Die Füchsin - Ursula Tintelnot - E-Book

Die Füchsin E-Book

Ursula Tintelnot

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Beschreibung

Ihre Lebenswelten könnten nicht unterschiedlicher sein. Valerie, eine erfolgreiche Autorin lebt in ihrer luxuriösen Eigentumswohnung in einem angesagten Quartier in Hamburg. Sie lebt allein, ohne feste Bindung, mit ihrer Katze. Ihr Leben zwischen exquisiten Empfängen und anstrengenden Lesereisen ist vergleichsweise glamourös. Adam ist durch einen Schicksalsschlag alleinerziehender Vater eines Eineinhalbjährigen und Besitzer einer Gärtnerei, vor den Toren der Stadt, auf dem platten Land geworden. Valerie kennt seinen Vornamen. Für Adam bleibt sie die Namenlose, die Füchsin, wie er sie bei sich nennt. Nach einer zufälligen, kurzen Begegnung, bleibt beiden eine unstillbare Sehnsucht nacheinander. Immer wieder sehen sie sich im Gewühl der Großstadt ohne sich näher zu kommen. Keiner von beiden ergreift die Initiative. Beide sind verletzt in ihrer ganz eigenen Weise und fürchten, noch einmal verletzt zu werden. Ihre Lebenswelten könnten nicht unterschiedlicher sein. Valerie, eine erfolgreiche Autorin lebt in ihrer luxuriösen Eigentumswohnung in einem angesagten Quartier in Hamburg. Sie lebt allein, ohne feste Bindung, mit ihrer Katze. Ihr Leben zwischen exquisiten Empfängen und anstrengenden Lesereisen ist vergleichsweise glamourös. Adam ist durch einen Schicksalsschlag alleinerziehender Vater eines Eineinhalbjährigen und Besitzer einer Gärtnerei, vor den Toren der Stadt, auf dem platten Land geworden. Valerie kennt seinen Vornamen. Für Adam bleibt sie die Namenlose, die Füchsin, wie er sie bei sich nennt. Nach einer zufälligen, kurzen Begegnung, bleibt beiden eine unstillbare Sehnsucht nacheinander. Immer wieder sehen sie sich im Gewühl der Großstadt ohne sich näher zu kommen. Keiner von beiden ergreift die Initiative. Beide sind verletzt in ihrer ganz eigenen Weise und fürchten, noch einmal verletzt zu werden.

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Seitenzahl: 299

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Füch­sin

 

 

 

 

Ur­su­la Tin­tel­not

 

 

 

 

Ro­man

Im­pres­s­um

Co­py­right:             © 2021 Ur­su­la Tin­tel­not

Um­schlags­fo­to:     © GSPic­tu­res

Co­ver­ge­stal­tung:   © Me­du­sa Ma­bu­se

Buch­satz:                © Me­du­sa Ma­bu­se

 

 

Alle Rech­te, ein­schließ­lich das des voll­stän­di­gen oder aus­zugs­wei­sen Nachrucks in jeg­li­cher Form, sind vor­be­hal­ten

 

 

 

 

Klap­pen­text:

Ihre Le­bens­wel­ten könn­ten nicht un­ter­schied­li­cher sein. Va­le­rie, eine er­folg­rei­che Au­to­rin lebt in ih­rer lu­xu­ri­ösen Ei­gen­tums­woh­nung in ei­nem an­ge­sag­ten Quar­tier in Ham­burg. Sie lebt al­lein, ohne fes­te Bin­dung, mit ih­rer Kat­ze. Ihr Le­ben zwi­schen ex­qui­si­ten Emp­fän­gen und an­stren­gen­den Le­se­rei­sen ist ver­gleichs­wei­se gla­mou­rös.

Adam ist durch einen Schick­sals­schlag al­lein­er­zie­hen­der Va­ter ei­nes Ein­ein­halb­jäh­ri­gen und Be­sit­zer ei­ner Gärt­ne­rei, vor den To­ren der Stadt, auf dem plat­ten Land ge­wor­den. Va­le­rie kennt sei­nen Vor­na­men. Für Adam bleibt sie die Na­men­lo­se, die Füch­sin, wie er sie bei sich nennt.

Nach ei­ner zu­fäl­li­gen, kur­z­en Be­geg­nung, bleibt bei­den eine un­still­ba­re Sehn­sucht nach­ein­an­der. Im­mer wie­der se­hen sie sich im Ge­wühl der Groß­stadt ohne sich nä­her zu kom­men. Kei­ner von bei­den er­greift die In­itia­ti­ve. Bei­de sind ver­letzt in ih­rer ganz ei­ge­nen Wei­se und fürch­ten, noch ein­mal ver­letzt zu wer­den.

 

 

 

 

 

In­halts­ver­zeich­nis

1 Le­sung

2 Juni

3 Juni

4 Juni

5 Juli

6 Juli

7 Ende Juli

8 Juli

9 Ende Juli

10 Au­gust

11 Au­gust

12 Au­gust

13 Au­gust

14 Ok­to­ber

15 Ok­to­ber

16 Ja­nu­ar

17 Mai

18 Mai

19 Juli

20 Juli

21 Som­mer

22 Som­mer

23 Som­mer

24 Au­gust

25 Ende Au­gust

26 De­zem­ber

27 Mai Juni

28 Juni

Über die Au­to­rin und wei­te­re Wer­ke

1 Le­sung

Adam sitzt mit ei­nem schla­fen­den Kind auf dem Schoß in ei­nem wei­ten Raum. Schwa­r­ze Ei­sen­stre­ben über­wöl­ben die hohe De­cke der ehe­ma­li­gen Fa­brik­hal­le. Jetzt, nach der Le­sung, ste­hen die Tore of­fen. Grup­pen von Rau­chern auf dem ge­pflas­ter­ten Vor­platz, Ge­drän­ge an der Bar. Die Ti­sche sind nicht alle be­setzt.

»Ben möch­te Sie ken­nen­ler­nen.«

Die, die er an­spricht ist … so alt wie er? Viel­leicht. At­trak­tiv? Sehr at­trak­tiv. Hat sie zu viel ge­trun­ken? Er ist stock­nüch­tern.

»Ihr Ben schläft gleich ein.« Sie lacht lei­se.

»Das ist ein Täu­schungs­ma­nö­ver. Er tut nur so.«

Er be­trach­tet sie, möch­te sie noch ein­mal zum La­chen brin­gen. Schön ge­schwun­ge­ne Lip­pen. Au­gen, grau oder grün? Das kann er nicht er­ken­nen. Un­ter ge­senk­ten Li­dern blickt sie das Kind an. Nicht ihn. Ihre Fin­ger spie­len mit ei­ner lan­gen, hauch­dün­nen Sil­ber­ket­te über ih­rem De­kol­leté. Ein halb ge­leer­tes Glas in ih­rer Hand. Si­cher nicht das ers­te, denkt er. Sie macht einen Schritt von ihm weg. Eine leich­te Un­si­cher­heit. Ihre Hand greift Halt su­chend eine Stuhl­leh­ne.

»Wie ge­fie­len Ih­nen die Ge­dich­te?«

Sie zö­gert. »Zu viel To­des­sehn­sucht.«

Ja, die Ge­dich­te dreh­ten sich um Tod, Ein­sam­keit und Ver­las­sen­heit. Pas­send zu sei­ner ei­ge­nen See­len­la­ge.

Sie wühlt in ih­rer Um­hän­ge­ta­sche. Eine zer­knit­ter­te Zi­ga­ret­ten­pa­ckung kommt zum Vor­schein. Ihre Hand zit­tert leicht. Das Feu­er­zeug fin­det sie in der Ta­sche ih­res Ja­cketts. Sie at­met den Rauch tief ein und hält ihm nach kur­z­em Zö­gern die Pa­ckung ent­ge­gen.

»Nein, dan­ke. Ich habe auf­ge­hört.«

»Ver­nünf­tig.«

Sie zieht den Stuhl zu sich her­an und setzt sich halb ab­ge­wandt von ihm, so, dass sie in den Raum se­hen kann.

Er be­trach­tet ihre hohe Stirn, die ge­ra­de Nase, das Kinn. »Die Be­schäf­ti­gung mit dem Tod ist le­gi­tim.«

»Si­cher.« Sie dreht den Kopf in sei­ne Rich­tung.

Un­will­kür­lich fragt er sich, wie es wäre, die­se Lip­pen zu küs­sen, die sich ge­ra­de um die Zi­ga­ret­te schlie­ßen. Sie raucht gie­rig.

»Ich bin Adam«, sagt er schnell. Er will nicht, dass sie geht, kann den Blick nicht von ihr wen­den. Üp­pi­ges dun­kel­ro­tes, von ei­nem Band im Nacken zu­sam­men­ge­hal­te­nes Haar. Die Li­der schwer über schma­len Au­gen.

Die Füch­sin, die seit ei­ni­ger Zeit um sein Haus her­um­schleicht, fällt ihm ein. Eine hoch­bei­ni­ge ele­gan­te Fähe, mit un­ge­wöhn­lich dunk­lem ro­tem Fell. Eine Füch­sin, denkt er. Eine Füch­sin mit ei­ner ver­letz­ten Pfo­te. Ihm ist ihr leich­tes Hin­ken auf­ge­fal­len.

Sie ist un­ge­wöhn­lich. Si­cher die auf­fallends­te un­ter all den Frau­en. Sie hat so et­was wie einen Pan­zer um sich, un­sicht­bar, aber ein Pan­zer.

Er blickt sich um. Es gibt nur we­ni­ge Män­ner hier. Wie so oft sind die Frau­en auch bei die­ser Le­sung in der Über­zahl. Er in­ter­es­siert sich für Ge­dich­te, Li­te­ra­tur über­haupt. Und für Kräu­ter und Gift­pflan­zen. Er züch­tet sie, baut sie an und fo­to­gra­fiert sie. Sei­ne Er­kennt­nis­se schreibt er akri­bisch auf.

Als er wie­der in ihre Rich­tung schaut, ist sie nicht mehr da. Auf dem Tisch liegt ihre Zi­ga­ret­ten­pa­ckung, da­ne­ben das Feu­er­zeug. Ohne nach­zu­den­ken, steckt er bei­des ein. Im Aus­gang sieht er kurz ihr Pro­fil. Glanz auf ih­rem Haar. Dann ist sie fort. Ver­dammt! Er hät­te ger­ne mehr von ihr ge­wusst. Sie hat nicht ein­mal ih­ren Na­men ge­nannt. Er er­hebt sich, als das Kind auf sei­nem Schoß sich regt.

»Wir ge­hen heim«, flüs­tert er.

Der klei­ne Jun­ge legt die Arme um Adams Hals und schmiegt sich an ihn. »Dada«, flüs­tert er und schläft wie­der ein.

Der rote Prit­schen­wa­gen ist alt und nicht sehr sau­ber. Ein Auto, dem man den Ge­brauch an­sieht. Ein Nutz­fahr­zeug, kein Sta­tus­sym­bol. Er schnallt das Kind im Kin­der­sitz fest, schiebt die Tür so lei­se wie mög­lich zu und geht um den Wa­gen her­um, um auf der an­de­ren Sei­te ein­zu­stei­gen.

Ben­ja­min, denkt er, müss­te in sei­nem Bettlie­gen, nicht mit mir an nächt­li­chen Ver­an­stal­tun­gen teil­neh­men. Er bleibt eine Wei­le sit­zen, ohne den Wa­gen zu star­ten, und starrt auf den re­gen­feuch­ten As­phalt. Ein kur­z­er war­mer Som­mer­re­gen, der kei­ne Ab­küh­lung bringt. Adam fährt erst los, als der Re­gen nach­lässt. Er hat wie­der nicht an die de­fek­ten Schei­ben­wi­scher ge­dacht. Mor­gen, denkt er.

Die­se Frau geht ihm nicht aus dem Kopf. Er är­gert sich, dass er sie hat ge­hen las­sen. Eine Frau ohne Na­men, ei­gen­tüm­lich ver­traut.

Ben schna­rcht lei­se, sein Köpf­chen ist zur Sei­te ge­fal­len. Mit bei­den Hän­den hält er einen klei­nen Stoff­hund an die Brust ge­drückt. Adam fragt sich nicht zum ers­ten Mal, wie er mit ei­nem knapp Zwei­jäh­ri­gen zu­recht­kom­men soll. Sei­ne Ge­dan­ken wan­dern zum dun­kels­ten Tag sei­nes Le­bens. Dem Tag, an dem sei­ne Schwes­ter sta­rb und ihm ihr Le­ben hin­ter­ließ.Er hat es an­ge­nom­men.

Jetzt star­tet er sei­nen Wa­gen. Fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten spä­ter sieht er die Dä­cher der Ge­wächs­häu­ser, glän­zend nass vom Re­gen. Da­ne­ben die Scheu­ne und das gro­ße alte Stein­haus. Vor­sich­tig biegt er in den Hof ein und parkt di­rekt vor der Haus­tür. Die Füch­sin sitzt reg­los zwi­schen den Ge­wächs­häu­sern. Er hebt Ben aus sei­nem Sitz und bringt ihn, ohne ihn zu we­cken, ins Bett.

2 Juni

Va­le­rie hat es nicht ei­lig. Sie lebt al­lein mit ih­rer Kat­ze. Ab­ge­se­hen von ih­ren Be­su­chen im Ver­lag hat sie einen ein­sa­men Job.

Sie schreibt Lie­bes­ro­ma­ne, ob­wohl sie an die Lie­be nicht mehr glaubt, seit sie ein Tee­n­a­ger war, und die Ko­lum­nen, die sie in ver­schie­de­nen Zeit­schrif­ten un­ter­bringt, han­deln nicht von Lie­be, son­dern von de­ren Nicht­vor­han­den­sein. An Aben­den wie die­sem gönnt sie sich Aus­gang. Sie zieht um die Häu­ser, geht in ihre Stamm­knei­pe, ins The­a­ter und ge­le­gent­lich in die Oper oder be­sucht eine Le­sung. Al­lein oder in Ge­sell­schaft.

Wie hieß noch der klei­ne ver­schla­fe­ne Kerl? Ben? Auf die Idee, ein Klein­kind in die Nacht mit­zu­neh­men, konn­te nur ein Mann kom­men. Sein Sohn? Viel­leicht. Hat das Kind denn kei­ne Mut­ter?War­um geht mir die­ser Mann nicht aus dem Kopf?

Ihr Taxi hält vor ei­nem ho­hen Stadt­haus. Ein Alt­bau, vor Jah­ren re­no­viert, wie vie­le der Häu­ser hier. Oft mit Hinter­hö­fen, man­che be­pflanzt und zu idyl­li­schen Gär­ten oder Spiel­plät­zen um­funk­tio­niert.

Wo ist der ver­flix­te Haus­sch­lüs­sel? Sie wühlt blind in ih­rer Ta­sche, bis sie das küh­le Me­tall spürt. Hin­ter sich hört sie ge­dämpft den Ver­kehr. Ge­läch­ter aus of­fe­nen Fahr­zeu­gen, von den Bal­ko­nen der um­lie­gen­den Häu­ser. Die Nacht ist noch nicht zu Ende. Mu­sik und der süße Duft von Phlox er­fül­len die Luft.

Be­vor sie auf­schlie­ßen kann, öff­net sich die Haus­tür. Ein jun­ger Mann hält ihr die Tür auf und ver­schwin­det gruß­los in der Dun­kel­heit. Im ers­ten Stock kracht eine Tür mit lau­tem Knall zu. Sie fragt sich, war­um das Paar noch zu­sam­men­lebt. Kein Tag ver­geht ohne laut­star­ke Aus­ein­an­der­set­zun­gen.

Sie steigt in den zwei­ten Stock, öff­net ihre Tür und hängt den Schlüs­sel­bund an den da­für vor­ge­se­he­nen Ha­ken da­ne­ben. Ein lei­ser Plumps. Gleich dar­auf streicht die Kat­ze um ihre Bei­ne. Nach­dem sie die San­da­len von den Fü­ßen ge­schüt­telt hat, nimmt sie die Kat­ze auf den Arm und geht mit ihr in die Kü­che. Sie steckt die Nase in ihr Fell. Lie­ber die Kat­ze als Ma­gnus. Er hat das Tier bei ihr ge­las­sen, er selbst hat den Auf­wand nicht ge­lohnt. Sie drückt die Kat­ze an sich.

Va­le­rie liebt ihre Woh­nung, ihr Al­lein­sein. Sie ist nicht da­für ge­macht, mit je­man­dem zu­sam­men­zu­le­ben. Die Woh­nung ist groß­zü­gig ge­schnit­ten und mehr als spar­sam mö­bliert. Ein be­que­mer Ses­sel. Ein paar Sitz­mö­bel von an­ge­sag­ten De­si­g­nern. Kü­che und ein gro­ßes Wohn­zim­mer ge­hen in­ein­an­der über, ein se­pa­ra­tes Schlaf­zim­mer, ein klei­nes Gäs­te­zim­mer. In al­len Räu­men brennt Licht. Sie lässt es an, wenn sie die Woh­nung ver­lässt.

Jetzt öff­net sie eine Dose für die Kat­ze und sieht ihr, ge­gen den Kü­chen­tre­sen ge­lehnt, eine Wei­le beim Fres­sen zu.

Auf der Ar­beits­plat­te liegt das fer­ti­ge Ma­nu­skript ne­ben dem Dru­cker. Mor­gen wird sie es in den Ver­lag brin­gen. Ge­ra­de noch ge­schafft. Die Ab­ga­be­ter­mi­ne sind streng ge­tak­tet. Das neue Buch soll zur Buch­mes­se im Ok­to­ber her­aus­kom­men. Sie streicht über den Ti­tel und sieht, dass der An­ruf­be­ant­wor­ter blinkt. Sie lässt ihn blin­ken, dann drückt sie ent­schlos­sen auf eine Tas­te. Lö­schen. Ihr Ver­lag, ihre Mut­ter oder Ma­gnus. Auf kei­nen von ih­nen ist sie scha­rf.

Sie holt den Weiß­wein aus dem Kühl­schrank, schenkt sich ein Glas ein und ver­lässt die Kü­che. Die Fla­sche nimmt sie mit. Va­le­rie öff­net die Bal­kon­tür. Sie ist kei­ne Blu­men­lieb­ha­be­rin, aber sie liebt den Duft von Kräu­tern. Wei­ßer Thy­mi­an, Ma­jo­ran, Zi­tro­nen­me­lis­se, Ba­si­li­kum und Ros­ma­rin wach­sen üp­pig in gro­ßen grau­en Kü­beln. Be­que­me Stüh­le, ein Tisch und eine brei­te Lie­ge. Sie lehnt am Ge­län­der und trinkt einen Schluck. Im Glas er­kennt sie ihr Spie­gel­bild. Sie weiß nicht, wie lan­ge sie hier steht. Um sie her­um ist es still.

»Wir ge­hen schla­fen«, ver­kün­det sie der Kat­ze.

Die Kat­ze sitzt be­we­gungs­los auf dem Tisch und fi­xiert sie. Nur die Schwanz­spit­ze zuckt. Als Va­le­rie im Bett liegt, starrt sie die De­cke an und denkt an Ma­gnus. Sie war­tet auf den Schmerz, aber da ist nichts, sie ver­misst ihn nicht, kei­ne Trau­er, kein Ge­fühl. In ihr bleibt es still.

Über das Bild von Ma­gnus schiebt sich ein an­de­res. Adam. Ver­flucht, war­um ist sie nicht ein­fach weg­ge­lau­fen, als sie ihn im Foy­er der Fa­brik­hal­le ent­deckt hat?

Du weißt, war­um.

Die Ähn­lich­keit die­ses Man­nes mit Sa­mu­el, ih­rer ers­ten und ein­zi­gen Lie­be, war frap­pie­rend, hat­te ihre Knie weich wer­den las­sen. Auch wenn sich beim Nä­her­kom­men die Ähn­lich­keit ver­lo­ren hat­te. Die An­zie­hungs­kraft war ge­blie­ben. Das Ge­fühl, die­sen Mann zu ken­nen. An die Stuhl­leh­ne ge­klam­mert, hat­te sie sich set­zen müs­sen. Nie mehr hat­te sie ge­fühlt wie da­mals, bis heu­te.

Du bist ge­flo­hen, wie du im­mer fliehst, wenn es um Ge­füh­le geht, denkt sie.

Va­le­rie wird vom Te­le­fon ge­weckt. Stöh­nend zieht sie sich ihr Kis­sen über den Kopf. Um die­se Uhr­zeit kann nur es eine sein. Ihre Mut­ter.

»Va­le­rie, ich weiß, dass du da bist.«

War­um ruft die­se Frau im­mer so früh an? Für sie be­steht doch kei­ne Ver­an­las­sung, zu nacht­schla­fen­der Zeit aus dem Bett zu sprin­gen. Ihre Mut­ter hat kei­nen Be­ruf, sie muss das Haus nicht ver­las­sen wie die Mehr­zahl ih­rer Ge­schlechts­ge­nos­sin­nen. Sie be­rich­tigt sich, war­um rufst du über­haupt an, Mut­ter?

Sie selbst hat einen An­lass auf­zu­ste­hen, jetzt. Ein Ter­min mit ih­rer Lek­to­rin im Ver­lag. Auf ih­rem Weg ins Bad füllt sie Was­ser und Fut­ter für die Kat­ze in zwei Näp­fe und setzt Kaf­fee auf. Nach dem zwei­ten An­ruf ih­rer Mut­ter an die­sem Mor­gen nimmt sie nun doch ab.

»Grace hier. End­lich«, hört sie ihre Mut­ter, als ob sie es nicht wüss­te. Für Va­le­rie ist sie im­mer nur Grace, Mut­ter ma­che sie alt.

»Ich bin in Eile.« Sie mus­tert sich im Spie­gel.

»Das bist du im­mer.«

»Ich habe einen Be­ruf.«

»Du schreibst, das ist et­was an­de­res. Ich möch­te euch zum Abend­es­sen se­hen.«

»Wen meinst du mit euch. Soll ich die Kat­ze mit­brin­gen?«

 Va­le­rie hört ihre Mut­ter ein­at­men.

»Sei nicht al­bern.«

Wenn ich in dei­ner Ge­gen­wart et­was nicht füh­le, Mut­ter, ist es der Wunsch, al­bern zu sein.

Dann Grace Stim­me: »Was ist denn mit Ma­gnus? Er ist rei­zend und so gut er­zo­gen.«

»Das ist die Kat­ze auch. Wir ha­ben uns ge­trennt. Die Kat­ze hat er da­ge­las­sen.«

»Kannst du nicht ein­mal einen Mann hal­ten?« Grace dehnt das ein­mal the­a­tra­lisch. »Ich neh­me an, dass du nicht mehr lan­ge frucht­bar bist?«

Va­le­rie holt tief Luft. »Ich bin zwei­und­drei­ßig, nicht hun­dert. Im Ver­lag er­war­tet man mich.«

»Eine Frau muss einen Mann fin­den, be­vor sie völ­lig ab­sto­ße…«

Va­le­rie knallt den Hö­rer auf die Sta­ti­on und fragt sich, war­um die Ge­sprä­che mit ih­rer Mut­ter im­mer zu ei­nem Schlag­ab­tausch ge­lin­gen. Die Kat­ze ver­schwin­det mit ein­ge­klemm­tem Schwanz un­ter ei­nem Ses­sel. War­um är­gert sie sich im­mer wie­der über ihre Mut­ter? Aber na­tür­lich weiß sie es. Sie ist über­grif­fig und so takt­los, dass sie je­des Mal zu­sam­men­zuckt.

Va­le­rie läuft die Stu­fen hin­ab, zieht die Haus­tür hin­ter sich zu und steigt in das war­ten­de Taxi. Ihr Ma­nu­skript hat sie un­ter den Arm ge­klemmt, eine Um­hän­ge­ta­sche über der Schul­ter. Da die Da­tei längst bei Ruth liegt, ist es nicht nö­tig, es mit­zu­neh­men, aber sie will noch ein paar Stel­len, die sie mar­kiert hat, mit der Lek­to­rin be­spre­chen. Sie starrt blick­los aus dem Fens­ter. Erst als das Taxi den Mit­tel­weg über­quert, um über die Als­ter­chaus­see den Ha­r­ve­ste­hu­der Weg an­zu­steu­ern, wird sie wach. Sie muss sich auf die kom­men­den Ge­sprä­che kon­zen­trie­ren.

Das recht­e­cki­ge Ge­bäu­de des Ver­la­ges Neu­mey­er & Roth liegt in ei­nem schö­nen par­k­ähn­li­chen Ge­län­de an der Au­ßen­als­ter. Ruth er­war­tet sie. Die Chef­lek­to­rin ist längst zu ei­ner Freun­din ge­wor­den. Sie hat von An­fang an ihre Ro­ma­ne be­treut.

»Wie im­mer ein paar Mi­nu­ten zu spät.« Ruth um­armt sie. »Macht nichts, der Kaf­fee kommt gleich. Der Chef will dich nach­her auch noch se­hen, aber erst­mal ma­chen wir uns an die Ar­beit.« Sie lacht und zieht sie in ihr Büro.

Va­le­rie legt ihr Ma­nu­skript auf den aus­la­den­den Schreib­tisch und lässt sich stöh­nend in einen Ses­sel fal­len. »Mei­ne Mut­ter«, klagt sie.

»Was hat sie wie­der an­ge­stellt?«

Statt ei­ner Ant­wort fragt sie: »Bin ich ei­gent­lich schon völ­lig ab­sto­ßend?«

Ruth lacht ihr Laus­bu­ben­la­chen und nickt. »Du siehst gräss­lich aus.«

Was sie sieht, ist al­les an­de­re als reiz­los. Eine at­trak­ti­ve, er­folg­rei­che Frau, die nicht ahnt, wie ver­füh­re­risch sie ist. War­um weiß Va­le­rie das nicht?

»Wie kommst du jetzt da drauf?«

Va­le­rie schil­dert den mor­gend­li­chen An­ruf.

»War­um te­le­fo­nierst du über­haupt noch mit ihr?«

Va­le­rie steht auf und tritt ans Fens­ter. Sie blickt auf die glit­zern­de Als­ter und auf die im Son­nen­licht kreu­zen­den wei­ßen Se­gel. Auf die­se Fra­ge weiß sie kei­ne Ant­wort. Sie hat sie sich selbst schon tau­send­mal ge­stellt.

3 Juni

Adam steht seit fünf Uhr im Ge­wächs­haus. Ben schläft noch. Er hört sein lei­ses At­men aus dem Ba­by­pho­ne, das er ne­ben blü­hen­dem Sal­bei de­po­niert hat. Seit er Ben­ja­min bei sich hat, steht er früh auf, um so viel Zeit wie mög­lich mit ihm zu ver­brin­gen. Nichts hat ihn auf den Tag im letz­ten No­vem­ber vor­be­rei­tet. Er greift nach ei­ner Pflanz­kis­te und zieht sie zu sich her­an. Nicht dar­an den­ken! Aber er kann es nicht ver­hin­dern. Vor sei­nem in­ne­ren Auge taucht das sanf­te schö­ne Ge­sicht sei­ner Schwes­ter auf. Ben hat viel von ih­rer Sanft­heit, denkt er. Er blickt über die gro­ßen Me­tall­ti­sche. Es war Se­me­les Gärt­ne­rei nach dem Tod des Va­ters ge­we­sen. Adam ist Bio­lo­ge.

»Es ist nicht mein Ding, mir die Hän­de schmut­zig zu ma­chen«, hat­te er la­chend er­klärt, als es um die Nach­fol­ge ging.

Sein Va­ter gab sei­ne Gärt­ne­rei ger­ne in die Hän­de sei­ner Toch­ter und ließ sei­nen Sohn stu­die­ren. Jetzt steht Adam hier und packt die Pflanz­kis­ten, die heu­te aus­ge­lie­fert wer­den sol­len, er macht ge­nau das, was er nie ma­chen woll­te, er macht sich die Hän­de dre­ckig. Er weiß, wie sehr sein Va­ter und sei­ne Schwes­ter die Gärt­ne­rei ge­liebt ha­ben. Adam kann sie nicht auf­ge­ben. Schon des­halb nicht, weil sie al­les ist, was Ben von sei­nem klei­nen Le­ben ge­blie­ben ist.

»Wuff.«

Adam läuft los. Ben kann es nicht er­tra­gen, al­lei­ne zu sein, bes­ser, ohne ihn zu sein. Die klei­ne Hün­din Bel­la flitzt vor ihm her. Auch sie ein Erbe sei­ner Schwes­ter. Adam ist eher ein Kat­zen­mensch. Mit dem Tod sei­ner Schwes­ter und sei­nes Schwa­gers ist er Mut­ter und Va­ter zu­gleich.

Sie wa­ren auf dem Rü­ck­weg von sei­ner Par­ty ums Le­ben ge­kom­men. Er fühlt sich schul­dig. Na­tür­lich ist es nicht sei­ne Schuld, aber er kann den Ge­dan­ken ein­fach nicht ab­schüt­teln. Er sieht die Po­li­zis­tin mit ei­nem wei­nen­den Klein­kind auf dem Arm noch vor sich ste­hen.

»Ich muss Ih­nen lei­der mit­tei­len … Sind Sie der ein­zi­ge le­ben­de Ver­wand­te?«

Seit die­ser Zeit hat er Ben bei sich. Wo­chen­lang trägt er ihn auf dem Arm oder auf den Schul­tern. So­bald er ihn ab­setzt, klam­mert sich der Jun­ge an ihn wie ein Äff­chen. Ein­schla­fen ohne Adam, Fehl­an­zei­ge. Du­schen al­lei­ne kommt nicht in Fra­ge. Zu An­fang war es läs­tig, jetzt, nach acht Mo­na­ten, fehlt ihm et­was, wenn der Klei­ne mal nicht auf sei­nen Schul­tern hockt. Ben sitzt im Bett, den Blick fest auf die Tür ge­rich­tet. Er weint nicht, er war­tet. Adam kämpft ge­gen die Trä­nen an. Er nimmt den Jun­gen auf den Arm und küsst ihn aufs asch­blon­de Haar. So blond und wi­der­bors­tig wie sein ei­ge­nes.

»Gu­ten Mor­gen, mein Klei­ner. Auf geht’s. Jetzt gibt’s Früh­stück.«

Ben schlingt sei­ne Ärm­chen um Adams Hals. »Dada.«

»Ich bin da. Und schau, da ist auch Bel­la.«

»Bel­la«, wie­der­holt Ben.

Die Hün­din sieht ihn aus hell­blau­en Au­gen an. Ein Ohr hängt be­küm­mert nach un­ten, das an­de­re steht fra­gend in die Höhe. Sie zeigt ein schie­fes Lä­cheln, wenn sie eine Lef­ze hoch­zieht.

Eine Schön­heit ist sie nicht, denkt Adam. Aber sei­ne Schwes­ter moch­te sie. Und auch Ben liebt sie. Er lässt ihn nur los, um hin­ter Bel­la her­zu­lau­fen. Das gibt ihm die Zeit, sein Müs­li vor­zu­be­rei­ten. Wi­ckeln, wa­schen, füt­tern, al­les ist zur Rou­ti­ne ge­wor­den.

Vor der Tür wird es laut. Ein Mo­ped rat­tert über den Hof.

»Hin­nerk«, sagt Adam.

Ben nickt und schiebt sich einen Löf­fel Müs­li in den Mund. Er spricht nicht viel.

»Moin, bin da.« Hin­nerk steckt den Kopf durch die Tür, winkt kurz und geht in Rich­tung der Ge­wächs­häu­ser. Auch Hin­nerk spricht nicht viel.

Der Mor­gen ist noch frisch, aber die Luft er­wärmt sich fühl­bar. Es wird wie­der ein war­mer Tag wer­den. Ben kratzt sorg­fäl­tig sei­ne Schüs­sel sau­ber.

Mehr­mals hat eine Dame vom So­zi­al­amt Adam be­sucht:

»Ben ge­hört in einen Kin­der­gar­ten. Er ist in sei­ner Ent­wick­lung zu­rück.«

»Was mei­nen Sie da­mit?«

»Er spricht nicht, geht nicht auf mich zu, wie … norm… an­de­re Kin­der es tun wür­den.«

Er ver­kniff sich eine scha­r­fe Ant­wort. Ich wür­de auch nicht auf dich zu­ge­hen, Zi­cke. Er ver­kniff sich auch den Hin­weis, dass Ben den Un­ter­schied zwi­schen Sal­bei, Thy­mi­an, Ros­ma­rin und noch so ei­ni­gen an­de­ren Kräu­tern kennt.

»Und, so­weit ich se­hen kann, ist er auch noch nicht tro­cken.«

»Das war ich in sei­nem Al­ter auch noch nicht«, sag­te er. »Ich habe noch mit fünf in die Hose ge­pisst, und wenn mein Nef­fe das möch­te, darf er das auch.«

Er grinst, als ihm die­se Sze­ne ein­fällt, und stellt Bens in­zwi­schen säu­ber­lich leer ge­kratz­te Schüs­sel in die Spü­le.

»Wir ge­hen jetzt ar­bei­ten«, sagt er und hebt Ben vom Kin­der­stuhl.

Hin­nerk ist da­bei, die ge­pack­ten Kis­ten auf dem Prit­schen­wa­gen zu sta­peln. Das Auto mit der Auf­schrift: S. Frank Gar­ten­bau steht jetzt vor den Glas­häu­sern.

S. Frank steht für: Si­mon, sei­nen Va­ter, und Se­me­le, sei­ne Schwes­ter. Er hat es nicht über sich ge­bracht, sei­nen ei­ge­nen Buch­sta­ben da­vor­zu­set­zen. Nicht ein­mal die Web­si­te hat er ak­tu­a­li­siert. Er ver­misst sie bei­de noch zu sehr. Viel­leicht wür­de ei­nes Ta­ges ein B für Ben dazu kom­men.

»Ist das al­les?« Hin­nerk steht vor ihm und deu­tet auf die Kis­ten.

»Nein, eine fehlt.« Adam kon­sul­tiert ein klei­nes Heft, das er aus der Ta­sche sei­ner Jeans zupft. »Hier. Thy­mus prae­cox, wei­ßer Thy­mi­an.«

Ben zieht ihn ziel­si­cher in die rich­ti­ge Rich­tung, dort­hin, wo die vor­ge­zo­ge­nen Thy­mi­an­pflan­zen ste­hen.

»Sehr gut, mein Klei­ner.«

Hin­nerk lacht. »Du musst ihm bald Ge­halt zah­len. Auf mich kannst du dann ver­zich­ten.«

Adam nickt. »Nur das mit dem Füh­rer­schein muss noch war­ten.«

Er packt noch eine wei­te­re Kis­te mit den win­ter­har­ten Pflan­zen und klebt einen Zet­tel mit der Adres­se an die Sei­te. Hin­nerk ist schon im­mer hier ge­we­sen. Er ist mit Leib und See­le Gärt­ner. Er wüss­te nicht, was er ohne ihn tun soll­te. Adam spürt ein Zie­hen. Er wäre ger­ne selbst ge­fah­ren, aber das macht er nicht. Die Be­stel­lun­gen aus­zu­fah­ren und die Be­pflan­zung der Stadt­bal­ko­ne und Gär­ten über­lässt er Hin­nerk. Er fühlt Bens Hand in sei­ner. Es ist rich­tig, was er tut. Ben setzt sich nicht ger­ne in ein Auto.

Adam nimmt sich den Ord­ner mit den Bil­dern. Von je­dem der Bal­ko­ne macht Hin­nerk ein paar Auf­nah­men, na­tür­lich mit der Er­laub­nis der Be­sit­ze­rin­nen, manch­mal so­gar mit ei­nem Sel­fie sei­ner Kun­din­nen. Fast im­mer sind es Frau­en, die sich an sei­ne Fir­ma wen­den. In Ge­dan­ken fährt er mit Hin­nerk durch Ham­burg, lie­fert die be­stell­ten Pflan­zen aus und pflanzt sie auf Wunsch gleich in Kü­bel und Käs­ten ein. So­weit er se­hen kann, hat er seit dem Tod sei­ner Schwes­ter kei­ne Kun­den ver­lo­ren. Hin­nerk hat of­fen­sicht­lich sehr gute Ar­beit ge­leis­tet. Die Frau­en mö­gen Hin­nerk. Aber Adam hü­tet sich, das aus­zu­spre­chen. Mit sei­ner tie­fen Stim­me und der ru­hi­gen Art wirkt Hin­nerk ver­trau­ens­wür­dig. Er klappt den Ord­ner zu. Es gibt viel zu tun.

Er geht mit Ben zu dem klei­nen, mit ro­ten Zie­geln um­mau­er­ten Gar­ten hin­ter den Glas­häu­sern. Dort pflanzt er Heil­kräu­ter an. Heil­kräu­ter, die im­mer auch Gift­kräu­ter sind. Des­halb schärft er Ben ein­dring­lich ein, dass er nie, nie­mals ohne ihn, die­sen Teil des Gar­tens be­tre­ten darf. Aber Ben geht ohne ihn nir­gend­wo hin. Dar­über muss er sich noch kei­ne Sor­gen ma­chen. Vor der ro­ten Zie­gel­mau­er blüht die schöns­te und höchs­te sei­ner Pflan­zen, der tief­blaue Ei­sen­hut, gif­tig bis in jede sei­ner Fa­sern.

Eine Gift­pflan­ze mit kri­mi­nel­ler Ver­gan­gen­heit. Sie muss­te über Jahr­hun­der­te als Mord­in­stru­ment her­hal­ten. In all ih­ren Pflan­zen­t­ei­len steckt Al­ka­lo­id Aco­ni­tin, das be­reits in ge­rin­gen Men­gen töd­lich wirkt. Die töd­li­che Do­sis bei Er­wach­se­nen liegt bei zwei bis vier Gramm der Wur­zel. Das ent­spricht ein bis zehn Mil­li­gramm Aco­ni­tin pro Ki­lo­gramm Kör­per­ge­wicht. Der Tod tritt meist in­ner­halb we­ni­ger Stun­den ein, durch Herz­ver­sa­gen und Atem­läh­mung.

Der be­rühm­tes­te Mord mit Ei­sen­hut hat­te sich wohl an Kai­ser Clau­di­us im al­ten Rom zu­ge­tra­gen. Sei­ne Gat­tin und ihr Leib­a­rzt sol­len ihm gif­ti­ge Pil­ze un­ter das Es­sen ge­mischt ha­ben. Er konn­te sich da­nach noch in sei­ne Ge­mä­cher schlep­pen, in der Ab­sicht, mit ei­ner Vo­gel­fe­der einen Wür­ge­reiz her­vor­zu­ru­fen. Die­se Vo­gel­fe­der al­ler­dings war ge­tränkt mit ei­nem Ex­trakt aus Ei­sen­hut, was letzt­end­lich zu sei­nem Tod ge­führt ha­ben soll.

Ben bleibt ein Stück weit da­von ent­fernt ste­hen, wie Adam es ihm bei­ge­bracht hat. Selbst die Be­rüh­rung ist ge­fähr­lich.

4 Juni

Va­le­rie klopft, war­tet aber nicht auf ein Her­ein, be­vor sie die Tür öff­net. Vik­tor sitzt hin­ter sei­nem rie­si­gen, un­auf­ge­räum­ten Schreib­tisch. Das Büro ist an­ge­nehm kühl. Er er­hebt sich und schließt sein zwei­fel­los nicht von der Stan­ge ge­kauf­tes Ja­ckett, als sie ein­tritt.

Wie gut er aus­sieht, denkt sie.

Mit ei­nem kaum un­ter­drück­ten Ta­del in der Stim­me sagt er: »Du hast es mal wie­der ge­schafft, uns alle in Atem zu hal­ten.«

Va­le­rie ver­zieht die Lip­pen.

»Das hält dich so un­ver­schämt jung.«

Sie strahlt ihn an. Sie weiß, dass er sich är­gert, wenn sie Ter­mi­ne nicht ein­hält.

Er geht drei Schrit­te auf sie zu, küsst sie auf den Mund und legt eine Hand be­sitz­er­grei­fend auf ih­ren Rü­cken. »Wann se­hen wir uns mal wie­der au­ßer­halb die­ses Bü­ros? Ich könn­te heu­te in der Stadt blei­ben.«

Zu forsch für ih­ren Ge­schmack. Sie löst sich von ihm und nimmt Platz auf dem Stuhl vor sei­nem Schreib­tisch. Das gibt ihr die nö­ti­ge Di­stanz. Sie will sich nicht noch ein­mal mit ihm ein­las­sen. Er war nichts als eine Af­fä­re, re­det sie sich ein, und doch hat die Tren­nung von ihm Spu­ren hin­ter­las­sen. Sie will nicht an sei­ne Frau und sei­ne Kin­der den­ken. Ihr fällt den­noch die wei­ße Vil­la an der Elb­chaus­see ein, mit ei­nem traum­haft schö­nen Blick auf die Elbe. Va­le­rie hat kein schlech­tes Ge­wis­sen. Sie lä­chelt. Ihre mo­ra­li­schen Stan­dards sind nicht ge­ra­de an­ti­quiert. Wenn sie ehr­lich ist, zieht sie Af­fä­ren mit ver­hei­ra­te­ten Män­nern vor. Sie re­den nicht über ihre Er­obe­run­gen und ge­hen nach an­ge­mes­se­ner Zeit wie­der. Nichts von Dau­er.

»Wie geht es dei­ner Frau und den Kin­dern?«, fragt sie, statt sei­ne Fra­ge zu be­ant­wor­ten.

»Ich hab’s ver­stan­den«, sagt er lä­chelnd. »Wie geht es dei­nem Kat­zen­mann?«

Nur noch Kat­ze, kein Mann, denkt sie. Sie ant­wor­tet nicht.

Er nimmt das neue Ex­posé vom Tisch. »Du bist ja flei­ßig. Ich lese es durch. Hat Ruth es schon ge­se­hen?«

»Wir ha­ben kurz dar­über ge­spro­chen.« Va­le­rie weiß, wie viel Vik­tor von der Mei­nung sei­ner Chef­lek­to­rin hält. Ruth hat ein gu­tes Ge­spür für die The­men der Zeit und eine untrüg­li­che Nase, was bei Va­le­ries Le­se­r­in­nen an­kommt.

Er nimmt einen Bo­gen Pa­pier aus ei­ner Schub­la­de und legt einen Fül­ler dar­auf. Va­le­rie un­ter­schreibt einen wei­te­ren Ver­trag.

Vik­tor be­ob­ach­tet sie beim Schrei­ben. Sie sieht be­zau­bernd aus, denkt er, und sie ist ver­dammt an­zie­hend. Va­le­rie ist ei­nes der Zug­pfer­de sei­nes Ver­la­ges. Je­des ih­rer Bü­cher wird zum Best­sel­ler. Sie be­sitzt eine ge­schlif­fe­ne Spra­che, und ihre Tex­te sind vol­ler Hu­mor. In­ter­es­sant ist die Dis­kre­panz zwi­schen den Ro­ma­nen und den Ar­ti­keln, die sie in ver­schie­de­nen Zeit­schrif­ten ver­öf­fent­licht. Dort ver­wan­delt sie sich in eine Zy­ni­ke­rin, die zwei­felt, fragt und ver­blüf­fen­de Zu­sam­men­hän­ge auf­deckt. Er liest sie aus­nahms­los.

»Dan­ke«, sagt er, als sie das Pa­pier über die Tisch­plat­te reicht. »Sagst du mir et­was über den In­halt?«

»Nein.«

Va­le­rie er­hebt sich. Der schma­le Rock ih­res är­mel­lo­sen Lei­nen­klei­des lässt nur die Fes­seln se­hen. Beim Ge­hen öff­net er sich bis zu den Kni­en. Vik­tor er­hebt sich eben­falls. Sie ist be­reits an der Tür, als er sie er­reicht.

»Lies es durch«, sagt sie, »und sag mir, was du da­von hältst.«

Vik­tor nimmt ihre Hand und haucht einen Kuss dar­auf.

»Mach ich. War schön dich zu se­hen.«

Va­le­rie ver­lässt das Ver­lags­haus. Sie geht lang­sam den Ha­r­ve­ste­hu­der­weg ent­lang. Zu ih­rer Lin­ken glit­zert die Als­ter im Son­nen­licht. Se­gel­boo­te.

Eine Post­kar­te, denkt sie, biegt in die Als­ter­chaus­see ein, über­quert den Mit­tel­weg und läuft bis zur Hal­ler­stra­ße. Die Gär­ten und Häu­ser nimmt sie kaum wahr. Am U-Bahn­hof gibt sie auf. Die neu­en Riem­chen­san­da­len drü­cken und sind nicht halb so be­quem, wie sie aus­se­hen.

»Paul­sen­platz«, ächzt sie, wirft sich in die Pols­ter des Ta­xis und löst die Riem­chen an ih­ren Fü­ßen.

»Bleibt es da­bei?« Der Ta­xi­fah­rer grinst.

»Ver­spro­chen«, sagt sie.

Den Nach­mit­tag ver­bringt sie auf dem Bal­kon. Die Pflan­zen duf­ten und glän­zen vor Näs­se. Sie träumt von ei­nem küh­len Glas Wein, ei­nem Stück Käse am Abend nur mit ih­rer Kat­ze. Aber sie ist mit Ruth ver­ab­re­det.

Va­le­rie trifft ihre Freun­din in der wei­ten Hal­le, in der auch die Le­sung vor ei­ni­gen Ta­gen statt­ge­fun­den hat. Ruth hat Kar­ten für ein afri­ka­ni­sches Tanz­the­a­ter in der Fa­brik. Tanz in­ter­es­siert sie nicht, sie geht ih­rer Freun­din zu­lie­be mit. Ruths Arm­rei­fen klir­ren, wenn sie ihr Glas zum Mund führt. Sie ste­hen an der The­ke, wo man in der Pau­se oder nach der Vor­füh­rung ein Glas Wein oder Pro­sec­co trin­ken kann.

»Er­war­test du je­man­den?« Ruth sieht sich um.

»Nein. Wie kommst du dar­auf?«

»Weil du mich den gan­zen Abend über noch nicht an­ge­se­hen hast. Statt­des­sen hast du die­sen su­chen­den Blick.«

Va­le­rie hat tat­säch­lich an ihn ge­dacht. Viel­leicht kommt er ja öf­ter hier­her?

Sie spürt eine leich­te Wär­me auf den Wan­gen und be­schließt, die hal­be Wahr­heit zu er­zäh­len. Dann denkt sie, dass es über­haupt kei­ne Wahr­heit gibt, kei­ne hal­be und auch kei­ne gan­ze. Un­wil­lig über sich selbst schüt­telt sie den Kopf.

»Also was ist?« Ruth lässt nicht lo­cker.

»Gar nichts. Ich habe bei der Le­sung neu­lich hier einen Mann ge­se­hen.«

»Aha.« Ruths Brau­en fah­ren in­ter­es­siert in die Höhe. Arm­rei­fen und Ket­ten klin­geln bei je­der Be­we­gung.

Sie sieht aus, als habe sie sich für die­sen Abend mit bun­ten Per­len und Rei­fen folk­lo­ris­tisch auf­ge­peppt, aber es steht ihr gut. Ruth kann al­les tra­gen, und sie ist un­be­streit­bar sexy. Kein Mann, der nicht einen Blick ris­ki­ert, denkt Va­le­rie.

Sie sieht an ih­rem ei­ge­nen schlich­ten schwa­r­zen Kleid hin­ab. Dazu trägt sie eine lan­ge schma­le Sil­ber­ket­te und rote Pumps. An ihr klin­gelt nichts. Sie lä­chelt. Ruth sen­det Si­gna­le an ihre Um­ge­bung: Hey Leu­te, hier spielt die Mu­sik. Und das tut sie mit Er­folg.

»Er war etwa zwei Jah­re alt«, sagt Va­le­rie jetzt »und saß auf dem Schoß sei­nes Va­ters. Ich neh­me je­den­falls an, dass es sich um den Va­ter han­del­te. Kei­ne Ah­nung, wir ha­ben nicht mit­ein­an­der ge­spro­chen.«

Sie weiß nicht, war­um sie Ruth ver­schweigt, dass sie doch mit­ein­an­der ge­spro­chen ha­ben. Es ist nicht wich­tig, denkt sie. War­um kann sie sich dann an je­des Wort er­in­nern? Adam und Ben.

Ruth, denkt sie, hat nicht be­son­ders vie­le Freun­de, aber gan­ze Ru­del von Be­kann­ten. Sie weiß nicht mehr, wie oft ihre Freun­din heu­te schon ge­grüßt wor­den ist. Ruth kennt Gott und die Welt, weiß aber ihr Pri­vat­le­ben sehr sorg­fäl­tig zu schüt­zen. Al­ler­dings kann sie mit Ge­füh­len bes­ser um­ge­hen als sie selbst.

Va­le­rie fällt plötz­lich ein, dass sie ihre Ko­lum­ne für eine Zeit­schrift nicht län­ger auf­schie­ben kann. Die Re­dak­ti­on braucht ih­ren Text mor­gen, und sie hat noch nicht ein­mal da­mit an­ge­fan­gen. Aus­ge­rech­net über Ge­füh­le soll sie schrei­ben.

»Ich muss ge­hen.«

In Ge­dan­ken ist sie schon bei der Ar­beit, die vor ihr liegt. Va­le­rie lässt sich von Ruth in den Arm neh­men, eine Kör­per­lich­keit, die sie nur we­ni­gen er­laubt. Die­se künst­li­che Herz­lich­keit hat ihr nie ge­fal­len.

5 Juli

Adam stu­diert alte Re­zep­te. In der Nacht, wenn Ben fest schläft, sitzt er über sei­nen Bü­chern. Sein kost­bars­ter Be­sitz ist ein ab­ge­grif­fe­nes schwa­r­zes Büch­lein mit der schlich­ten Auf­schrift Gift-Buch. Kein ge­druck­tes Buch, son­dern eine Klad­de, hand­ge­schrie­ben von 1534. Er liest: Step­pen­rau­te, Toll­kir­sche, Queck­sil­ber, Gift­pil­ze, Gei­fer und Gal­le von Gift­tie­ren. An Be­täu­bungs­mit­teln (me­di­ci­naestu­pe­fac­to­riae) nennt der Ver­fas­ser: Bil­sen­kraut, Al­rau­ne, Opi­um, Gift­lat­tich und Mohn; die­se tö­ten nur bei Über­do­sie­rung. Sehr be­ru­hi­gend, denkt er.

Adam schaut auf, als Bel­la ein lei­ses Knur­ren von sich gibt. In den Ju­li­näch­ten wird es nicht wirk­lich dun­kel. Adam legt sein Heft zur Sei­te und tritt ans ge­öff­ne­te Fens­ter. Viel­leicht ein Fuchs oder ein an­de­res Tier, das sich an sei­nem Haus vor­bei­s­tiehlt. Bel­la sieht auf­merk­sam zu ihm auf.

Ist da ein Schat­ten, eine ver­stoh­le­ne Be­we­gung? Eine Wei­le bleibt er noch am Fens­ter ste­hen, aber nichts rührt sich.

»Da ist nichts, Bel­la«, sagt er.

Die Hün­din trot­tet zu­rück zum Tisch und lässt sich seuf­zend auf den küh­len Stein­bo­den fal­len. Adam nimmt eine an­ge­bro­che­ne Fla­sche Gavi aus dem Kühl­schrank, schenkt sich ein Glas ein und geht da­mit an den Kü­chen­tisch. Er setzt die Kopf­hö­rer auf und lauscht dem un­fass­bar sü­ßen So­pran der Sän­ge­rin: »Por­gi Amor … Hör mein Flehn, o Gott der Lie­be …«

Er denkt an die Frau ohne Na­men. Sie hat sich in sei­ne See­le ge­brannt. Im­mer wie­der hört er sie lei­se la­chen. Sieht ih­ren for­schen­den Blick.

Seit er Ben bei sich hat, ist Adam oft al­lein. Es über­rascht ihn, wie sehr ihm die­ses Le­ben ge­fällt. Sein Han­dy leuch­tet auf. Chris­ti­na! Auf dem Bild­schirm er­scheint ihr Ge­sicht. Das Foto hat er selbst ge­macht. Sie lacht ihn an, ihr lan­ges Haar flat­tert im Wind und ver­schwimmt im glei­ßen­den Gelb des Raps­fel­des im Hin­ter­grund. Er hat sie nicht ver­ges­sen, sie passt nur nicht mehr in sein Le­ben. Kei­ne Frau der Welt hält einen Mann aus, auf des­sen Hüf­te oder Schul­tern über Wo­chen ein klei­nes Kind hockt. Das hat sie ihm bei ih­rer letz­ten Be­geg­nung sehr deut­lich ge­macht. Er setzt die Kopf­hö­rer ab und nimmt den An­ruf an.

»Adam, bist du das?« Ihre Zun­ge stol­pert.

Sie ist be­trun­ken, denkt er. »Chris­ti­na.«

»Ich will dich wie­der­se­hen.«

Er denkt an die letz­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen. »Ich glau­be, das ist kei­ne gute Idee.«

»Aber ich ver­mis­se dich.«

Die­ses an­de­re Ge­sicht schiebt sich über das Chris­ti­nas, nicht so jung, aber fas­zi­nie­rend. Das Ge­sicht ei­ner Frau, die so prä­sent ist wie kei­ne, die er kennt. Er hört sie lei­se la­chen, die Na­men­lo­se. Ihr glän­zen­des Haar. Sein Puls be­schleu­nigt sich.

»Adam, bist du noch dran?«

»Was?«

»Ich könn­te mor­gen zu dir raus­fah­ren. Lass uns re­den.«

Er gibt nach. Dann legt er auf. Es ist fair, denkt er, mit ihr zu re­den.

Adam starrt auf das Han­dy. Ei­gent­lich weiß er, dass es nichts mehr zu sa­gen gibt. Als er auf­schaut, steht Ben in der ge­öff­ne­ten Kü­chen­tür.

Adam nimmt den Jun­gen auf den Arm und geht mit ihm zum Fens­ter. Sie se­hen bei­de hin­aus auf die Ap­fel­wie­sen. Ein durch­sich­ti­ger Schlei­er aus Dunst liegt über al­lem. Die frü­hen Äp­fel sind reif.

»Mor­gen pflü­cken wir Äp­fel, Ben.«

Der Jun­ge nickt ver­stän­dig.

»Und jetzt ge­hen wir bei­de schla­fen.«

Adam legt Ben in das alt­mo­di­sche Dop­pel­bett, in dem sei­ne El­tern schon ge­schla­fen ha­ben. Als er ins Bett kriecht, spürt er Bens tas­ten­de Hand auf sei­nem Ge­sicht. »Ich bin da, mein Klei­ner.«

Gleich dar­auf hört er Bens ru­hi­ge Atem­zü­ge.

Auf dem Die­len­bo­den lei­ses Kla­cken von Bel­las Kral­len. Ein Mann, ein Jun­ge und ein klei­ner Hund. Mit den Ge­dan­ken an die Ar­beit mor­gen schläft er ein.

Das Rat­tern des Trak­tors weckt Adam in der Frü­he. Er hält di­rekt vor der Haus­tür.

Das muss Han­nah sein. Han­nah ist Hin­nerks Toch­ter. Sie ist neun­zehn. Ein hüb­sches, kräf­ti­ges Mäd­chen, das nie weit über die Marsch hin­aus­ge­kom­men ist. Sie ist ei­gen­wil­lig und wiss­be­gie­rig. Ihr Va­ter hält sie für schwer er­zieh­bar. Seit dem Tod der Mut­ter ver­sorgt sie ih­ren Va­ter und hilft Adam bei der Ern­te. Hin­nerk ist ihm dank­bar, dass er sei­ne Toch­ter be­schäf­tigt. Han­nah kennt sich aus mit Pflan­zen und weiß, wie man Äp­fel pflückt, ohne den Baum zu be­schä­di­gen. Al­ler­dings ist ihm ihre An­häng­lich­keit manch­mal zu viel.

Lei­se steht er auf. Ben schläft zu­sam­men­ge­rollt wie ein Wel­pe. Adam steigt in sei­ne Ho­sen und läuft ba­r­fuß zur Tür.

Han­nah schenkt ihm ein strah­len­des Lä­cheln. Der Wind zerrt an ih­rem wei­ten Blau­mann und reißt ihr fast das Tuch vom Kopf. »Moin, Adam.«

»Moin, Han­nah.«

Er hebt den Kopf. Wei­ße Som­mer­wol­ken zie­hen schnell über den Him­mel. »Wenn wir Glück ha­ben, hält das Wet­ter.« Adam be­grüßt auch die bei­den Män­ner, die vom Trak­tor sprin­gen.

»Piet, Jan.«

»Moin.«

»Fangt auf der hin­te­ren Wie­se an und nehmt den Hän­ger aus der Scheu­ne. Ich bin in ei­ner hal­b­en Stun­de bei euch.«

Ben wird gleich auf­wa­chen. Adam geht in die Kü­che, setzt Kaf­fee­was­ser auf und nimmt Jo­ghurt und Milch aus dem Kühl­schrank. Da­nach schält er einen Ap­fel und schnei­det ihn in klei­ne Stü­cke. Die Milch füllt er in einen Be­cher. Jo­ghurt und Ap­fel­stü­cke mischt er in ei­ner Schüs­sel und gibt eine Hand­voll Ro­si­nen dar­über.

»Dada!« Ben nennt ihn sel­ten beim Na­men.

Adam lä­chelt. Dada klingt wie eine Mi­schung aus Papa und Adam.

»Moin, Klei­ner. Aus­ge­schla­fen?« Er nimmt Ben auf den Arm und geht mit ihm ins Ba­de­zim­mer. Die Win­del ist seit ein paar Ta­gen tro­cken. Er wagt nicht, es an­zu­spre­chen, des­halb fragt er ihn: »Möch­test du eine neue Win­del ha­ben?«

»Ne!« Ben schüt­telt ener­gisch den Kopf.

»Gut.« Adam nimmt Bens win­zi­ge Latz­ho­sen und hilft ihm beim An­zie­hen.

»Ap­fel flü­cken?« Ben schaut ihn fra­gend an. Er hat es nicht ver­ges­sen, und er hat ge­spro­chen.

Das wird ein gu­ter Tag, denkt Adam.

»Erst früh­stü­cken, dann ar­bei­ten«, sagt er.

6 Juli

Va­le­rie be­zahlt den Chauf­feur und steigt aus dem Taxi. Die Front des Hau­ses ist er­leuch­tet. Sie fragt sich, ob das nö­tig ist und be­ant­wor­te­te sich die Fra­ge gleich selbst mit ei­nem kla­ren Nein. Es gibt ein Wort da­für: Licht­ver­schmut­zung.

Die Mau­ern der bei­den ers­ten Eta­gen sind cre­me­fa­r­ben ge­stri­chen und noch ohne Graf­fi­ti, die obe­ren drei leuch­ten in ei­nem kräf­ti­gen Rot, nur un­ter­bro­chen von wei­ßen Fens­ter­rah­men. Es ist ein schö­nes al­tes Miets­haus. Vier klei­ne Bal­ko­ne, schwa­rz um­git­tert, hän­gen an der Vor­der­sei­te. Ihr Bal­kon, sie hat Glück, hängt an der Sei­te. Von dort hat sie den Blick auf einen be­grün­ten Platz mit ho­hen Bäu­men, ei­nem Kin­der­spiel­platz und den Ein­gang. Sie bleibt einen Mo­ment auf dem ge­pflas­ter­ten Vor­platz ste­hen. Nur zwei Woh­nun­gen sind noch be­leuch­tet. Ihre ei­ge­ne im zwei­ten Stock und die dar­un­ter, in der das jun­ge, ewig strei­ten­de Paar wohnt.

Sie kramt in ih­rer Ta­sche nach dem Hau­s­tür­sch­lüs­sel, schließt auf und tas­tet nach dem Licht­schal­ter. Dann hört sie Lärm. Sie bleibt ste­hen und lauscht. Se­kun­den spä­ter wird über ihr eine Tür auf­ge­ris­sen. Der jun­ge Mann aus der Woh­nung im ers­ten Stock rennt, ohne sie wahr­zu­neh­men, an ihr vor­bei. Lang­sam steigt Va­le­rie die Stu­fen hin­auf. Wie­der bleibt sie ste­hen. Sie hört die Frau schluch­zen. Soll sie fra­gen, ob sie Hil­fe braucht? Va­le­rie seufzt. Sie möch­te nichts als einen ru­hi­gen Abend, den sie nut­zen will, um ih­ren Ar­ti­kel zu schrei­ben. Ihr Fin­ger legt sich ganz ohne ih­ren Wil­len auf die Klin­gel ne­ben dem Schild, das ver­kün­det, dass hier Klaus We­ber und Kat­ja Vo­gel woh­nen. We­ber­vo­gel, Va­le­rie lä­chelt. Das Schluch­zen im In­nern der Woh­nung wird lei­ser und ver­stummt. Eine be­leg­te Frau­en­stim­me fragt: »Wer ist da?«

»Va­le­rie. Ich woh­ne im zwei­ten Stock. Brau­chen Sie Hil­fe?«

»Nein, ge­hen Sie!«

»Gute Nacht.« Va­le­rie kommt sich däm­lich vor. Aber sie kann ver­ste­hen, dass Kat­ja sich in dem Zu­stand, in dem sie sich zwei­fel­los ge­ra­de be­fin­det, nicht zei­gen will. Als sie ihre Woh­nungs­tür öff­net, streicht die Kat­ze maun­zend um ihre Bei­ne.

»Ich hab dich zu lan­ge al­lei­ne ge­las­sen.«

Ma­gnus hat der Kat­ze kei­nen Na­men ge­ge­ben. Sie tauft sie auch nicht. Sie denkt an Früh­stück bei Tif­fa­ny. In dem Film wird der Ka­ter auch nur Ka­ter ge­ru­fen.

Va­le­rie öff­ne­te eine Fla­sche Ba­ro­lo. Sie gießt sich ein Glas ein und setzt sich an ih­ren Schreib­tisch. Der ers­te sam­ti­ge Schluck. Auch der Wein, wie die Kat­ze, Ma­gnus‹ Hin­ter­las­sen­schaft. Die Kat­ze liegt auf dem Tisch ne­ben dem Lap­top und starrt sie aus ih­ren schö­nen Au­gen an. Va­le­rie denkt an den wun­der­ba­ren ers­ten Abend mit Ma­gnus. Er hat sie über­rascht, da­mals. Nicht dar­an den­ken, be­fiehlt sie sich. Mach dei­nen Ar­ti­kel fer­tig. Sie öff­net den Com­pu­ter, rich­tet die Sei­te ein und schreibt.

Wo wir füh­len, was wir füh­len.

Im­mer mehr Neu­ro­wis­sen­schaft­ler be­schäf­ti­gen sich in­zwi­schen mit der Fra­ge, wo sich der Sitz der Emo­ti­o­nen be­fin­det, und glau­ben Sie mir, die Ant­wort ist nicht das Herz. Herz, Ge­fühl und Lie­be ha­ben nichts mit­ein­an­der zu tun. Wenn Ihr Herz schnel­ler klopft, wenn Sie den Liebs­ten se­hen, heißt das nicht, dass die Lie­be dort ih­ren Platz hat, Ihr Herz klopft auch schnel­ler, wenn Ih­nen die S-Bahn vor der Nase weg­fährt oder Sie in Hun­de­schei­ße tre­ten. Schuld an Ih­ren Ge­füh­len sind be­stimm­te Hirn­re­gi­o­nen, nichts wei­ter …

Man könn­te so­gar sa­gen, dass die Lie­be ih­ren Sitz in der Nie­re hat …

Als Fol­ge des Ver­liebt­seins tre­ten alle an­de­ren Ge­füh­le in den Hin­ter­grund. Die Stim­mung ist ge­ho­ben, eine Viel­zahl von Bo­ten­stof­fen ver­än­dern ihre Kon­zen­tra­ti­on in Ge­hirn und Kör­per. So er­höht das wäh­rend der Ver­liebt­heit im Ne­ben­nier­en­mark aus­ge­schüt­te­te Ad­re­na­lin di­rekt den Puls. Herz­klop­fen …

Hier wan­dern ihre Ge­dan­ken doch wie­der zu Ma­gnus:

Wild­tau­be mit Ho­nig und Pap­par­del­le an