Himmel über der Maremma - Ursula Tintelnot - E-Book

Himmel über der Maremma E-Book

Ursula Tintelnot

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Beschreibung

Theresa, eine junge Witwe, fährt mit ihrem kleinen Sohn nach Italien, um sich auf einem Gut als Pferdewirtin zu bewerben. Die bezaubernde Landschaft, das Gut und nicht zuletzt der Gutsbesitzer Maximilian von Ossten, ziehen sie in ihren Bann. Nach einem Rundgang über das Gut und die Ställe hatte er gesagt: "Sie können den Job haben, aber..." "Aber?" "Es gibt eine Bedingung." "Welche Bedingung?" "Sie müssen mich heiraten." Theresa hatte gelacht und gefragt: "Wollen sie das Gehalt sparen?" Ein halbes Jahr später ist sie Frau von Ossten. In der südlichen Toskana, der Maremma, glaubt sie ein zweites Glück gefunden zu haben. Sie wird eines Besseren belehrt. Die Zeichen stehen auf Sturm, als eines Tages das erste Pferd tot auf der Weide liegt.

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Seitenzahl: 388

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Him­mel

über der

Ma­rem­ma

 

 

Ur­su­la Tin­tel­not

 

Im­pres­s­um

Tex­te: © Ur­su­la Tin­tel­not Um­schlag­fo­to: © Mar­tin Lan­gos

Um­schlag­ge­stal­tung: © Me­du­sa Ma­bu­se

Satz/Lay­out: © Me­du­sa Ma­bu­se

 

Druck: epu­bli – ein Ser­vice der neo­pu­bli GmbH, Ber­lin

 

Al­le Rech­te, ein­schließ­lich das des voll­stän­di­gen oder aus­zugs­wei­sen Nach­drucks in jeg­li­cher Form, sind vor­be­hal­ten.

 

Klap­pen­text:

The­resa, ei­ne jun­ge Wit­we, fährt mit ih­rem klei­nen Sohn nach Ita­li­en, um sich auf ei­nem Gut als Pfer­de­wir­tin zu be­wer­ben. Die be­zau­bern­de Land­schaft, das Gut und nicht zu­letzt der Guts­be­sit­zer Ma­xi­mi­li­an von Oss­ten zie­hen sie in ih­ren Bann.

Nach ei­nem Rund­gang über das Gut und durch die Stäl­le, hat­te er ge­sagt: »Sie kön­nen den Job ha­ben, aber ...«

»Aber?«

»Es gibt ei­ne Be­din­gung.«

»Wel­che Be­din­gung?«

»Sie müs­sen mich hei­ra­ten.«

The­resa hat­te ge­lacht und ge­fragt: »Wol­len Sie das Ge­halt spa­ren?«

Ein hal­b­es Jahr spä­ter ist sie Frau von Oss­ten.

In der süd­li­chen Tos­ka­na, der Ma­rem­ma, glaubt sie, ein zwei­tes Glück ge­fun­den zu ha­ben, bis sie er­kennt, dass man Glück nicht fin­det, son­dern dar­um kämp­fen muss.

In­halts­ver­zeich­nis

La Pi­ne­ta

Lie­be und Ei­fer­sucht

Ei­tel­kei­ten

Vor­wür­fe

Ver­zau­bert

Scha­fe, ei­ne Rei­se und ein Kon­zert

Ein to­tes Foh­len

Ein zu in­tel­li­gen­tes Mäd­chen, Er­in­ne­run­gen und ein Brief

Pfer­de­schu­le und ein war­mer Wind aus der Wüs­te

Krä­hen­win­ter

Schuld

Ver­bannt

Zwil­lin­ge und ein über­ra­schen­der Be­such

Ma­de­lei­ne Du­rand

Ma­ria und Raf­fa­el

Gäs­te und ein Ba­by

Som­mer Lie­be und Lü­gen

Fest­spie­le in Luc­ca

Ein sehr hei­ßer Som­mer

Ein to­tes Pferd

Be­such aus der Ver­gan­gen­heit

Der Über­fall

Reit­un­ter­richt und ein Ge­ständ­nis

Flug über El­ba

Ei­ne Fra­ge der Eh­re

Zer­bro­che­ne Idyl­le

Mai­land

Schmet­ter­lings­flü­gel

Nacht in Mai­land

Fa­mi­lie

Glück

Epi­log

Per­so­nen

Über die Au­to­rin und wei­te­re Wer­ke

La Pi­ne­ta

Ama­lia saß auf ih­rem Lieb­lings­platz in ei­ner der tie­fen Fens­ter­ni­schen der Bi­blio­thek.

Der schwe­re Vor­hang, der das Fens­ter ver­barg, ver­barg auch sie. Die Lä­den wa­ren ge­gen die hoch­som­mer­li­che Hit­ze ge­schlos­sen. Wa­ren sie ge­öff­net, hat­te man einen gu­ten Blick über den Hof, den an­schlie­ßen­den Park und das schil­lern­de Was­ser des Sees hin­ter den Stäl­len. Nur das Schnur­ren des Ka­ters un­ter­brach die Stil­le.

Dun­kel­blon­de Lo­cken fie­len dem Mäd­chen über den Rü­cken.

Als sich die Tür öff­ne­te, ver­hielt sie sich ganz still. On­kel Ma­xi­mi­li­an. Er wür­de in sei­nen tie­fen Le­der­ses­sel sin­ken, einen Co­gnac trin­ken, die Hän­de fal­ten und ein­schla­fen. So­bald er schlief, konn­te Ama­lia un­ge­se­hen die Bi­blio­thek ver­las­sen. Aber dies­mal wur­de er von Fre­de­ri­co, ih­rem Cou­sin, be­glei­tet.

»Ich weiß wirk­lich nicht, was du an dem Mäd­chen fin­dest. War­um schickst du sie nicht in ein In­ter­nat?«

»Ich will die­se Dis­kus­si­on nicht im­mer wie­der füh­ren.« Max von Oss­tens Stim­me klang ge­nervt. »Das ist mei­ne Ent­schei­dung. Und nun lass mich al­lein.«

»Wie du meinst, Pa­pa, aber ich ver­steh es nicht. In ei­nem In­ter­nat wä­re sie gut be­treut, und wir müss­ten nicht Er­zie­he­rin­nen, Leh­rer und The­ra­peu­ten im Haus dul­den.«

Fre­de­ri­co klatsch­te die Reit­ger­te ge­gen sei­ne Stie­fel und zog die Tür laut zu. Sein Va­ter frag­te sich, was der Jun­ge ge­gen sei­ne Cou­si­ne hat­te. Selbst Fre­de­ri­cos Groß­mut­ter schien dem Char­me die­ses ver­wais­ten Kin­des zu er­lie­gen. Viel­leicht war es ge­nau das, was ihn in sei­ner An­ti­hal­tung be­stärk­te.

Fre­de­ri­co war ein ver­wöhn­ter Kna­be, der sei­nen Platz als Jüngs­ter in der Fa­mi­lie hat­te ab­ge­ben müs­sen, als Ama­lia als Vier­jäh­ri­ge vor gut acht Jah­ren ins Haus kam. Es wur­de Zeit, dach­te sein Va­ter, dass er sei­ne Ei­fer­sucht über­wand.

Ama­lia hör­te das scha­ben­de Ge­räusch, als ihr On­kel den Kris­tall­stöp­sel aus der Ka­raf­fe zog, um sich einen Co­gnac ein­zu­schen­ken. On­kel Ma­xi­mi­li­an war zwan­zig Jah­re äl­ter als ihr Va­ter Jo­hann. Sein dich­tes kur­z­es Haar war grau, wäh­rend das ih­res Va­ters noch dun­kel­blond wie ihr ei­ge­nes ge­we­sen war.

Sie kann­te den In­halt der Un­ter­hal­tung. Fre­de­ri­co moch­te sie nicht. Er är­ger­te sie, wann im­mer es ihm ge­fiel. Und es ge­fiel ihm oft.

Als Ama­li­as Va­ter sta­rb, war sie vier Jah­re alt ge­we­sen. An ih­re Mut­ter konn­te sie sich nicht er­in­nern.

War­um sie ih­ren Va­ter und sie ver­las­sen hat­te, wuss­te Ama­lia nicht. Da­mals war sie zu klein ge­we­sen, um Fra­gen zu stel­len, und jetzt gab es nie­man­den mehr, den sie fra­gen konn­te. On­kel Ma­xi­mi­li­an war ihr ein­zi­ger auf­find­ba­rer Ver­wand­ter. So war sie vor acht Jah­ren wie ein Post­pa­ket von Ham­burg nach Ita­li­en ge­schickt wor­den. Ih­re Er­in­ne­run­gen an ei­ne gro­ße Stadt, den Ha­fen und die Woh­nung mit dem Aus­blick auf ei­ne be­leb­te Stra­ße ver­blass­ten.

Ma­xi­mi­li­an reis­te in Ge­dan­ken drei­zehn Jah­re zu­rück.

Zum letz­ten Mal war er sei­nem Bru­der und des­sen Frau Bel­la vor mehr als zwölf Jah­ren be­geg­net. Er sah Bel­la noch vor sich. Sie war zau­ber­haft. Ei­ne Frau, die ihn in den Wahn­sinn trieb. Er woll­te sie, und er nahm sie sich.

Nie wie­der sprach Jo­hann ein Wort mit ihm. Bel­la ver­ließ ih­ren Mann und ihr Ba­by gleich nach der Ge­burt. Und jetzt war die­ser ver­hass­te Bru­der längst nicht mehr am Le­ben, und des­sen Toch­ter leb­te in sei­nem Haus.

Ma­xi­mi­li­an hat­te das Er­be sei­nes Va­ters an sich ge­ris­sen, die Ehe sei­nes Bru­ders zer­stört, und nun ge­hör­te auch Ama­lia ihm. Das Mäd­chen, ein Ab­bild sei­ner Mut­ter, er­in­ner­te ihn Tag für Tag an Bel­la und an das, was zwi­schen ih­nen ge­we­sen war. Aber er war kein Mann, der sich über Din­ge auf­reg­te, die der Ver­gan­gen­heit an­ge­hör­ten.

In ge­wis­ser Wei­se ver­stand er sei­nen Sohn. Fre­de­ri­co war ihm sehr ähn­lich. Un­ver­söhn­lich in sei­ner Ab­leh­nung. Und un­er­bitt­lich, wenn es um sein Ter­ri­to­ri­um ging.

Ama­lia war ein un­ab­hän­gi­ges Mäd­chen. Sie be­klag­te sich nie über Fre­de­ri­co. Wenn er sie zu de­mü­ti­gen ver­such­te, nahm sie es sto­isch hin, was ihn zu noch grö­be­ren Scher­zen ver­an­lass­te.

Auch Ma­xi­mi­li­an hat­te mit dem spät ge­bo­re­nen Bru­der die Zu­nei­gung sei­ner El­tern tei­len müs­sen. Zwan­zig Jah­re lang war er ihr Kron­prinz, ihr Stolz ge­we­sen.

Jo­hann ent­wi­ckel­te sich zu ei­nem Wun­der­kind. Mit drei Jah­ren be­gann er Kla­vier zu spie­len, mit fünf be­kam er sei­ne ers­te Gei­ge. Sein mu­si­ka­li­scher Hö­hen­flug war un­auf­halt­sam. Mit zwan­zig Jah­ren war er ers­ter Gei­ger in ei­nem gro­ßen Or­ches­ter. Er reis­te um die gan­ze Welt. Wäh­rend Jo­hann sich sei­ner Kunst wid­me­te, wid­me­te sich Ma­xi­mi­li­an den Fir­men sei­nes Va­ters und sorg­te da­für, dass sein Bru­der am En­de kei­nen Hel­ler er­hielt.

Dass sein Va­ter nicht mehr Herr sei­ner Sin­ne war, be­güns­tig­te Ma­xi­mi­li­ans Plä­ne. Nach­dem sei­ne und Jo­hanns Mut­ter ge­stor­ben war, ver­lor sein Va­ter nicht nur jeg­li­ches In­ter­es­se an den Ge­schäf­ten, son­dern auch sei­nen Ver­stand. Es war nicht schwer, ihm ein­zu­re­den, dass Jo­hann nichts mehr mit ihm zu tun ha­ben woll­te. Der Al­te ent­erb­te sei­nen jün­ge­ren Sohn und über­schrieb al­les sei­nem Äl­tes­ten.

Als Jo­hann zur Be­er­di­gung sei­nes Va­ters an­reis­te, brach­te er sei­ne wun­der­schö­ne jun­ge Frau mit. Ma­xi­mi­li­an konn­te den Blick nicht von ihr wen­den. Die ge­ra­de Na­se, ih­re schön ge­schwun­ge­nen Lip­pen. Das streng zu­rück­ge­bun­de­ne Haar schim­mer­te. Er hat­te vie­le Frau­en ge­kannt. Die­se woll­te er, auch, weil sie die Frau sei­nes Bru­ders war.

Ma­ja war ei­ne wun­der­ba­re Kö­chin. Und sie lieb­te Ama­lia. Das Mäd­chen rühr­te sie.

Ama­lia war so zier­lich, viel zu dünn, und manch­mal sah sie trau­rig aus. Als sie vor acht Jah­ren kam, sprach sie nicht. Ma­ja schob es dar­auf, dass die Klei­ne kein Ita­lie­nisch konn­te. Aber das war es nicht. Auch, nach­dem sie al­les ver­stand, sprach sie nicht. Ama­lia sag­te kein Wort. Um­so mehr drück­ten ih­re strah­len­den Au­gen aus, wenn sie sich freu­te, die sich ver­schlei­er­ten, wenn sie trau­rig war.

Ama­lia schmieg­te sich an Ma­ja, wenn sie ihr einen Le­cke­r­bis­sen zu­steck­te, und sie lä­chel­te so vol­ler Dank­bar­keit, dass das Herz der Kö­chin schmolz.

Die Fa­mi­lie traf sich zum Abend­es­sen in der gro­ßen ver­glas­ten Ve­ran­da. Ei­nem ganz in Früh­lings­grün und Weiß ge­hal­te­nen Raum mit Blick auf die sanf­ten Hü­gel ge­gen­über.

The­resa be­stand dar­auf, dass die Fa­mi­lie so­oft wie mög­lich an ei­nem Tisch zu­sam­men­kam. Fre­de­ri­co stand am Fens­ter und sah ge­lang­weilt hin­aus in die Dun­kel­heit. Sei­ne Groß­mut­ter Ma­ria be­trat in die­sem Mo­ment das Zim­mer.

»Wo ist The­resa? Kann mei­ne Toch­ter nicht ein ein­zi­ges Mal pünkt­lich sein?« Sie sah sich um.

Ma­xi­mi­li­an be­grüß­te sei­ne Schwie­ger­mut­ter. »Nein«, sag­te er spöt­tisch, »das kann sie nicht. Ein ekla­tan­ter Er­zie­hungs­feh­ler.«

»Re­de kei­nen Un­sinn, ich ha­be sie an­ders er­zo­gen.«

Die al­te Da­me ließ sich auf ei­nem Stuhl am Tisch nie­der. Sie war schlank und saß auf­recht, oh­ne die Rü­cken­leh­ne in An­spruch zu neh­men.

»Du hast sie gar nicht er­zo­gen.«

Ma­ria schmun­zel­te. »Hat sie dir das er­zählt?«

»Ja, hat sie.«

»Das stimmt, ich war zu häu­fig auf Rei­sen.«

Ma­ria be­trach­te­te ih­ren Schwie­ger­sohn. Er sah gut aus und war ein sehr groß­zü­gi­ger Mann. Kaum jün­ger als sie selbst. Wenn sie Lust auf einen jün­ge­ren Lieb­ha­ber ge­habt hät­te … dem Al­ter nach hät­te er bes­ser zu ihr ge­passt. Aber er war zu alt, um sich ei­ne noch äl­te­re Ge­lieb­te zu neh­men, dach­te sie zy­nisch.

»Wo ist Ama­lia?«

Fre­de­ri­co wand­te sich end­lich sei­ner Groß­mut­ter zu. »Der Stock­fisch ist auch noch nicht da.«

Ma­ria hob die Brau­en. Ihr jüngs­ter En­kel ließ kei­ne Ge­le­gen­heit aus, sich über sei­ne Cou­si­ne lus­tig zu ma­chen. Die Tür öff­ne­te sich, und The­resa trat ein.

»End­lich, Kind, du weißt, dass ich nicht ger­ne war­te.«

»Ich weiß, Ma­ma.« Sie be­grüß­te ih­re Mut­ter mit ei­nem flüch­ti­gen Kuss. »Ich ha­be den Nach­mit­tag im Stall ver­bracht und muss­te mich noch um­zie­hen.«

Ih­ren Mann be­grüß­te sie mit ei­nem Lä­cheln. Sie konn­te ihm an­se­hen, was er dach­te. Raf­fa­el, der jun­ge Ver­wal­ter, war ein fä­hi­ger Mann und Ma­xi­mi­li­an ein Dorn im Au­ge.

»Gu­ten Abend, mein Lie­ber.«

Sie streif­te die Wan­ge ih­res Man­nes mit den Lip­pen. Ver­füh­re­ri­sche Lip­pen, dach­te er.

Ama­lia im Schlepp­tau en­ter­te Ma­da­me Du­rand den Raum. »Ich ha­be sie am See ge­fun­den. Zum Um­zie­hen war kei­ne Zeit.«

»Was­ser ist der na­tür­li­che Le­bens­raum ei­nes Fi­sches.« Fre­de­ri­co form­te den Mund zu ei­nem run­den Fisch­maul.

»Fre­de­ri­co!« The­resas Au­gen wur­den schmal.

Sie sah hin­über zu Ama­lia. Die stand auf­recht hin­ter ih­rem Stuhl. Mit kei­ner Be­we­gung, kei­nem Blick gab sie zu er­ken­nen, dass sie die höh­ni­sche Be­mer­kung ih­res Cous­ins ge­hört hat­te.

»Wol­len wir heu­te noch es­sen? Ich will mich früh zu­rück­zie­hen.« Ma­ri­as Fin­ger klopf­ten un­ge­dul­dig auf die Tisch­plat­te. Ihr Ge­sichts­aus­druck sprach Bän­de. Als sie auf­blick­te, fing sie Ama­li­as win­zi­ges Lä­cheln auf, das so­fort wie­der ver­schwand. Ma­ri­as Lip­pen zuck­ten.

The­resa setz­te sich. Ma­ja kam mit ei­ner Schüs­sel voll damp­fen­der Spa­ghet­ti her­ein. Es roch nach Pil­zen, dem er­di­gen Duft der Trüf­fel. Sie zwin­ker­te Ama­lia zu und stell­te einen Tel­ler Spa­ghet­ti Bo­lo­gne­se mit ei­ner ex­tra Por­ti­on Par­me­san vor sie hin. Ama­li­as Lä­cheln be­lohn­te sie.

»Du könn­test lang­sam mal an­fan­gen, das zu es­sen, was wir al­le es­sen.« Fre­de­ri­co stopf­te sich ei­ne über­vol­le Ga­bel in den Mund.

»Und du, mein Jun­ge, könn­test lang­sam mal an­fan­gen, an­stän­dig zu es­sen.«

Über­rascht sah Fre­de­ri­co sei­ne Groß­mut­ter an. Sie misch­te sich mit ver­blüf­fen­der Takt­lo­sig­keit in al­les ein, al­ler­dings höchst sel­ten in Er­zie­hungs­an­ge­le­gen­hei­ten. Fre­de­ri­co lief rot an.

»Hast du et­was von Kon­stan­tin ge­hört?« Ma­ria wand­te sich an ih­re Toch­ter und be­ach­te­te ih­ren En­kel nicht wei­ter.

The­resa frag­te sich, ob er wü­tend oder be­schämt war. Ihr jüngs­ter Sohn war so ganz an­ders als sein Stief­bru­der. Sie hat­te Kon­stan­tin mit in die Ehe ge­bracht. Ma­xi­mi­li­an war nicht sein bio­lo­gi­scher Va­ter.

Sie hat­te ih­ren ers­ten Mann ge­liebt und ge­glaubt, nie mehr einen Mann so sehr lie­ben zu kön­nen, mit die­ser glü­hen­den Lei­den­schaft und der Angst, ihn zu ver­lie­ren. Tho­mas hat­te ei­ni­ge Kurz­ge­schich­ten ver­öf­fent­licht, ein paar The­a­ter­stü­cke ge­schrie­ben, aber erst am An­fang sei­ner Kar­rie­re ge­stan­den. Sie war drei­und­zwan­zig und prak­tisch mit­tel­los, als er sta­rb.

The­resa war aus­ge­bil­de­te Pfer­de­wir­tin. Auf ei­ne An­zei­ge in ei­ner Pfer­de­zeit­schrift hin,  be­wa­rb sie sich um die Stel­le. Sie schnall­te ih­ren da­mals vier Jah­re al­ten Sohn in ih­rem knall­ro­ten Mi­ni an, setz­te sich in ihr Au­to und fuhr in die Tos­ka­na. Das Gut lag in der Nä­he Gros­se­tos in­mit­ten der Ma­rem­ma. Als sie ausstieg, kam ihr ein Mann ent­ge­gen. Si­cher zwan­zig Jah­re äl­ter als sie selbst. Ge­bräunt, at­trak­tiv und selbst­si­cher.

»The­resa, ich ha­be dich et­was ge­fragt.«

»Ent­schul­di­ge, Mut­ter.«

Ma­ria wie­der­hol­te ih­re Fra­ge. Ama­lia zeig­te zum ers­ten Mal an die­sem Abend In­ter­es­se. Auch Fre­de­ri­co er­war­te­te die Ant­wort sei­ner Mut­ter.

»Ich den­ke, er wird am Wo­chen­en­de hier sein.«

Ama­lia be­müh­te sich, ih­re Freu­de nicht all­zu deut­lich zu zei­gen. Sie hat­te ge­lernt, in Fre­de­ri­cos Ge­gen­wart vor­sich­tig zu sein. Wenn er über­haupt an je­man­dem hing, so war das sein äl­te­rer Bru­der. Dass Kon­stan­tin sei­ne klei­ne Cou­si­ne lieb­te, schür­te sei­ne Ei­fer­sucht.

Ma­ja brach­te ei­ne Plat­te mit Vi­tel­lo al lat­te und ver­schie­de­nen Ge­mü­sen her­ein.

»Wo ist Ali­cia?«

»Sie hat heu­te frei, Si­gno­ra.«

Es war un­ge­wöhn­lich, dass Ma­ja selbst auf­trug.

»Ist kei­nes der Mäd­chen mehr im Haus?«

»Nein, sie woll­ten zu­sam­men auf das Fest un­ten im Dorf ge­hen. Bei Sil­vio ist Tanz.«

Ama­lia lief das Was­ser im Mund zu­sam­men. Der in Milch ge­schmor­te Kalbs­bra­ten ge­hör­te zu ih­ren Lieb­lings­ge­rich­ten.

»Wir neh­men uns selbst, Ma­ja, es ist gut.«

Ama­lia be­ob­ach­te­te be­sorgt, wie die Plat­te die Run­de mach­te, bis sie end­lich bei ihr an­kam. Ihr On­kel aß und trank un­mä­ßig. Fre­de­ri­co be­saß den ge­sun­den Ap­pe­tit ei­nes Neun­zehn­jäh­ri­gen. Ma­ria nahm sich nur ei­ne Schei­be des zar­ten Flei­sches.

Ma­da­me Du­rand ver­zich­te­te ganz dar­auf. »Es­sen am spä­ten Abend ist un­ge­sund.« Sie aß nur ein we­nig von dem Ge­mü­se.

The­resa leg­te Ama­lia zwei Bra­ten­schei­ben auf den Tel­ler. Ei­ne zar­te Be­rüh­rung ih­rer Hand war Ama­li­as Dank. The­resa lä­chel­te ihr zu. »Das magst du doch be­son­ders ger­ne?«

Ama­lia nick­te. Wie scha­de, dass sie nicht spricht, dach­te The­resa. Nach Aus­kunft der Ärz­te, lag kein kör­per­li­cher Scha­den vor. Ama­lia war ver­stummt, als ihr Va­ter sta­rb.

Aber die Mie­ne des Kin­des drück­te so vie­les aus, war wun­der­bar aus­drucks­voll, und ne­ben ihr lag im­mer ein Ta­blet, auf dem sie in Win­desei­le schrei­ben konn­te. Sie sah auf das Dis­play, das Ama­lia leicht zu ihr dreh­te. »Wie geht es Lu­na?«, stand da.

Lu­na, The­resas mond­fa­r­be­ne Stu­te, be­kam ihr ers­tes Foh­len, und Ama­lia fie­ber­te ihm ent­ge­gen.

»Wenn es ein Hengst wird, be­kommst du ihn«, hat­te The­resa ihr ver­spro­chen. »Du kannst ihn auf­zie­hen und ler­nen, wie man mit ei­nem ei­ge­nen Pferd um­geht.«

The­resa sag­te: »Lu­na ist ner­vös und ich auch, viel­leicht blei­be ich heu­te Nacht wie­der im Stall.«

»Darf ich mit­kom­men?«

»Nein, das ist kei­ne gu­te Idee. Zu vie­le Men­schen wür­den sie noch mehr be­un­ru­hi­gen.«

Ama­lia nick­te.

»Ich neh­me an«, sag­te Ma­xi­mi­li­an und ließ die Ga­bel sin­ken. »Raf­fa­el wird mit dir wa­chen?«

»Mög­lich.«

»Ich er­war­te dich nach dem Es­sen, Ama­lia.« Ma­ria bat nie­mals um et­was, sie leg­te dar, was sie woll­te, und er­war­te­te, dass man ihr ge­horch­te.

Das Mäd­chen nick­te.

Ma­da­me Du­rand sah aus, als ha­be sie in ei­ne Zi­tro­ne ge­bis­sen. »Das Kind hat mor­gen sehr früh ei­ne Reit­stun­de«, wag­te sie ein­zu­wen­den.

Ma­ria er­hob sich. »Ama­lia ist kein Kind mehr, das am frü­hen Abend ins Bett ge­schickt wer­den muss. Sie ist fast drei­zehn.«

Au­to­ma­tisch sah The­resa auf ihr Hand­ge­lenk. Fast zwei­und­zwan­zig Uhr. Sie schob ih­ren Stuhl zu­rück. »Es wird auch Zeit für mich«. Sie sah ih­ren Mann an.  »War­te nicht auf mich, Ma­xim. Es kann spät wer­den.«

»Ein Foh­len?«

»Ja, Lu­n­as Foh­len.«

Du hast, wie üb­lich, nicht zu­ge­hört, dach­te sie.

»Ich hof­fe, noch die­se Nacht und nicht erst mor­gen früh?« Ihr Mann hielt ih­ren Blick einen Mo­ment lang fest.

Noch wäh­rend sie sich für ei­ne Nacht­wa­che im Stall um­zog, hör­te sie den Mo­tor des Ma­se­ra­ti. Das Ca­brio ih­res Man­nes fuhr vom Hof. Ma­xim war zu sei­ner der­zei­ti­gen Ge­lieb­ten un­ter­wegs.

Er war noch im­mer ein at­trak­ti­ver Mann. Sie hat­te ihn vor gut zwan­zig Jah­ren ge­hei­ra­tet, weil er char­mant war, ihr Si­cher­heit bot und mit ih­rem Sohn spon­tan Freund­schaft ge­schlos­sen hat­te.

Nach ei­nem Rund­gang über das Gut und durch die Stäl­le hat­te er ge­sagt: »Sie kön­nen den Job ha­ben, aber …«

»Aber?«

»Es gibt ei­ne Be­din­gung.«

»Wel­che Be­din­gung?«

»Sie müs­sen mich hei­ra­ten.«

Sie hat­te ge­lacht und ge­fragt: »Wol­len Sie das Ge­halt spa­ren?«

Ein hal­b­es Jahr spä­ter wur­de sie Frau von Oss­ten und zog mit ih­rem Sohn und ih­rer Mut­ter in das rie­si­ge Haus in der Ma­rem­ma.

Sie war Ma­xi­mi­li­ans vier­te Ehe­frau. Sei­ne Ehen wa­ren kin­der­los ge­blie­ben. Als sie schwan­ger wur­de, kann­te sei­ne Freu­de kei­ne Gren­zen.

Ma­xi­mi­li­an dach­te an die ers­te Be­geg­nung mit The­resa. Schlank und kraft­voll, ei­ne ge­ball­te La­dung Ener­gie. Oh­ne er­kenn­ba­re Ei­tel­keit, ver­lo­ckend, oh­ne zu lo­cken.

Ihr dich­tes ge­well­tes Haar glänz­te wie das Ge­fie­der ei­nes Ra­ben. Sie be­saß die­se na­tür­li­che Ele­ganz, die nicht er­lern­bar war. In sei­nen Au­gen wa­ren al­le Frau­en sich ähn­lich. The­resa bil­de­te die Aus­nah­me. Al­les an ihr war ein­zig­ar­tig, be­son­ders und un­wi­der­steh­lich. Ein Hauch von Me­lan­cho­lie um­gab sie. Sie war da­mals noch nicht lan­ge Wit­we ge­we­sen, er­in­ner­te er sich.

The­resa be­klag­te sich nie. Sie mach­te kei­ne Sze­nen, nahm sei­ne Es­ka­pa­den hin. Manch­mal schien ihm, als ob sie gar nicht be­merk­te, wenn er sich ei­ner an­de­ren Frau zu­wand­te. War das so, weil es ihr egal war? Er ihr egal war? Das kä­me ei­ner Krän­kung gleich. Ja, er war ge­kränkt. Ih­re schein­ba­re Gleich­gül­tig­keit war Gift für sein Ego.

Ma­xi­mi­li­an drück­te das Gas­pe­dal durch. Er fuhr Rich­tung Gros­se­to. Dort­hin, wo ei­ne Frau auf ihn war­te­te, die ihn be­merk­te. Si­do­nie, die Frau sei­nes Freun­des und Ge­schäfts­part­ners Re­na­to, der sich mehr auf Rei­sen als zu Hau­se auf­hielt, war ein blon­des Ver­spre­chen. Un­ge­hemmt und oh­ne die ge­rings­te An­mu­tung von Mo­ral. Ei­ne se­xu­ell un­ter­for­der­te Fünf­und­drei­ßig­jäh­ri­ge.

Rück­sichts­los fuhr er viel zu schnell über die kur­vi­ge schma­le Stra­ße.

Ei­ne Stun­de nach sei­ner Ge­burt stand der klei­ne Hengst auf zit­tern­den Bei­nen im hoch ein­ge­streu­ten Heu.

Hell­brau­nes Fell. Sei­ne glän­zen­den Au­gen um­gab ein wei­ßer Kranz.

The­resa lach­te. »Es sieht aus, als ha­be er sich ei­ne Bril­le auf­ge­setzt.«

Raf­fa­el war da­bei, die Ab­fohl­box zu säu­bern. Die Nach­ge­burt ließ er in einen Ei­mer fal­len. Die wür­de sich die Tier­ärz­tin spä­ter an­se­hen.

»Das hast du gut ge­macht.« The­resa strei­chel­te den Hals ih­rer Stu­te.

Lu­na schnaub­te lei­se und blies war­men Atem in ihr Ge­sicht. Es war schon die drit­te Nacht, in der sie bei Lu­na ge­wacht hat­ten. Die Stu­te war un­ru­hig ge­we­sen.

Das Foh­len hat­te den Weg zu den Zit­zen sei­ner Mut­ter ge­fun­den.

The­resa war im­mer wie­der be­rührt, wenn sich die­se klei­nen We­sen auf ih­re Streich­holz­bein­chen kämpf­ten und schon kurz nach der Ge­burt zu trin­ken be­gan­nen.

Mü­de hock­te sie auf ei­nem al­ten Hocker, stütz­te sich auf die Knie und leg­te ihr Ge­sicht in bei­de Hän­de. Sie hör­te Raf­fa­el hin und her ge­hen, be­ru­hi­gen­de Lau­te von sich ge­ben. Was­ser lief. Dann spür­te sie ihn hin­ter sich, sei­ne war­men kräf­ti­gen Hän­de auf ih­ren Schul­tern. Sie stöhn­te, als er sanft ih­re ver­spann­ten Schul­tern mas­sier­te. Noch herrsch­te Stil­le im Stall, nur un­ter­bro­chen von lei­sem Schnau­ben und dump­fem Stamp­fen, wenn ei­nes der Pfer­de sich be­weg­te. The­resa leg­te den Kopf zu­rück und sah zu Raf­fa­el auf.

Es war ge­ra­de sechs Uhr früh, als sie über den Hof auf das Her­ren­haus zu­ging. Sie hör­te die Stall­bur­schen und ih­ren Stall­meis­ter, der sei­ne An­wei­sun­gen für den Tag gab. Er war be­liebt, aber auch ge­fürch­tet. Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten dul­de­te er nicht.

Jetzt hör­te sie ihn brül­len: »Ich stül­pe dir die Nach­ge­burt über die Oh­ren, du Schwei­ne­bra­ten.«

Da hat­te wohl ei­ner der Stall­bur­schen einen Feh­ler ge­macht.

The­resa lä­chel­te. Sei­ne Stim­me wur­de lei­se, wenn er mit den Pfer­den sprach.

Sie konn­te sich kei­nen bes­se­ren Stall­meis­ter und Ver­wal­ter vor­stel­len. Er war jung, jün­ger als sie selbst, aber er be­saß ei­ne na­tür­li­che Au­to­ri­tät, die nicht durch sei­ne Ge­burt zu er­klä­ren war.

Sei­ne El­tern wa­ren schlich­te Bau­ern ge­we­sen. Sei­ne Her­kunft, nun ja, eher ein­fach, so­gar sehr ein­fach.

Ih­re Ge­dan­ken wan­der­ten vier Jah­re zu­rück zu ih­rem Lieb­lings­platz am See. Ei­ne rie­si­ge Trau­e­r­wei­de auf ei­ner Land­spit­ze spen­de­te Schat­ten, wenn die Hit­ze des Som­mers kaum zu er­tra­gen war. Ih­re Ran­ken hin­gen bis tief auf die Er­de, bil­de­ten küh­le Räu­me aus grü­nen Vor­hän­gen. Dort­hin zog sie sich zu­rück, wenn sie al­lei­ne sein woll­te. Von dort aus schwamm sie zu der win­zi­gen In­sel mit­ten im See. Ein ein­sa­mer Ort. Hier war er ihr zum ers­ten Mal au­ßer­halb des Stal­les be­geg­net.

Er stieg aus dem Was­ser, nackt wie Po­sei­don und starr­te auf sie hin­un­ter. Sie lag re­gungs­los auf ih­rem Hand­tuch und starr­te zu­rück. Ein bron­ze­ner mus­ku­lö­ser Kör­per.

Ih­re Zun­ge strich über ih­re tro­ckene Ober­lip­pe. Raf­fa­el dreh­te sich um und ver­schwand zwi­schen den her­ab­hän­gen­den Zwei­gen. Das Son­nen­licht mal­te un­re­gel­mä­ßi­ge Fle­cken auf den Bo­den. The­resa schloss die Au­gen, aber sein Bild hat­te sich auf ih­rer Netz­haut ein­ge­brannt. Als sie die Au­gen wie­der auf­schlug, stand er, be­klei­det mit ver­wa­sche­nen Jeans, über ihr. »Es tut mir leid«, sag­te er. »Ich ha­be Sie ge­stört.«

Er sah nicht weg, als sie sich auf­rich­te­te und ihr Ba­de­tuch um sich schlang.

»Mein Lieb­lings­platz«, sag­te sie und fuhr sich mit den Fin­gern durchs feuch­te Haar.

»Mei­ner auch.«

Er ließ sich auf die Knie nie­der, griff nach ih­rem Tuch und öff­ne­te es be­hut­sam. Sie wehr­te sich nicht. Er drück­te sie zu­rück. The­resa ha­lf ihm, sich sei­ner Jeans zu ent­le­di­gen. Sie ran­gen mit­ein­an­der, bis sie stöhn­ten, bis zum En­de. Er be­saß sie und sie ihn, rück­halt­los. Bei­de Ge­win­ner. Sie lag an ihm, at­me­te sei­nen Duft, spür­te Dank­bar­keit.

Er sag­te: »Ich hat­te Hun­ger nach dir.«

Sie wür­de die­sen Nach­mit­tag nie ver­ges­sen.

The­resa hat­te nicht be­reut, Ma­xi­mi­li­an ge­hei­ra­tet zu ha­ben. Aber die de­mü­ti­gen­de Er­kennt­nis, mit ei­nem Mann zu le­ben, der sie nicht nur ein­mal be­trog, traf sie mehr, als sie sich ein­ge­stand. Sie er­zähl­te Raf­fa­el al­les. Sie ent­blößte ih­re See­le wie noch nie­mals zu­vor. Ei­ne see­li­sche Be­frei­ung wie zu­vor die kör­per­li­che. Er hielt sie fest, bis sie ein­ge­schla­fen war.

Als sie er­wach­te, war er ge­gan­gen.

Sie zog sich an und lief durch den schma­len Gür­tel ei­nes Pi­ni­en­wäld­chens. Lu­na be­grüß­te sie mit lei­sem Schnau­ben.

»Ha­be ich dich zu lan­ge al­lei­ne ge­las­sen?«

Auf dem Wald­bo­den be­merk­te sie Spu­ren, die ihr sag­ten, dass ih­re Stu­te kei­nes­wegs al­lei­ne ge­we­sen war. Als er sein Pferd ne­ben ih­rer Stu­te an­ge­bun­den hat­te, muss­te er ge­wusst ha­ben, dass er sie un­ter der Wei­de fin­den wür­de. Sie lä­chel­te.

Ma­ri­as Räu­me la­gen in ei­nem der Sei­ten­flü­gel des Hau­ses, das ih­re Toch­ter mit ih­rer Fa­mi­lie be­wohn­te.

Als Pi­a­nis­tin war sie in der gan­zen Welt auf­ge­tre­ten. Nach­dem sie sich das Hand­ge­lenk so kom­pli­ziert ge­bro­chen hat­te, dass an Kon­zer­te nicht mehr zu den­ken war, muss­te sie sich et­was ein­fal­len las­sen.

Der Bruch war ge­heilt, die Schmer­zen ver­gin­gen nie. Sie hat­te un­g­lü­ck­lich Ab­schied von der Büh­ne ge­nom­men und war dem Ruf der Hoch­schu­le für Mu­sik und The­a­ter in Ham­burg ge­folgt. Jun­ge be­gab­te Schü­ler aus­zu­bil­den hat­te ihr zu­ge­sagt. Auf die­se Wei­se konn­te sie ih­re Lie­be zur Mu­sik wei­ter­ge­ben.

Ein ita­lie­ni­scher Kol­le­ge, der an der Ac­ca­de­mia Mu­si­ca­le in Sie­na lehr­te, hat­te In­ter­es­se an Ma­ri­as Mit­a­r­beit ge­zeigt. Ein­mal in der Wo­che wür­de sie Kur­se ge­ben kön­nen.

Ma­xi­mi­li­an hat­te ihr ei­ne groß­zü­gi­ge Eta­ge in ei­nem der Sei­ten­flü­gel des Guts­hau­ses an­ge­bo­ten. Al­ler­dings, er­in­ner­te sie sich, mit der Be­din­gung, dass er nicht den gan­zen Tag »Kla­vier­ge­klim­per« hö­ren müss­te. Sie hat­te nicht ge­wusst, ob sie em­pört sein oder la­chen soll­te, und sich ent­schie­den, es amüsant zu fin­den.

Ma­xi­mi­li­an war nur we­ni­ge Jah­re jün­ger als sie selbst und der amu­sischs­te Mensch, den sie je ken­nen­ge­lernt hat­te. Au­ßer Geld, sei­nen Scha­fen und Frau­en in­ter­es­sier­te ihn nichts. In ge­nau die­ser Rei­hen­fol­ge. Ja, er war ein char­man­ter Mann, ei­ner dem die Frau­en zu Fü­ßen la­gen, ein Ge­ni­e­ßer, der ger­ne gut aß und trank.

Wenn er so wei­ter­mach­te, wür­de er bald wie ein Fass aus­se­hen, dach­te sie.

Aber noch hat­te er sich ei­ne er­staun­lich gu­te Fi­gur er­hal­ten. Dass er ih­re Toch­ter be­trog, konn­te sie ihm nicht ver­zei­hen. An­de­rer­seits, das wuss­te sie, ging sie The­resas Ehe nichts an.

Sie strei­chel­te den cre­me­fa­r­be­nen Ma­rem­ma- Hund zu ih­ren Fü­ßen. »Du darfst gleich noch mal raus, Lud­wig.«

»Non­na?« Die Tür öff­ne­te sich. Ama­lia stob wie ein Wir­bel­wind in den Sa­lon. Sie ließ sich, wie der Hund, zu Ma­ri­as Fü­ßen nie­der.

»Wie geht es mei­ner Schü­le­rin?« Ma­ria strich Ama­lia über die Lo­cken. »Willst du  noch ein biss­chen spie­len?«

Ma­ria öff­ne­te den De­ckel ih­res Flü­gels und stell­te den Sitz des Kla­vier­ho­ckers hö­her. Wäh­rend Ama­lia spiel­te, frag­te sie sich, war­um das Kind mit ihr sprach, aber mit nie­man­dem sonst. Ama­lia wech­sel­te mü­he­los von Deutsch zu Fran­zö­sisch zu Ita­lie­nisch. Sie sprach mit Ama­lia vor­wie­gend Deutsch, um sie die Spra­che ih­rer El­tern nicht ver­ges­sen zu las­sen.

Die Klei­ne hat einen wun­der­bar sanf­ten An­schlag. Ja, dach­te sie, das Kind ist be­gabt.

Dass es für ei­ne Lauf­bahn als Pi­a­nis­tin reich­te, be­zwei­fel­te sie. Sie wuss­te, wie hart ein sol­ches Le­ben war. Man wür­de se­hen. Ei­ner ih­rer liebs­ten Kom­po­nis­ten war Cho­pin. Ma­ria lausch­te der Mu­sik.

Er­staun­lich für ein Kind in die­sem Al­ter, dach­te sie.

Aber an Ama­lia war al­les er­staun­lich. Ih­re Freund­lich­keit und die stoi­sche Ru­he, mit der sie die kras­ses­ten Aus­brü­che ih­res Cous­ins hin­nahm. Sie ließ sich nicht pro­vo­zie­ren. Viel­leicht blieb die Sprach­lo­sig­keit die ein­zi­ge Mög­lich­keit, sich zu weh­ren. Zu weh­ren ge­gen ei­ne Fa­mi­lie, die sie zwar auf­ge­nom­men hat­te, in die sie aber emo­ti­o­nal we­nig ein­ge­bun­den war.

Ma­ria hat­te mit ih­rem Arzt dar­über ge­spro­chen. Er war nicht so über­rascht.

»Et­was bringt sie zum Schwei­gen. Sie könn­te das nicht durch­hal­ten, wenn es be­wusst ge­schä­he. Es war si­cher ein Schock für sie, als ihr Va­ter sta­rb und sie aus ih­rem ge­wohn­ten Um­feld her­aus­ge­ris­sen wur­de.«

»Aber war­um spricht sie mit mir?«

»Den­ken Sie dar­über nach. Viel­leicht gibt es ei­ne Ver­bin­dung über Sie zu ih­rem Va­ter.«

Es war seit Jah­ren Ama­li­as und ihr Ge­heim­nis. Ma­ria be­fürch­te­te, dass das Mäd­chen auch ihr ge­gen­über ver­stum­men wür­de, wenn sie die­ses Ge­heim­nis lüf­te­te.

Sie er­in­ner­te sich, dass Ama­lia ih­re Räu­me zum ers­ten Mal be­tre­ten hat­te, wäh­rend sie sich ein Vi­o­lin­kon­zert an­hör­te. Ein hal­b­es Jahr nach ih­rer An­kunft. Sie hat­te sich stumm auf einen Stuhl ge­setzt und zu­ge­hört, bis das Stück zu En­de war.

»Das war mein Pa­pa«, sag­te die da­mals knapp Fünf­jäh­ri­ge.

Ma­ria glaub­te, nicht recht ge­hört zu ha­ben. Sie hör­te die leicht raue Stim­me des klei­nen Mäd­chens zum ers­ten Mal, und es war tat­säch­lich ei­ne al­te Auf­zeich­nung aus der Bo­s­ton Sym­phony Hall mit dem Or­ches­ter ih­res Va­ters.

Von die­sem Zeit­punkt an hat­te sie Ama­lia un­ter­rich­tet.

Ma­ria er­hob sich und öff­ne­te Fens­ter und Lä­den weit. Jetzt nahm die Hit­ze lang­sam ab, und ein leich­ter Wind strich durch die Räu­me. Sie lä­chel­te, als sie un­ten Ma­da­me hin und her ge­hen sah. Sie war­te­te ganz of­fen­sicht­lich auf ih­re Schutz­be­foh­le­ne.

Ma­ria wand­te sich um und sag­te: »Ama­lia, ich glau­be es wird Zeit. Lauf hin­un­ter, Ma­da­me Du­rand er­war­tet dich.«

 

Ma­da­me Du­rand sah Ama­lia ent­ge­gen.

Seit acht Jah­ren be­treu­te sie das Kind, das ihr lang­sam ent­wuchs.

Ama­li­as noch kna­ben­haf­te Fi­gur wan­del­te sich. Die grau­blau­en Au­gen leuch­te­ten neu­gie­rig auf die Welt. Das dun­kel­blon­de Haar zu ei­nem üp­pi­gen Pfer­de­schwanz ge­bun­den, be­ton­te ihr schma­les Ge­sicht.

Sie war klug, konn­te in drei Spra­chen ge­bär­den und schrei­ben. Nach ei­ner Prü­fung war sie di­rekt in die zwei­te Klas­se des Gym­na­si­ums ein­ge­schult wor­den. Wenn auch we­der The­resa noch Ma­xi­mi­li­an von Oss­ten Zeit fan­den, sich um ih­re Nich­te zu küm­mern, so sorg­ten sie im­mer­hin für ei­ne an­ge­mes­se­ne Er­zie­hung. Die Ein­zi­ge, die sich mit Ama­lia be­schäf­tig­te, war Ma­ria. Auch wenn die al­te Da­me das, in Ma­da­mes Au­gen, zu den un­ge­eig­nets­ten Zei­ten tat. Es war nach zwei­und­zwan­zig Uhr, als das Mäd­chen aus dem Flü­gel des Hau­ses trat, in dem Ma­ria leb­te. Ama­lia sah glü­ck­lich aus, wenn sie von ihr kam.

»Du hast wun­der­schön ge­spielt«, sag­te Ma­da­me, »aber jetzt wird es wirk­lich Zeit.« Ama­lia nick­te. Sie konn­te nie ein­schla­fen, wenn Kon­stan­tins Be­such be­vor­stand.

Kon­stan­tin hat­te ihr das Le­sen bei­ge­bracht, sich Ge­schich­ten für sie aus­ge­dacht und ihr die Angst vor den Pfer­den ge­nom­men. Auf sei­nen Schul­tern hat­te er sie durch den Stall ge­tra­gen und sie je­dem ein­zel­nen Pferd vor­ge­stellt.

»Das ist Xer­xes, sag gu­ten Tag, streich­le sei­ne Samt­na­se. Das ist Ram­ses, schau dir an, wie sein dunk­les Fell glänzt. Leg das Zu­cker­stück auf dei­ne Hand und hal­te es Sam­son hin.«

Sie spür­te den wei­chen, war­men Samt der Nüs­tern auf ih­rer Hand­flä­che. So ging er mit ihr durch die Stall­gas­sen. Auf sei­nen Schul­tern fühl­te sie sich si­cher.

Ei­nes Ta­ges stell­te er sie auf die Fü­ße und sag­te: »Das ist Ce­ne­ren­to­la, sie ge­hört dir.« Da­mals war sie fünf Jah­re alt.

Sie hob den Kopf und sah ei­nem Po­ny in die sanf­ten Au­gen.

Aschen­put­tel, dach­te sie. Grau wie Asche.

Ma­da­me schloss die Ver­bin­dungs­tür zu Ama­li­as Schlaf­zim­mer. Ama­lia wur­de er­wach­sen, und bald wä­re sie selbst über­f­lüs­sig. Sie hat­te schon ei­ni­ge Ma­le in ih­rem Le­ben Ab­schied von »ih­ren« Kin­dern neh­men müs­sen. In die­sem Fall wür­de es ihr schwe­rer wer­den als je­mals zu­vor. Ama­lia war ihr ans Herz ge­wach­sen. Zu sehr, wie sie jetzt fest­stell­te. Mehr als acht Jah­re lang hat­te sie die­ses be­zau­bern­de Kind be­treut, im­mer be­müht, einen an­ge­mes­se­nen emo­ti­o­na­len Ab­stand zu ih­rem Schütz­ling zu wah­ren. Aber Ama­lia be­saß kei­ne El­tern mehr, al­so hat­te sie sich müt­te­r­li­che Ge­füh­le ge­stat­tet. Sie wür­de es bü­ßen müs­sen, wenn der Ab­schied kam.

Ma­da­me er­wach­te früh. Sie trat ans Fens­ter und späh­te hin­aus. Mor­gen­licht floss über den Hof und die wei­ter ent­fern­ten Stal­lun­gen.

Sie zog sich vom Fens­ter zu­rück, als sie The­resa auf das Haus zu­kom­men sah. Die­se Frau war ihr ein Rät­sel. Sie war … ja, was? Sie wirk­te im­mer ei­ne Spur bla­siert, nicht un­freund­lich, nein, ge­lang­weilt, traf es eher. Dass Ma­xi­mi­li­an von Oss­ten sei­ne Frau be­trog, war ein of­fe­nes Ge­heim­nis. Aber Ma­da­me hat­te nie ein un­freund­li­ches Wort aus The­resas Mund ge­hört. Wenn er sie be­rühr­te, ließ sie es mit ei­ner Selbst­ver­ständ­lich­keit zu, als ob sie nichts wüss­te von sei­nen Af­fä­ren.

Ei­ne ge­wis­se Tra­gik lag in ih­rem Ver­hal­ten.

The­resa frag­te sich, als sie Ma­da­me Du­rands Schat­ten oben am Fens­ter wahr­nahm, wann es Zeit wä­re, Ama­li­as Er­zie­he­rin zu ent­las­sen.

Sie moch­te die Fran­zö­sin. Ma­da­me war zu­rück­hal­tend und lieb­te Ama­lia ganz of­fen­sicht­lich. Sie schob den Ge­dan­ken weg. Ama­lia wur­de erst drei­zehn. Ei­ne Wei­le wür­de sie ih­re Er­zie­he­rin noch brau­chen. Au­ßer­dem war ihr durch­aus be­wusst, dass Ma­da­me ei­ne sehr viel bes­se­re Haus­frau als sie selbst war.

The­resa seufz­te, schob die Haus­tür auf, schritt über den ge­wachs­ten Ter­raz­zo­bo­den der Hal­le und stieg über die ge­wun­de­ne Trep­pe in das obe­re Stock­werk. Sie ging am Schlaf­zim­mer ih­res Man­nes vor­bei und be­trat ih­ren An­klei­de­raum.

Mein Mann, dach­te sie, wäh­rend sie den Over­all öff­ne­te.

Un­ter ih­rer Ehe mit Ma­xi­mi­li­an hat­te sie sich et­was an­de­res vor­ge­stellt. Er war so amüsant ge­we­sen, so groß­zü­gig und an­zie­hend. An­zie­hend war er im­mer noch und groß­zü­gig. Dass ihr zwan­zig Jah­re äl­te­rer Ehe­mann sie be­trü­gen wür­de, da­mit hat­te sie nicht ge­rech­net. Und es war ab­so­lut nicht amüsant. Trotz­dem konn­te sie sich sei­nem Char­me nicht ganz ent­zie­hen, und wie ver­letzt sie war, wür­de er nie er­fah­ren.

In ih­rer Ehe mit Ma­xim hat­te sie ge­lernt, sich zu ver­stel­len. Sie trug ei­ne un­ge­rühr­te Mie­ne zur Schau. Nie­mand soll­te sie je »die ar­me The­resa« nen­nen.

Ma­xim be­müh­te sich durch­aus um sie. Wenn er zu ihr kam, wies sie ihn nicht ab. Aber ge­nau­so we­nig, wie sie ei­ne Mi­grä­ne vor­täu­schen wür­de, wür­de sie ihn da­von in Kennt­nis set­zen, dass sie ge­le­gent­lich mit ih­rem Stall­meis­ter schlief.

Ih­re ers­te Ehe war glü­ck­lich ge­we­sen, glü­ck­lich und viel zu kurz.

The­resa be­trat ihr Ba­de­zim­mer, das ihr ei­ge­nes Schlaf­zim­mer mit ih­rem An­klei­de­raum ver­band. Nach­dem sie Stun­den im Stall ver­bracht hat­te, sehn­te sie sich nach ei­ner Du­sche. Sie ließ hei­ßes Was­ser von al­len Sei­ten auf ih­ren Kör­per pras­seln. Mit ei­nem wei­ßen, wei­chen Ba­de­tuch trock­ne­te sie sich ab.

Sie lag lan­ge schlaf­los un­ter ih­rem La­ken. Ih­re Ge­dan­ken konn­te sie nicht ab­schal­ten.

Ama­lia wür­de ih­ren Hengst be­kom­men. Die Klei­ne er­in­ner­te sie an ih­re Foh­len, die sich tap­fer auf die zit­tern­den Bein­chen kämpf­ten. Wie ver­lo­ren muss­te sie sich in ih­rer Fa­mi­lie füh­len. Seit Kon­stan­tin stu­dier­te, kam er nur noch sel­ten heim. Wie ein Hünd­chen war das Mäd­chen schon als Vier­jäh­ri­ge hin­ter ihm her­ge­lau­fen. Wo Kon­stan­tin sich auf­hielt, war die Klei­ne nicht weit. Er hat­te sie auf sei­ne Schul­tern ge­setzt und war mit ihr über den Hof bis hin­un­ter zum Stall ga­lop­piert. Über das gan­ze Ge­sicht­chen strah­lend, hat­te sie sich an ihm fest­ge­klam­mert.

Er war wie ein lie­be­vol­ler gro­ßer Bru­der mit Ama­lia um­ge­gan­gen.

Das konn­te man nicht von Fre­de­ri­co sa­gen. Wo Kon­stan­tin zu­ge­wandt, of­fen und lie­be­voll war, war Fre­de­ri­co manch­mal ar­ro­gant und ab­wei­send. Kon­stan­tin ruh­te in sich, Fre­de­ri­co war un­be­re­chen­bar. Im Ge­gen­satz zu sei­nem äl­te­ren Bru­der hat­te er noch kein Ziel.

Sie lieb­te ih­re Söh­ne, aber war sie ei­ne gu­te Mut­ter? Wa­ren ihr die Pfer­de nicht im­mer wich­ti­ger?

An Ama­lia dach­te sie mit ei­ner ge­wis­sen Be­fan­gen­heit. Sie frag­te sich, war­um Ma­xim die Toch­ter sei­nes un­ge­lieb­ten Bru­ders so oh­ne Wei­te­res in sei­nem Haus auf­ge­nom­men hat­te. Ge­nau wie Fre­de­ri­co dach­te sie, dass ein In­ter­nat, selbst­ver­ständ­lich ei­nes der bes­ten, viel­leicht rich­ti­ger ge­we­sen wä­re. Was al­so hat­te ihn da­zu be­wo­gen, das Mäd­chen bei sich zu be­hal­ten? Ama­lia war ein Ab­bild ih­rer Mut­ter. Hat­te Ma­xim ein schlech­tes Ge­wis­sen?

The­resa er­in­ner­te sich an die Fo­to­gra­fie, die an Ama­li­as Bett stand. Und sie er­in­ner­te sich an den Skan­dal, in des­sen Mit­tel­punkt Bel­la und Ma­xi­mi­li­an ge­stan­den hat­ten. The­resa wünsch­te sich, nie da­von ge­hört zu ha­ben. Es war ei­ne Ge­schich­te von Al­ko­hol, Ver­füh­rung und Sex.

Sie konn­te nicht ein­mal aus­schlie­ßen, dass Ama­lia Ma­xims Toch­ter war.

Aber auch sie konn­te sich, wie Ma­ria, dem Char­me des Mäd­chens nicht ent­zie­hen. Wenn sie sich ei­ne Toch­ter wün­schen dürf­te, ge­stand sie sich ein, wä­re Ama­lia ih­re ers­te Wahl. Sie be­saß mehr Ge­fühl für Pfer­de als Kon­stan­tin und Fre­de­ri­co zu­sam­men. Ih­re Söh­ne wa­ren gu­te Rei­ter, aber Ama­lia war ih­re See­len­ver­wand­te. Fre­de­ri­co konn­te ein Pferd rück­sichts­los zu­schan­den rei­ten. Kon­stan­tin ließ dem Pferd zu viel Frei­heit. Ama­lia be­saß ge­nau die rich­ti­ge Ba­lan­ce.

Lie­be und Ei­fer­sucht

»Ist Ma­ri­sa schon da?«

Sie be­kam kei­ne Ant­wort, als sie den Stall be­trat. Ma­ri­sa war Tier­ärz­tin und The­resas Freun­din.

Wenn es Pro­ble­me mit den Pfer­den, Hun­den oder Scha­fen gab, wur­de sie ge­ru­fen. Sie war ein Na­tur­er­eig­nis. Ei­ne Frau, die sich einen Dreck um die Mei­nung an­de­rer scher­te. »Tu, was du tun musst, frag nicht erst.«

Sie hat­te fünf Söh­ne von fünf Män­nern. Mit kei­nem war sie ver­hei­ra­tet ge­we­sen. Ihr ro­tes Haar leuch­te­te wie Feu­er in der Son­ne und Som­mer­spros­sen zier­ten ihr Ge­sicht wie Gän­se­b­lüm­chen ei­ne Som­mer­wie­se.

Mit kräf­ti­gen Hän­den griff sie zu. Bis zum Ell­bo­gen mit Blut und Schleim be­deckt, ha­lf sie den Foh­len auf die Welt, die nicht al­lein kom­men woll­ten.

Die Nach­ge­burt der letz­ten Nacht muss­te un­ter­sucht wer­den. Ei­ne der Stu­ten war am Bein ver­letzt. Die Wun­de war ent­zün­det.

Im Stall war nie­mand. Nur die Hun­de be­grüß­ten sie. The­resa ging durch die lan­ge Gas­se zwi­schen den Bo­xen. Fast al­le Tie­re stan­den auf der Wei­de. Des­de­mo­na wie­her­te lei­se.

»Na, mei­ne Hüb­sche, gleich kommt Ma­ri­sa, sie wird dir hel­fen.«

Sie strei­chel­te sanft die Nüs­tern der ver­letz­ten Stu­te. Des­de­mo­na schnaub­te. Es roch nach fri­schem Heu. Die ge­öff­ne­ten Stall­tü­ren lie­ßen die noch er­träg­li­che Mor­gen­luft ein. Aber auch heu­te wür­de sich die Hit­ze gna­den­los über das Land le­gen.

The­resa trug ein är­mel­lo­ses T-Shirt und Reit­ho­sen. Sie woll­te spä­ter ei­ni­ge der Pfer­de be­we­gen, und sie er­war­te­te zwei Reit­schü­le­rin­nen. Auf dem Weg zur Sat­tel­kam­mer hör­te sie Schrit­te und gleich dar­auf Ge­läch­ter. In der of­fe­nen Tür konn­te sie zwei Sil­hou­et­ten er­ken­nen.

»Da bist du.«

»Da bin ich.« Ma­ri­sa um­arm­te sie.

Raf­fa­el küss­te The­resa.

Ma­ri­sa grins­te. Sie sag­te: »Dei­ne Nach­ge­burt ist auf den ers­ten Blick in Ord­nung.«

Sie hat­te sie auf Voll­stän­dig­keit über­prüft. Jetzt ging sie zu der ver­letz­ten Stu­te.

Seit Raf­fa­el da ist, dach­te Ma­ri­sa, geht es The­resa bes­ser.

Sie hat­te ih­re Vi­ta­li­tät, ih­ren Witz wie­der­ge­fun­den.

Ro­man­ti­sche Lie­be war in Ma­ri­sas Au­gen ei­ne Er­fin­dung der Neu­zeit. Die Mensch­heit war Jahr­tau­sen­de oh­ne sie aus­ge­kom­men. Ge­sun­der Sex war wun­der­bar und un­ver­bind­lich, Ent­täu­schun­gen nicht pro­gram­miert.

Aber The­resa hat­te an­de­re Vor­stel­lun­gen und Wün­sche. Sie hat­te sich auf ih­ren ers­ten Ehe­mann, Kon­stan­tins Va­ter, ver­las­sen kön­nen. Das hat­te sie auch von Ma­xi­mi­li­an er­war­tet. Ein Irr­tum, wie sie bald hat­te er­ken­nen müs­sen.

Ma­ri­sa hat­te ver­sucht, ih­re Freun­din zu trös­ten. The­resa war an­ders als sie. Sie wünsch­te sich Lie­be von ei­nem Mann, sie selbst tat das nicht. Ihr ge­nüg­te die Lie­be zu ih­ren Söh­nen und den Tie­ren.

Ama­lia stand vor dem ge­öff­ne­ten Klei­der­schrank. Sie wühl­te in ih­ren T-Shirts.

Auf dem Fuß­bo­den türm­ten sich Rö­cke und Ho­sen.

»Was ist denn hier los?« Ma­da­me Du­rand stand in der Tür.

Ama­lia fuhr her­um. »Ich ha­be nichts an­zu­zie­hen.« Sie nutz­te die Ge­bär­den­spra­che.

Ma­da­me Du­rand war die Ein­zi­ge im Haus, die das Ge­bär­den be­herrsch­te.

»Aha? Und was ist das?« Sie deu­te­te auf den Bo­den.

Ama­lia sah sie un­sch­lüs­sig an. »Ich weiß nicht, was ich an­zie­hen soll.«

»Wol­len wir mal zu­sam­men nach­se­hen?«

Ama­lia nick­te eif­rig. Sie war nicht ei­tel, ganz im Ge­gen­teil. Ab­ge­schnit­te­ne Jeans und ver­wa­sche­ne Shirts ge­nüg­ten ihr nor­ma­le­r­wei­se.

Die rei­chen klei­nen Mäd­chen in Ama­li­as Klas­se ka­men in Ro­sa und Weiß gehüllt, tru­gen Schmuck und fühl­ten sich ver­höhnt.

Die Pri­vat­schu­le war zu Be­ginn ein Pro­blem ge­we­sen. Zum ers­ten Mal war Ama­lia mit Kin­dern aus ih­rem ei­ge­nen Mi­li­eu kon­fron­tiert wor­den. Auf dem Gut kam sie nur mit den Kin­dern der Dorf­be­woh­ner und der An­ge­stell­ten in Be­rüh­rung. Manch­mal auch mit The­resas Reit­schü­lern. Sie hat­te nie er­fah­ren, wie es sich an­fühl­te, aus­ge­schlos­sen oder gar ge­mobbt zu wer­den. Mit Aus­nah­me ih­res Cous­ins war Ama­lia nie auf Ab­leh­nung ge­sto­ßen.

Ama­lia hat­te, wie im­mer, den Ver­such ge­macht, mit ih­ren Pro­ble­men selbst fer­tig zu wer­den, bis Ma­da­me sie dar­auf an­sprach. Sie hat­te ge­spürt, dass et­was nicht stimm­te.

Vol­ler Ab­scheu dach­te Ma­da­me an ih­ren Zu­sam­men­stoß mit der Di­rek­to­rin, ei­ner schwe­ren, of­fen­bar kon­flikt­scheu­en Frau, die ihr zu ver­ste­hen ge­ge­ben hat­te, dass sie nicht die Ab­sicht hät­te, mit den rei­chen El­tern ih­rer ver­wöhn­ten Bäl­ger zu spre­chen.

Ma­da­me schil­der­te The­resa das Ge­spräch mit ihr.

»Fin­den Sie her­aus, wann der nächs­te El­tern­abend statt­fin­det.«

»Ge­wiss.«

Sie will hin­ge­hen, dach­te Ma­da­me Du­rand er­staunt.

The­resa hat­te nie viel In­ter­es­se an dem Mün­del ih­res Man­nes ge­zeigt. Und doch schien sie auf ih­re Art das Mäd­chen zu mö­gen. Sie er­teil­te Ama­lia re­gel­mä­ßig Reit­un­ter­richt und hat­te ihr Lu­n­as Foh­len ge­schenkt. Der klei­ne Hengst war Ama­li­as gan­ze Lie­be. Und, dach­te Ma­da­me, Kon­stan­tin.

Denn Ama­li­as Wunsch, heu­te hübsch aus­zu­se­hen, lag zwei­fel­los an Kon­stan­tins Kom­men.

»Du freust dich auf Kon­stan­tin?«

Ama­lia nick­te strah­lend und hob den Dau­men. »Ich will ihm mein Foh­len zei­gen. Wir müs­sen es doch tau­fen.«

Ma­da­me Du­rand lä­chel­te. »Weißt du schon, wie es hei­ßen soll?«

Ama­lia schüt­tel­te den Kopf und zog sich ein blau­es Trä­ger­kleid­chen über, das ihr sehr gut stand. Sie dreh­te sich vor dem Spie­gel. Als sie sah, dass Ama­lia das Kleid wie­der aus­zog und nach ei­nem är­mel­lo­sen ver­wa­sche­nen T-Shirt griff, floh Ma­da­me und zog die Tür zu.

Oh, du mein Gott, dach­te sie. Ei­ne ver­lieb­te Drei­zehn­jäh­ri­ge, wenn das mal gut geht.

Ma­da­me Du­rands Sor­gen wa­ren nur all­zu be­rech­tigt.

Kon­stan­tin ent­stieg am Nach­mit­tag ei­nem tod­schi­cken Sport­coupé und mit ihm An­na­bel.

Sie trug zu ei­nem schnee­wei­ßen Sei­den­kleid Sti­let­tos und wirk­te be­nei­dens­wert kühl, bei sechs­und­drei­ßig Grad. Als kä­me sie ge­ra­de­wegs aus der Du­sche. Und sie war bild­hübsch. Fre­de­ri­co und Ma­xi­mi­li­an sa­ßen un­ter der rie­si­gen Kas­ta­nie vor dem Haus. Die Kro­ne des Bau­mes schütz­te vor Re­gen und Son­ne. An­na­bel häng­te sich bei Kon­stan­tin ein, als sie auf das Haus zu­schritt.

Mit den Schu­hen, dach­te Ma­da­me, wür­de sie oh­ne Un­ter­stüt­zung nicht weit kom­men.Auf­fahrt und Hof wa­ren ge­pflas­tert wie ei­ne al­te Dorf­stra­ße.

Kon­stan­tin stell­te sei­ne Freun­din vor: »Ma­xi­mi­li­an, das ist An­na­bel, Fre­de­ri­co, mein Bru­der, und … Ma­da­me Du­rand.« Er stutz­te, als er sie al­lei­ne kom­men sah. »Wo ist denn Ama­lia?«

»Gu­ten Tag, Kon­stan­tin, An­na­bel. Ich weiß es nicht, sie war eben noch hier.«

»Und Ma­ma?«

Ma­xi­mi­li­an sag­te: »Sie hat ei­ne neue Schü­le­rin. Ich den­ke, sie ist noch in der Reit­hal­le.«

»Viel­leicht ist Ama­lia bei ihr, ich geh mal nach den bei­den se­hen.«

»Wer ist denn Ama­lia, Lieb­ling?«

»Komm mit, An­na­bel, dann wirst du sie ken­nen­ler­nen.«

Ama­lia hat­te den Tag in der Nä­he des Hau­ses ver­bracht. Sie woll­te kei­ne Mi­nu­te mit Kon­stan­tin ver­säu­men.

Im Stall, dach­te Ma­da­me, wirst du sie nicht fin­den.

Ama­lia war in den Flü­gel des Hau­ses ge­flüch­tet, in dem Ma­ria leb­te. Sie glaub­te zu wis­sen, was in dem Mäd­chen vor­ging.

Sie hör­te An­na­bels un­gläu­bi­ge Stim­me. »In den Stall?«

»Ja.«

»Nein, Lieb­ling, ich möch­te mich lie­ber frisch ma­chen.« Sie ki­cher­te.

Wie frisch will sie wohl noch wer­den, frag­te sich Ma­da­me und ta­del­te sich gleich dar­auf.

An­na­bel war ner­vös und un­si­cher, man muss­te nach­sich­tig mit ihr sein. Mit den Män­nern hat­te sie leich­tes Spiel. Von Oss­ten be­trach­te­te sie, wie er al­le Frau­en an­sah. Nun ja. Fre­de­ri­co konn­te den Blick nicht von ihr las­sen. Die schwers­te Prü­fung aber wür­de noch kom­men, The­resa hat­te sie noch nicht ken­nen­ge­lernt.

Es war das ers­te Mal, dass Kon­stan­tin ei­ne Freun­din mit nach Hau­se brach­te, seit er stu­dier­te. Sei­ne Schü­ler­lie­ben hat­te The­resa lä­chelnd ak­zep­tiert. Die hier war et­was an­de­res. Ma­da­me frag­te sich, wie The­resa mit ei­ner ernst­haf­ten Kan­di­da­tin für das Amt ei­ner Schwie­ger­toch­ter um­ge­hen moch­te.

Kon­stan­tin sag­te: »Ich zei­ge dir das Bad.«

»Ein rei­zen­des Mäd­chen.« Ma­xi­mi­li­an goss sich einen Co­gnac nach.

»Ja.« Fre­de­ri­co nick­te. »Ver­dammt hübsch, und ei­ne Fi­gur, da möch­te man glatt …« Er we­del­te un­be­stimmt mit der Hand.

Ma­xi­mi­li­an schmun­zel­te.

»Ich se­he in der Kü­che nach dem Rech­ten.« Ma­da­me er­hob sich.

Fast neun­zehn Uhr. The­resa hat­te dar­um ge­be­ten, trotz der an­hal­ten­den Hit­ze, nicht zu spät zu es­sen.

Kla­vier­tö­ne aus dem obe­ren Stock­werk des Sei­ten­flü­gels mün­de­ten in ei­nem fu­rio­sen Cre­scen­do. Ma­da­me er­laub­te sich ein Lä­cheln. Ih­re Klei­ne war wü­tend, wü­tend und un­g­lü­ck­lich.

Ama­lia schlug den De­ckel zu und dreh­te sich mit dem Hocker zu Ma­ria.

»Ich has­se ki­chern­de Blon­di­nen auf ho­hen Stö­ckeln, Non­na.«

Da­mit hat­te sie ei­ne um­fas­sen­de Be­schrei­bung der neu­es­ten Flam­me ih­res äl­tes­ten En­kels ab­ge­lie­fert.

»Ach, ja? Und sie ki­chert?«

Ma­ria be­te­te um Fas­sung. In ih­rer Wut wirk­te das Mäd­chen vor ihr wie ei­ne ei­fer­süch­ti­ge Ehe­frau, die ih­ren Ehe­mann mit der at­trak­ti­ven Nach­ba­rin in fla­gran­ti er­wi­scht hat­te. Ama­lia war ei­fer­süch­tig, das war kei­ne Fra­ge.

»Viel­leicht ist sie ganz nett«, wag­te Ma­ria ein­zu­wen­den. »Wir soll­ten sie erst ein­mal ken­nen­ler­nen.«

»Sie hat Lo­cken, und sie ist ge­schminkt.«

Ma­ria be­trach­te­te Ama­li­as Lo­cken­pracht und konn­te sich ei­nes Lä­chelns nicht er­weh­ren. »Du hast auch Lo­cken, mein Kind.«

»Ach, Non­na.«

Ama­lia setz­te sich zu Lud­wig und kraul­te ihn zwi­schen den Oh­ren. Sie schien nach­den­ken. Plötz­lich sprang sie auf. »Wir es­sen heu­te frü­her.«

Ma­ria sah dem Kind hin­ter­her, des­sen Ge­füh­le nicht mehr so ganz kind­lich wa­ren. Ama­lia hat­te, als sie ging, so … ent­schlos­sen aus­ge­se­hen.

Ama­lia be­eil­te sich, husch­te über die dunk­len Flu­re des gro­ßen Hau­ses. Sie kann­te je­den Win­kel. Al­le Lä­den wa­ren ge­schlos­sen, auch die La­mel­len, die an küh­le­ren Ta­gen Licht­strei­fen auf Bö­den und De­cken schick­ten. In der Bi­blio­thek tas­te­te sie nach dem Licht­schal­ter. Ihr Ziel war der Schreib­tisch. Auf des­sen ge­wal­ti­ger Mar­mor­plat­te stan­den zwei Bild­schir­me und ein Dru­cker. Pa­pie­re und fa­r­bi­ge Ord­ner la­gen in or­dent­li­chen Sta­peln an der Kan­te. Sie wuss­te, dass Ma­xi­mi­li­an ei­ne gro­ße, sehr scha­r­fe Pa­pier­sche­re in der mitt­le­ren Schub­la­de auf­be­wahr­te. Sie zog die schwe­re La­de auf, fand die Sche­re und lief in ihr Ba­de­zim­mer. Von Ma­da­me war nichts zu se­hen. Ama­lia schloss ab.

The­resa lehn­te am Zaun der Kop­pel.

Sie hat­te am Nach­mit­tag Reit­stun­den ge­ge­ben. Stun­den mit Schü­lern, die noch nie auf ei­nem Pferd ge­ses­sen hat­ten, wa­ren manch­mal ent­ner­vend. Auch in der Hal­le brü­te­te die Hit­ze. Jetzt war­te­te sie auf Ma­ri­sa. Des­de­mo­nas Bein woll­te nicht hei­len.

The­resa dach­te an Kon­stan­tin und sah er­neut auf die Uhr. Er müss­te längst an­ge­kom­men sein. Sein ers­ter Gang war im­mer der in den Stall und zu ihr. Ob er sich ver­spä­tet hat­te?

End­lich hör­te sie Ma­ri­sas Stim­me. »Du siehst an­ge­spannt aus« Ih­re Freun­din sah sie prü­fend an.

»Bin ich auch. Schau dir Des­de­mo­nas Bein an, das macht mir Sor­gen.« Sie sah wie­der auf die Uhr.

»Er­war­test du je­man­den?«

»Kon­stan­tin woll­te für ein paar Ta­ge kom­men. Aber er scheint noch nicht da zu sein.«

»Oben, vor dem Haus steht ein sau­teu­res Coupé«, sag­te Ma­ri­sa.

»Er woll­te mit sei­ner Freun­din kom­men, das wird ih­res sein.«

Die Frau­en gin­gen in den Stall. Die Tier­ärz­tin sprach be­ru­hi­gend mit der Stu­te, wäh­rend sie ihr den Ver­band ab­nahm und sich die Wun­de be­sah.

»Nicht be­un­ru­hi­gend. Das wird schon«, sag­te sie und zog ei­ne Sprit­ze auf. »Da sie nicht lahmt, kannst du sie be­we­gen.« Sie säu­ber­te die Wun­de und ent­nahm ih­rem Alu­kof­fer einen fri­schen Ver­band. »Fer­tig.« Sie strich Des­de­mo­na sanft über die Nüs­tern. »Bra­ves Mäd­chen.«

»Willst du mit zum Abend­es­sen kom­men?«

Ma­ri­sa lach­te. »Nein, Sü­ße, dei­ne Fa­mi­lie ist mir heu­te zu an­stren­gend. Mei­ne bei­den Jüngs­ten wol­len Pas­ta ma­chen, die an­de­ren sind mit ih­ren Vä­tern un­ter­wegs. Mir steht ein ru­hi­ger Abend be­vor. Es sei denn, ei­ner mei­ner tie­ri­schen Pa­ti­en­ten braucht Hil­fe.«

Wie un­kom­pli­ziert Ma­ri­sas Le­ben war. Ih­re fünf Söh­ne und ih­re fünf Män­ner ver­stan­den sich präch­tig. Wenn sie Hil­fe brauch­te, war ei­ner ih­rer Lieb­ha­ber im­mer zur Stel­le und sorg­te nicht nur für sei­nen, son­dern für al­le ih­re Söh­ne.

Zu­sam­men gin­gen sie zum Her­ren­haus, wo Ma­ri­sa ihr klapp­ri­ges Au­to ne­ben ei­nem Sport­wa­gen ge­parkt hat­te.

The­resa um­arm­te ih­re Freun­din. »Dann kommst du ein an­der­mal. Kon­stan­tin bleibt ein paar Ta­ge.«

»Mal se­hen.« Ma­ri­sa leg­te sich sel­ten fest, ihr Be­ruf mach­te ihr all­zu oft einen Strich durch die Rech­nung.

The­resa ging an dem be­reits ge­deck­ten Tisch un­ter der Kas­ta­nie vor­bei.

»Gu­ten Abend, Ali­cia.«

»Gu­ten Abend, Si­gno­ra.«

Ali­cia ha­lf Ma­ja in der Kü­che und hielt zu­sam­men mit Kit­ty, dem zwei­ten Mäd­chen, das Haus sau­ber. Wenn Gäs­te da wa­ren, ha­l­fen zu­sätz­lich Frau­en aus Bas­so. Ali­cia leg­te letz­te Hand an den mit wei­ßem Lei­nen ge­deck­ten Tisch. In ho­hen Glas­zy­lin­dern fla­cker­ten Ker­zen.

Als sie das Haus be­trat, hör­te sie Ma­ja in der Kü­che Kit­ty zur Ei­le an­trei­ben. »Schlaf nicht ein, Mäd­chen. Die Si­gno­ra will si­cher heu­te noch es­sen.«

The­resa lä­chel­te. Ma­ja war nicht sehr ge­dul­dig, aber ih­re Ge­rich­te wa­ren ex­zel­lent.

Sie lief die Trep­pe hin­auf. Aus Fre­de­ri­cos Zim­mer hör­te sie lau­te Rap­mu­sik, die sie kei­ne Mi­nu­te er­trug. Schnell schritt sie den lan­gen Gang vor­bei am Zim­mer ih­res Man­nes, aus dem kein Laut drang. Sie ver­mu­te­te ihn in der Bi­blio­thek. Kon­stan­tins Räu­me la­gen wei­ter hin­ten. Auch von dort war nichts zu hö­ren.

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter hat­te sie sich in die ele­gan­te Frau ver­wan­delt, die Frau­en auf­reg­te und Män­ner er­reg­te.

Als sie die Trep­pe er­reich­te, hör­te sie Kon­stan­tins Stim­me. Sie ver­harr­te, als sie ih­ren Na­men hör­te. Die hel­le, et­was kind­li­che Stim­me ei­ner Frau. Sie sah ih­ren Sohn mit ei­ner hüb­schen Blon­di­ne un­ten in der Hal­le ste­hen. Für einen Mo­ment muss­te sie die Au­gen schlie­ßen. Kon­stan­tins Ähn­lich­keit mit sei­nem Va­ter war fast lä­cher­lich. Selbst sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren iden­tisch.

»Sie wird dich mö­gen, du musst dir kei­ne Sor­gen ma­chen.«

The­resa be­trach­te­te die jun­ge Frau. Zwan­zig Jah­re alt, höchs­tens, dach­te sie.

Sie selbst war acht­zehn ge­we­sen, als sie sich in Kon­stan­tins Va­ter ver­liebt hat­te. Sie ließ das Ge­län­der der Ga­le­rie los. Kon­stan­tin sah auf.

»Ma­ma!« Er strahl­te, lief, zwei Stu­fen auf ein­mal neh­mend, die Trep­pe hin­auf und nahm sie in die Ar­me. »End­lich!«

Sie küss­te ihn und schob ihn von sich weg. »Es tut mir leid, aber es war viel zu tun. Frü­her ging es nicht. Aber«, sie nahm ihn am Arm, »jetzt stellst du mir dei­ne Freun­din vor.«

An­na­bel sah ein Paar, The­resa und Kon­stan­tin, auf sich zu­kom­men und fühl­te sich un­ver­hofft aus­ge­schlos­sen.

Sie war von Be­ruf Toch­ter, und zwar die Toch­ter ei­nes rei­chen, ver­wöh­nen­den Va­ters und ei­ner Mut­ter, die sel­ten an­we­send war. Sie be­saß ein Selbst­be­wusst­sein, das an Ar­ro­ganz grenz­te, und war es nicht ge­wohnt, sich aus­ge­schlos­sen zu füh­len. The­resa reich­te ihr die Hand.

»Ich freue mich, Sie ken­nen­zu­ler­nen.«

Dies ist oh­ne Zwei­fel ei­ne der schöns­ten Frau­en, die ich je ge­se­hen ha­be, dach­te An­na­bel.

Sie war groß, bei­na­he so groß wie Kon­stan­tin. Und wenn sie nicht ge­wusst hät­te, dass The­resa sei­ne Mut­ter war … sie hät­te eben­so gut sei­ne Ge­lieb­te sein kön­nen. Wil­de Ei­fer­sucht über­kam sie, und der über­wäl­ti­gen­de Wunsch, ihr eben­bür­tig zu sein. Die­se Frau muss­te über vier­zig sein, sah aber gut zehn Jah­re jün­ger aus.

An­na­bel hing sich an Kon­stan­tins Arm.

The­resa lä­chel­te. Das Mäd­chen in sei­nem per­fekt ge­schnit­te­nen Kleid sah rei­zend aus. Auf Stö­ckel­schu­hen wirk­te An­na­bel grö­ßer, als sie wirk­lich war.

Sie wird um ihn kämp­fen, dach­te The­resa.

Sie sah, wie sich An­na­bel, nach ei­nem Blick auf sie, auf­rich­te­te. Ihr Griff nach Kon­stan­tins Arm mach­te deut­lich, zu wem er in Zu­kunft ge­hö­ren soll­te. Ei­ne Kampf­an­sa­ge? Nun ja. Sie hat­te schon vie­le Kla­gen von Schwie­ger­müt­tern über Schwie­ger­töch­ter ge­hört und um­ge­kehrt.

Fre­de­ri­co kam die Trep­pe her­un­ter. »Ich ha­be Hun­ger«, sag­te er und be­trach­te­te die Freun­din sei­nes Bru­ders an­er­ken­nend von oben bis un­ten. »Sehr schick, Ro­sa steht dir.«

»Dan­ke.« An­na­bel ki­cher­te und schmieg­te sich an Kon­stan­tin.

»Fre­de­ri­co, sieh bit­te nach dei­nem Va­ter, ich neh­me an, dass er in der Bi­blio­thek ist. Wir kön­nen dann es­sen.«

Ma­da­me er­schien als Letz­te. »Ich kann Ama­lia nicht fin­den«, sag­te sie atem­los.

»Sie wird schon kom­men, ich ha­be sie vor ei­ner hal­b­en Stun­de noch ge­se­hen.« Ma­ria ließ sich auf ih­rem Stuhl nie­der.

»Wir wer­den nicht auf sie war­ten. Ali­cia? Sie kön­nen auf­tra­gen.«

»Si, Si­gno­ra.«

Ali­cia ser­vier­te ei­ne küh­le Gur­ken­sup­pe mit Cros­ti­ni als Vor­spei­se.

»Ich ha­be Ama­lia auch noch nicht ge­se­hen«, sag­te Kon­stan­tin.

In die­sem Mo­ment tauch­te Ama­lia aus der Dun­kel­heit auf.

Ma­ria hob ih­re Ser­vi­et­te an den Mund. Sie täusch­te einen Hus­te­n­an­fall vor. Die­ses Kind. Sie hat­te es ge­ahnt. Ama­lia trug ein vom Wa­schen bei­na­he fa­rb­los ge­wor­de­nes T-Shirt, das um ih­re dün­nen lan­gen Schen­kel schlab­ber­te. Schu­he trug sie kei­ne. Fre­de­ri­co brach in lau­tes Ge­läch­ter aus. Ma­xi­mi­li­an hob die Brau­en. Er sah hilf­los zu sei­ner Frau hin­über, als ob er auf ih­re Re­ak­ti­on war­te­te.

An­na­bel griff nach Kon­stan­tins Hand und flüs­ter­te: »Oh Gott, was ist das?«

Er ent­zog ihr sei­ne Hand, er­hob sich, nahm Ama­lia in die Ar­me und wir­bel­te sie her­um. »Hal­lo, klei­ner Mi­lou, ich ha­be dich ver­misst.«

Ama­lie schlang ih­re Ar­me um ihn.

Ich dich auch, Tin­tin, dach­te Ama­lia.

Tin­tin und Mi­lou, (Tim und Strup­pi), war der ers­te Co­mic, den Kon­stan­tin ihr im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal ge­schenkt hat­te. Seit die­ser Zeit hat­te sie ihn Tin­tin ge­nannt, wenn sie ihm schrieb.

»Das ist Ama­lia, An­na­bel.«

Ama­lia über­sah die aus­ge­streck­te Hand, nick­te nur. Sie setz­te sich auf den frei­en Stuhl ne­ben The­resa.

»Du bist zu spät, Ama­lia.« The­resa strich dem Mäd­chen über die kur­z­en, nach al­len Rich­tun­gen ab­ste­hen­den, un­re­gel­mä­ßig ge­schnit­te­nen Lo­cken. »Wenn wir das noch et­was nach­schnei­den, wird es sehr gut aus­se­hen.« Sie lä­chel­te.

»Ali­cia, brin­gen Sie Ama­lia ih­re Sup­pe.«

Ma­da­me Du­rand hat­te es die Spra­che ver­schla­gen. Ama­li­as herr­li­che Lo­cken wa­ren ver­schwun­den. Sie sah aus wie ein un­ge­kämm­ter Laus­bub.

Ali­cia ver­schwand grin­send in der Kü­che, um dort die Neu­ig­keit zu ver­kün­den. »Ama­lia hat sich die Haa­re ab­ge­schnit­ten, sie sieht aus wie ein zer­rupf­tes Huhn.« Kit­ty frag­te: »Ganz und gar?«

»Höchs­tens zehn Zen­ti­me­ter lang.«

Fre­de­ri­co hör­te end­lich auf zu la­chen.

»War­um spricht sie nicht?«, frag­te An­na­bel in die Stil­le hin­ein.

»Weil sie nicht möch­te«, hör­te The­resa ih­ren Mann sa­gen.

Sie blick­te ihn er­staunt an. Sei­ne Stim­me klang kühl und sei­ne Aus­kunft so schroff, dass An­na­bel sich nicht trau­te, das The­ma wei­ter zu ver­fol­gen.

Fre­de­ri­co ver­kniff sich ei­ne spöt­ti­sche Be­mer­kung und klapp­te den Mund wie­der zu.

Ma­xim hat­te sich nur ein ein­zi­ges Mal zu Ama­li­as Sprach­lo­sig­keit ge­äu­ßert.

Als sie ins Haus kam, hat­te er ent­schie­den, nein, eher be­foh­len, sie in die Ob­hut der bes­ten Ärz­te, The­ra­peu­ten und Leh­rer zu ge­ben.

Ein In­ter­nat kam für ihn nicht in Fra­ge. Er ließ sich re­gel­mä­ßig über ih­re Fort­s­chrit­te in­for­mie­ren. Sein Ver­hält­nis zu ihr konn­te The­resa nicht ein­schät­zen. Ama­lia zog es häu­fig in die Bi­blio­thek, Ma­xi­mi­li­ans be­vor­zug­ten Auf­ent­halts­ort.

Manch­mal hör­te sie Ma­xim mit ihr spre­chen. Die Klei­ne las lei­den­schaft­lich ger­ne al­les, was ihr in die Fin­ger kam.

Auch Ma­xim las viel und ger­ne. Er be­schäf­tig­te sich al­ler­dings vor­wie­gend mit Land­wirt­schaft, Schaf­zucht und sei­nem Lieb­lings­the­ma, der Her­stel­lung von Kä­se. Ob das ei­ne Zwölf­jäh­ri­ge fes­sel­te, be­zwei­fel­te The­resa, bis sie ei­nes Ta­ges Ma­xims Stim­me hör­te:

Durch die halb ge­öff­ne­te Tür konn­te sie Ama­lia und Ma­xim se­hen. Bei­de beug­ten sich über ein di­ckes Buch. Sie hör­te Bruch­stü­cke des­sen, was Ma­xim er­klär­te: »Stell dir vor, mehr als acht Mil­li­o­nen Li­ter Schafs­milch … der Pe­co­ri­no fres­co, den du so ger­ne isst … al­les von den Scha­fen aus der Ma­rem­ma.« Ama­lia schrieb et­was auf ih­rem Ta­blet. Sie hielt es ihm hin. Er nick­te, er­hob sich und zog ein an­de­res Buch aus ei­nem der Re­ga­le.

The­resa frag­te sich, als sie lei­se ih­ren Horch­pos­ten ver­ließ, ob er in Ama­lia sei­ne Nach­fol­ge­rin sah. Wie­der frag­te sie sich, ob sie sein