer weiß, was du vorfindest? Sie dachte an Friedrich Vermont. Dad, dachte sie, hast du gewusst, dass ich nicht deine Tochter bin?
Friedrich war ein wundervoller Vater gewesen und ein sehr geduldiger Ehemann. Sie versuchte sich an Ann Vermont zu erinnern. Ihr Bild war verblasst mit der Zeit. Eine zarte bleiche Frau, still und schön. Wie Galatea schien sie darauf zu warten, dass jemand kam, der ihr Leben einhauchte. Aber es war niemand gekommen. Auch Friedrich Vermont konnte ihr nicht helfen, obwohl er alles tat, um sie nicht ihren Dämonen zu überlassen. Violetta war sieben Jahre alt gewesen, als ihre Mutter starb. Depressionen. Das Wort, mit dem die Siebenjährige nichts anfangen konnte, blieb in ihrem Gedächtnis haften.
Sie erinnerte sich daran, dass diese stille Fremde nur weiße Blüten in der Wohnung duldete. Später konnte Violetta auf den wenigen Fotos, die es von Ann Vermont gab, erkennen, dass es Kamelien waren. Die Blüten der „Kameliendame“ aus Alexandre Dumas’ gleichnamigem Roman, der als Vorlage zur Oper La Traviata gedient hatte.