Eine fast perfekte Ehe - Ursula Tintelnot - E-Book

Eine fast perfekte Ehe E-Book

Ursula Tintelnot

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Beschreibung

Er war ein kluger Mann, der sein Leben im Griff hatte. Ein Wissenschaftler, der an Universitäten lehrte und Vorträge im In - und Ausland hielt, ein Intellektueller, der beim Anblick eines Mädchens am Strand seinen Verstand ablegte. Sie drehte sich lachend um sich selbst. Eine anmutige Meerfrau, dem Wasser entstiegen, um als Mensch eine unsterbliche Seele zu erlangen? Er dachte an die Märchen seiner Kindheit. Als das Mädchen im blauen Kleid den Strand verließ, stolperte er durch den Sand zum Parkplatz, setzte sich in seinen Oldtimer und folgte ihr.

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Eine fast per­fek­te Ehe

Ro­man

 

 

Im­pres­s­um

Co­py­right:            © 2024 Ur­su­la Tin­tel­not

Um­schlags­fo­to:    © pexels-eli­na sa­zo­no­va

Co­ver­ge­stal­tung: © Me­du­sa Ma­bu­se

Buch­satz:               © Me­du­sa Ma­bu­se

 

 

Alle Rech­te, ein­schließ­lich das des voll­stän­di­gen oder aus­zugs­wei­sen Nachrucks in jeg­li­cher Form, sind vor­be­hal­ten.

 

 

 

 

Er war ein kluger Mann, der sein Leben im Griff hatte. Ein Wissenschaftler, der an Universitäten lehrte und Vorträge im In - und Ausland hielt, ein Intellektueller, der beim Anblick eines Mädchens am Strand seinen Verstand ablegte.

Sie drehte sich lachend um sich selbst. Eine anmutige Meerfrau, dem Wasser entstiegen, um als Mensch eine unsterbliche Seele zu erlangen?

Er dachte an die Märchen seiner Kindheit. Als das Mädchen im blauen Kleid den Strand verließ, stolperte er durch den Sand zum Parkplatz, setzte sich in seinen Oldtimer und folgte ihr.

 

In­halts­ver­zeich­nis

 

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Per­so­nen

Über die Au­to­rin und wei­te­re Wer­ke

 

1

Alle dach­ten, dass sie für­ein­an­der ge­schaf­fen wa­ren, Nora und Paul. Viel­leicht war das auch so. Viel­leicht wäre es im­mer so ge­blie­ben, wenn nicht Johan an je­nem Nach­mit­tag auf­ge­taucht wäre. Ei­nem Spät­nach­mit­tag, der schon kipp­te in einen Früh­a­bend aus Blau und Gold und dem Plät­schern des Was­sers an ei­nem Strand mit hel­lem Sand.

Nora trug ein wa­den­lan­ges, blau­es Trä­ger­kleid. Sie lach­te, wäh­rend sie ver­geb­lich ver­such­te, ih­ren Rock zu bän­di­gen, den der Wind nach oben blies. Schlan­ke, ge­bräun­te Bei­ne. Paul lä­chel­te.

Johan starr­te das Mäd­chen an, des­sen Na­men er noch nicht kann­te. Das Bild des Mäd­chens, eher das ei­ner jun­gen Frau, wür­de er für im­mer be­wah­ren.

No­ras Ze­hen gru­ben sich mit je­dem Schritt in den war­men Sand. Sie ge­noss das Ge­fühl von Sand­pa­pier un­ter ih­ren nack­ten Soh­len. Grü­ne Au­gen, wei­zen­blon­des Haar. Jetzt dreh­te sie den Kopf, als habe sie Jo­hans Blick ge­spürt.

No­ras Haar war noch im­mer blond. Sie wisch­te sich eine Sträh­ne aus der Stirn. Stim­men klan­gen aus dem Gar­ten zu ihr. War es das wert ge­we­sen?

In ih­ren Ge­dan­ken tauch­te seit lan­gem plötz­lich Paul auf und der Nach­mit­tag vor Jah­ren am Strand. Sie spür­te sei­nen Arm auf ih­ren Schul­tern, spür­te die Wär­me der un­ter­ge­hen­den Son­ne auf ih­rer Haut. Paul, ihre ers­te Lie­be. Ein fran­zö­si­scher Sti­pen­di­at, den sie auf der Mu­sik­hoch­schu­le ken­nen­ge­lernt hat­te. Ein schlan­ker, schlak­si­ger Jun­ge, ein paar Jah­re äl­ter als sie.

»Paul.«

Ein Name, so ver­traut, so weich.

»Was hast du ge­sagt?«

Nora zuck­te zu­sam­men. Sie schloss ih­ren Lap­top. Johan stand in der Tür.

Er sah gut aus. Sein dich­tes Haar, wie im­mer eine Spur zu lang. Johan war ein schö­ner Mann in die­sem so­ge­nann­ten bes­ten Al­ter. Ei­nem Al­ter dach­te sie, in dem Frau­en un­sicht­bar wer­den. Nora fuhr sich mit der fla­chen Hand über die Stirn, als ob sie ihre Ge­dan­ken ver­scheu­chen woll­te.

Johan lehn­te am Tür­rah­men und sah sie fra­gend an. Nora ant­wor­te­te nicht. Sie fühl­te sich schul­dig, als habe sie et­was Ver­bo­te­nes ge­dacht oder ge­tan.

Die­se Ges­te kann­te er. Ihre schma­len Pi­a­nis­tin­nen­fin­ger, die über ihre Stirn fuh­ren, als wol­le sie sich rei­ni­gen. Wo­von, frag­te er sich. Ob ihr be­wusst war, was sie da tat? Es war eine mäd­chen­haf­te, kind­li­che Ges­te. Eine Frau, die sich schmink­te, wür­de nie­mals so et­was tun.

Aber Nora muss­te sich nicht schmin­ken. Ihre Lip­pen wa­ren voll und rot, ihre Wim­pern lang und dun­kel. Sie war An­fang vier­zig, sah aber zehn Jah­re jün­ger aus. Sie wehr­te sich ent­schlos­sen ge­gen das Al­ter, ohne es je zum The­ma zu ma­chen. Sie lief, schwamm und fuhr Fahr­rad.

Johan blieb noch einen Mo­ment lang ste­hen, ob­wohl er wuss­te, dass sie nicht ant­wor­ten wür­de. Er wuss­te, dass er sie da­mit är­ger­te. Sein Blick glitt über un­or­dent­li­che Schall­plat­ten­sta­pel und die No­ten auf dem glän­zend schwa­r­zen Flü­gel in der Mit­te des gro­ßen Rau­mes. Ne­ben dem Lap­top ein Glas Rot­wein, die Fla­sche stand da­ne­ben.

~~~

Nora sah lan­ge auf die Tür, nach­dem er ge­gan­gen war. Dann nahm sie das Glas und trank.

Er pro­vo­zier­te al­lein durch sei­ne An­we­sen­heit. Ei­ner Ges­te, ei­nem Blick. Sie kann­te ihn zu gut. Sie ver­stand, was er nicht sag­te: Du könn­test mal auf­räu­men.

Sie hör­te die Kühl­schrank­tür auf und wie­der zu­klap­pen, lei­ses Klir­ren. Nora sah auf ihre Arm­band­uhr. Eine Re­ver­so Clas­sic, mit schwa­r­zem Al­li­ga­tor­le­der­arm­band, die ei­gent­lich Johan ge­hör­te.

Um die­se Zeit mach­te ihr Mann sich sei­nen ers­ten Drink.

Sie stand auf und ver­ließ ihr Mu­sik­zim­mer. Ih­ren Wein nahm sie mit.

Johan und sie wa­ren sich nur ähn­lich in ih­rer Un­ähn­lich­keit. Johan trank kei­nen Wein. Den Wei­ßen moch­te er nicht, der Rote be­kam ihm nicht.

Nora lä­chel­te. Wäh­rend sie den Flur ent­lang­ging, streif­te ihr Blick die Bü­cher, die in lan­gen Re­ga­len an den Wän­den stan­den. In Zwei­er­rei­hen. Johan lieb­te sei­ne Bü­cher. Sie las haupt­säch­lich elek­tro­nisch. Ihm feh­le das Hap­ti­sche, der Duft von be­druck­tem Pa­pier, be­haup­te­te er. Das Ta­blet, das sie be­vor­zug­te, sei un­sinn­lich. Wie er, muss­te ein Blin­der durchs Le­ben ge­hen. Durch tas­ten­des Be­grei­fen.

Es war Mai. Die Woh­nung war noch kühl, ob­wohl drau­ßen schon som­mer­li­che Tem­pe­ra­tu­ren herrsch­ten. Nora hat­te früh am Mor­gen auf dem Markt neue Kar­tof­feln und Spar­gel be­sorgt. Für sich selbst den Grü­nen, für Johan den Wei­ßen.

Er stand am ge­öff­ne­ten Kü­chen­fens­ter. Ein Glas in der Hand. Nora stell­te sich ne­ben ihn. Johan leg­te den Arm um sie, ohne sie an­zu­se­hen. Eine ver­trau­te, selbst­ver­ständ­li­che Ges­te. Kurz lehn­te sie den Kopf an sei­ne Schul­ter. Er roch gut nach ei­ner Mi­schung aus Ta­bak, sei­nem her­ben Ra­sier­was­ser und ei­ner Spur Gin.

Sie be­müh­te sich, den Gar­ten mit sei­nen Au­gen zu se­hen. Den blü­hen­den Flie­der, Blau­mei­sen, Am­seln und tau­meln­de Pfaue­n­au­gen. Gol­de­ne Son­nen­krin­gel auf dem Ra­sen. Pau­las schwa­r­zer Ka­ter lag dö­send un­ter der He­cke.

Sie dach­te an die letz­ten Zei­len aus Käst­ners Ge­dicht über den Mai: »Die Zeit ver­sinkt in ei­ner Flie­der­wel­le. Oh, gäb es doch ein Jahr aus lau­ter Mai!«

»Wor­an denkst du, Johan?«

»Gibt es einen Un­ter­schied zwi­schen Ge­wohn­heit und Ver­traut­heit?«

»Wie bit­te?« Nora starr­te ihn ver­blüfft an.

»Du hast ge­fragt, wor­an ich den­ke. Also, was meinst du, gibt es einen Un­ter­schied?«

»In wel­chem Zu­sam­men­hang?«

»Ist das wich­tig?«

»Na klar! Ich gehe in eine be­stimm­te Knei­pe, weil mir die Um­ge­bung ver­traut ist, und be­stel­le aus Ge­wohn­heit Cur­ry­wurst.«

»Du denkst so pro­fan, so ge­wöhn­lich.«

»Das ist, wie du wis­sen müss­test, das­sel­be.«

»Das Glei­che.« Johan lä­chel­te süf­fi­sant.

Nora stöhn­te. Johan tat nichts ohne Grund. Miss­trau­isch be­trach­te­te sie ih­ren Mann. Sie hat­te nicht vor, sich die­sen herr­li­chen Abend durch eine frucht­lo­se Dis­kus­si­on ver­der­ben zu las­sen.

»Das ist eine Fra­ge, die du dei­nen Stu­den­ten im ers­ten Se­mes­ter stel­len soll­test. Viel­leicht ge­ben sie dir we­ni­ger un­ter­ir­di­sche Ant­wor­ten.«

Sie über­leg­te, wie sie sich ei­ner Dis­kus­si­on, von der sie noch im­mer nicht wuss­te, was sie bezwe­cken soll­te, ent­zie­hen konn­te, ohne es wie eine Flucht aus­se­hen zu las­sen. Gar nicht, ent­schied sie. Johan war zu klug, er wür­de es be­mer­ken.

Sie strich ihre Lo­cken hin­ter die Oh­ren und trat an den ge­wal­ti­gen Kühl­schrank. Johan hat­te ihn aus­ge­sucht. Ein Kühl­schrank, aus­ge­stat­tet mit künst­li­cher In­tel­li­genz, von der sie fürch­te­te, dass sie die Ihre weit über­traf. Er lie­fer­te auf Wunsch run­de Eis­wür­fel und mach­te auf ei­nem Dis­play Menü­vor­schlä­ge pas­send zu sei­nem In­halt. Au­ßer­dem mach­te er sie auf­merk­sam, wenn be­stimm­te Nah­rungs­mit­tel zur Nei­ge gin­gen. Viel­leicht könn­te sie ihn ei­nes Ta­ges dazu brin­gen, nach dem Ko­chen die Kü­che auf­zu­räu­men? Sie hat­te ihn Ein­stein ge­tauft. Soll­te Johan doch mit ihm dis­ku­tie­ren.

Sie öff­ne­te Ein­stein und hob den in ein feuch­tes Tuch ge­wi­ckel­ten Spar­gel aus der Ge­mü­se­scha­le.

Johan sah ihr da­bei zu. Er frag­te sich, ob sie wirk­lich nicht be­merkt hat­te, dass sie Pauls Na­men laut aus­ge­spro­chen hat­te? War­um hät­te sie es leug­nen sol­len?

»Ihr esst Spar­gel?«

Nora fuhr her­um und schloss kurz die Au­gen. Zwei Tee­n­a­ger, of­fen­sicht­lich dem Müll­con­tai­ner ei­ner Alt­klei­der­samm­lung ent­sprun­gen, in Kla­mot­ten, die nur noch als Lum­pen taug­ten. Jeans, die sich mit Mühe auf den Hüf­ten hiel­ten, die spit­zen Knie frei­ga­ben, halb von den Schul­tern ge­rutsch­te über­gro­ße Shirts, de­ren Fa­r­ben zwi­schen Schlamm und ver­wa­sche­nem Grün chan­gier­ten.

Sie un­ter­drück­te einen hys­te­ri­schen Lach­an­fall. Ihre Toch­ter war bild­schön und wuss­te die­se Tat­sa­che bei­na­he mit Er­folg zu ver­ber­gen. Auch der Jun­ge hin­ter ihr hät­te gut aus­se­hen kön­nen. Aber Tat­toos be­deck­ten sei­ne Un­ter­ar­me. Sie ver­ab­scheu­te Tat­toos. Nora lieb­te ihre Toch­ter und fürch­te­te sie zu­gleich.

»War­um soll­ten wir kei­nen Spar­gel es­sen?«

Pau­la wür­dig­te Nora kei­nes Bli­ckes. Sie wand­te sich an ih­ren Va­ter. »Papa, sag du doch mal was!«

»Ich mag Spar­gel.«

»Dar­um geht’s nicht.« Pau­la ging hin­über ans Fens­ter zu Johan.

»Wor­um dann?«

Der Rest der Un­ter­hal­tung ging un­ter im Rau­schen des Was­sers. Nora wusch den grü­nen Spar­gel. Sie konn­te sich den­ken, was Pau­la ver­such­te, ih­rem Va­ter zu er­klä­ren: Nur un­ter­be­zahl­te Spar­gel­ste­cher aus ost­eu­ro­pä­i­schen Län­dern, Ru­mä­ni­en, Po­len, Un­garn wür­den das wei­ße Gold für die ver­wöhn­ten Deut­schen aus der Erde gra­ben.

Der Jun­ge stand schein­bar un­be­tei­ligt an der Tür, den Blick un­ver­wandt auf sein Smart­pho­ne ge­rich­tet. Nur sei­ne Dau­men be­weg­ten sich mit atem­be­rau­ben­der Ge­schwin­dig­keit.

»Ol­lie und ich ge­hen in mein Zim­mer.«

Johan und Nora wech­sel­ten einen Blick.

»Esst ihr nicht mit?«

»Spar­gel mit Schin­ken?« Pau­las Stim­me klang ei­sig. »Wer Schwein isst, ist ein Schwein. Nein, dan­ke.«

Pau­la und Ol­lie ver­lie­ßen die Kü­che.

Sie hat­ten al­lei­ne ge­ges­sen. Pau­la und Ol­lie wa­ren in Pau­las Zim­mer ge­blie­ben. Ir­gend­wann war der jun­ge Mann ge­gan­gen.

Johan er­kann­te die Er­leich­te­rung auf No­ras Zü­gen, als sich hin­ter dem Jun­gen die Haus­tür schloss. Gleich­zei­tig herrsch­te Stil­le. Pau­la hat­te den dröh­nen­den Bass ab­ge­dreht.

»Er geht ja we­nigs­tens zu zi­vi­ler Zeit”, sag­te Johan mit Blick auf sei­ne Uhr an No­ras Hand­ge­lenk. »Ich wür­de mei­ne Uhr üb­ri­gens ger­ne mal wie­der sel­ber tra­gen.«

Nora lä­chel­te.

»Du kennst den Spruch: Was deins ist, ist auch meins, was meins ist, geht dich nichts an?«

»Du be­sitzt die Mo­ral ei­ner Els­ter, mei­ne Lie­be.«

Er blick­te auf ih­ren Lap­top. Er lag ge­schlos­sen auf der an­de­ren Sei­te des Ti­sches.

»Kommst du wei­ter mit dei­nem Text?«

Nora er­hob sich, nahm zwei Tel­ler und die Spar­gel­scha­le vom Tisch und sta­pel­te al­les in der Spü­le. Kam sie wei­ter mit dem Text? Im Mo­ment be­schäf­tig­ten sie ganz an­de­re Din­ge. Sie öff­ne­te den Kühl­schrank und stell­te die rhe­to­ri­sche Fra­ge: »Nach­tisch?«

Johan folg­te ih­ren ele­gan­ten Be­we­gun­gen. Nora war schlank, mit lan­gen Glie­dern und ei­nem hin­rei­ßen­den Hin­tern. Sei­ne Frau ge­fiel ihm auch nach zwan­zig Ehe­jah­ren noch. Auf sei­ne Fra­ge nach dem Text, den sie be­a­r­bei­te­te, hat­te sie nicht geant­wor­tet, statt­des­sen nahm sie drei hohe Glä­ser aus dem Kühl­schrank, den sie Ein­stein ge­tauft hat­te. Er lä­chel­te. Nora konn­te ihn im­mer wie­der zum La­chen brin­gen.

Sie stell­te zwei der drei Glä­ser vor ihn hin. Schich­ten aus Man­del­kek­sen, Mas­ca­r­pone­cre­me und dun­kel­ro­ten Erd­bee­ren.

»Du könn­test dei­ne Toch­ter dazu über­re­den, den Nach­tisch zu pro­bie­ren.«

Da war wie­der die­se Di­stanz zu spü­ren. Sie hat­te ‚dei­ne Toch­ter’ ge­sagt, nicht un­se­re. Pau­la dach­te er, war im­mer mehr sei­ne Toch­ter ge­we­sen.

Nora zog ih­ren Lap­top zu sich her­an, setz­te sich wie­der und öff­ne­te ihn. Sie schick­te die ers­ten be­a­r­bei­te­ten Ka­pi­tel an ih­ren Ver­lag.

Of­fen­sicht­lich war das ge­mein­sa­me Abend­es­sen be­en­det.

Johan ging mit dem Glas in der Hand zum Zim­mer sei­ner Toch­ter. Er klopf­te und trat ein. Kein ty­pi­sches Mäd­chen­zim­mer ging ihm durch den Kopf.

In der Mit­te des Zim­mers hing ein schwa­r­zer Box­sack an Ei­sen­ket­ten von der De­cke. Die Wän­de wa­ren ge­pflas­tert mit Pla­ka­ten, die für ver­schie­de­ne Kampf­s­port­ar­ten wa­r­ben. An ei­nem Ha­ken eine Gi­tar­re. In ei­ner Ecke ne­ben dem Fens­ter stand eine schwa­rz­graue Golfta­sche mit der Auf­schrift Mi­zu­no. Da­ne­ben ein Ba­se­ball­schlä­ger.

Kei­ne ro­sa­fa­r­be­nen Ac­ces­soires. Sei­ne Toch­ter be­saß kei­nen Sinn für Ro­man­tik, dar­in äh­nel­te sie Nora. Der Ro­man­ti­ker in der Fa­mi­lie war er. Pau­la lag bäuch­lings auf ih­rem Bett, die Fin­ger flo­gen über ihr Ta­blet. Sie hob den Kopf. Un­ter dunk­len Lo­cken, die bis über ihre Au­gen fie­len, sah sie zu ihm hoch.

Als sie er­kann­te, was er mit­ge­bracht hat­te, rich­te­te sie sich auf und lä­chel­te. »Mein Lieb­lings­nach­tisch. Dan­ke, Papa.«

»Be­dank dich bei dei­ner Mut­ter.«

Pau­las Mie­ne ver­fins­ter­te sich kurz bei die­ser Auf­for­de­rung. Johan wog den Ba­se­ball­schlä­ger in der Hand.

»Wozu brauchst du den? Du spielst doch nicht Base­ball, oder hab ich was ver­passt?«

»Der ge­hört Ol­lie. Ich über­le­ge noch.« Pau­la löf­fel­te sich Mas­ca­r­pone­cre­me in den Mund. »Golf ist so un­cool. Mei­nen Freun­den kann ich da­mit nicht kom­men. Die spie­len Fuß­ball oder Base­ball. Golf ist für die Rei­chen.«

Johan un­ter­drück­te ein Lä­cheln. Ihre Ver­su­che, wie ein Mäd­chen aus ar­men Ver­hält­nis­sen aus­zu­se­hen, gin­gen ins Lee­re. Trotz der aus­ge­latsch­ten, un­ge­schnür­ten Turn­schu­he, der fa­rb­lo­sen T-Shirts und zer­ris­se­ner Jeans, konn­te sie nicht ver­ber­gen, wo­her sie wirk­lich kam.

Sie kam nicht aus den so­ge­nann­ten Un­ter­schich­ten. Ihre Hal­tung war bei­na­he her­aus­for­dernd, sie wirk­te zu selbst­be­wusst.

Johan nahm sei­ner Toch­ter das Glas aus der Hand und ging zur Tür. Be­vor er das Zim­mer ver­ließ, dreh­te er sich noch ein­mal um. »Es scha­det nichts«, sag­te er, »ein biss­chen freund­li­cher zu dei­ner Mut­ter zu sein.«

Er schloss die Tür hin­ter sich, be­vor sie et­was er­wi­dern konn­te. Nora saß ge­nau­so, wie er sie ver­las­sen hat­te, am Tisch. Sie blick­te auf den Bild­schirm ih­res Lap­tops.

»Du musst nicht bei Pau­la um Freund­lich­keit für mich bit­ten«, sag­te sie, ohne den Kopf zu he­ben. »Ich kann ganz gut für mich sel­ber sor­gen. Im Üb­ri­gen bringst du sie nur noch ge­gen dich auf.” Jetzt sah sie ihn an. «Wie ich sehe, hat sie die Erd­bee­ren groß­zü­gig an­ge­nom­men.«

Sie hat­te sei­nen Ap­pell an Pau­la, et­was freund­li­cher zu ihr zu sein, ge­hört.

Johan stell­te das lee­re Glas ins Spül­be­cken und setz­te sich wie­der. »Mir wäre es lie­ber, eine et­was ent­spann­te­re At­mo­sphä­re im Haus zu ha­ben.«

»Dann soll­test du ihr das ge­nau­so sa­gen und nicht mich in den Fo­kus rü­cken. Ich fürch­te, ich bin mit ei­nem emo­ti­o­na­len Feig­ling ver­hei­ra­tet.«

Nora schenk­te ih­rem Mann ein spöt­ti­sches Lä­cheln. Johan war Pro­fes­sor für Psych­ia­trie. In ih­ren Au­gen wuss­te er al­les über das Ge­hirn ei­nes an­de­ren Men­schen, aber nichts über sein ei­ge­nes. Sein Ge­biet war die For­schung über Ent­wick­lungs­stö­run­gen des Ge­hirns. Gleich­zei­tig be­schäf­tig­te er sich mit künst­li­cher In­tel­li­genz. Er war be­un­ru­hi­gend klug und hat­te in zwei Fä­chern pro­mo­viert.

Johan war zwan­zig Jah­re äl­ter als sie. Sie war be­ein­druckt von ihm, gleich­zei­tig ge­schmei­chelt von dem In­ter­es­se, das er ihr ent­ge­gen­brach­te. Sie hat­te sich kop­f­über in ihn ver­liebt. Und Paul? Paul war aus ih­rem Le­ben ver­schwun­den, als habe es ihn nie ge­ge­ben. Nora hat­te bald den Kon­takt zu ih­rer al­ten Cli­que ver­lo­ren.

Er ging wie selbst­ver­ständ­lich da­von aus, dass sei­ne Freun­de auch ihre Freun­de wür­den. In der ers­ten Pha­se der Ver­liebt­heit hat­te sie es ge­nos­sen, dass er sie stolz prä­sen­tier­te. Sie fand sich in ei­nem in­tel­lek­tu­el­len Kreis wie­der, der sie freund­lich auf­nahm, ihr aber auch Furcht ein­flößte. Der ein­zi­ge Teil ih­res Le­bens, den sie mit­nahm in ihr neu­es Le­ben, war ihre Mu­sik.

Mit drei Jah­ren hat­te sie be­gon­nen, Kla­vier zu spie­len. Heu­te spiel­te sie auf ho­hem Ni­veau. In den ers­ten Jah­ren ih­rer Ehe konn­te sie rei­sen, um in ver­schie­de­nen Städ­ten Kon­zer­te zu ge­ben. Johan hat­te das ak­zep­tiert. Zu sei­ner gro­ßen Ent­täu­schung war sie nicht schwan­ger ge­wor­den. Als sie end­lich nach acht Jah­ren Zwil­lin­ge er­war­te­te, war sei­ne Freu­de gren­zen­los.

~~~

Jo­hans Fin­ger dreh­ten das Glas, in dem Erd­bee­ren und Mas­ca­r­po­ne eine köst­li­che Liai­son ein­gin­gen. No­ras Haar war dicht und so wei­zen­blond wie da­mals, als er sie zum ers­ten Mal ge­se­hen hat­te. Ihr Tanz am Strand, ihr La­chen, wenn der Wind den Saum ih­res blau­en Klei­des pack­te. Und der schlak­si­ge Jun­ge, der einen Arm um ihre Schul­tern leg­te. Paul.

Johan frag­te sich, war­um er ihr ge­stat­tet hat­te, ihre Toch­ter Pau­la zu nen­nen. Er er­in­ner­te sich an ihre Hilf­lo­sig­keit, ihr Er­star­ren nach dem Tod des klei­nen Jun­gen. Johan hat­te ge­trau­ert, aber das Glück, eine Toch­ter zu ha­ben, war grö­ßer ge­we­sen als die Trau­er um ih­ren Zwil­ling. Und No­ras Hilf­lo­sig­keit, ver­mu­te­te er, war es ge­schul­det, dass er dem Na­men zu­stimmt hat­te. In der Zeit nach der Ge­burt der Kin­der konn­te er ihr nichts ab­schla­gen. Ihre Ver­zweif­lung war zu groß. Er fürch­te­te, dass sie dem tot­ge­bo­re­nen Sohn fol­gen könn­te.

In­zwi­schen hat­te sie sich einen Na­men ge­macht, nicht nur als Pi­a­nis­tin, auch als Über­set­ze­rin ei­nes Ju­gend­buch­ver­la­ges.

Nora klapp­te ih­ren Lap­top ent­schlos­sen zu. Heu­te konn­te sie sich nicht mehr auf den Text kon­zen­trie­ren. Sie er­hob sich und trat ans Fens­ter. Ihr blieb noch Zeit. Das neue Buch ei­nes viel­ver­spre­chen­den jun­gen Au­tors soll­te erst im Herbst er­schei­nen.

Der Gar­ten ver­sank in der Däm­me­rung, nur der wei­ße Flie­der leuch­te­te hell.

»Komm ins Bett.« Johan stand hin­ter ihr, be­rühr­te flüch­tig ihre Schul­ter.

Ich bin noch nicht müde, dach­te Nora. »Spä­ter.«

Als sie nach Pau­las Ge­burt nicht mehr viel rei­sen konn­te, war sie dem Ruf der Mu­sik­hoch­schu­le ge­folgt und hat­te be­gon­nen, dort zu ar­bei­ten. Als Do­zen­tin un­ter­rich­te­te sie Kla­vier. Sie be­müh­te sich, den Stu­den­ten Selbst­be­wusst­sein und Kre­a­ti­vi­tät na­he­zu­brin­gen. Es war über­ra­schend, wie über­aus be­frie­di­gend die­se Ar­beit für sie wur­de. Sie war glü­ck­lich, wenn sie sah, wie sich ihre Schü­ler zu künst­le­ri­schen Per­sön­lich­kei­ten ent­wi­ckel­ten. Ihre öf­fent­li­chen Auf­trit­te als Pi­a­nis­tin wa­ren sel­te­ner ge­wor­den, und sie fehl­ten ihr mehr, als sie sich ein­ge­stand.

Pau­la brauch­te sie jetzt nicht mehr. Sie war im­mer mehr Jo­hans Toch­ter ge­we­sen. Ein un­ab­hän­gi­ges We­sen, ei­gen­sin­nig und selbst­be­stimmt. Trot­zig und zu Wut­aus­brü­chen nei­gend.

Un­ter der Tür zum Zim­mer ih­rer Toch­ter sah sie noch Licht. Sie klopf­te. Pau­las Ge­sicht ver­schloss sich, als sie er­kann­te, dass es dies­mal nicht Johan war, der ein­trat. Sie lag auf ih­rem Bett, das un­ver­meid­li­che Han­dy in der Hand und sah Nora un­ge­dul­dig an. »Was willst du?«

»Ich will dir gute Nacht sa­gen. Stört es dich, wenn ich noch Kla­vier spie­le?«

»Dein Ge­klim­pe­re hat mich noch nie ge­stört.«

Wenn das ein Kom­pli­ment sein soll­te, so war es gut ver­steckt. Pau­las Blick galt schon wie­der ih­rem Bild­schirm.

»Schlaf gut«, sag­te Nora und schloss die Tür.

Vor ei­nem Jahr hat­te Pau­la sich ge­wei­gert, wei­ter­hin Kla­vier zu spie­len und sich eine Gi­tar­re ge­wünscht. Nora be­dau­er­te das, aber we­der ihr noch Johan ge­lang es, sie um­zu­stim­men. Ihre Toch­ter war mu­si­ka­lisch und es war scha­de, dach­te sie, ihr Ta­lent so un­ge­nutzt zu las­sen. An­de­rer­seits war es ei­ni­ger­ma­ßen ar­ro­gant zu glau­ben, dass man sein Ta­lent nur auf dem Kla­vier und nur in der klas­si­schen Mu­sik ent­wi­ckeln konn­te. In die­ser Hin­sicht wa­ren Johan und sie ein­mal ei­ner Mei­nung.

Sie lä­chel­te. So ganz hat­te Ihre Toch­ter das Kla­vier­spiel nicht auf­ge­ge­ben. Sie spiel­te heim­lich, wenn Nora nicht da war, und glaub­te of­fen­bar, dass sie nicht be­merk­te, wenn ein No­ten­blatt an­ders lag oder der Flü­gel of­fen­stand.

Sie zog sich in ihr Zim­mer zu­rück, um noch ein­mal die Mail, die sie vor ei­ner Wo­che er­reicht hat­te, zu le­sen. Die Ein­la­dung kam von ei­nem der größ­ten Kul­tur­zen­tren der Welt. Dem Sid­ney Ope­ra Hou­se.

Noch nie hat­te Nora in ei­nem so be­rühm­ten Haus ge­spielt. Vor Pau­las Ge­burt war sie oft auf­ge­tre­ten, aber nie au­ßer­halb Eu­r­o­pas. Sie frag­te sich, ob sie ei­ner sol­chen An­for­de­rung noch ge­wach­sen war. Der Prä­si­dent der Mu­sik­hoch­schu­le hat­te ihr die Ent­schei­dung, die Ein­la­dung an­zu­neh­men, über­las­sen, al­ler­dings auch kei­nen Zwei­fel dar­an ge­las­sen, dass er er­war­te­te, dass sie zu­stimm­te.

Sie frag­te sich, war­um man sie und nicht eine der an­de­ren re­nom­mier­ten Pro­fes­so­rin­nen ge­be­ten hat­te. Syd­ney, dach­te sie ver­träumt. Kein Wett­be­werb un­ter ver­schie­de­nen Mu­sik­hoch­schu­len, son­dern eine Vor­stel­lung der Schu­len mit Se­mi­na­ren über Ent­wick­lungs­pro­zes­se. Es gin­ge um neue Ide­en und kre­a­ti­ve Stra­te­gi­en. Die Büh­ne der Zu­kunft muss­te eine Spiel­flä­che für neue Büh­nen­for­ma­te zwi­schen Mu­sik und The­a­ter wer­den. Da sie auch an Po­di­ums­dis­kus­si­o­nen teil­neh­men soll­te, wür­de sie gut vor­be­rei­tet sein müs­sen, um ihre Schu­le im bes­ten Licht er­schei­nen zu las­sen. Be­glei­tet wür­de sie von ei­nem Di­ri­gen­ten, ei­nem Kol­le­gen und zwei Leu­ten aus dem Vor­stand.

Mor­gen, dach­te sie, wür­de sie mit Johan über die be­vor­ste­hen­de Rei­se spre­chen. Er war nie be­geis­tert ge­we­sen, wenn sie ver­rei­sen muss­te. Aber ihr Ent­schluss stand fest. So eine Ge­le­gen­heit wür­de sich ihr nicht noch ein­mal bie­ten. In drei Mo­na­ten. Ende Sep­tem­ber, An­fang Ok­to­ber in Aus­tra­li­en. Sie frag­te sich, wie sie in­ner­halb von drei Mo­na­ten die Vor­be­rei­tun­gen schaf­fen soll­te.

Mit die­sen Ge­dan­ken ging sie eine Stun­de spä­ter ins Bett. Als Nora am nächs­ten Mor­gen er­wach­te, war sie al­lein. Johan und Pau­la hat­ten ohne sie ge­früh­stückt.

Auf nack­ten Fü­ßen ging sie in die Kü­che. Die sil­ber­ne Kaf­fee­ma­schi­ne aus Edel­me­tall röhr­te viel zu laut in ih­ren emp­find­li­chen Oh­ren. Aber sie mach­te einen wun­der­ba­ren Es­pres­so. Auch sie eine An­schaf­fung ih­res Man­nes. Mit ei­nem dop­pel­ten Es­pres­so ging sie zu­rück in ihr Bett und griff nach dem Han­dy. Sie führ­te drei Ge­sprä­che. Zwei da­von mit der Mu­sik­hoch­schu­le, das letz­te Ge­spräch mit Johan.

 

2

Johan leg­te das Han­dy auf sei­nen Schreib­tisch zu­rück. Es war ihm nicht leicht ge­fal­len, Freu­de über die­se Rei­se zu heu­cheln. Nora hat­te glü­ck­lich ge­klun­gen, auf­ge­regt und glü­ck­lich. Aber auch ihre Sor­ge dar­über, wie er die­se Nach­richt auf­neh­men wür­de, war zu spü­ren ge­we­sen. Er war froh, dass sie sein Ge­sicht nicht se­hen konn­te, als er von ih­ren Plä­nen hör­te. Nein, be­geis­tert war er nicht.

Jo­hans Fin­ger trom­mel­ten un­ru­hig auf der Schreib­tisch­plat­te. In den kom­men­den Mo­na­ten wür­de er sie kaum zu Ge­sicht be­kom­men. Im Ge­gen­satz zu ihm schien die­se Tat­sa­che Nora nicht zu be­un­ru­hi­gen. Na­tür­lich nicht, die Vor­be­rei­tun­gen wür­den sei­ne Frau voll­kom­men in An­spruch neh­men.

Emp­fand er so et­was wie Neid? Es ge­lang ihm ein­fach nicht, sich wirk­lich für sie zu freu­en.

Nora schien noch al­les vor sich zu ha­ben. Sie war so viel jün­ger als er und hat­te an­ders als er noch so viel Zu­kunft. Sie war ehr­gei­zig und wür­de sich ein Schei­tern nie ver­zei­hen.

Er starr­te auf sei­nen Bild­schirm und frag­te sich, wie das Wet­ter im Sep­tem­ber in Sid­ney sein moch­te. Dann riss er sich zu­sam­men. Mit sech­zig war er schließ­lich kein al­ter Mann. Er hat­te noch eine gan­ze Men­ge vor, war ein ge­frag­ter Wis­sen­schaft­ler. End­lich wür­de er dazu kom­men, sein neu­es Buch zu voll­en­den.

Johan klapp­te den Lap­top zu. Er konn­te sich nicht kon­zen­trie­ren und ge­stand sich ein, dass No­ras Nach­richt ihm mehr zu­setz­te, als er zu­nächst ge­dacht hat­te. Er muss­te raus aus ge­schlos­se­nen Räu­men.

Der Park war zau­ber­haft. Blü­hen­der, süß duf­ten­der Flie­der säum­te die Pfa­de, es roch nach Gras und ein klein we­nig nach Ab­gas­en. Von wei­tem sah er, dass sei­ne Lieb­lings­bank frei war. Tau­ben gurr­ten. Ge­dämpf­te Ver­kehrs­ge­räu­sche mach­ten die Ruhe noch voll­kom­me­ner.

Johan ließ sich auf ei­ner Bank nie­der, streck­te die Bei­ne aus und sah auf die Uhr. Bis zum nächs­ten Ter­min hat­te er noch eine Stun­de. Er stöhn­te auf. Noch nie hat­te Johan sich so alt ge­fühlt. Was wür­de ein zu­fäl­lig vor­bei­ge­hen­der Spa­zier­gän­ger den­ken, wenn er ihn hier sit­zen sah?

»Darf ich?«

Johan schreck­te auf. Er war so in Ge­dan­ken, dass er sie nicht hat­te kom­men hö­ren. Er brumm­te nur, was eben­so gut eine Zu­stim­mung wie das Ge­gen­teil be­deu­ten konn­te.

Sie nahm es als Zu­stim­mung und setz­te sich.

Schö­ne Bei­ne, dach­te er nach ei­nem Sei­ten­blick. Sie trug zu ei­nem wa­den­lan­gen, ge­schlitz­ten Jeans­rock ein gel­bes T-Shirt und Snea­kers in der glei­chen Fa­r­be. Ihr Ge­sicht hielt sie von ihm ab­ge­wandt in die Son­ne. Das dunk­le Haar war zu ei­nem Zopf ge­floch­ten. Er dach­te an sei­ne Toch­ter, die in an­de­ren Zei­ten, als sie noch sein klei­nes Mäd­chen war, das Haar eben­so ge­tra­gen hat­te. Ein Bau­ern­zopf.

Er blin­zel­te in die Son­ne, hör­te Kies knir­schen und sah auf die Uhr. Johan er­hob sich und sah das gel­be T-Shirt ein Stück weit vor sich den glei­chen Weg zum In­sti­tut ein­schla­gen, den er jetzt nahm.

Johan öff­ne­te die Tür zur Ein­gangs­hal­le, lief über mar­mor­ne Stu­fen und be­trat den Se­mi­nar­raum. Die weit ge­öff­ne­ten Fens­ter mil­der­ten den Ge­ruch nach Des­in­fek­ti­ons­mit­tel und Fa­r­be. Ir­gend­je­man­dem hat­te es ge­fal­len, die Wän­de bis in Schulter­hö­he bei­ge zu strei­chen. Der Rest der Wän­de und die hohe De­cke je­doch blie­ben weiß. Johan leg­te sei­ne Pa­pie­re ab.

»Gu­ten Tag, mei­ne Her­ren«, sag­te er, »… mei­ne Dame.«

Die jun­ge Frau im gel­ben T-Shirt be­lohn­te ihn mit ei­nem klei­nen spöt­ti­schen Lä­cheln.

Au­ßer ihr wa­ren nur männ­li­che Stu­den­ten im Raum. Sei­ne Vor­le­sun­gen über KI wur­den vor­wie­gend von Män­nern be­sucht. Er hat­te sich oft ge­fragt, wor­an das Des­in­ter­es­se der Frau­en an künst­li­cher In­tel­li­genz lie­gen moch­te. Lag es dar­an, dass KI im All­ge­mei­nen als ob­jek­tiv, ra­ti­o­nal und fak­ten­ba­siert cha­rak­te­ri­siert wur­de? Johan kann­te Frau­en, die ge­nau die­se Ei­gen­schaf­ten be­sa­ßen. War­um also die­se Zu­rück­hal­tung? Er wür­de Nora fra­gen.

Johan wand­te sich dem heu­ti­gen The­ma zu und der Fra­ge: ›Wie viel Ge­fühl steckt in künst­li­cher In­tel­li­genz?‹

~~~

Un­ter dem kal­ten Strahl der Du­sche dach­te Nora an das Ge­spräch mit ih­rem Mann zu­rück. Johan hat­te ihr Glück ge­wünscht.

»Das ist eine wun­der­ba­re Neu­ig­keit.«

»Ja, ich glau­be, so ein An­ge­bot be­kom­me ich nicht noch ein­mal.«

Sie konn­te nicht ver­ber­gen, wie glü­ck­lich und auf­ge­regt sie war. Auch ohne ihm ins Ge­sicht zu se­hen, spür­te Nora eine ge­wis­se Zu­rück­hal­tung in sei­ner Stim­me. Johan hat­te es nie ge­mocht, wenn sie reis­te. Und auch jetzt konn­te er nicht ganz ver­ber­gen, dass es ihm nicht ge­fiel, sie los­zu­las­sen.

»Wie lan­ge wirst du weg sein?

»Vier­zehn Tage. Viel­leicht auch län­ger.«

»Hast du schon mit Pau­la ge­spro­chen?«

Sie frag­te sich, ob die Fra­ge ein Ver­such war, sie zu er­pres­sen. War sie eine schlech­te Mut­ter, wenn sie ihre Toch­ter mit dem Va­ter al­lei­ne ließ? Nora frag­te sich, ob sie ih­rer Toch­ter zu­lie­be auf Sid­ney ver­zich­ten wür­de.

»Dei­ne Toch­ter wird hoch­zu­frie­den sein, mich eine Wei­le nicht zu se­hen. Ihr wer­det sehr gut ohne mich zu­recht­kom­men.«

Er schwieg, und sie er­klär­te, was sie dort er­war­te­te. Sie sprach von dem Kon­zert, das noch ein­stu­diert wer­den muss­te, dass die drei Mo­na­te bis zu ih­rer Rei­se viel zu kurz für die Vor­be­rei­tun­gen sei­en.

Sie soll­te ihre Hoch­schu­le re­prä­sen­tie­ren, durf­te sich kei­ne Feh­ler er­lau­ben, und sie wür­de auf die­se Rei­se auch Pau­la zu­lie­be nicht ver­zich­ten.

Nora blät­ter­te in den No­ten, die auf dem hoch­glän­zen­den Flü­gel vor ihr la­gen. Sie muss­te sich für ein Kla­vier­kon­zert ent­schei­den. Viel­leicht wäre es bes­ser, das mit Musa zu be­spre­chen, ei­nem sehr be­gab­ten Schü­ler im ach­ten Se­mes­ter. Er stand kurz vor dem Ba­che­lor of Mu­sic und hat­te schon ei­ni­ge Male an Wett­be­wer­ben teil­ge­nom­men.

Ein kur­z­es Te­le­fonat sag­te ihr, dass er im Haus war.

»Musa, hast du Zeit?«

Als es kurz dar­auf klopf­te, hob sie den Kopf. Der jun­ge Ägyp­ter be­trat ihr Sprech­zim­mer. Wie im­mer war sie be­tört von sei­ner Schön­heit, den gol­de­nen Au­gen, dem dunk­len Teint. Sie frag­te sich, auf wel­chem Weg die­ser jun­ge Mann, er konn­te nicht äl­ter als fünf­und­zwan­zig sein, zu dem Wunsch ge­kom­men war, Di­ri­gent zu wer­den. Sie lä­chel­te.

»Setz dich, Musa.«

Nora war nicht über­rascht, als Musa Cho­pin vor­schlug. Nach ei­nem ein­stün­di­gen Ge­spräch mit ihm hat­ten sie sich auf ei­nes der Pi­a­no­kon­zer­te ge­ei­nigt.

Nach­dem er ge­gan­gen war, sah sie noch eine Wei­le auf die ge­schlos­se­ne Tür. Ein jun­ger Mann mit er­staun­li­chem Selbst­be­wusst­sein, das du in dei­nem Be­ruf auch brau­chen wirst, dach­te sie. Wenn er sich gut mach­te, wo­von sie aus­ging, wür­de Sid­ney viel­leicht ein Sprung­brett für ihn sein.

~~~

Johan be­trat die Kü­che in dem Mo­ment, in dem der Herd sich aus­schal­te­te und eine ca. drei­ßig Zen­ti­me­ter hohe Schub­la­de ausstieß. Er lä­chel­te. Ob­wohl Nora die­se in­tel­li­gen­ten Ge­rä­te hass­te, hat­te sie doch ge­lernt, sie zu be­nut­zen. Die Zeit­schalt­uhr hat­te nicht nur den Herd ab­ge­schal­tet, son­dern auch die La­de­flä­che mit ih­rem In­halt in Be­we­gung ge­setzt. Eine gold­brau­ne Qui­che ent­fal­te­te ih­ren köst­li­chen Duft.

We­der Nora noch Pau­la wa­ren zu Hau­se. Eine SMS in­for­mier­te ihn, dass Nora noch zu ar­bei­ten habe und sei­ne Toch­ter bei ih­rer Freun­din Emi­ly über­nach­te­te. Johan nahm sich ein Bier aus dem Kühl­schrank und setz­te sich mit der Qui­che an den Kü­chen­tisch. Er dach­te nach. Die nächs­ten Aben­de wür­den ähn­lich ver­lau­fen. Nora war mit ih­ren Vor­be­rei­tun­gen be­schäf­tigt, sei­ne Toch­ter war oh­ne­hin so we­nig wie mög­lich zu Hau­se. Sein Han­dy brumm­te.

»Johan, hast du einen Mo­ment für mich?«

Su­san hielt sich nie mit ei­ner Be­grü­ßung auf. Sie war die Frau ei­nes Kol­le­gen und Pau­las Pa­ten­tan­te. Eine zier­li­che Frau mit ei­nem brau­nen Pa­gen­schnitt. Sie moch­te ei­ni­ge Jah­re äl­ter als Nora sein. At­trak­tiv und quir­lig. Nie­mand wür­de auf die Idee kom­men, dass sie aus­ge­rech­net im Män­ner­voll­zug ar­bei­te­te. Er frag­te sich, ob sei­ne Ge­dan­ken noch po­li­tisch kor­rekt wä­ren. Manch­mal bat sie ihn um sei­ne Mei­nung zu ei­nem ih­rer Fäl­le.

»Kann ich kurz rü­ber­kom­men?«

Sie wohn­te nur fünf Mi­nu­ten ent­fernt.

»Wenn du dich be­eilst«, sag­te er, »ist die Qui­che noch warm.

»Bis gleich.«

Sie hat­te auf­ge­legt. Kaum stand der zwei­te Tel­ler auf dem Tisch, klin­gel­te es. Johan be­grüß­te Su­san mit ei­nem Wan­gen­kuss.

Sie aßen schwei­gend, bis Su­san be­gann: »Er ist sich sei­ner Schuld be­wusst und zeigt Reue. Al­ler­dings be­sitzt er kei­ne er­kenn­ba­re Selbst­si­cher­heit. Er wird sich im­mer wie­der be­ein­flus­sen las­sen.«

Es ging um einen noch jun­gen Mann und des­sen Un­ter­brin­gung, ent­we­der im of­fe­nen oder ge­schlos­se­nen Voll­zug?

Johan un­ter­hielt sich ger­ne mit Su­san. Sie war klug und an­re­gend. In­zwi­schen stand eine fast ge­leer­te Fla­sche Wein auf dem Tisch. Die Qui­che war ver­zehrt. Bei­de sa­hen auf, als Nora plötz­lich in der Kü­che stand. Sie hat­ten sie nicht kom­men hö­ren.

»Nora.« Johan er­hob sich und küss­te sie.

Auch Su­san stand auf. Sie um­arm­te Nora. »Wir ha­ben uns fest­ge­quatscht«, sag­te sie und lach­te.

No­ras Blick rich­te­te sich auf die Wein­fla­sche. Seit wann trinkst du Wein, Johan? Aber sie sprach nicht aus, was sie dach­te. Sie lä­chel­te, nahm ein Glas aus ei­nem Re­gal, schenk­te sich den Rest des Wei­nes ein und setz­te sich.

Sie frag­te sich nicht zum ers­ten Mal, was Su­san dazu trieb, ihre Tage in ei­nem Ge­fäng­nis zu ver­brin­gen. Ei­ner Ein­rich­tung, in der es nur Män­ner gab, Schwer­ver­bre­cher. War es die Lust ei­ner Frau, Macht über Ker­le zu be­sit­zen, sie hin und her zu schie­ben, wie sie es woll­te. Sie konn­te in Gren­zen die Zu­kunft ei­nes sol­chen Man­nes be­stim­men. Nora be­nei­de­te sie nicht um die­sen Job. Letzt­lich war Su­san ge­nau­so ge­fan­gen wie ihre Schütz­lin­ge. Sie ver­brach­te Stun­den hin­ter Git­tern in ei­ner Straf­an­stalt.

Nora gähn­te. »Es war ein lan­ger Tag. Ich bin müde.«

Sie warf Johan und Su­san eine Kuss­hand zu und ver­ließ die Kü­che. Im Ba­de­zim­mer be­trach­te­te sie sich im Spie­gel. Sie sah wirk­lich müde aus. Nora warf einen Blick auf das Dis­play ih­res Han­dys. Drei­und­zwan­zig Uhr drei­ßig.

Als Johan spä­ter das ge­mein­sa­me Schlaf­zim­mer be­trat, schlief Nora. Sie lag auf der Sei­te, eine Wan­ge in der Hand­flä­che. Wie ein vom Spie­len er­schöpf­tes Kind.

Un­will­kür­lich frag­te er sich, in wel­cher Hal­tung die Frau im gel­ben T-Shirt schlief.

Kaum hat­te Johan nach der Vor­le­sung sein Büro be­tre­ten, stand sie in der halb ge­öff­ne­ten Tür und sah ihn fra­gend an.

»Ha­ben Sie einen Mo­ment Zeit für mich?«

Johan ließ die Tür sei­nes Bü­ros ge­wöhn­lich of­fen ste­hen. Für die Stu­den­ten ein Zei­chen, dass er an­sprech­bar war.

»Na­tür­lich. Set­zen Sie sich.«

Johan lehn­te sich zu­rück, be­trach­te­te sie und war­te­te. Ihm ge­fiel, was er sah. Sie war nicht mehr ganz so jung wie sei­ne Stu­den­ten. An­fang drei­ßig?

Sie hat­te sich ihm vor­ge­stellt als Cha­r­lott ir­gend­was. An ih­ren Nach­na­men er­in­ner­te er sich nicht. Sie war auf der Su­che nach ei­nem Dok­tor­va­ter, der be­reit war, ihre Dis­ser­ta­ti­on zu be­glei­ten. Der Kol­le­ge, der sie bis­her be­treut hat­te, war bei ei­nem Au­to­un­fall ums Le­ben ge­kom­men. Johan wuss­te da­von.

»Ja«, sag­te er, »ein Ver­lust für uns alle.« »Konn­ten Sie an Ih­rer Uni­ver­si­tät nie­man­den fin­den?«

Er frag­te sich, war­um sie ihre Uni, ihre Stadt und oben­drein ihr Land ver­las­sen hat­te, um einen Nach­fol­ger zu fin­den. Als er in ihre Au­gen sah, wuss­te er es. Ihm wur­de klar, dass der Kol­le­ge et­was mehr als ihr Pro­fes­sor ge­we­sen sein muss­te.

»Ent­schul­di­gen Sie, es geht mich nichts an.«

Sie hat­te ihre Un­ter­la­gen und den Ti­tel ih­rer Ar­beit da­ge­las­sen, nach­dem er zö­gernd zu­ge­sagt hat­te, sich ihre be­gon­ne­ne Dis­ser­ta­ti­on an­zu­se­hen. Sein Be­da­rf und sei­ne Ka­pa­zi­tät wa­ren mit den Dok­to­ran­den, die er be­reits be­treu­te, mehr als ge­deckt. Dass er das Zu­ge­ständ­nis ge­macht hat­te, war ein­zig dem Um­stand zu ver­dan­ken, dass ihr The­ma ihn ge­nau­so in­ter­es­siert wie sie. Wie be­ur­teil­te eine Frau die Fra­ge: In­wie­weit sich männ­lich do­mi­nier­te KI auch in männ­li­chen Denk­mus­tern nie­der­schlug oder um­ge­kehrt, männ­li­che Denk­mus­ter die KI kor­rum­pier­ten.

Sie sag­te: »So­lan­ge sich nur so we­ni­ge Frau­en für die­ses The­ma er­wär­men, wird sich nichts än­dern, und wir wer­den in der künst­li­chen In­tel­li­genz ein neu­es Pa­tri­a­r­chat wie­der­fin­den.« Sie füg­te lä­chelnd hin­zu: »Ich will das ver­hin­dern.«

Be­vor er ein­sch­lief, ge­stand er sich ein, dass nicht nur sein In­ter­es­se an ih­rer Ar­beit der wah­re Grund für sei­ne Zu­sa­ge war. Er woll­te sie wie­der­se­hen.

 

3

Nora stand mit blo­ßen Fü­ßen vor dem Herd und schwenk­te eine Pfan­ne. Es duf­te­te nach But­ter und Kaf­fee. Fens­ter und Tü­ren wa­ren zum Gar­ten hin weit ge­öff­net. Der Au­gust war wie das gan­ze Jahr zu heiß und zu tro­cken. Johan trat hin­ter Nora und küss­te sie auf den Nacken.

»Gut ge­schla­fen?«

»Ver­dammt!« Die hei­ße Crêpe fiel ihr auf den blo­ßen Fuß. Nora schrie auf. »Musst du mich so er­schre­cken?«

»Ent­schul­di­ge.«

Johan ging in die Hocke, hob die Crêpe auf und leg­te sie auf einen Tel­ler. Dann er­griff er ein Hand­tuch, hielt es un­ter kal­tes Was­ser und wi­ckel­te es Nora um den Fuß.

Pau­la stand in der Tür und be­ob­ach­te­te ihre El­tern. Sie war be­reits an­ge­zo­gen und ver­zog an­ge­wi­dert das Ge­sicht.

»Igitt. Den esse ich nicht.«

Nora hum­pel­te zum Tisch und setz­te sich.

Johan nahm die Pfan­ne vom Herd, trug die fer­ti­gen Pfann­ku­chen zum Tisch und sag­te an sei­ne Toch­ter ge­wandt: »Ich wer­de die­se Crêpe mit gro­ßem Ver­gnü­gen es­sen.«

Pau­la ver­zog er­neut das Ge­sicht. »Als Er­satz für Sex?«

Nora frag­te sich, wie lan­ge sie Pau­las Be­neh­men noch hin­neh­men wür­de, ohne durch­zu­dre­hen.

»Pau­la«, hör­te sie die Stim­me ih­res Man­nes. »Dein Sta­tus als Pu­ber­tie­ren­de gibt dir nicht das Recht, dich schlecht zu be­neh­men.«

Pau­la er­hob sich und nahm den Rest ih­res Pfann­ku­chens vom Tel­ler, ohne sich um die Mar­me­la­de zu küm­mern, die auf ihr T-Shirt tropf­te. »Hab ich einen wun­den Punkt ge­trof­fen?«

Nora wuss­te nicht, was Pau­la von ih­rem und Jo­hans Le­ben als Paar mit­be­kam.

»Das hat ja wun­der­bar ge­klappt.«

»Was meinst du?«

»Dei­ne Zu­recht­wei­sung.«

Johan trank einen Schluck Kaf­fee. Er über­leg­te, ob er ein The­ma an­schnei­den soll­te, das ihm schon lan­ge auf der Zun­ge lag. Er wuss­te ge­nau, wann er und Nora zu­letzt Sex ge­habt hat­ten. Wuss­te sie es auch? War es ihr wich­tig? Wann war der rich­ti­ge Mo­ment, das The­ma an­zu­spre­chen? Gab es über­haupt einen rich­ti­gen Mo­ment?

»Sie ist halt in ei­nem schwie­ri­gen Al­ter.«

Nora sah ihn nach­denk­lich an. »Sind wir das nicht alle?«

Johan spür­te die leich­te Röte auf sei­nem Ge­sicht. Er fühl­te sich er­tappt. Nora be­sitzt kei­nen sieb­ten Sinn, be­ru­hig­te er sich. Und es ist nichts pas­siert, dach­te er bei­na­he trot­zig.

Flüch­tig er­schien vor sei­nem in­ne­ren Auge Cha­r­lott. Ihre Ar­beit in­ter­es­sier­te ihn, noch mehr die Ruhe und Be­stimmt­heit, mit der sie ihre An­sich­ten dar­leg­te. Selbst wenn in den Se­mi­na­ren hef­tig und er­staun­lich streit­süch­tig dis­ku­tiert wur­de, blieb sie ru­hig. Das Be­har­ren war ei­nes ih­rer auf­fäl­ligs­ten Merk­ma­le. Die jun­gen Män­ner in sei­nem Se­mi­nar strit­ten ganz un­be­küm­mert, bis ein klu­ger Ein­wurf von Cha­r­lott sie stopp­te.

»Was willst du da­mit sa­gen? Wir sind alle in ei­nem schwie­ri­gen Al­ter.«

»Die Fra­ge könn­test du dir selbst be­ant­wor­ten.«

Er frag­te sich, ob Nora nicht doch einen sieb­ten Sinn be­saß.

»Was ist denn in dei­nem Al­ter so be­son­ders schwie­rig?”

Johan schob sorg­fäl­tig sein Be­steck zu­sam­men. Nora sah ihm da­bei zu. Als er ih­ren Blick be­merk­te, un­ter­ließ er es, Ord­nung zu schaf­fen. Ihm wur­de be­wusst, dass die­se äu­ße­re Ord­nung dazu dien­te, sei­ne in­ne­re Un­ord­nung zu ver­ber­gen. Und er be­fürch­te­te, dass auch Nora das er­kann­te.

In den letz­ten Mo­na­ten wa­ren sie sich kaum be­geg­net. Nora hat­te mit ih­ren Pro­ben und der Vor­be­rei­tung der Rei­se nach Sid­ney zu tun, er mit den Stu­den­ten und de­ren ab­schlie­ßen­den Se­mes­ter­a­r­bei­ten. Dazu ka­men sei­ne Dok­to­ran­den. Wenn er schon schlief, kam sie erst nach Hau­se. Meist ging er schon aus dem Haus, wenn Nora noch schlief.

Johan er­hob sich. Für eine Aus­spra­che, be­schloss er, ist Zeit nach ih­rer Rei­se. Er schob sei­nen Tel­ler in den Ge­schirr­spü­ler, gab das Be­steck in den da­für vor­ge­se­he­nen Korb und ver­ließ die Kü­che. Sei­ne letz­te Fra­ge hat­te sie nicht be­ant­wor­tet. Er hät­te ger­ne ge­wusst, wel­che Schwie­rig­kei­ten ihr der­zei­ti­ges Al­ter ihr be­rei­te­te.

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Nora frag­te sich, ob Johan sich in den letz­ten Mo­na­ten ver­än­dert hat­te oder ob ihr Blick auf ihn ein an­de­rer war. Viel­leicht hat­te sie selbst sich ver­än­dert? Sie sah ihm nach, nach­dem sie ihn zur Tür ge­bracht und sich von ihm mit ei­nem Kuss ver­ab­schie­det hat­te. Jetzt war­te­te sie, dass er sich noch ein­mal zu ihr um­dreh­te. Aber das tat er nicht. Sie blieb, wo sie war, bis sie ihn nicht mehr se­hen konn­te. Ein schlan­ker, hoch­ge­wach­se­ner Mann, des­sen Al­ter schwer zu be­stim­men war. Sein dun­kel­blon­des Haar wur­de lang­sam grau.

Je­der Mensch wünsch­te sich einen si­che­ren Ort. Johan war für sie im­mer die­ser Ort ge­we­sen. Nora dusch­te lan­ge und kalt. Sie woll­te nicht nach­den­ken, je­den­falls nicht über ihre Ehe. Aber sie wuss­te, dass sie über ihre Be­ob­ach­tung mit Johan spre­chen muss­te.

Sie und er hat­ten im­mer über al­les mit­ein­an­der ge­spro­chen. Es gab nur ein ein­zi­ges The­ma, eine Aus­nah­me: Der Tod ih­res Soh­nes. Viel­leicht spür­te auch er eine Ver­än­de­rung. Aber da­für, dach­te sie, ist Zeit nach mei­ner Rei­se.

In drei Wo­chen wäre sie in Sid­ney. Die Or­ga­ni­sa­ti­on der Flü­ge, Pro­ben mit dem Or­ches­ter und Re­cher­chen hat­ten sie in den letz­ten Mo­na­ten so sehr in An­spruch ge­nom­men, dass ihre Rol­le als Ehe­frau und Mut­ter in den Hin­ter­grund ge­tre­ten war. Sie konn­te sich an kein Ge­spräch in den letz­ten Wo­chen mit Johan er­in­nern. Das ge­mein­sa­me Früh­stück heu­te war eine sel­te­ne Aus­nah­me.

Und das, dach­te sie, ist ja auch gründ­lich da­ne­ben ge­gan­gen. Wenn sie an Pau­la dach­te, tat sie das mit schlech­tem Ge­wis­sen. Sie wuss­te nicht, wie sie mit ih­rer Toch­ter um­ge­hen soll­te, konn­te sich nicht ein­füh­len in die Vier­zehn­jäh­ri­ge. Nora be­wun­der­te Johan, be­wun­der­te die Ruhe, mit der er auf Pau­la ein­ging. Das hat­te er im­mer bes­ser ge­macht als sie.

Nora rub­bel­te sich die Haa­re tro­cken, stieg in eine schwa­r­ze Lei­nen­ho­se und nahm ein wei­ßes T-Shirt aus dem Schrank. Heu­te Abend wür­de sie frü­her zu Hau­se sein, nahm sie sich vor. Viel­leicht könn­te sie Johan und Pau­la dazu be­we­gen, mit ihr zu ih­rem Lieb­lings­i­ta­lie­ner zu ge­hen. Die letz­te Mög­lich­keit, vor ih­rer Ab­rei­se noch ein­mal et­was ge­mein­sam zu un­ter­neh­men und das ver­un­g­lück­te Früh­stück ver­ges­sen zu ma­chen?

Spä­ter fuhr Nora durch flim­mern­de Hit­ze. Son­nen­fle­cken auf dem As­phalt. Vor dem Ein­gang des schnee­wei­ßen Ge­bäu­des der Hoch­schu­le schob sie ihr Fahr­rad zwi­schen die an­de­ren und schloss es ab.

Auf dem Weg zu ih­rem Zim­mer be­geg­ne­te sie ih­rem süd­ko­re­a­ni­schen Kol­le­gen Choi. Ein aus­ge­zeich­ne­ter Di­ri­gent. Der Name Choi, hat­te er ihr ein­mal lä­chelnd er­klärt, be­deu­te hoch­ge­wach­sen, im­po­sant. Er war klein, zier­lich und au­ßer­or­dent­lich höf­lich.

»Ich war si­cher eine gro­ße Ent­täu­schung für mei­ne El­tern«, hat­te er hin­zu­ge­fügt.

Mit ei­ner leich­ten Ver­beu­gung grüß­te er Nora. »Darf ich Sie fra­gen, wie sich mein jun­ger Kol­le­ge macht?”

Nora ver­beug­te sich eben­falls. »Sehr gut. Sie ha­ben her­vor­ra­gen­de Ar­beit ge­leis­tet.«

Choi sprach von sei­nen Schü­lern stets von Kol­le­gen. Aus­druck sei­ner Ach­tung?

Sie moch­te ihn sehr. Mit sei­nem Hang zur Selbst­iro­nie hat­te er ihr Herz er­obert. Da­von ab­ge­se­hen war er ein be­gna­de­ter Di­ri­gent und Päd­ago­ge.

»Ich wün­sche ihm viel Er­folg in Sid­ney.« Wie­der folg­te eine klei­ne Ver­beu­gung.

»Ich bin si­cher, dass er ein Er­folg wird. »Ihr ‚Kol­le­ge’ Musa«, jetzt lä­chel­te sie, »wird ganz be­stimmt Ein­druck ma­chen.«

Ein Blick auf die Uhr, noch eine Stun­de bis zur nächs­ten Un­ter­richts­stun­de. Nora schritt einen lan­gen Flur ent­lang und be­trat den Men­delsohn-Raum. Holz­pa­nee­le an den Wän­den, ein schön ge­mus­ter­ter Holz­fuß­bo­den, ein ho­hes Fens­ter mit Ju­gend­stil­mus­ter, da­vor ein glän­zend schwa­r­zer Flü­gel. Ihr liebs­ter Raum. Nur sie und die­ses wun­der­schö­ne In­stru­ment.

Nora er­stand auf dem Weg nach Hau­se einen üp­pi­gen Blu­men­s­trauß. Sie frag­te sich, war­um Johan ihr nie Blu­men schenk­te. Er war ein groß­zü­gi­ger Mann, mit eben­so groß­zü­gi­gen Ge­schen­ken. Aber nie brach­te er ihr Blu­men.

Die Hit­ze war noch drü­cken­der als am Vor­mit­tag. Die Blu­men brauch­ten Was­ser und sie eine Du­sche. Sie trat hef­ti­ger in die Pe­da­le.

Viel­leicht wa­ren er und Pau­la schon da­heim? Nora schob das Rad in die Ga­ra­ge. Kaum hat­te sie die Haus­tür auf­ge­schlos­sen, schlug ihr aus dem Zim­mer ih­rer Toch­ter lau­te Hou­se-Mu­sik ent­ge­gen. Ein Zei­chen, dass sie nicht al­lei­ne war. Al­lein hör­te Pau­la lie­ber Jazz oder Klas­sik. In der Kü­che sah es aus, als ob eine Hor­de Van­da­len dar­in ge­haust hät­te.

Wenn sie sich jetzt auf­reg­te, dach­te sie, wäre es mit dem ge­müt­li­chen Abend­es­sen mit Mann und Toch­ter vor­bei. Sie er­kann­te bit­ter, dass sie um ei­nes Frie­dens wil­len, der nicht wirk­lich ei­ner war, vor Pau­la ka­pi­tu­lier­te. Nora emp­fand eine Mi­schung aus Scham und Wut. Sie ar­ran­gier­te die Blu­men in ei­nem Glas­ge­fäß und stell­te es, nach­dem sie schmut­zi­ge Tel­ler, Be­steck und zer­knüll­te Pa­pier­ser­vi­et­ten weg­ge­räumt hat­te, auf den Tisch. Sie wür­de erst ein­mal du­schen, be­vor sie sich Pau­la stell­te.

Johan las No­ras SMS: Ich möch­te mit dir und Pau­la zum Ita­lie­ner ge­hen. Bin früh zu Hau­se. Kuss. Die Nach­richt war vor Stun­den ein­ge­gan­gen, aber er hat­te sein Han­dy aus­ge­stellt.

Jetzt war es zu spät, ihr ab­zu­sa­gen. Nora wür­de si­cher schon auf ihn war­ten. Er rann­te fast und kam au­ßer Atem an. Sein Tag war aus­ge­füllt ge­we­sen mit Se­mi­na­ren, Be­spre­chun­gen mit Kol­le­gen und Ter­mi­nen mit sei­nen Dok­to­ran­den. Aus sei­nem Tref­fen mit Cha­r­lott, das er ab­sicht­lich spät ein­ge­plant hat­te, um mehr Zeit mit ihr zu ha­ben, war nun nichts ge­wor­den. Är­ger­lich, aber nicht zu än­dern. Sie war klug, ei­ni­ge ih­rer Ge­dan­ken bril­lant. Cha­r­lott war in­spi­rie­rend. Und mit ihr wa­ren die Mee­tings span­nen­der ge­wor­den.

Johan schloss die Haus­tür auf und stieß bei­na­he mit Ol­lie zu­sam­men.

Der hob ent­schul­di­gend die Hän­de. »Wir woll­ten ge­ra­de ge­hen.«

Hin­ter Ol­lie er­schie­nen drei wei­te­re Ju­gend­li­che. Die mit ei­nem läs­si­gen, aber un­ver­ständ­li­chen Gruß sei­ne Woh­nung ver­lie­ßen. Wer sind die?, frag­te er sich, nach­dem er ein dümm­li­ches: »Hat mich ge­freut« ge­mur­melt hat­te. Was re­dest du denn da? Er schüt­tel­te über sich selbst den Kopf.

»Wer sind die?«, frag­te er jetzt sei­ne Toch­ter, die aus ih­rem Zim­mer kam.

»Ol­lie und ein paar Freun­de.«

»Freun­de?«

»Ja, Freun­de«, sag­te Pau­la un­ge­dul­dig. »Wir sind alle ge­gen Tier­ver­su­che. Du kannst dir nicht vor­stel­len, wie die­se Leu­te die Tie­re quä­len.«

»Wor­um geht es?« Nora hat­te Ho­sen und T-Shirt ge­gen ein knö­chel­lan­ges, schma­les Lei­nen­kleid ge­tauscht.

Ja­de­grün. Wie der Leib ei­ner Nixe, dach­te Johan. »Um Tier­ver­su­che«, sag­te er.

»Um Tier­quä­le­rei«, sag­te Pau­la.

»Aha.« Sie ging nicht wei­ter dar­auf ein. »Habt ihr Lust auf ita­li­enisches Es­sen?«

»Ich habe schon ge­ges­sen.« Pau­la wand­te sich ab, hielt aber in der Be­we­gung inne, als sie die Stim­me ih­rer Mut­ter hör­te:

»Das war nicht zu über­se­hen.« Nora biss sich auf die Lip­pe. Ver­dammt! Aber sie konn­te den Satz nicht un­ge­sagt ma­chen.

»Was da­ge­gen, wenn ich die Kü­che mal be­nut­ze?«

»Na­tür­lich nicht. Aber du musst kein Schlacht­feld hin­ter­las­sen.«

»Du bist so­was von spie­ßig.«

Johan leg­te Pau­la eine Hand auf die Schul­ter. »Be­glei­te doch dei­ne Spie­ßer-El­tern zum Ita­lie­ner. Eine von den köst­li­chen Nach­spei­sen wirst du doch noch es­sen kön­nen?«

Pau­la muss­te la­chen. Sie be­saß den glei­chen Hu­mor wie ihr Va­ter. »Na gut, ich hole mein Han­dy.«

Nora schenk­te Johan ein dank­ba­res Lä­cheln. »Du bist der Bes­te.« Sie küss­te ihn.

Die klei­ne Ter­ras­se der Trat­to­ria war gut ge­füllt. An­ge­lo be­grüß­te sie mit Hand­schlag und führ­te sie zu dem letz­ten frei­en Tisch. Er zwin­ker­te Pau­la ver­schwö­re­risch zu.

»Heu­te ha­ben wir Can­no­li al Li­mon­cel­lo.«

An­ge­lo kann­te Pau­las Vor­lie­be. Und die­ses cre­me­ge­füll­te Som­mer­des­sert moch­te sie be­son­ders ger­ne.

Pau­la strahl­te An­ge­lo an. Nora sah die Ver­wand­lung ih­rer Toch­ter vom mür­ri­schen Tee­n­a­ger in ein rei­zen­des jun­ges Mäd­chen.

Johan blick­te sie lä­chelnd an. Sie ver­stan­den sich ohne Wor­te. Da­für lieb­te Nora ihn. Er war so er­wach­sen, sie konn­te ihn sich nicht als Kind vor­stel­len. In sei­ner Ge­gen­wart fühl­te sie sich si­cher. Sie leg­te ihre Hand auf sei­ne und zog sie zu­rück, als Pau­la das Ge­sicht ver­zog.

»Wer war die Frau?«, frag­te Pau­la bei­läu­fig und stopf­te sich einen Löf­fel Eis in den Mund. Es war der drit­te Nach­tisch, den sie sich be­stellt hat­te. Erst die Can­no­li, dann Pan­nacot­ta mit Erd­beer­so­ße, jetzt das Eis.

»Wel­che Frau?«

»Na, die Frau, mit der ich dich heu­te ge­se­hen habe.«

»Wo soll das ge­we­sen sein?« Johan leg­te den Löf­fel, mit dem er Zu­cker in sei­nen Es­pres­so ge­rührt hat­te, sorg­fäl­tig auf die Un­ter­tas­se.

»Im Park. Vor dem In­sti­tut.«

»Stalkst du mich?« Johan hob eine Braue.

Nora sah eher in­ter­es­siert als be­un­ru­higt auf.

»Und wenn?« Pau­la kratz­te das letz­te Eis aus ih­rem Be­cher. »Sie ist jung und ziem­lich hübsch«, sag­te sie an ihre Mut­ter ge­wandt. »Du musst dich an­stren­gen, Nora. Viel­leicht soll­test du dei­ne Rei­se nach Sid­ney ver­schie­ben?«

Pau­la hat mit we­ni­gen Wor­ten die Stim­mung ge­kippt, dach­te Johan. Dar­in war sie eine Meis­te­rin.

Nora schwieg.

»Eine Dok­to­ran­din. Sie ist in mei­nem Se­mi­nar.«