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Seit Leathan, der dunkelste der Schattenfürsten, von der Herrscherin der Lichten Welt Magalie auf die Lebenden Steine verbannt wurde, ist das Leben für die Bewohner der Schattenwelt deutlich leichter. Faith und Richard haben nach ihrem Studium die Anderswelt zu ihrer Heimat gemacht und fühlen sich dort mit ihren Kindern sicher. Doch Leathan kann den Lebenden Steinen entfliehen und nimmt seinen Platz als Fürst der Schattenwelt wieder ein. Er verfällt nach und nach dem Wahnsinn. Mit seiner Rückkehr und der seines grausamen Elfen heers versinkt nicht nur sein Fürstentum immer mehr im Chaos, auch andere Reiche der Anderswelt drohen unterzugehen. Noch einmal müssen sich Faith und Richard dem machthungrigen Fürsten stellen. Wird es ihnen dieses Mal gelingen, die Dunkle Welt von ihm zu befreien?
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Faith und Leathan.
Tanz auf dem Vulkan.
Band III
Ursula Tintelnot
Impressum
Copyright © 2020 Ursula Tintelnot
Umschlagsfoto: © Kajus Kötz
Covergestaltung: © Medusa Mabuse
Buchsatz: Medusa Mabuse
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Personen
Aus der Ferne eine Ruine, glich das Bauwerk beim Näherkommen einer düsteren, prachtvollen Kathedrale. Der Wind, der sich hier niemals legte, weinte wie ein untröstliches, verlassenes Kind um Türme und Pfeiler.
Herrisch aufstrebende Säulen stiegen scheinbar bis in den Himmel. Immer noch wuchsen Mauern und Pfeiler. Hunderte von abschreckenden moosbewachsenen Statuen und grausigen, grinsenden Skulpturen besetzten Wände und Nischen der Fassade. Die Steintoten. Grässlich verzerrte Gesichter starrten auf die Beschauer herunter. Sie bewegten sich, kauerten auf Simsen und tanzten in Nischen ihre obszönen Tänze. Schwarze haarige Spinnen woben ihre Netze in jedem Winkel. Unzählige Vögel nisteten in dem Gemäuer, überzogen mit ihrem Kot die Mauern mit weißem Pelz. Die Tore der Außenmauern waren mit eisernen Gittern verschlossen.
Die Moorweiber, bezaubernd schöne Gestalten, näherten sich neugierig den Lebenden Steinen. Ihr Tanz im Wind war betörend. Süßer Blütenduft weckte die Sinne, ihr silbernes Lachen, ein nicht zu bezwingendes Begehren. Das Letzte allerdings, das die Männer erblickten, die ihrer Begierde folgten, war ihre wahre Gestalt.
Das silberne Lachen wurde zum Kreischen aus zahnlosen Mündern. Das eben noch lockige Haar, ein Nest sich windender Schlangen. Pures Grauen. Wenn sie die Wahl gehabt hätten, wären ihre Opfer lieber im Moor versunken, als in den Armen dieser grässlich stinkenden Schreckgestalten jämmerlich zu verenden.
Auch die Moorweiber wussten von der Legende: Eines Tages sollten die Steintoten wieder zum Leben erwachen. Sie würden herabsteigen aus ihrer steinernen Gefangenschaft.
Endlich tat sich etwas. Nach so vielen Jahren, während derer sich die Fratzen und Skulpturen nur auf den Mauern bewegt hatten, verschwand eine nach der anderen aus den Mauervertiefungen, von Simsen und Türmen. Einige bevölkerten bereits den Park. Immer mehr dieser Gestalten bewegten sich um den See herum und ergriffen ganz selbstverständlich Besitz von der Ebene. Leathans dunkle Elfen erwachten zum Leben.
Es schien den Moorweibern, als ob die Mauern langsamer atmeten, sie stöhnten und keuchten wie eine Greisin mit einer altersschwachen Lunge. Noch immer veränderten die Steine ihr Aussehen. Mauern verschwanden, um woanders wieder zu wachsen. Leathan und Siberia waren nicht mehr zu sehen. Auch auf den Vorsprüngen, Türmen und in den Erkern konnten die Weiber sie nicht entdecken.
Erschrocken wichen sie zurück, als sie zorniges Gebrüll aus dem Inneren der Anlage vernahmen. Gleich darauf hörten sie das schrille Kreischen der Hexe. Kein Zweifel, der Fürst der Schattenwelt und die schwarzmagische Hexe waren zurück. Es hörte sich nicht so an, als habe der jahrelange steinerne Tanz den Dunkelalb und Siberia versöhnt.
»Du hast unseren Sohn getötet, und dafür wirst du büßen.«
»Du hättest diesen Verräter niemals austragen dürfen.«
Das Geschrei brach abrupt ab.
Die Moorweiber zogen sich zurück. Sie hatten schon zu viel gehört und wollten nicht von Leathan überrascht werden. Viele Jahre lang waren das Moor und die wilde Gegend um die Lebenden Steine verwaist gewesen. Nur die Moorweiber mit Herden verwilderter Pferde und den stöhnenden Untoten auf der unwirtlichen Ebene. Hierher wagten sich nur wenige Bewohner der Schattenwelt, und oft genug bezahlten sie ihren Wagemut mit dem Leben.
Die Morituri warteten gierig auf lebendige Seelen, die sie umfangen und in ihren Umarmungen ersticken konnten. Diese Wesen, die sogar den Feen und Elfen gefährlich werden konnten, bestanden aus nebelhaften, stinkenden Häuten, in die sie ihre Opfer hüllten, um ihnen die Seelen aus den Leibern zu saugen.
Magalie sah amüsiert Oskars vergeblichen Versuchen zu. Der grüne Glitter hatte es sich in den Kopf gesetzt, den beiden kleinen rothaarigen Mädchen, die bewundernd zu ihm aufsahen, das Fliegen beizubringen. Immer wieder flog er auf und nieder, in der Hoffnung, dass Faith’s Töchter es ihm irgendwann nachtun würden. Klein Lisa konnte auf ihren kurzen Beinchen gerade mal ein paar Schritte tun, ohne hinzufallen, Lotte war noch im Krabbelalter. Ob sie es je lernten? Nicht sehr wahrscheinlich, dachte Magalie.
Faith und Richard waren beide Halbelfen, also trugen auch ihre Kinder ein menschliches Gen in sich. Sie wandte sich um, als sie das vertraute Rauschen hörte.
»Ah, Flugstunden, Oskar gibt nicht auf, was?« Elsabe grinste. »Seine Bemühungen werden ja wohl eher vergeblich bleiben. Es gibt Gerede, Magalie«, sagte sie ernst geworden und wandte sich der Fürstin zu.
»Gerede?«
Jahre waren vergangen, seit die bösen Gerüchte über Rufus und seine Machenschaften in Umlauf gekommen waren. Der Sohn Leathans und Siberias hatte versucht, sich gegen seinen Vater zu stellen. Leathan hatte nicht gezögert, den eigenen Sohn zu töten.
Siberia beschwor der Hölle Rache.
Siebeneinhalb Jahre waren vergangen, seitdem Leathan auf den Mauern der Kathedrale im Moor seinen steinernen Tanz mit Siberia getanzt hatte. Magalie spürte noch immer die Kraft des Medaillons, mit dessen Hilfe sie den Fürsten der Schattenwelt und die schwarzmagische Hexe auf den höchsten Turm der Lebenden Steine katapultiert hatte. Hier musste das Paar, das sich bis aufs Blut hasste, seinen bizarren Tanz tanzen. Jetzt gab es also neue Gerüchte?
»Was hast du gehört, Elsabe?«
»Du kennst die Legende, nach der die Lebenden Steine ihre steinernen Bewohner wieder entlassen?«
»Ich habe davon gehört.« Alarmiert sah Magalie der Hexe in die blauen Augen.
»Man hört von merkwürdigen Dingen, die sich im Moor abspielen. Die Mauern leeren sich, im Park und auf der Ebene sind Elfen gesehen worden. Elfen in schwarzem Leder, der Uniform Leathans. Und noch etwas.« Elsabe hielt einen Moment inne. »Leathan und Siberia tanzen nicht mehr, sie sind verschwunden.«
Richard hatte es abgelehnt, in den dunklen Räumen seines Vaters zu residieren. Er hielt sich lieber in den Räumen auf, die er seit Kindertagen bewohnte. Nach dem Studium war er in die Schattenwelt zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten. Er hatte die Verantwortung für die dunkle Welt nur mit sehr zwiespältigen Gefühlen übernommen. Die blutroten Wände in den Räumen seines Vaters, die fast schwarz wirkten und das wenige Licht schluckten, das der mattviolette Himmelskörper über die Schattenwelt goss, mochte er nicht. Nur sein Pflichtgefühl zwang ihn, über die dunkle Welt zu wachen.
Maia, seine Großmutter, hatte während seines Studiums in der Wirklichkeit die dunkle Welt gelenkt. Solange Leathan ein Gefangener seiner eigenen Schöpfung, den Lebenden Steinen, war, gab es nur Richard, der seine Nachfolge antreten konnte.
Seit er die Lichte Welt Magalies kennengelernt und in der Welt der Sterblichen gelebt hatte, fehlten ihm Sonne, Farben und Licht. Seine Wurzeln lagen in beiden Welten, der Anderswelt und der Welt seiner Mutter, Agnes, einer Sterblichen. Er war zu klein gewesen, um sich an sie zu erinnern.
Nach ihrer Flucht mit ihm aus der Schattenwelt war sie gestorben. Leathan hatte ihn aus der Obhut seiner Großmutter entführt und mitgenommen in seine dunkle Welt.
Der graue Wolf, der neben seinem Arbeitstisch lag, sah ihn aus unergründlich bernsteinfarbenen Augen an und war im Bruchteil einer Sekunde verschwunden. Beunruhigt sprang Richard auf. Murat war oft an seiner Seite. Seit Richard seiner Pflicht nachgekommen war, über die Schattenwelt zu wachen, war Murat sein Schatten. Niemals würde er sich freiwillig auf diese Weise entfernen.
Das konnte nur eines bedeuten: Der Graue musste dem Ruf seines Herrn gefolgt sein, und sein eigentlicher, wenn auch ungeliebter Herr war Leathan, Richards Vater. An ihn war das Tier gebunden, ihm musste es folgen, wann immer er den grauen Wolf rief. Ein schmales goldenes Band, in seinem dichten Fell kaum wahrnehmbar, war das äußere Zeichen seiner Unfreiheit. Solange Leathan ihn nicht selbst aus seinen Diensten entließ, war er ihm ausgeliefert. Kein Zweifel, Leathan war zurück. Die Legende, schoss es Richard durch den Kopf.
In ihm stritten sich die widersprüchlichsten Gefühle. Sein Vater würde die Macht über die Schattenwelt wieder beanspruchen, zu Recht.
In den Jahren ohne ihn war allerdings einiges anders geworden, besser, wie Richard fand. Ob Leathan das auch so sähe? Ziemlich unwahrscheinlich. Richard machte sich Sorgen um die Bewohner seiner Welt, die jetzt ein wenig sorgloser lebten als unter Leathans Schreckensherrschaft. Viele von ihnen waren nach dem großen Brand, den Rufus zu verantworten hatte, in die Stadt zurückgekehrt.
Maia und Nathan war es zu verdanken, dass die uralten Paläste der Unterstadt wieder bewohnbar waren. Einst waren sie prachtvoll gewesen, jetzt waren sie passabel und immerhin komfortabler als die elenden Behausungen, die dem Brand zum Opfer gefallen waren. Aber es gab auch wieder die ärmlichen Hütten rund um die Paläste der Unterstadt.
Viele waren zurückgekehrt aus den Katakomben, in die Rufus sie getrieben hatte, um sie an Waffen auszubilden und gegen Leathan zu führen. Diejenigen, die sich nicht von Rufus hatten pressen lassen, kamen aus den Wäldern und Mooren, in die sie vor ihm geflüchtet waren.
Da waren sie wieder, die Armen, die sich im Schutz der alten Paläste am Fuß der Felsenstadt niederließen. Niemand verwehrte es ihnen. Für Richard gehörten sie zu dem Stadtbild, das er kannte und akzeptierte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, wie Rufus, die Hütten niederzubrennen.
Rufus, sein Halbbruder, von Leathan, dem eigenen Vater umgebracht. Richard setzte sich, ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken und legte den Kopf in beide Hände. Ihn gruselte es, wenn er daran dachte. Und jetzt war Leathan zurück? Es konnte keinen anderen Grund geben, warum Murat so plötzlich verschwunden war. Leathan musste ihn gerufen haben.
Die Legende besagte: Eines Tages sollten die Lebenden Steine die Steintoten wieder entlassen. Diese würden von den Mauern heruntersteigen und das alte Gemäuer verlassen. Um was zu tun? Richard rief nach Julian. Julian war, wie auch sein Bruder Jesse, in der Unterstadt groß geworden.
Jahre waren vergangen, seit Maia und Nathan die Brüder unter ihre Fittiche genommen hatten. Nathan hatte Julian zu einem großartigen Kämpfer ausgebildet. Er ritt, als habe er nie etwas anderes getan, und war ein ebenso guter Schütze wie Richard. Julian war zu einem verantwortungsbewussten, intelligenten jungen Mann geworden. Dass er aus der Unterstadt kam und sein Leben in größter Armut in einer der Hütten dort verbracht hatte, war ein Vorteil. Er besaß Einfühlungsvermögen und kannte die bunte Klientel, die sich aus Gesetzlosen, Bitterarmen, Trinkern, Gauklern, Zuhältern und Huren zusammensetzte. Er war, nach Nathan, der Stellvertreter Richards, wenn Richard eine seiner zahllosen Reisen in die Lichte Welt unternahm, um Faith und seine Töchter zu sehen.
»Richard, du hast mich rufen lassen?«
Julian war leise eingetreten. Diese Art, ohne Geräusch irgendwo aufzutauchen, hatte er Nathan abgeschaut. Auch sein alter Lehrmeister, war, trotz seiner Größe, in der Lage, unhörbar zu erscheinen. Julian war zu einem riesigen Elf herangewachsen. Fast so groß wie Nathan, dachte Richard. Schön war nicht der richtige Ausdruck, beeindruckend traf es eher. Aber trotz seiner imposanten Statur wirkte Julian nie gewalttätig.
»Setz dich, Julian, wir müssen reden.«
Julian setzte sich. »Wo ist der Graue?«
Richard teilte seinem Freund seine Befürchtung mit, dass Leathan den Wolf gerufen haben könnte. »Du weißt, dass Murat ihm gehorchen muss.«
»Er ist verschwunden, wie in den alten Zeiten, in denen Leathan noch nicht auf den Mauern seiner Kathedrale festsaß. Das kann nur eines bedeuten, mein Freund: Die Lebenden Steine haben meinen Vater entlassen.«
Julian sah besorgt aus. »Keine guten Neuigkeiten. Dem Fürsten wird es nicht gefallen, Jesse und mich hier vorzufinden.«
Richards Lachen klang nicht fröhlich. »Auch ich werde ihm nicht gefallen und noch weniger die Veränderungen in seinem Reich.«
»Wir sollten erst herausfinden, ob stimmt, was du vermutest, und dazu müssen wir …«
»… ins Moor aufbrechen.« Richard ergänzte den Satz seines Freundes.
Wie aufs Stichwort erschien in der Öffnung des Lichtschachts eine weiße Eule. Sie trippelte seitwärts, hüpfte auf den Boden und schüttelte sich.
»Sehr unkomfortabel, dieser Einstieg.« Mit runden Augen fixierte sie die beiden Männer.
»Guten Abend, Atena. Es gibt hier auch so etwas wie Türen.« Richard grinste.
Die Verwandlung dauerte kaum eine Sekunde. Jetzt stand sie in ihrer wahren Gestalt vor ihnen. Wie immer wirkte sie leicht zerzaust. Wirres helles Haar, leicht gebogene Nase. Ihr Gewand war zerknittert. Kluger Blick aus sonnengelben Augen. »Guten Abend, Richard.« Sie nickte Julian zu. »Maia schickt mich, sie spürt Veränderungen.« Wie immer kam sie gleich zum Punkt, ohne sich mit längeren Vorreden aufzuhalten. »Sie glaubt, Leathan kommt zurück.«
Die Ohren der Kobolde vor der Tür bewegten sich hektisch. Hier war man immer in Gefahr, belauscht zu werden. Richard stand auf und schloss die Tür.
Die hohen Wohntürme waren nach wie vor bevölkert von allen Wesen der Schattenwelt, die seinem Vater gedient hatten. Es brummte wie in einem Bienenstock.
Fackeltragende, ungeschlachte Trolle eilten durch lange, nachtschwarze Flure. Sie sorgten dafür, dass die Kreaturen, die nicht, wie die Dunkelalben, mit Katzenaugen geboren worden waren, ihren Weg durch diese Düsternis fanden.
Es gab Zwerge und Kobolde.
Es waren nicht die Zwerge der Lichten Welt, die unter der Erde nach leuchtenden Edelsteinen gruben. Hier waren sie Diener der Hexen und Feen, wie auch die Kobolde und Trolle. Mit ihren spitzen behaarten Ohren, den runden wimpernlosen Augen und den stark ausgeprägten O-Beinen, die in pelzigen Füßen mit Krallen endeten, sahen die Kobolde aus wie seltsame Tiere.
Richard hatte nicht einmal die Hexen, die der schwarzen Magie mächtig waren, hinausgeworfen.
»Behalte sie in der Felsenburg«, hatte Maia ihm geraten, »dann hast du sie im Blick. Du kannst sie lenken und kontrollieren.« Seine Großmutter war ein kluges Weib.
Als er die Herrschaft übernahm, bat er die schwarze Eternita, Siberias Nachfolgerin, zu sich. »Du und deine Schwestern können bleiben. In Zukunft wird eure Aufgabe sein, Kranke zu heilen und verletzte Elfen zu versorgen.«
»Das war immer unsere Aufgabe.«
»Richtig, aber jetzt werdet ihr auch den Kranken außerhalb der Felsenburg helfen.«
Fragend hob die Hexe die Brauen. »Allen?«
»Allen, die Hilfe brauchen. Das schließt auch die Armen der Unterstadt ein.«
Eternita hatte ihn lange angesehen und dann zurückhaltend genickt.
Richard verschloss seine Gedanken vor der Hexe. Er dachte: Je mehr sie zu tun hätte, desto weniger Zeit bliebe ihr für ihre schwarze Magie.
Atena riss ihn aus seinen Gedanken. »Richard?«
Ihr Plan war, die Lebenden Steine aufzusuchen. Nur Richard, Julian und sie, Atena, mit ein paar Elfen. »Ich kenne mich aus, war schon einmal da und kann euch auf Gefahren aus der Luft schnell aufmerksam machen.«
Sie dachte an die Totgeweihten, die in ihren papierdünnen Häuten den Lebenden nachstellten, um ihren Atem zu trinken, ihnen die Seelen zu stehlen. An die grässlichen Moorweiber, deren Lockrufen nur die Stärksten widerstehen konnten. Die Sümpfe und Moore waren für die Reiter eine zusätzliche Gefahr. Ein Fehltritt, und sie versanken in schmatzendem Morast. Das Moor holte sich seine Opfer und ließ sie nie wieder los. Unwiderstehlich sog der Sumpf und schloss sich erbarmungslos über ihnen. Schwarze Maden in schwarzem Wasser.
Richard dachte nach. Nichts zog ihn zurück in diese unwirtliche Gegend. Dort hatte er eine seiner schlimmsten Erfahrungen gemacht. Ihn schauderte, wenn er an die Schmerzen dachte, die sein Vater ihm am Ende des Maskenfestes zugefügt hatte.
Damals hatte Magalie ihn gerettet und Leathan mit Siberia und seinen kriegerischen Elfen zu Steintoten werden lassen.
Und nun schien es, als ob … Er mochte nicht daran denken, dass Leathan seine Schreckensherrschaft wieder antreten und Rache an all jenen üben würde, die mit seiner mehr als sieben Jahre andauernden Verbannung zu tun hatten.
Der Himmel über ihr bildete einen azurblauen, schimmernden Bogen.
Die Stute flog mit Faith dahin. Ihre helle Mähne flatterte im Wind wie die roten Haare ihrer Reiterin. Sie hatte die Stute Ombra getauft, was so viel bedeutete wie Schatten oder auch Schutz. Das Tier war ein Geschenk Magalies, unfassbar schnell. Die Stute beherrschte die Kunst, sich mit seiner Reiterin dem Auge des Betrachters zu entziehen wie ein zerrinnender Nebelstreif. Wenn sie Ombra rief, erschien die Stute, egal wo sie sich aufhielt.
»Falls du in Gefahr gerätst, wird sie dir nützlich sein.«
Faith lächelte. Ihre Mutter hörte nie auf, sich Sorgen zu machen, obwohl sie wusste, dass Faith’s magische Fähigkeiten inzwischen gewachsen waren. Sie konnte ganz gut auf sich selbst aufpassen.
Aber sie liebte Ombra, die ihre Wünsche zu erraten schien. Pferd und Reiterin wirkten wie eine untrennbare Einheit. Seit Leathan nicht mehr seinem Ehrgeiz frönen konnte, Fürst der gesamten Anderswelt zu werden, war das Leben ruhiger geworden. Ihre Gedanken wanderten zu Richard. Sie vermisste ihn.
Faith wusste, wie schwer es ihm fiel, in der dunklen Welt seines Vaters zu leben.
Ombra trabte munter in der Sonne an den Rändern der Obstplantagen entlang. Sie hörte das Gelächter und die Rufe der Feen und Glitter, die bei der Ernte halfen. Faith hätte den Anblick des Lichts und die Farben, die sich vor ihr ausbreiteten, gerne mit ihrem Mann geteilt.
Sie konnte Richard vor sich sehen, in seiner düsteren Felsenburg, im schwachen Schein eines violetten Himmelskörpers. Statt der übervollen Obstbäume gab es dort unten nur grauen Stein und dieses schreckliche Labyrinth mit seinen tödlichen Schlingpflanzen und den abstoßenden Klapperern, die sich in die Ohren ihrer Opfer bohrten, um ihnen das Gehirn auszusaugen.
Richard war es nicht gelungen, diesen grauenvollen Garten, dem Fremde niemals lebend entkamen, zu entfernen. Das Labyrinth war einer von Leathans bösen Streichen, und nur er konnte es zum Verschwinden bringen.
Um diesem teuflischen Garten die Macht zu nehmen, ließ Richard in den Nächten helle Feuer brennen. Licht wehrte die Klapperer ab und nahm den Giftpflanzen die Kraft.
Faith hatte ein leichtes Knacken gehört. Sie horchte. Nein, jetzt blieb alles still, nichts regte sich. Einer der kleinen Glitter, der sich einen Spaß mit ihr machte? Diese grünen Gesellen waren verspielt, immer auf Spaß aus, und sie klauten alles, was ihnen in die Finger fiel. Glitter waren ein fröhliches Volk von Dieben.
Es lag ihnen im Blut, alles zu nehmen, was ihnen gefiel. Aber sie behielten nichts. Alles, was sie stahlen, gaben sie wieder her oder verschenkten es großzügig. Diese kleinere Art von Elfen bewegte sich in der Luft und konnte fast unsichtbar werden.
Langsam ritt sie weiter. Aber sie blieb auf der Hut. In den letzten Jahren hatte sich ihr Instinkt geschärft. Ein Glitter hätte sich längst kichernd bemerkbar gemacht. Im Azurblau des Himmels schienen graue Schlieren auf, verwehten und erschienen an anderen Stellen erneut. Die Hexen fliegen, dachte sie. Warum?
Sie sah hinüber zum Eissee. Dorthin war sie unterwegs. Alle Feen liefen begeistert Schlittschuh. Auch sie selbst. Sie zog die Zügel an und lauschte.
Der See im Birkenwäldchen vor ihr war zu allen Jahreszeiten eine spiegelglatte Fläche. Jetzt hörte sie es wieder, dieses leise Knacken. Wie ein schnell wachsendes Spinnennetz überzogen scharfe Risse die makellose Spiegelfläche. Kein Zweifel, das Eis brach. Aus den Spalten quoll eine dunkle Masse, dick wie Blut, von dunklem Rot. Die Eisfläche verwandelte sich vor ihren Augen in einen morastigen Sumpf. Köpfe hoben und senkten sich, blinde Augenhöhlen, aufgerissene zahnlose Münder.
Sie schnalzte mit der Zunge. Ombra setzte sich wieder in Bewegung. Am Rande des Sees stieg Faith ab. Sie kniete nieder und streckte die Hand aus. Etwas sagte ihr, dass das, was sie sah, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Sie hatte das Gefühl, von außen manipuliert zu werden. Das hatte schon einmal jemand versucht. Damals war sie gewappnet gewesen. Leathan hatte es nicht geschafft, in ihre Gedanken einzudringen.
Aber jetzt, nachdem von dem Dunkelalben lange Jahre keine Gefahr mehr ausgegangen war, war sie nachlässig geworden. Sie berührte die Oberfläche vor ihr und spürte … eisige Kälte. Gleichzeitig gewann die Eisfläche ihre Festigkeit wieder, vom blutroten Morast war nichts mehr zu sehen.
Faith erhob sich.
Ihr war kalt, aber nicht von der Berührung mit der eisigen Fläche vor ihr. War Leathan zurück?
Sie sah hinauf zum Himmel. Sie ahnte, dass der Flug der Hexen mit der Rückkehr des dunklen Fürsten zu tun hatte. Meine Kinder werden nicht mehr sicher sein, dachte sie. Wir alle werden nicht mehr sicher sein.
Ombra, flieg. Die Stute flog dahin. Vorbei an den Plantagen, über abgeerntete Äcker, Weiden und grüne Wiesen. Sie setzte über Zäune, gefallene Baumstämme und kleine Bäche. Faith genoss diesen Ritt, trotz der Furcht, die sie empfand.
Endlich tauchte die verwaschene, zartrosa gestrichene Fassade vor ihr auf. Leuchtend in der Sonne wie die Morgenröte.
Den lang gezogenen Mittelteil des dreistöckigen Hauptgebäudes flankierten links und rechts zwei niedrigere Seitenflügel, deren Mauern hinter zarten Rosenranken so gut wie unsichtbar waren.
Ihr neues Zuhause war wunderschön. Sie hörte die hellen Stimmchen ihrer Töchter, bevor sie die beiden erblickte. Die Fontänen der Brunnen vor den Seitenflügeln plätscherten. Aus der Küche kam Gelächter.
Sie suchte am Himmel nach einem Zeichen. Aber er zeigte sich in strahlendem Blau. Hatte sie sich geirrt? Bedeutete es, von Elsabe nichts zu hören, dass alles in Ordnung war? Sie zitterte.
Faith sprang vom Pferd und warf die Zügel einem vorbeilaufenden Elf zu, der sie geschickt, aber auch erstaunt auffing. Faith kümmerte sich nach dem Reiten grundsätzlich selbst um ihre Stute.
Sie eilte in die Richtung, aus der Lottes und Lisas Stimmen kamen. Als sie sah, mit wem Magalie sprach, wurde ihr klar, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Elsabe sah ihr ernst entgegen.
»Du weißt es schon, nicht wahr?«
»Ich fürchte es. Ist Leathan zurück?«
»Alle Zeichen sprechen dafür. Aber Gewissheit haben wir erst, wenn Richard …«
»Nein! Ich will nicht, dass er ins Moor geht.« Faith hob Lotte auf die Hüfte und drückte sie an sich.
»Er ist schon gegangen.«
Magalie betrachtete ihre Tochter. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ihre Entscheidung, in der Anderswelt zu leben, richtig war. War sie stark genug, hier zu leben? In der Menschenwelt bei ihrem Vater aufgewachsen, gehörte Faith eigentlich nicht hierher.
Ich würde furchtbar leiden, wenn sie in ihre Welt zurückkehrte, dachte sie. Auch auf meine Enkeltöchter müsste ich verzichten.
Sie fing Elsabes mitfühlenden Blick auf. Die Hexe hatte ihre Gedanken gelesen.
Sie sagte: »Wir müssen wachsam sein.«
Magalie sah ihr nach, bis die zarten grauen Schlieren am Himmel nicht mehr zu sehen waren.
Richard sah sich nach seinen Gefährten um. Undurchdringliche, stachelige Weißdornhecken, Riesenblätterknollenpilze, schwarze giftige Tollkirsche, tote Stämme, um die sich Baumschlangen wanden, giftige Mambas im Dämmerlicht. Der Schrei der Käuzchen im Dunkeln war unheimlich. Dies war seine Welt, die Welt seiner Kindheit, die er ebenso wenig liebte wie seinen Vater.
Er war so oft von ihm gezwungen worden, Dinge zu tun, die er nicht wollte, die er verabscheute. Er dachte an die Bärenhatz, an Auspeitschungen, die aus einem kleinen Jungen einen Mann machen sollten. Der kalte Fürst dieses dunklen Reiches, ein Elf von großer magischer Kraft, war gewalttätig und sicher einer der am wenigsten geliebten, ja, einer der grausamsten Herrscher der letzten Jahrhunderte.
Einige der Elfen, die ihn ins Moor begleiteten, hatten schon Leathan gedient. Aber die Mehrzahl der Männer seines Vaters war nach dem Maskenfest zusammen mit ihm von Magalie auf die Lebenden Steine gebannt worden. Auch Kastor, ihr Anführer.
Richard fürchtete die Rückkehr Leathans nicht so sehr für sich selbst, er fürchtete für das, was er geschaffen hatte. Die Dunkelwelt war in Abwesenheit des Fürsten ein wenig besser geworden. Das würde seinem Vater ganz und gar nicht gefallen.
Corone, seine Stute war nervös. Die Reiter hielten sich dicht hinter ihm. Er hatte sie gewarnt: »Ein falscher Tritt kann für jeden von uns das Ende bedeuten. Und haltet niemals an, wenn die Moorweiber euch locken. Auch sie tragen den Tod in sich. Ihr würdet sterben.«
Richard ritt ans Ende der Kavalkade. Bis jetzt hatten sie Glück gehabt. Einige seiner Begleiter waren noch nie hier gewesen. Er wollte sichergehen, dass sie sich an die Vorschriften hielten. Es war absolut notwendig, keinen Schritt von diesem Weg abzuweichen. Das Stöhnen der Toten im Moor begleitete die Reiter klagend und schauerlich zugleich. Hier war keiner, der sich nicht wünschte, woanders zu sein. Richard spürte die Anwesenheit der Todgeweihten, die in ihren papierdünnen Häuten den Lebenden nachstellten, um ihren Atem zu trinken. Das wenige Licht verlor sich im Schlamm.
Der fast unhörbare Flug der weißen Eule über ihm ließ ihn aufblicken. Atena landete auf einem abgestorbenen Baum am Rande des Weges.
»Ihr müsst vorsichtig sein. Ich habe die Morituri gerochen. Sie sind in der Nähe.«
Er nickte und sah nach vorne, wo Eternita mit zwei ihrer Schwestern zwischen den Elfen ritt. Er hatte die Hexen wegen ihrer Heilkünste mitgenommen, redete er sich ein. In Wahrheit machte er sich Sorgen, dass seine eigenen Fähigkeiten nicht ausreichten, sich und seine Männer zu schützen.
»Schneller, beeilt euch.«
Richard trieb Corone vorwärts, galoppierte an seinem Tross vorbei wieder an die Spitze des Zuges. Aber er blieb wachsam, achtete auf den Weg.
Der Gestank der Todgeweihten stieg jetzt allen in die Nase. Einen der jüngeren Elfen packte das Grauen. Er überholte Richard und zwang den Rappen, der voller Furcht nach hinten austrat, vorwärts. Der Junge stürzte und landete im Morast.
Richard zügelte Corone. In einer fließenden Bewegung sprang er vom Pferd, schnappte sich einen der herumliegenden Äste und warf sich mit weit vorgestreckten Armen auf den Bauch. Der Bursche steckte bis zu den Hüften im Moor. Er starrte wie paralysiert ins Leere. Richard brüllte. »Nimm den Stock, verdammt noch mal. Wach auf.«
Unter ihm blubberte es, der stinkende Tümpel leckte bereits an seinen Armen. Atena sah Richards Not. Er wollte nicht loslassen, seinen Gefährten retten. Welch ein Idiot, dachte die Eulenelfe. Richard wird mit ihm untergehen.
In wenigen Minuten wäre der junge Elf im Morast versunken. Sie flog schnell und tief, schlug dem Kerl ihre Flügel um die Ohren.
»Beweg dich, du Pinsel«, kreischte sie. »Oder willst du, dass dein Fürst mit dir im Moor versinkt?«
Endlich griff der Junge zu. Mit letzter Kraft zog Richard den Ast zu sich heran. Verschlammt, aber am Leben, zerrte er den Jungen aus dem Sumpf.
»Du hast gut daran getan, Eternita mitzunehmen«, hörte er Atenas raue Stimme, als er wieder zu Atem kam. Sie hat die Morituri abgewehrt. Das nächste Mal lässt du den Kerl im Moor. Es ist unnötig, sich in Gefahr zu bringen.«
»Danke, Atena, für deine Hilfe.« Er grinste.
Sie brummelte unwillig. Er hörte Worte wie, ersaufen lassen und unbelehrbar.
Wie alle Wesen der Anderswelt war auch sie der Ansicht, dass man dem Moor lassen sollte, was sich dort hinein verirrte. Wer so dumm war, jemanden retten zu wollen, wurde meist selbst ein Opfer.
Aber es war ungeschriebenes Gesetz, dass der Gerettete und der Retter für immer füreinander verantwortlich waren. Von nun an war es Richards Pflicht, das Leben des Jüngeren zu schützen und umgekehrt. Sie waren von nun an unumkehrbar Brüder.
Von den Moorweibern war nichts zu sehen.
Die Ruine, die sie Tage später aus der Ferne erblickten, wuchs scheinbar mit jedem Meter, den sie zurücklegten. Eine lange Reihe schneeweißer Bögen bildete die äußere Mauer. Einer nach dem anderen wölbte sich vor ihren ungläubigen Blicken empor. Je näher sie kamen, desto mehr wurde die Ruine zu einem protzigen Palast. Aus bröckelnden Steinen schoben sich acht schlanke Türme. Am Rande des Waldes hob Richard die Hand.
Nur noch die Ebene lag zwischen ihm und dem gewaltigen Bau. Der Weg war uneben und gefährlich. Tiefe Löcher wechselten mit mannshohen Felsbrocken und feuchten Mulden. Die Tiere konnten jederzeit stürzen.
»Ihr bleibt hier. Ich werde …«
»Nein, Richard. Ich kenne den Park, der den Palast umgibt. Und jetzt am Abend wird sich niemand über eine Eule wundern.«
Ohne auf seine Antwort zu warten, flog Atena hoch. Nach wenigen Augenblicken war sie in der Dämmerung verschwunden.
In dem großen Raum, dessen Fenstertüren zum Park hinaus führten, lärmten die Dunkelalben Leathans.
Sie genossen die gewonnene Freiheit. Kastor, ihr Anführer, brüstete sich damit, dass er mehr Wildpferde eingefangen hatte, als jeder andere der Elfen. Es waren raue, immer in Schwarz gekleidete Gesellen mit seltsam toten Augen, gut ausgebildete Elfen, die sich ohne Skrupel nahmen, was sie begehrten. Sie tranken mehr, als ihnen gut tat. Aber ihnen fehlten die Weiber.
Magalie hatte, außer der Hexe Siberia, keine der Feen zum Steintod verdammt. Die Weiber waren alle mit Nathan und Maia in die Felsenburg zurückgekehrt.
Die Feen waren schön, verführerisch, intrigant und verwöhnt. Köstliche Belohnung für die Männer, die nach der Jagd oder während der durchzechten Nächte Entspannung suchten. Sie fehlten jetzt den Männern.
Atena überflog die Umgebung. Sie sah Wildpferde, die eingepfercht hinter dem Palast standen. So schön wie die durchweg schwarzen Pferde, die Leathan normalerweise bevorzugte, waren sie nicht. Geschieht euch recht, dachte sie. Vier gelangweilte Wachen umrundeten den Pferch.
Keiner nahm die weiße Eule wahr, die sich unhörbar auf einer Mauer im Park niederließ. Sie legte die Flügel an, trippelte ein wenig hin und her und legte den Kopf schief, um besser in den hell erleuchteten Saal hineinschauen zu können. »Warum braucht ihr Flegel so viel Licht«, grummelte sie. »Wäre besser, man könnte euch Kerle gar nicht sehen. Verbrechervisagen.«
Aber einer erspürte sie doch. Murat lag unter Leathans Stuhl. Der graue Wolf verschmolz beinahe mit dem Stein des Bodens. In Leathans Gegenwart machte er sich so unauffällig wie möglich. Sein Herr war unberechenbar, jähzornig und grausam. Da draußen war Richard. Er hatte ihn längst gewittert. Murat beobachtete die Eule. Sie hüpfte auf den Weg, dann war sie nicht mehr zu sehen.
Das Licht aus den Fenstern malte unregelmäßige Muster auf die von metallenen Feuerkörben gesäumten Wege, Körbe, in denen dunkelrote Glut glomm. Das klebrig süße Parfum lackschwarzer Lilien vergiftete die Luft.
Der See lag still und dunkel da. Eine dicke Schicht fauliger Blätter waberte auf dem Wasser. Hier hatte sich wenig verändert. Sie erkannte, warum die Moorweiber auf ihrem Weg hierher nicht zu sehen gewesen waren. In den Büschen rund um den See, im Wald dahinter hörte sie die neugierigen Weiber. Mit ihren Eulenohren hörte Atena jedes noch so leise Geräusch, und ihre scharfen Augen erkannten sie in ihren Verstecken. Sie würden sich an die Elfen heranmachen, wenn sie die Chance dazu bekämen. Mit ihrem zauberhaften Aussehen würden sie einen der Kerle verführen, einen gab es immer, der sich nicht beherrschen konnte. Himmel, waren diese Burschen dumm. Die Eule rollte mit den Augen, wenn sie daran dachte, wie scheußlich obszön diese Schlampen aussahen, wenn sie töteten.
Atena drehte in der Nähe einer geöffneten Tür den Kopf um hundertachtzig Grad. Sie wollte hören und sehen, was Leathan und seine Anhänger ausheckten. Aber vorläufig hörte sie nur ihr Gegröle und das typische Gehabe, mit dem einer den anderen übertrumpfen wollte. Als einer der Elfen die Tür schloss, umgab sie eine unheimliche Stille.
Sie fragte sich, wo Siberia war. Vor ihr musste sie sich in Acht nehmen. Die Hexe könnte erkennen, dass sie es nicht mit einer gewöhnlichen Eule zu tun hatte.
Plötzlich wuchs ein Laut empor, schwoll an zu einem bestialischen, gequälten Schrei. Der Schrei eines zu Tode gepeinigten, verletzten Tieres. Wer ihn hörte, würde ihn nie mehr vergessen. Atena erkannte in ihm ein Flehen um Erbarmen, um Erlösung. Sie hatte gehofft, ihn nie mehr wieder zu hören. Sie flog hoch und nahm Kurs in seine Richtung.
Sie ahnte, was gerade geschehen war.
Einen gab es immer, dachte sie wieder.
Sie schwebte über dem Gehege der Wildpferde, das von den vier Elfen bewacht worden war. Drei von ihnen standen in einer Art Schockstarre und blickten hinüber zum Moor.
Sie landete in einem Erker, als das Eisengitter des Palastes sich ächzend hob.
Siberia war noch vor Leathan und seinen Dunkelalben am Pferch.
»Sie werden dir nicht mehr nützlich sein«, sagte sie. »Sie haben zu viel gesehen.«
Richard hatte ein Versteck gefunden. Weit genug entfernt, aber nah genug, um das Geschehen vor dem Palast zu beobachten und zu belauschen. In einer grauen Wolke erschien sein Vater. Hinter ihm die Elfen. Sie sind alle wieder da, dachte er. Auch Kastor. Der bullige Kerl war nicht zu übersehen.
Dreimal hintereinander blitzte es in der Dunkelheit auf. Dreimal hob sich silberner Staub. Leathan wischte das Stilett an seinem Stiefel ab, schob es zurück in seinen Gürtel und wandte sich zu den Elfen um.
»Du und ihr drei werdet die Pferde bewachen. Und wenn ihr so dumm seid, wie eure Kumpane«, er klopfte gegen das silberne Stilett, »werdet ihr den gleichen Weg gehen, wie die, die gerade von uns gegangen sind.«
Er ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Aber Siberia bewegte sich nicht. So geh doch, flehte Richard innerlich, bitte geh! Er fürchtete ihren Instinkt. Endlich drehte sie sich um und folgte den anderen. Sie hatte in seine Richtung geschaut. Hatte sie ihn wahrgenommen? Wenn ja, warum hatte sie ihn nicht verraten?
Sein Vater war zu allem fähig. Eine alte kindliche Furcht stieg in ihm hoch. Er hatte geglaubt, sie überwunden zu haben. Ohne zu zögern, hatte Leathan wieder getötet, mit dieser von den Artisanen hergestellten Stichwaffe. Durch den Fluch der Hexen war sie zu einer tödlichen Waffe geworden, für alle, außer für die Hexen selbst.
Siberia lächelte. Ein böses Lächeln. Nein, sie würde Leathan nicht sagen, dass Richard in der Nähe war und sicher alles gehört und gesehen hatte. Sie wusste, dass er ein ungewöhnlich gutes Gehör besaß. Der Sohn des Fürsten konnte über Kilometer hinweg Geräusche vernehmen. Sie dachte an ihren eigenen Sohn, Rufus. Richards Halbbruder.
Ihr gemeinsamer Sohn musste sterben, getötet vom eigenen Vater. Wenn bekannt geworden wäre, dass Leathan sich mit einer schwarzmagischen Hexe eingelassen hatte, ein absoluter Tabubruch, wäre er ausgeschlossen worden aus der Gemeinschaft, hätte alles verloren. Am Ende waren sie beide bestraft worden, mit vielen Jahren als Steintote auf dem Gemäuer, auf das sie jetzt wieder zuschritt. Im Verhältnis zu meinem beinahe endlosen Leben, dachte sie, keine wirklich lange Zeit, aber eine unerträgliche Demütigung.
Für den Mord an ihrem Sohn musste Leathan noch büßen. Er sollte auch Richard töten, dafür wollte sie sorgen. Ihre Rache würde fürchterlich sein. Sie hasste Richard nicht, dennoch würde sie ihn opfern für ihre Rache an Leathan.
»Wir sollten aufbrechen«, sagte sie, »wenn du nicht alle deine Männer auf diese Weise verlieren willst. Den Kerlen fehlen die Weiber.« Sie lachte auf. »Und dir vermutlich auch.«
Leathan sah sie verächtlich an. Aber es stimmte. Er wollte Aglaia, die schönste unter den Feen. Milchweiße Haut, dichtes glattes Haar, glänzend schwarz wie Rabenflügel, mit verschiedenfarbigen Augen, die ihr Gegenüber niemals richtig wahrzunehmen schienen. Sie gestattete keinem der dunklen Elfen außer ihm, sich ihr zu nähern. Unterwürfig war sie, eine leichte Beute. Und sie war schwanger von ihm gewesen. Was war aus diesem Kind geworden?, fragte er sich mit mäßigem Interesse.
In Wahrheit gab es nur eine, die für ihn zu einer Obsession geworden war, Magalie. Ihre Zurückweisung war eine schwärende Wunde, die nicht heilen wollte. Er musste einen Weg finden, die Fürstin der Lichten Welt an sich zu binden. Und war sie nicht willig … Ihm fiele es nicht schwer, Gewalt anzuwenden. Aber die Fürstin war alles anderer als eine leichte Beute.
Ja, er musste zurückkehren, seinen Platz als Fürst der Dunklen Welt wieder einnehmen und neue Pläne schmieden.
»Morgen«, sagte Leathan, »ab morgen wird es wieder einen Fürsten geben, der diesen Namen verdient.«
Richard hatte genug gehört. Er verließ seinen Posten und schlich zurück zu den Elfen, die am Waldrand auf ihn warteten.
Atena landete neben ihm und nahm ihre Elfengestalt an. »Ihr müsst hier weg«, sagte sie.
Richard nickte. »Leathan wird sich morgen auf den Weg machen. Wenn wir vor ihm in der Felsenburg sein wollen, müssen wir sofort aufbrechen.«
Adam, der junge Elf, den Richard gerettet hatte, striegelte Corone. Die anderen lagerten auf einer kleinen bemoosten Fläche.
»Aber die Pferde brauchen Ruhe«, murrte einer.
»Ruhe können sie haben, wenn wir zurück sind.« Seine Stimme klang scharf. Köpfe ruckten herum.
Oho, das ist ein anderer Richard, dachte Atena. Ein athletischer, schöner Elf mit einer Peitsche im Stiefel. Seine Sanftheit war wie weggewischt. In diesem Moment erinnerte er fatal an seinen Vater.
Die Elfen erhoben sich, sattelten ihre Pferde und waren Minuten später im Wald verschwunden. In einer Reihe, einer hinter dem anderen, konzentriert auf den Weg achtend, folgten sie Richard. Die Eule schwebte über ihnen.
Der Weg durch die Wälder und das Moor war trostlos, voller Laute, die Adam ängstigten. Er war zum ersten Mal hier und froh, diesen grausigen Ort verlassen zu dürfen. Er hielt sich dicht hinter Richard.
Für Richard waren diese Wälder und Moore Heimat und Albtraum zugleich. Er kannte jeden Weg, witterte die Gefahren. Als er das beunruhigende Zischen hörte, mit der die schwarze Wolke über den Himmel raste, erkannte er, dass Leathan ihn in der Felsenburg erwarten würde. Er hörte Adams erschrockenes Keuchen.
»Was ist das?« Der Junge hatte Leathan nie gesehen. Sein Bild der Schattenwelt, war ein anderes als das der Älteren.
Hoffentlich kann er etwas davon in seinem Herzen bewahren, dachte Richard. Leathan würde das Rad zurückdrehen. Die Zeit ohne den dunklen Fürsten bliebe nur noch eine ferne Erinnerung.
»Das war mein Vater.« Die Wolke zerfaserte, der Himmel nahm seine übliche blasse Färbung an.
Er trieb Corone vorwärts. Was hatte Leathan vor?
Richard könnte die Schattenwelt verlassen und für immer in der Lichten Welt bei Faith und seinen Kindern leben. Wenn er fortginge, würde er aber all jene verlassen, denen er ein besseres Leben versprochen hatte. Das konnte er nicht. Er musste eine andere Lösung finden.
Die vage Hoffnung, siebeneinhalb Jahre auf den Lebenden Steinen könnten Leathan verändert haben, schwand, als er an die drei Elfen dachte, die sein Vater ohne Skrupel erstochen hatte.
Als er Tage später die Felsenburg erreichte, musste er auch seine letzte Hoffnung begraben. In den Ställen herrschte Aufregung. Ein Ameisenvolk vor dem Angriff eines hungrigen Ameisenbären. Kein Zweifel, Leathan war hier gewesen, und er hatte jemanden in seiner dunklen Wolke mitgebracht, den Richard lieber nicht gesehen hätte.
»Grüß dich, Richard.« Mit einem überheblichen Grinsen trat Kastor vor. »Dein Vater möchte dich sprechen, umgehend. Ich soll dich zu ihm bringen.«
»Danke, Kastor, ich kann alleine gehen. Kümmere du dich um die Pferde.«
Kastor sah Richard wütend nach. Der hatte sich verändert, war erwachsener und besaß eine ganz neue Autorität. Der Sohn seines Fürsten war ein Mann geworden, mit dem man rechnen musste.
Um nicht ganz das Gesicht zu verlieren, gab er Richards Befehl weiter: »Los, steht nicht herum und gafft.«
In einigem Abstand folgte er Richard.
Die Unruhe, die schon im Stall spürbar gewesen war, erfüllte auch Stufen und Gänge der Felsenburg. Die Trolle hetzten mit ihren Fackeln hektisch in den düsteren steinernen Fluren hin und her. Zwerge schleppten Krüge voll des bitteren Bieres für die Zurückgekehrten. Aus der großen Halle hörte er den Lärm der Männer.
Er fühlte sich wie in einem sich ständig widerholenden Albtraum, aus dessen Fängen er sich nicht befreien konnte. Das animierte helle Kreischen der Feen mischte sich mit dem Grölen der Elfen. Obwohl der Abend noch nicht sehr fortgeschritten war, schien es der Grad der Trunkenheit umso mehr. Richard überlief es kalt. Es war, als seien sie nie weg gewesen.
Auch seine eigenen Leute waren hartgesottene Kerle. Auch sie tranken und hurten. Wenn man, wie diese, in der Unterstadt aufgewachsen war, konnte man nur mit einer gewissen Härte überleben. Aber sie waren nicht, wie die Elfen seines Vaters, zur Erbarmungslosigkeit erzogen worden. Keiner von ihnen war grausam um der Grausamkeit willen. Er warf einen kurzen Blick auf die Zecher. Sie gerierten sich, als seien sie die Herren, und er fragte sich, wie seine eigenen Leute darauf reagieren würden. Im Moment konnte er nichts tun, als abzuwarten. Leathan war ungeduldig, er wartete nicht gerne. Richard eilte weiter.
Zwei schwarzgekleidete Elfen, die Leathans Räume bewachten, rissen die Flügeltüren auf. Richard schritt hindurch und verbeugte sich vor Leathan. »Vater.«
Leathans diabolisches Grinsen. »Du hast geglaubt, hier alles übernehmen zu können? Mit deinen Hinterwäldlern ein lasches bequemes Regiment zu führen?« Ein tiefer Laut drang aus Murats Kehle. Der Stiefel des Fürsten traf den Grauen.
»Vater, nicht!«
Leathan erhob sich. »Du bist immer noch der Waschlappen, den ich vor Jahren hier zurückgelassen habe.«
Richard musste sich, trotz seines Ärgers, ein Lächeln verkneifen. Leathan tat so, als sei er von einer längeren Ferienreise zurückgekehrt.
Er reckte sich, um aus dem Lichtschacht nach draußen zu blicken. Die Fackeln im Labyrinth brannten nicht mehr. Richard wusste, was das bedeutete: Klapperer und die tödlichen Schlingpflanzen würden wieder ihre abscheuliche Arbeit tun.
»Wage nicht, dich meinen Befehlen zu widersetzen. Das Labyrinth bleibt, wie es ist!« Leathan maß ihn von oben bis unten. »Immerhin trägst du jetzt vernünftige Kleidung.
Mit »vernünftiger Kleidung« meinte sein Vater das schwarze Leder, das alle Dunkelelfen trugen. Richard hatte es beibehalten, weil es praktischer war als die leichten Leinensachen, die er bevorzugte und immer dann trug, wenn er die Schattenwelt verließ, um Faith und seine Töchter in der Lichten Welt zu sehen.
Leathan war ein Meister darin, sich der Gedanken anderer zu bemächtigen. Wer nicht stark genug war, sich ihm zu verschließen, wurde manipuliert und ausspioniert. Richard verhüllte seinen Geist, so gut es ging. Ließe sich ein Weg finden, dem Irrgarten seine Macht zu nehmen? Konnten die Hexen ihm dabei helfen? Es sollte nicht schwer sein für eine Hexe, die Feuer immer wieder aufflammen zu lassen. Und wenn sie dabei schwarze Magie einsetzten? Er musste es hinnehmen, immerhin würden sie damit Leben retten.
Leathan sah seinen Sohn misstrauisch an. »Was verbirgst du?«
»Nichts, Vater, ich habe mich gefragt, wo Siberia ist.«
»Da, wo Weiber hingehören, in ihrer Hexenküche.«
Aber da war sie nicht. Wie zwei Furien schossen Siberia und Eternita in diesem Augenblick in den Raum.
Siberia baute sich vor Leathan auf und schnaubte. »Da sind Wesen aus der Unterstadt in meinen Küchen. Schmutzig und hungrig. »Wer, glaubt sie«, giftiger Blick auf Eternita, »wer sie ist? Die Göttliche vom Bocksberg?«
»Das sind meine Küchen.« Eternitas Stimme kippte. »Ich handele auf Richards Befehl«, schrie sie.
Wäre Richard alleine gewesen, hätte er gelacht und den Weibern empfohlen, ihre Streitigkeiten selbst zu regeln. Aber er war nicht alleine. Die versteinerte Miene seines Vaters wischte ihm das Amüsement aus dem Gesicht.
»Du hast was?«
»Du hast es gehört.« Jetzt war auch Richard wütend. »Warum sollten die Hexen nicht das tun, was sie am besten können?«
»Und das wäre?«
»Heilen.«
Jetzt konnte Richard die Gedanken seines Vaters lesen, ganz ohne in seinen Kopf einzudringen.
»Ich frage mich, wie ich zu solch einem Schwachkopf wie dich habe kommen können. Es muss das Erbe deiner Mutter sein.«
»Lass meine Mutter aus dem Spiel.«
Leathan brüllte. »Hinaus!« Siberia und Eternita flohen. »Und werft das Geschmeiß aus der Unterstadt raus!«
Richard rührte sich nicht. Unbeherrscht fuhr der Dunkelalb zu ihm herum. »Du solltest wissen, dass die Magie der Hexen wichtig ist. Wir brauchen sie, um uns, nicht um andere zu schützen.«
»Wovor musst du dich schützen, Vater? Fürchtest du, die Elfen der Lichten Welt stehen vor den Toren, um uns zu überfallen?«
Er selbst war ein anderer geworden, er würde sich wehren. Aber dazu brauchte er Maia und Nathan. Sein Vater, das stand fest, hatte den Tanz auf dem Vulkan der Macht bereits wieder begonnen.
Der Gang, tief unten im Brunnen, aus der Schattenwelt hinaus, in die Lichte Welt, blieb Richards Geheimnis, das er unter allen Umständen vor seinem Vater schützen musste.
Außer Magalie und Elsabe kannten nur Jesse und Julian diesen feuchten Tunnel, der sie aus der Schattenwelt direkt in eines der Gewächshäuser Magalies führte. Der einzige weitere Mitwisser, Rufus, der Sohn der Hexe Siberia, lebte nicht mehr. Richard fragte sich wieder, ob Rufus wirklich ein Sohn Leathans gewesen war, er also einen Halbbruder gehabt hatte? Der Gedanke, dass sein Vater den eigenen Sohn umgebracht haben könnte, verfolgte ihn.
Der Boden unter seinen Füßen war feucht, von den Wänden tropfte es. Ratten fiepten. Kein angenehmer Ort.
Am Ende des Tunnels erklomm er ausgetretene Steinstufen. Durch eine leichte Berührung der Bodenplatten über ihm schoben diese sich lautlos auseinander, und er konnte in eines der Gewächshäuser eintreten. Gierig sog er den süßen Duft der blauen Beeren ein, die in schweren Trauben über ihm hingen. Die Tür öffnete sich, strahlend flog sie auf ihn zu.
»Du bist da.« Faith küsste ihn. »Ich hab’s gespürt.«
Richard zog sie an sich, versank in ihrem Duft, ihrem üppigen roten Haar, ihrer Liebe.
»Komm.« Sie zog ihn hinter einen Vorhang aus wuchernden Ranken.
Früher, dachte er, hat es diese bequemen Kissen hier nicht gegeben. Dann dachte Richard nichts mehr.
Spät am nächsten Tag erwachte er allein. Richard sprang auf. Er wollte seine Töchter sehen, und er musste mit Magalie sprechen.
Der Weg zum Pavillon war nicht weit. Er genoss es, unter schattenspendenden Bäumen, an duftenden Blumenbeeten entlangzugehen. Nirgendwo in der Schattenwelt gab es annähernd solche Farbenpracht, solche Helligkeit, solchen Duft. Magalies Gärten waren ein Geschenk, das die Seele erfrischte und seinem Herzen Ruhe schenkte. Zarter Zitronenduft lag über allem. Ein Spiel mit Farben, Formen und Düften. Betörend.
Wenn nur ein Hauch über den Garten hinweg wehte, summten graugrüne Gräser eine leise Melodie. Zwischen den hohen Gräsern tauchte ein roter Schopf auf. Lisa, seine Tochter.
»Papa!«
So musste Faith als kleines Mädchen ausgesehen haben. Zierlich, ein unwiderstehlich niedliches Persönchen. Richard kniete nieder und breitete die Arme aus.
Faith stand in der Tür des Pavillons. Sie beobachtete ihre Tochter, die sich jubelnd in Richards Arme warf. Nie hatte sie an ihrer Liebe zu Richard gezweifelt, aber oft an ihrer Entscheidung, mit ihm in die Anderswelt zu gehen. Sie wusste, dass er seine Welt nicht verlassen wollte. Nicht weil er die Schattenwelt liebte, sondern weil er ein pflichtbewusster Mann war. Er könnte sich nicht verzeihen, die Geschöpfe zu verlassen, denen er ein besseres Leben versprochen hatte, sie Leathan auszuliefern und sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Wenn sie die Spiegelwelt verließe, müsste sie ein Leben führen wie ihr Vater und Magalie. Oft getrennt, selten vereint. Ihre Kinder ohne Vater. Auch jetzt schon waren sie und Richard oft genug allein.
Ihr Vater trat zu ihr. »Woran denkst du?«
»Ich frage mich, wie ihr, Magalie und du, die ewigen Trennungen ausgehalten habt.«
Robert schwieg, dann sagte er. »Für mich war es schwer. Aber ich habe keine Möglichkeit gesehen, es zu ändern. Meine Angst um dich war zu groß. Ich wollte nicht, dass du in der Anderswelt aufwächst.« Er sah Faith nachdenklich an. »Denk an die Prophezeiung, die dich fast das Leben gekostet hätte.«
»Nur meinetwegen …?«
»Nicht nur, nein. Magalie wäre für immer zu mir gekommen. Aber sie hätte sich nie verziehen, ihr Volk im Stich gelassen zu haben. Daran wäre unsere Liebe zerbrochen.« Robert erkannte, was seine Tochter umtrieb. »Was ist mit dir, mein Mädchen?«
»Ich fürchte, mir geht es ähnlich. Ich kann Richard nicht bitten, seine Pflichten zu vernachlässigen. Aber mein Platz ist nicht hier. Hier werde ich immer eine Fremde bleiben, und ich fürchte für meine Kinder. Leathan ist zurück.«
Sie legte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters. »Ich habe Angst.«
Im Hof, den die beiden Seitenflügel und der Mittelteil des riesigen Landhauses bildeten, standen lange, weiß gedeckte Tische. Dieser Platz bildete den Mittelpunkt des Hauses. Hier wurden die Aktivitäten für den Tag besprochen, Neuigkeiten ausgetauscht, gemeinsame Mahlzeiten eingenommen, getratscht und gefeiert. Die Krone einer weiß blühenden Kastanie überdachte schützend den gesamten Innenhof.
Magalie lächelte, als sie Faith und Robert kommen sah. Sie bei sich zu haben bedeutete für die Fürstin Glück. Ihr Gesicht verschattete sich. Faith’s Gedanken trafen sich mit ihren eigenen Ängsten. Mit Leathans Wiederkehr war die Zukunft ungewiss. Was würde aus ihren Enkelinnen werden?
»Wo ist Lotte?« Sie blickte sich beunruhigt um. Der Tag verlor sein Blau.
Zeit für uns, das Land der Eulenelfen zu verlassen, dachte Maia wehmütig. Atenas Bericht sprach dafür, dass ihr Sohn Leathan sich bereits wieder in der Felsenburg aufhielt.
Dieses Tal mit den Eulen zwischen riesigen Gebirgszügen war sogar Leathan bisher entgangen. Durch Maias Zauber geschützt, blieb es unentdeckt. Dieses Zauberland, bewohnt von Eulenelfen und den gewaltigen Nebelpanthern, allesamt Gestaltwechsler, war bunt und schön. Eines Tages, hoffte Maia, von hier aus die Leathans Schattenwelt ein wenig heller machen zu können. Hier lebten Quellgeister, sie waren stark, aber noch nicht stark genug. Es gab Feen und Elfen.
Sie alle hüteten ein Geheimnis.
Es gab etwas, das so mächtig war wie das Zeichen der Macht, das wunderschöne, aus zwei Teilen bestehende Medaillon, das Magalie und Leander inzwischen trugen. Von diesem Geheimnis wussten nur ihre Schwester Cybill, die alte Herrscherin und natürlich Nathan.
»Atena, ich überlasse dir und deinen Schwestern unser Tal. Richard braucht Nathan und mich.«
Sie seufzte. »Leathan wird sich fragen, wo wir sind.«
Nathan legte seinen Arm um Maias Schultern.
»Es ist nicht nötig, dass er Nachforschungen darüber anstellt, wo wir uns aufhalten.«
»Wo ist Nubes? Ich möchte ihn sehen, bevor ich aufbreche.«
»Du hast mich gerufen?«
Vor Maia tauchte ein sahneweißer Panther auf.
Ohne Vorwarnung vollzog sich seine Verwandlung. Jetzt stand da ein Mann von verblüffendem Aussehen. Er verbeugte sich vor Maia und Nathan. Schlohweißes Haar stand wie eine Mähne wild von seinem Kopf ab. Die Nase war breit und flach. Wie zwei glühende Kohlestücke flackerten die Augen rot. Atena umarmte Nubes.
»Mach dir keine Sorgen, wir werden unser schönes Tal hüten.«
Sie waren vor dem Versammlungssaal angekommen, einem Raum von immenser Ausdehnung.
Die Mauern schimmerten weiß unter langen grünen Ranken, hinter denen leuchtende runde Koboldaugen hervorblitzten. Die zwergenhaften Kerlchen besaßen Krallen und taten keiner Fliege etwas zuleide. Die spitzen Zähne benutzten sie normalerweise nur, um Grünzeug zu fressen. Aber wenn ihre Welt und deren Bewohner in Gefahr gerieten, nutzten sie Krallen und Zähne äußerst effektiv. Dann wurden sie zu unerbittlichen messerscharfen Werkzeugen.
Hunderte verschieden hohe Steinsäulen, verziert mit kostbaren Mosaiken, wuchsen aus dem Boden des Raumes. Saphire und Smaragde bildeten leuchtend blaugrüne Muster.
Die Kuppel hoch oben, die dieses Meer aus grünen und blauen Tönen spiegelte, glänzte golden.
Dies war der einzige so prachtvoll ausgestattete Saal. Alle anderen Räume dieses ehemaligen Herrschersitzes kamen ohne jeglichen Prunk aus. Es gab alles, was zur Bequemlichkeit beitrug, aber keinen übertriebenen Luxus. Dieser Festsaal jedoch war überwältigend. Auf den Säulen warteten die Eulen auf Maia, um sich zu verabschieden und ihre letzten Anweisungen entgegenzunehmen, während Nubes vor der Tür mit Nathan sprach.
Der Panthermann warnte ihn: »Ich habe Leathans Elfen gesehen. Ihr Anführer ist ein Wadenbeißer, der nicht loslässt, wenn er einmal eine Fährte aufgenommen hat. Immer wieder lässt er dieses Gebiet hier überwachen.«
»Kastor«, sagte Nathan. »Er ist mit Leathan zurückgekehrt. Ein Mann, der eine Demütigung auch nach Jahren nicht vergisst. Er ist gefährlich, ich weiß.«
Wenig später ritten Nathan und Maia in einen staubigen Tag. Maia auf ihrer gescheckten sanften Stute, Nathan auf seinem gewaltigen Hengst.
Sie ritten schweigend. Maia war in Gedanken versunken. Sie vermisste jetzt schon ihr schönes Tal.
Nathan nahm eine Bewegung auf dem Felsen über ihm war. Er verzog den Mund. Wenn diese Kerle glaubten, unsichtbar zu sein, hatten sie sich geirrt. Nathan beobachtete die Umgebung unter halb geschlossenen Lidern. Kein Laut entging ihm. Steine, Flechten, Bäume und Moose sprachen von den Wesen, die vor kurzem hier vorbeigekommen waren.
Kastor biss sich auf die Lippen. Wo kamen die beiden her? Auch nach der langen Zeit auf den Lebenden Steinen trieb ihn die Frage um, ob er sich damals geirrt hatte oder ob hier etwas war, das er wissen sollte. Er hatte einen eisernen Zaun gesehen, den er später nicht mehr wiederfinden konnte.
Damals war ihm Oskar praktisch vors Pferd gefallen. Die Gelegenheit, ihn zu entführen, hatte Kastor sofort ergriffen. Er wusste, dass der Glitter zu Magalie gehörte. Aber Oskar war entkommen. Er verdächtigte Maia, nicht zu Unrecht, ihm bei der Flucht geholfen zu haben.
Kastor traute Maia nicht. Die Mutter Leathans ging ihre eigenen Wege, so viel war sicher. Was hatte sie hier zu suchen? Welches Geheimnis verbarg sie?
Erschreckt riss er den Kopf hoch, als er Nathans Stimme vernahm. Leathans Haushofmeister und Stellvertreter stand plötzlich vor ihm. Ein riesiger Elf, den er hasste. Nathan konnte sich Leathan gegenüber Dinge herausnehmen wie keiner sonst. Er verfluchte innerlich die Geräuschlosigkeit, mit der Nathan zu erscheinen verstand.
»Was, was …?«
»Überrascht mich zu sehen?« Nathan lächelte milde auf Kastor herab. »Ihr seid also wieder da. Ruf deine Kameraden zusammen. Du kannst deinem Fürsten ausrichten, dass wir auf dem Weg zu ihm sind.«
»Was tust du hier?«
»Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht, Kastor.«
»Entschuldige.« Kastor gab den Unterwürfigen.
Nathan war sein direkter Vorgesetzter. Nur Leathan oder Richard standen über diesem mächtigen Elf.
»Wir sollten gemeinsam reiten. Die Gegend ist gefährlich.«
Kastor sah ihn lauernd an in der vergeblichen Hoffnung, dass Nathan sich verriet.
Der Einzige, der hier gefährlich ist, bist du, dachte Nathan. Er verschloss seine Gedanken, verbot sich an das Land der Eulenelfen zu denken.
»Wir brauchen keine Begleitung. Geh jetzt, und tu, was ich dir befohlen habe.« Nathans Hengst setzte sich in Bewegung und trug seinen Herrn an Maias Seite. Er spürte den Hass und die Eifersucht in seinem Rücken. Kastor war ein überzeugter Anhänger Leathans, für ihn würde er alles tun.
Und alles gegen mich, dachte er.
»Na, was will er? Sollte er nicht bei Leathan sein?« Maia sah Nathan von der Seite an.
»Du hast ihn also auch bemerkt?« Er grinste, Maia entging nichts, auch wenn sie so tat als ob.
»Er will wissen, was du vor ihm verbirgst, und weiter will er meinen Posten.«
»Darauf wird er bis zum Ende aller Tage warten müssen«, sagte Maia kühl.
Das leiser werdende Klappern der Hufe auf dem Fels sagte ihnen, dass Kastor Nathans Befehl befolgte.
Nathan und Maia ließen den Wald hinter sich. Einen Wald, bevölkert von Wesen, denen niemand gerne begegnete.
Hier war Murats Heimat gewesen, dachte Maia, bevor Leathan den Wolf zu seinem Sklaven gemacht hatte.
Er hatte die Mutter des Wolfsjungen erschlagen und ihn in seinen Dienst gestellt. Kastors Bemerkung, die Gegend sei gefährlich, war durchaus zutreffend. Schwärme von Klapperern warteten auf die Reisenden. Myriaden durchscheinender Insekten, schwarze, riesige Libellen, giftig wie eine Mamba, lauerten zwischen den Blättern. Weiße Nattern mit blinden Augen wanden sich durch aufgeweichten Schlamm, in den sich die Wurzeln kleinwüchsiger Föhren krallten. Unscheinbare Raupen, deren Pelz aus tausenden giftigen Härchen bestand, überzogen die Bäume mit einer widerlich wabernden, lebendig wirkenden Haut.
Totes Geäst und undurchdringliches Unterholz säumten die Wege. Und dann gab es noch die Skorpione. Eine Begegnung mit ihren metallartigen Zangen wollte niemand riskieren. Lähmungen und ungeahnte Schmerzen waren die Folgen, manchmal auch der Tod. Auf die, die nur in der Stadt gelebt hatten, musste diese Umgebung wie ein Albtraum wirken.
Weit vor der Stadt rollten Maia und Nathan klapprige Fuhrwerke entgegen, beladen mit dem Wenigen, das die Armen besaßen. Die Mähren, die sie zogen, bestanden aus von Haut überzogenen Knochen.
Maia und Nathan sahen den Gestalten entgegen. Ganz sicher handelte es sich um Bewohner der Unterstadt. Trolle, Zwerge, auch Elfen. Familien mit Kindern. Warum waren sie hier? Was war geschehen?
Maia fürchtete, die Antwort zu kennen, und hielt einen der Wagen an. Diese Familie kannte sie. Der Vater war ein Händler, der auf ärmlichen Märkten ebenso armselige Waren verkaufte. Sein Weib stellte ein Getränk her, das sie als Apfelmost bezeichnete, den sie in den Straßen feilbot. Maia mochte sich gar nicht vorstellen, woraus dieser Saft wirklich bestand.
»Was tut ihr hier?«
»Leathan ist zurück.« Das Weib schaute ängstlich und verzweifelt auf ihre Kinder.
Das beantwortete zwar ihre Frage nicht, aber es bestätigte Maias Befürchtungen.
Leathan war schnell gewesen.
Sehr tapfer, dachte Nathan zynisch, mit dem Aufräumen bei den Ärmsten zu beginnen.
»Wohin geht ihr?«
»Man hat uns von den Katakomben erzählt, die hier irgendwo sein sollen.«
Die Katakomben waren ein Labyrinth unter der Stadt. Alte Fluchtwege für die Fürsten früherer Zeiten. Sie lagen verlassen, fast vergessen da, seit Rufus tot und Siberia auf die Lebenden Steine verbannt worden war. In den unterirdischen Gängen hatten die beiden ein Heer gegen Leathan aufgebaut, einer der Gründe, warum Leathan Rufus, seinen eigenen Sohn, getötet hatte.
Ihr werdet es nicht überleben, ohne Schutz durch die Wälder zu ziehen, dachte Maia. Auf der Suche nach einer neuen Bleibe würden sie alle umkommen.
»Ich begleite euch«, sagte sie. Und an Nathan gewandt: »Du musst allein vor meinen Sohn treten.«
Maia streckte eine Hand nach Nathan aus. Er spürte die Hitze, die von ihren Fingern ausging. Eine Sekunde lang züngelte helles Licht.
»Dieser Zauber«, sagte sie, »wirkt nicht lange. Geh jetzt.«
Nathan trieb seinen Hengst an. Er konnte vielen Gefahren trotzen. Maia wusste das, aber es beruhigte sie, ihn mit einem zusätzlichen Zauber abzuschirmen. Er lächelte und dachte an das Tuch, das sie aus den Federn des Kwynks und der Asche des gelben giftigen Wulstlings wob. Ein Tuch, das seinen Träger unsichtbar machte. Sie bestand darauf, dass alle, die sie beschützen wollte, dieses hauchdünne Geflecht bei sich trugen. Dann wurde er ernst und konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihm lag.
Als er die Stadt erreichte und an den grauen Fassaden der Paläste entlang ritt, erkannte er, dass sie wieder unbewohnt waren.
Es hatte begonnen! Leathan war im Begriff, seine Macht zurückzuerobern, indem er alles zunichte machte, was er und Richard erreicht hatten. Sein Wille, zu zerstören, war offenbar ungebrochen. Der Dunkelalb glaubte, Autorität nur durch Gewalt erreichen zu können. In Nathans Augen ein Zeichen für innere Unsicherheit und Schwäche.
Verstörte Gesichter wandten sich ihm zu, in denen so etwas wie leise Hoffnung aufschien. Die Hoffnung auf ein besseres Leben war eng verknüpft mit Maia und ihm. Er fragte sich, was er für diese Elendsgestalten tun konnte, und wappnete sich gleichzeitig für die kommende erste Begegnung mit seinem Fürsten, nach siebeneinhalb Jahren.
Die dunklen Wände glänzten in einem beinahe schwarzen Rot. Getrocknetes Blut. Hier hatte sich nichts verändert. Richard hatte die Räume seines Vaters in dessen Abwesenheit nie betreten. Jetzt war der Bewohner dieser dunklen Räume zurück. Auf dem Tisch standen halbleere Krüge. Leathan war betrunken. Murat lag in einer Ecke, weit genug entfernt von seinem Herrn und leckte eine frische Wunde. Er hob kurz den Kopf, sein Halsband blitzte auf. Natürlich aus Gold, dachte Nathan, aber dennoch ein Sklavenhalsband. Sinnbild der Unfreiheit.
Leathans Wutausbruch war furchterregend. Der Raum verlor den letzten Schimmer von Licht. Die Bierkrüge schepperten.
»Habt ihr alle den Verstand verloren?«
Er beschimpfte Nathan, verfluchte seinen Sohn Richard mit allen bekannten und einigen unbekannten Flüchen und stieß wütende Drohungen gegen Maia aus. Nathan stand aufrecht, zuckte mit keiner Wimper und ließ Leathans Verwünschungen ins Leere laufen.
Er war Lehrer und Trainer vieler Fürstensöhne gewesen. Leathan war der mit Abstand Schwierigste. Murats Rute klopfte, als er Richard Namen hörte.
»Und nun hat dieser Idiot auch noch Magalies diebische Tochter geschwängert.« Nathan beherrschte sich. Faith hatte Leathan das Zeichen der Macht gestohlen und ihrer Mutter Magalie gebracht. Damit hatte sie eine Prophezeiung erfüllt, nach der sie die Anderswelt retten sollte. Nie würde Leathan ihr diese Demütigung verzeihen.
»Und ausgerechnet mit dieser, dieser …«, jetzt fehlten ihm die Worte, »hat er sich eingelassen.Geh jetzt, wir sprechen uns später. Ich muss nachdenken.«
Nathan verbeugte sich und wandte sich ab.
»Schick mir einen der Zwerge mit einem Krug Bier«, rief Leathan ihm nach.
»Du hast genug getrunken«, murmelte Nathan und machte sich auf die vergebliche Suche nach Richard.
»Er ist in die Lichte Welt aufgebrochen«, erklärte ihm einer der Elfen.
Annabelle erschien in ihrer silbernen Wolke in der dunklen Welt Leathans.
Sie eilte durch die dämmrigen Flure. Die Wände schimmerten im Licht der Fackeln. Ein Mausoleum, dachte sie. Welch ein Unterschied zu ihrem Reich. Zwei Wachen standen vor der Tür ihres Bruders.Große kräftige Kerle, die ihre Speere kreuzten. »Leathan will nicht gestört werden …«
»Geht mir aus dem Weg!« Annabelles Amethyst-Blick. Hart wie der Edelstein. Erschrocken rissen die zwei die Flügeltüren auf.
»Himmel, wie sieht es hier aus?« Leathan musste getobt haben.
Sie schüttelte angewidert den Kopf. Ihre Nasenflügel bebten, als sie den scharfen Geruch von bitterem Bier einsog, der sich mit dem süßlicheren Duft der Feensterne verwob. Ekelhaft. Das Weib auf dem Diwan beachtete sie nicht.
»Was willst du hier?« Leathan richtete sich mühsam auf. Seine Stimme klang unsicher.
Annabelle hatte ihren Bruder nie verstanden. Er war ein Zerstörer, liebte das Chaos, erkannte Schönheit nicht. Sie liebte Schönheit geradezu obsessiv. Nur der Hunger nach Macht und Besitz verband sie mit ihrem Zwillingsbruder.
Auch sie ging über Leichen, um zu bekommen, was sie wollte.
Annabelle besaß, wie er, irritierend violette Augen. Silbern glänzendes Haar umfloss lang und glatt ihr betörend schönes Gesicht, mit einem Mund, der hinreißend lächeln konnte, wenn er wollte.
Jetzt lächelte dieser Mund nicht.
Sie besaß die Geduld einer Spinne im Netz. Annabelle konnte warten und war so intrigant wie schlau. Schlauer als er, der nicht über seinen Machthunger hinausschauen konnte. Ihre Gier nach dem zauberhaft schönen Schmuckstück, das Magalie gehörte, war krankhaft. Sie wünschte sich nichts mehr als dieses geheimnisvolle Kleinod, das Magalie gleichzeitig mehr Macht schenkte als jedem anderen Bewohner der hellen und der dunklen Welt.
Jetzt, dachte sie, habe ich lange genug gewartet. Du bist reif, Bruder, für meine Pläne.
Er musste seine Macht zurückgewinnen, sie würde ihm ihre Hilfe anbieten und ihm erklären, was sie sich überlegt hatte.
»Bist du ausreichend nüchtern, um mir zuzuhören?«
»Sprich.«
Annabelle verzog den Mund und unterbreitete ihrem Bruder ihren Plan.
Leathan betrachtet die Möhre, die sie ihm vor die Nase hielt und beschloss, dass er Appetit darauf hatte. Aber er blieb misstrauisch, seine Schwester tat nichts, ohne ihren eigenen Vorteil im Auge zu behalten. Sie war keine Samariterin. Und er wusste aus bitterer Erfahrung, dass sie versuchen würde, ihn übers Ohr zu hauen.
Sie sagte: »Ich will deine Antwort bald. Komm zu mir, wenn du wieder nüchtern bist.«
Sie warf noch einen Blick auf den Diwan, auf dem Aglaia, die Hure ihres Bruders lag. Hübsch war sie, nein, sie war schön. Annabelle fragte sich, ob Aglaia sie überhaupt wahrnahm. Sie schien versunken in den Anblick von etwas, das sich den Augen aller anderen entzog. Wenigstens für die Schönheit von Frauen hatte ihr Bruder ein Auge. Das Kind an Aglaias Seite beachtete sie nicht.
Ein silberner Wirbel und Annabelle war verschwunden. Träge erhob sich Aglaia. »Trau ihr nicht.«
Damit verließ auch sie den Raum. Sein violetter Blick fiel auf das Mädchen neben ihr. Aglaia hatte ihm nur eine Tochter geboren. Verdammt sollte sie sein.
Die Wolken, die sich über Magalies Garten auftürmten, ließen die Farben dunkel werden. Am eben noch hellen Himmel schossen graue Schlieren hoch. Blutrot an den Rändern, verkrallten sie sich in dunklere Wolkenfetzen, drifteten auseinander, verbissen sich ineinander. Blitze zerrissen den Himmel. Die Hexen flogen.
Magalie sprang auf. Ihre Hand tastete nach dem Medaillon. Eine blaue Wolke schloss sich um Robert, Faith und Lisa und trug sie zur alten Villa, hinaus aus der Anderswelt.
Faith drückte Lisa an sich. »Nicht weinen, Schatz.«
Robert war kreidebleich. »Was war das?«
Faith schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Dad. Aber ich habe Angst. Die Hexen … Ich fürchte …« Faith drückte ihr Gesicht in die roten Locken ihrer Tochter.
»Wo ist deine Schwester, meine Kleine?«, flüsterte sie.
Zuletzt hatte sie Oskar und Lotte bei den Feen im Garten gesehen.
Robert hatte das Haus behalten, in dem er und Faith lebten, bevor es ihn in die Anderswelt zog. Als Autor brauchte er einen Ort, wo er schreiben und sich mit seinen Verlegern treffen konnte. In Magalies Welt funktionierte kein Computer, und ohne Recherchen im Netz konnte er nicht arbeiten.
Ruhelos ging Robert hin und her.
Magalie hatte sie aus der Anderswelt ausgeschlossen. Warum?
Es musste etwas Schreckliches passiert sein. Hatte es mit Lottes Verschwinden zu tun?
Einen Wimpernschlag, nachdem sie Faith, Robert und Lisa aus der Anderswelt ausgeschlossen hatte, fuhr Magalie zwischen die Kämpfenden am Himmel. Zu spät.
Leathans Hexen waren Elsabe und ihren Schwestern entkommen. Die Fürstin raste über den Himmel. Neben ihr erschien Elsabe. »Du kannst sie nicht einholen.«
»Sie haben Lotte!«, schrie Magalie gegen den Wind.
»Ich weiß. Sie werden Lotte nichts antun. Wir holen sie zurück.«
Der Himmel über der Lichten Welt war wieder strahlend blau, als sei nichts geschehen.
In der Villa tobte Faith. »Sie kann uns nicht so einfach ausschließen, verdammt. Dad, ich muss wissen, was geschehen ist.«
»Wir warten ab.« Robert versuchte seine Tochter zu beruhigen. »Magalie wird sich melden.«
Das hat sie immer getan, dachte er. Aber wenn sie sich ängstigt, kann sie zur Despotin werden.
»Oh, nein.« Faith war wütend und gar nicht seiner Meinung. »Ich lasse mich nicht wie ein Kleinkind ins Kinderzimmer stecken. Immer geschieht, was sie will.«
Faith’s Blick fiel auf ihre Tochter. Lisa lag auf dem durchgelegenen Sofa in Roberts Arbeitszimmer und war eingeschlafen. Nur ihr roter Schopf lugte unter der bunten Decke hervor, in die auch sie sich als kleines Mädchen gekuschelt hatte. Sie trat an die Fenstertüren. Von hier aus konnte sie den uralten Baum mit dem gespaltenen Stamm sehen. Das Portal zur Anderswelt.
Robert stellte sich neben sie. »Denk nicht mal dran, du gehst nicht zurück, bevor Magalie sich gemeldet hat. Du kannst Lisa nicht alleine lassen.«
Faith sagte: »Sie ist nicht alleine, sie hat dich. Und mein Baby ist in Gefahr.«
Er sah auf das schlafende Kind.
»Geh nicht«, flehte Robert.
Seine Angst um Faith war ebenso groß wie die ihre um ihre kleine Tochter. Er wusste, dass er sie nicht zurückhalten konnte, hoffte aber, dass die Anderswelt sie gar nicht einlassen würde. Wenn die Feen es nicht zuließen, gab es keine Möglichkeit, durch das Portal in ihre Welt zu gelangen.
Faith öffnet eine der Türen zum Garten und lief über den Rasen zum alten Baum. Er beobachtete von weitem erleichtert ihre vergeblichen Versuche. Sie beschwor den Baum, fluchte und schlug auf seine Rinde ein. Nichts half. Aber dann rief sie ihr Pferd. »Ombra!«