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Er war ein kluger Mann, der sein Leben im Griff hatte. Ein Wissenschaftler, der an Universitäten lehrte und Vorträge im In - und Ausland hielt, ein Intellektueller, der beim Anblick eines Mädchens am Strand seinen Verstand ablegte. Sie drehte sich lachend um sich selbst. Eine anmutige Meerfrau, dem Wasser entstiegen, um als Mensch eine unsterbliche Seele zu erlangen? Er dachte an die Märchen seiner Kindheit. Als das Mädchen im blauen Kleid den Strand verließ, stolperte er durch den Sand zum Parkplatz, setzte sich in seinen Oldtimer und folgte ihr.
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Seitenzahl: 338
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Eine fast perfekte Ehe
Roman
Impressum
Copyright: © 2024 Ursula Tintelnot
Umschlagsfoto: © pexels-elina sazonova
Covergestaltung: © Medusa Mabuse
Buchsatz: © Medusa Mabuse
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Er war ein kluger Mann, der sein Leben im Griff hatte. Ein Wissenschaftler, der an Universitäten lehrte und Vorträge im In - und Ausland hielt, ein Intellektueller, der beim Anblick eines Mädchens am Strand seinen Verstand ablegte.
Sie drehte sich lachend um sich selbst. Eine anmutige Meerfrau, dem Wasser entstiegen, um als Mensch eine unsterbliche Seele zu erlangen?
Er dachte an die Märchen seiner Kindheit. Als das Mädchen im blauen Kleid den Strand verließ, stolperte er durch den Sand zum Parkplatz, setzte sich in seinen Oldtimer und folgte ihr.
Inhaltsverzeichnis
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Personen
Über die Autorin und weitere Werke
1
Alle dachten, dass sie füreinander geschaffen waren, Nora und Paul. Vielleicht war das auch so. Vielleicht wäre es immer so geblieben, wenn nicht Johan an jenem Nachmittag aufgetaucht wäre. Einem Spätnachmittag, der schon kippte in einen Frühabend aus Blau und Gold und dem Plätschern des Wassers an einem Strand mit hellem Sand.
Nora trug ein wadenlanges, blaues Trägerkleid. Sie lachte, während sie vergeblich versuchte, ihren Rock zu bändigen, den der Wind nach oben blies. Schlanke, gebräunte Beine. Paul lächelte.
Johan starrte das Mädchen an, dessen Namen er noch nicht kannte. Das Bild des Mädchens, eher das einer jungen Frau, würde er für immer bewahren.
Noras Zehen gruben sich mit jedem Schritt in den warmen Sand. Sie genoss das Gefühl von Sandpapier unter ihren nackten Sohlen. Grüne Augen, weizenblondes Haar. Jetzt drehte sie den Kopf, als habe sie Johans Blick gespürt.
Noras Haar war noch immer blond. Sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn. Stimmen klangen aus dem Garten zu ihr. War es das wert gewesen?
In ihren Gedanken tauchte seit langem plötzlich Paul auf und der Nachmittag vor Jahren am Strand. Sie spürte seinen Arm auf ihren Schultern, spürte die Wärme der untergehenden Sonne auf ihrer Haut. Paul, ihre erste Liebe. Ein französischer Stipendiat, den sie auf der Musikhochschule kennengelernt hatte. Ein schlanker, schlaksiger Junge, ein paar Jahre älter als sie.
»Paul.«
Ein Name, so vertraut, so weich.
»Was hast du gesagt?«
Nora zuckte zusammen. Sie schloss ihren Laptop. Johan stand in der Tür.
Er sah gut aus. Sein dichtes Haar, wie immer eine Spur zu lang. Johan war ein schöner Mann in diesem sogenannten besten Alter. Einem Alter dachte sie, in dem Frauen unsichtbar werden. Nora fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn, als ob sie ihre Gedanken verscheuchen wollte.
Johan lehnte am Türrahmen und sah sie fragend an. Nora antwortete nicht. Sie fühlte sich schuldig, als habe sie etwas Verbotenes gedacht oder getan.
Diese Geste kannte er. Ihre schmalen Pianistinnenfinger, die über ihre Stirn fuhren, als wolle sie sich reinigen. Wovon, fragte er sich. Ob ihr bewusst war, was sie da tat? Es war eine mädchenhafte, kindliche Geste. Eine Frau, die sich schminkte, würde niemals so etwas tun.
Aber Nora musste sich nicht schminken. Ihre Lippen waren voll und rot, ihre Wimpern lang und dunkel. Sie war Anfang vierzig, sah aber zehn Jahre jünger aus. Sie wehrte sich entschlossen gegen das Alter, ohne es je zum Thema zu machen. Sie lief, schwamm und fuhr Fahrrad.
Johan blieb noch einen Moment lang stehen, obwohl er wusste, dass sie nicht antworten würde. Er wusste, dass er sie damit ärgerte. Sein Blick glitt über unordentliche Schallplattenstapel und die Noten auf dem glänzend schwarzen Flügel in der Mitte des großen Raumes. Neben dem Laptop ein Glas Rotwein, die Flasche stand daneben.
~~~
Nora sah lange auf die Tür, nachdem er gegangen war. Dann nahm sie das Glas und trank.
Er provozierte allein durch seine Anwesenheit. Einer Geste, einem Blick. Sie kannte ihn zu gut. Sie verstand, was er nicht sagte: Du könntest mal aufräumen.
Sie hörte die Kühlschranktür auf und wieder zuklappen, leises Klirren. Nora sah auf ihre Armbanduhr. Eine Reverso Classic, mit schwarzem Alligatorlederarmband, die eigentlich Johan gehörte.
Um diese Zeit machte ihr Mann sich seinen ersten Drink.
Sie stand auf und verließ ihr Musikzimmer. Ihren Wein nahm sie mit.
Johan und sie waren sich nur ähnlich in ihrer Unähnlichkeit. Johan trank keinen Wein. Den Weißen mochte er nicht, der Rote bekam ihm nicht.
Nora lächelte. Während sie den Flur entlangging, streifte ihr Blick die Bücher, die in langen Regalen an den Wänden standen. In Zweierreihen. Johan liebte seine Bücher. Sie las hauptsächlich elektronisch. Ihm fehle das Haptische, der Duft von bedrucktem Papier, behauptete er. Das Tablet, das sie bevorzugte, sei unsinnlich. Wie er, musste ein Blinder durchs Leben gehen. Durch tastendes Begreifen.
Es war Mai. Die Wohnung war noch kühl, obwohl draußen schon sommerliche Temperaturen herrschten. Nora hatte früh am Morgen auf dem Markt neue Kartoffeln und Spargel besorgt. Für sich selbst den Grünen, für Johan den Weißen.
Er stand am geöffneten Küchenfenster. Ein Glas in der Hand. Nora stellte sich neben ihn. Johan legte den Arm um sie, ohne sie anzusehen. Eine vertraute, selbstverständliche Geste. Kurz lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Er roch gut nach einer Mischung aus Tabak, seinem herben Rasierwasser und einer Spur Gin.
Sie bemühte sich, den Garten mit seinen Augen zu sehen. Den blühenden Flieder, Blaumeisen, Amseln und taumelnde Pfauenaugen. Goldene Sonnenkringel auf dem Rasen. Paulas schwarzer Kater lag dösend unter der Hecke.
Sie dachte an die letzten Zeilen aus Kästners Gedicht über den Mai: »Die Zeit versinkt in einer Fliederwelle. Oh, gäb es doch ein Jahr aus lauter Mai!«
»Woran denkst du, Johan?«
»Gibt es einen Unterschied zwischen Gewohnheit und Vertrautheit?«
»Wie bitte?« Nora starrte ihn verblüfft an.
»Du hast gefragt, woran ich denke. Also, was meinst du, gibt es einen Unterschied?«
»In welchem Zusammenhang?«
»Ist das wichtig?«
»Na klar! Ich gehe in eine bestimmte Kneipe, weil mir die Umgebung vertraut ist, und bestelle aus Gewohnheit Currywurst.«
»Du denkst so profan, so gewöhnlich.«
»Das ist, wie du wissen müsstest, dasselbe.«
»Das Gleiche.« Johan lächelte süffisant.
Nora stöhnte. Johan tat nichts ohne Grund. Misstrauisch betrachtete sie ihren Mann. Sie hatte nicht vor, sich diesen herrlichen Abend durch eine fruchtlose Diskussion verderben zu lassen.
»Das ist eine Frage, die du deinen Studenten im ersten Semester stellen solltest. Vielleicht geben sie dir weniger unterirdische Antworten.«
Sie überlegte, wie sie sich einer Diskussion, von der sie noch immer nicht wusste, was sie bezwecken sollte, entziehen konnte, ohne es wie eine Flucht aussehen zu lassen. Gar nicht, entschied sie. Johan war zu klug, er würde es bemerken.
Sie strich ihre Locken hinter die Ohren und trat an den gewaltigen Kühlschrank. Johan hatte ihn ausgesucht. Ein Kühlschrank, ausgestattet mit künstlicher Intelligenz, von der sie fürchtete, dass sie die Ihre weit übertraf. Er lieferte auf Wunsch runde Eiswürfel und machte auf einem Display Menüvorschläge passend zu seinem Inhalt. Außerdem machte er sie aufmerksam, wenn bestimmte Nahrungsmittel zur Neige gingen. Vielleicht könnte sie ihn eines Tages dazu bringen, nach dem Kochen die Küche aufzuräumen? Sie hatte ihn Einstein getauft. Sollte Johan doch mit ihm diskutieren.
Sie öffnete Einstein und hob den in ein feuchtes Tuch gewickelten Spargel aus der Gemüseschale.
Johan sah ihr dabei zu. Er fragte sich, ob sie wirklich nicht bemerkt hatte, dass sie Pauls Namen laut ausgesprochen hatte? Warum hätte sie es leugnen sollen?
»Ihr esst Spargel?«
Nora fuhr herum und schloss kurz die Augen. Zwei Teenager, offensichtlich dem Müllcontainer einer Altkleidersammlung entsprungen, in Klamotten, die nur noch als Lumpen taugten. Jeans, die sich mit Mühe auf den Hüften hielten, die spitzen Knie freigaben, halb von den Schultern gerutschte übergroße Shirts, deren Farben zwischen Schlamm und verwaschenem Grün changierten.
Sie unterdrückte einen hysterischen Lachanfall. Ihre Tochter war bildschön und wusste diese Tatsache beinahe mit Erfolg zu verbergen. Auch der Junge hinter ihr hätte gut aussehen können. Aber Tattoos bedeckten seine Unterarme. Sie verabscheute Tattoos. Nora liebte ihre Tochter und fürchtete sie zugleich.
»Warum sollten wir keinen Spargel essen?«
Paula würdigte Nora keines Blickes. Sie wandte sich an ihren Vater. »Papa, sag du doch mal was!«
»Ich mag Spargel.«
»Darum geht’s nicht.« Paula ging hinüber ans Fenster zu Johan.
»Worum dann?«
Der Rest der Unterhaltung ging unter im Rauschen des Wassers. Nora wusch den grünen Spargel. Sie konnte sich denken, was Paula versuchte, ihrem Vater zu erklären: Nur unterbezahlte Spargelstecher aus osteuropäischen Ländern, Rumänien, Polen, Ungarn würden das weiße Gold für die verwöhnten Deutschen aus der Erde graben.
Der Junge stand scheinbar unbeteiligt an der Tür, den Blick unverwandt auf sein Smartphone gerichtet. Nur seine Daumen bewegten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit.
»Ollie und ich gehen in mein Zimmer.«
Johan und Nora wechselten einen Blick.
»Esst ihr nicht mit?«
»Spargel mit Schinken?« Paulas Stimme klang eisig. »Wer Schwein isst, ist ein Schwein. Nein, danke.«
Paula und Ollie verließen die Küche.
Sie hatten alleine gegessen. Paula und Ollie waren in Paulas Zimmer geblieben. Irgendwann war der junge Mann gegangen.
Johan erkannte die Erleichterung auf Noras Zügen, als sich hinter dem Jungen die Haustür schloss. Gleichzeitig herrschte Stille. Paula hatte den dröhnenden Bass abgedreht.
»Er geht ja wenigstens zu ziviler Zeit”, sagte Johan mit Blick auf seine Uhr an Noras Handgelenk. »Ich würde meine Uhr übrigens gerne mal wieder selber tragen.«
Nora lächelte.
»Du kennst den Spruch: Was deins ist, ist auch meins, was meins ist, geht dich nichts an?«
»Du besitzt die Moral einer Elster, meine Liebe.«
Er blickte auf ihren Laptop. Er lag geschlossen auf der anderen Seite des Tisches.
»Kommst du weiter mit deinem Text?«
Nora erhob sich, nahm zwei Teller und die Spargelschale vom Tisch und stapelte alles in der Spüle. Kam sie weiter mit dem Text? Im Moment beschäftigten sie ganz andere Dinge. Sie öffnete den Kühlschrank und stellte die rhetorische Frage: »Nachtisch?«
Johan folgte ihren eleganten Bewegungen. Nora war schlank, mit langen Gliedern und einem hinreißenden Hintern. Seine Frau gefiel ihm auch nach zwanzig Ehejahren noch. Auf seine Frage nach dem Text, den sie bearbeitete, hatte sie nicht geantwortet, stattdessen nahm sie drei hohe Gläser aus dem Kühlschrank, den sie Einstein getauft hatte. Er lächelte. Nora konnte ihn immer wieder zum Lachen bringen.
Sie stellte zwei der drei Gläser vor ihn hin. Schichten aus Mandelkeksen, Mascarponecreme und dunkelroten Erdbeeren.
»Du könntest deine Tochter dazu überreden, den Nachtisch zu probieren.«
Da war wieder diese Distanz zu spüren. Sie hatte ‚deine Tochter’ gesagt, nicht unsere. Paula dachte er, war immer mehr seine Tochter gewesen.
Nora zog ihren Laptop zu sich heran, setzte sich wieder und öffnete ihn. Sie schickte die ersten bearbeiteten Kapitel an ihren Verlag.
Offensichtlich war das gemeinsame Abendessen beendet.
Johan ging mit dem Glas in der Hand zum Zimmer seiner Tochter. Er klopfte und trat ein. Kein typisches Mädchenzimmer ging ihm durch den Kopf.
In der Mitte des Zimmers hing ein schwarzer Boxsack an Eisenketten von der Decke. Die Wände waren gepflastert mit Plakaten, die für verschiedene Kampfsportarten warben. An einem Haken eine Gitarre. In einer Ecke neben dem Fenster stand eine schwarzgraue Golftasche mit der Aufschrift Mizuno. Daneben ein Baseballschläger.
Keine rosafarbenen Accessoires. Seine Tochter besaß keinen Sinn für Romantik, darin ähnelte sie Nora. Der Romantiker in der Familie war er. Paula lag bäuchlings auf ihrem Bett, die Finger flogen über ihr Tablet. Sie hob den Kopf. Unter dunklen Locken, die bis über ihre Augen fielen, sah sie zu ihm hoch.
Als sie erkannte, was er mitgebracht hatte, richtete sie sich auf und lächelte. »Mein Lieblingsnachtisch. Danke, Papa.«
»Bedank dich bei deiner Mutter.«
Paulas Miene verfinsterte sich kurz bei dieser Aufforderung. Johan wog den Baseballschläger in der Hand.
»Wozu brauchst du den? Du spielst doch nicht Baseball, oder hab ich was verpasst?«
»Der gehört Ollie. Ich überlege noch.« Paula löffelte sich Mascarponecreme in den Mund. »Golf ist so uncool. Meinen Freunden kann ich damit nicht kommen. Die spielen Fußball oder Baseball. Golf ist für die Reichen.«
Johan unterdrückte ein Lächeln. Ihre Versuche, wie ein Mädchen aus armen Verhältnissen auszusehen, gingen ins Leere. Trotz der ausgelatschten, ungeschnürten Turnschuhe, der farblosen T-Shirts und zerrissener Jeans, konnte sie nicht verbergen, woher sie wirklich kam.
Sie kam nicht aus den sogenannten Unterschichten. Ihre Haltung war beinahe herausfordernd, sie wirkte zu selbstbewusst.
Johan nahm seiner Tochter das Glas aus der Hand und ging zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal um. »Es schadet nichts«, sagte er, »ein bisschen freundlicher zu deiner Mutter zu sein.«
Er schloss die Tür hinter sich, bevor sie etwas erwidern konnte. Nora saß genauso, wie er sie verlassen hatte, am Tisch. Sie blickte auf den Bildschirm ihres Laptops.
»Du musst nicht bei Paula um Freundlichkeit für mich bitten«, sagte sie, ohne den Kopf zu heben. »Ich kann ganz gut für mich selber sorgen. Im Übrigen bringst du sie nur noch gegen dich auf.” Jetzt sah sie ihn an. «Wie ich sehe, hat sie die Erdbeeren großzügig angenommen.«
Sie hatte seinen Appell an Paula, etwas freundlicher zu ihr zu sein, gehört.
Johan stellte das leere Glas ins Spülbecken und setzte sich wieder. »Mir wäre es lieber, eine etwas entspanntere Atmosphäre im Haus zu haben.«
»Dann solltest du ihr das genauso sagen und nicht mich in den Fokus rücken. Ich fürchte, ich bin mit einem emotionalen Feigling verheiratet.«
Nora schenkte ihrem Mann ein spöttisches Lächeln. Johan war Professor für Psychiatrie. In ihren Augen wusste er alles über das Gehirn eines anderen Menschen, aber nichts über sein eigenes. Sein Gebiet war die Forschung über Entwicklungsstörungen des Gehirns. Gleichzeitig beschäftigte er sich mit künstlicher Intelligenz. Er war beunruhigend klug und hatte in zwei Fächern promoviert.
Johan war zwanzig Jahre älter als sie. Sie war beeindruckt von ihm, gleichzeitig geschmeichelt von dem Interesse, das er ihr entgegenbrachte. Sie hatte sich kopfüber in ihn verliebt. Und Paul? Paul war aus ihrem Leben verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Nora hatte bald den Kontakt zu ihrer alten Clique verloren.
Er ging wie selbstverständlich davon aus, dass seine Freunde auch ihre Freunde würden. In der ersten Phase der Verliebtheit hatte sie es genossen, dass er sie stolz präsentierte. Sie fand sich in einem intellektuellen Kreis wieder, der sie freundlich aufnahm, ihr aber auch Furcht einflößte. Der einzige Teil ihres Lebens, den sie mitnahm in ihr neues Leben, war ihre Musik.
Mit drei Jahren hatte sie begonnen, Klavier zu spielen. Heute spielte sie auf hohem Niveau. In den ersten Jahren ihrer Ehe konnte sie reisen, um in verschiedenen Städten Konzerte zu geben. Johan hatte das akzeptiert. Zu seiner großen Enttäuschung war sie nicht schwanger geworden. Als sie endlich nach acht Jahren Zwillinge erwartete, war seine Freude grenzenlos.
~~~
Johans Finger drehten das Glas, in dem Erdbeeren und Mascarpone eine köstliche Liaison eingingen. Noras Haar war dicht und so weizenblond wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ihr Tanz am Strand, ihr Lachen, wenn der Wind den Saum ihres blauen Kleides packte. Und der schlaksige Junge, der einen Arm um ihre Schultern legte. Paul.
Johan fragte sich, warum er ihr gestattet hatte, ihre Tochter Paula zu nennen. Er erinnerte sich an ihre Hilflosigkeit, ihr Erstarren nach dem Tod des kleinen Jungen. Johan hatte getrauert, aber das Glück, eine Tochter zu haben, war größer gewesen als die Trauer um ihren Zwilling. Und Noras Hilflosigkeit, vermutete er, war es geschuldet, dass er dem Namen zustimmt hatte. In der Zeit nach der Geburt der Kinder konnte er ihr nichts abschlagen. Ihre Verzweiflung war zu groß. Er fürchtete, dass sie dem totgeborenen Sohn folgen könnte.
Inzwischen hatte sie sich einen Namen gemacht, nicht nur als Pianistin, auch als Übersetzerin eines Jugendbuchverlages.
Nora klappte ihren Laptop entschlossen zu. Heute konnte sie sich nicht mehr auf den Text konzentrieren. Sie erhob sich und trat ans Fenster. Ihr blieb noch Zeit. Das neue Buch eines vielversprechenden jungen Autors sollte erst im Herbst erscheinen.
Der Garten versank in der Dämmerung, nur der weiße Flieder leuchtete hell.
»Komm ins Bett.« Johan stand hinter ihr, berührte flüchtig ihre Schulter.
Ich bin noch nicht müde, dachte Nora. »Später.«
Als sie nach Paulas Geburt nicht mehr viel reisen konnte, war sie dem Ruf der Musikhochschule gefolgt und hatte begonnen, dort zu arbeiten. Als Dozentin unterrichtete sie Klavier. Sie bemühte sich, den Studenten Selbstbewusstsein und Kreativität nahezubringen. Es war überraschend, wie überaus befriedigend diese Arbeit für sie wurde. Sie war glücklich, wenn sie sah, wie sich ihre Schüler zu künstlerischen Persönlichkeiten entwickelten. Ihre öffentlichen Auftritte als Pianistin waren seltener geworden, und sie fehlten ihr mehr, als sie sich eingestand.
Paula brauchte sie jetzt nicht mehr. Sie war immer mehr Johans Tochter gewesen. Ein unabhängiges Wesen, eigensinnig und selbstbestimmt. Trotzig und zu Wutausbrüchen neigend.
Unter der Tür zum Zimmer ihrer Tochter sah sie noch Licht. Sie klopfte. Paulas Gesicht verschloss sich, als sie erkannte, dass es diesmal nicht Johan war, der eintrat. Sie lag auf ihrem Bett, das unvermeidliche Handy in der Hand und sah Nora ungeduldig an. »Was willst du?«
»Ich will dir gute Nacht sagen. Stört es dich, wenn ich noch Klavier spiele?«
»Dein Geklimpere hat mich noch nie gestört.«
Wenn das ein Kompliment sein sollte, so war es gut versteckt. Paulas Blick galt schon wieder ihrem Bildschirm.
»Schlaf gut«, sagte Nora und schloss die Tür.
Vor einem Jahr hatte Paula sich geweigert, weiterhin Klavier zu spielen und sich eine Gitarre gewünscht. Nora bedauerte das, aber weder ihr noch Johan gelang es, sie umzustimmen. Ihre Tochter war musikalisch und es war schade, dachte sie, ihr Talent so ungenutzt zu lassen. Andererseits war es einigermaßen arrogant zu glauben, dass man sein Talent nur auf dem Klavier und nur in der klassischen Musik entwickeln konnte. In dieser Hinsicht waren Johan und sie einmal einer Meinung.
Sie lächelte. So ganz hatte Ihre Tochter das Klavierspiel nicht aufgegeben. Sie spielte heimlich, wenn Nora nicht da war, und glaubte offenbar, dass sie nicht bemerkte, wenn ein Notenblatt anders lag oder der Flügel offenstand.
Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, um noch einmal die Mail, die sie vor einer Woche erreicht hatte, zu lesen. Die Einladung kam von einem der größten Kulturzentren der Welt. Dem Sidney Opera House.
Noch nie hatte Nora in einem so berühmten Haus gespielt. Vor Paulas Geburt war sie oft aufgetreten, aber nie außerhalb Europas. Sie fragte sich, ob sie einer solchen Anforderung noch gewachsen war. Der Präsident der Musikhochschule hatte ihr die Entscheidung, die Einladung anzunehmen, überlassen, allerdings auch keinen Zweifel daran gelassen, dass er erwartete, dass sie zustimmte.
Sie fragte sich, warum man sie und nicht eine der anderen renommierten Professorinnen gebeten hatte. Sydney, dachte sie verträumt. Kein Wettbewerb unter verschiedenen Musikhochschulen, sondern eine Vorstellung der Schulen mit Seminaren über Entwicklungsprozesse. Es ginge um neue Ideen und kreative Strategien. Die Bühne der Zukunft musste eine Spielfläche für neue Bühnenformate zwischen Musik und Theater werden. Da sie auch an Podiumsdiskussionen teilnehmen sollte, würde sie gut vorbereitet sein müssen, um ihre Schule im besten Licht erscheinen zu lassen. Begleitet würde sie von einem Dirigenten, einem Kollegen und zwei Leuten aus dem Vorstand.
Morgen, dachte sie, würde sie mit Johan über die bevorstehende Reise sprechen. Er war nie begeistert gewesen, wenn sie verreisen musste. Aber ihr Entschluss stand fest. So eine Gelegenheit würde sich ihr nicht noch einmal bieten. In drei Monaten. Ende September, Anfang Oktober in Australien. Sie fragte sich, wie sie innerhalb von drei Monaten die Vorbereitungen schaffen sollte.
Mit diesen Gedanken ging sie eine Stunde später ins Bett. Als Nora am nächsten Morgen erwachte, war sie allein. Johan und Paula hatten ohne sie gefrühstückt.
Auf nackten Füßen ging sie in die Küche. Die silberne Kaffeemaschine aus Edelmetall röhrte viel zu laut in ihren empfindlichen Ohren. Aber sie machte einen wunderbaren Espresso. Auch sie eine Anschaffung ihres Mannes. Mit einem doppelten Espresso ging sie zurück in ihr Bett und griff nach dem Handy. Sie führte drei Gespräche. Zwei davon mit der Musikhochschule, das letzte Gespräch mit Johan.
2
Johan legte das Handy auf seinen Schreibtisch zurück. Es war ihm nicht leicht gefallen, Freude über diese Reise zu heucheln. Nora hatte glücklich geklungen, aufgeregt und glücklich. Aber auch ihre Sorge darüber, wie er diese Nachricht aufnehmen würde, war zu spüren gewesen. Er war froh, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, als er von ihren Plänen hörte. Nein, begeistert war er nicht.
Johans Finger trommelten unruhig auf der Schreibtischplatte. In den kommenden Monaten würde er sie kaum zu Gesicht bekommen. Im Gegensatz zu ihm schien diese Tatsache Nora nicht zu beunruhigen. Natürlich nicht, die Vorbereitungen würden seine Frau vollkommen in Anspruch nehmen.
Empfand er so etwas wie Neid? Es gelang ihm einfach nicht, sich wirklich für sie zu freuen.
Nora schien noch alles vor sich zu haben. Sie war so viel jünger als er und hatte anders als er noch so viel Zukunft. Sie war ehrgeizig und würde sich ein Scheitern nie verzeihen.
Er starrte auf seinen Bildschirm und fragte sich, wie das Wetter im September in Sidney sein mochte. Dann riss er sich zusammen. Mit sechzig war er schließlich kein alter Mann. Er hatte noch eine ganze Menge vor, war ein gefragter Wissenschaftler. Endlich würde er dazu kommen, sein neues Buch zu vollenden.
Johan klappte den Laptop zu. Er konnte sich nicht konzentrieren und gestand sich ein, dass Noras Nachricht ihm mehr zusetzte, als er zunächst gedacht hatte. Er musste raus aus geschlossenen Räumen.
Der Park war zauberhaft. Blühender, süß duftender Flieder säumte die Pfade, es roch nach Gras und ein klein wenig nach Abgasen. Von weitem sah er, dass seine Lieblingsbank frei war. Tauben gurrten. Gedämpfte Verkehrsgeräusche machten die Ruhe noch vollkommener.
Johan ließ sich auf einer Bank nieder, streckte die Beine aus und sah auf die Uhr. Bis zum nächsten Termin hatte er noch eine Stunde. Er stöhnte auf. Noch nie hatte Johan sich so alt gefühlt. Was würde ein zufällig vorbeigehender Spaziergänger denken, wenn er ihn hier sitzen sah?
»Darf ich?«
Johan schreckte auf. Er war so in Gedanken, dass er sie nicht hatte kommen hören. Er brummte nur, was ebenso gut eine Zustimmung wie das Gegenteil bedeuten konnte.
Sie nahm es als Zustimmung und setzte sich.
Schöne Beine, dachte er nach einem Seitenblick. Sie trug zu einem wadenlangen, geschlitzten Jeansrock ein gelbes T-Shirt und Sneakers in der gleichen Farbe. Ihr Gesicht hielt sie von ihm abgewandt in die Sonne. Das dunkle Haar war zu einem Zopf geflochten. Er dachte an seine Tochter, die in anderen Zeiten, als sie noch sein kleines Mädchen war, das Haar ebenso getragen hatte. Ein Bauernzopf.
Er blinzelte in die Sonne, hörte Kies knirschen und sah auf die Uhr. Johan erhob sich und sah das gelbe T-Shirt ein Stück weit vor sich den gleichen Weg zum Institut einschlagen, den er jetzt nahm.
Johan öffnete die Tür zur Eingangshalle, lief über marmorne Stufen und betrat den Seminarraum. Die weit geöffneten Fenster milderten den Geruch nach Desinfektionsmittel und Farbe. Irgendjemandem hatte es gefallen, die Wände bis in Schulterhöhe beige zu streichen. Der Rest der Wände und die hohe Decke jedoch blieben weiß. Johan legte seine Papiere ab.
»Guten Tag, meine Herren«, sagte er, »… meine Dame.«
Die junge Frau im gelben T-Shirt belohnte ihn mit einem kleinen spöttischen Lächeln.
Außer ihr waren nur männliche Studenten im Raum. Seine Vorlesungen über KI wurden vorwiegend von Männern besucht. Er hatte sich oft gefragt, woran das Desinteresse der Frauen an künstlicher Intelligenz liegen mochte. Lag es daran, dass KI im Allgemeinen als objektiv, rational und faktenbasiert charakterisiert wurde? Johan kannte Frauen, die genau diese Eigenschaften besaßen. Warum also diese Zurückhaltung? Er würde Nora fragen.
Johan wandte sich dem heutigen Thema zu und der Frage: ›Wie viel Gefühl steckt in künstlicher Intelligenz?‹
~~~
Unter dem kalten Strahl der Dusche dachte Nora an das Gespräch mit ihrem Mann zurück. Johan hatte ihr Glück gewünscht.
»Das ist eine wunderbare Neuigkeit.«
»Ja, ich glaube, so ein Angebot bekomme ich nicht noch einmal.«
Sie konnte nicht verbergen, wie glücklich und aufgeregt sie war. Auch ohne ihm ins Gesicht zu sehen, spürte Nora eine gewisse Zurückhaltung in seiner Stimme. Johan hatte es nie gemocht, wenn sie reiste. Und auch jetzt konnte er nicht ganz verbergen, dass es ihm nicht gefiel, sie loszulassen.
»Wie lange wirst du weg sein?
»Vierzehn Tage. Vielleicht auch länger.«
»Hast du schon mit Paula gesprochen?«
Sie fragte sich, ob die Frage ein Versuch war, sie zu erpressen. War sie eine schlechte Mutter, wenn sie ihre Tochter mit dem Vater alleine ließ? Nora fragte sich, ob sie ihrer Tochter zuliebe auf Sidney verzichten würde.
»Deine Tochter wird hochzufrieden sein, mich eine Weile nicht zu sehen. Ihr werdet sehr gut ohne mich zurechtkommen.«
Er schwieg, und sie erklärte, was sie dort erwartete. Sie sprach von dem Konzert, das noch einstudiert werden musste, dass die drei Monate bis zu ihrer Reise viel zu kurz für die Vorbereitungen seien.
Sie sollte ihre Hochschule repräsentieren, durfte sich keine Fehler erlauben, und sie würde auf diese Reise auch Paula zuliebe nicht verzichten.
Nora blätterte in den Noten, die auf dem hochglänzenden Flügel vor ihr lagen. Sie musste sich für ein Klavierkonzert entscheiden. Vielleicht wäre es besser, das mit Musa zu besprechen, einem sehr begabten Schüler im achten Semester. Er stand kurz vor dem Bachelor of Music und hatte schon einige Male an Wettbewerben teilgenommen.
Ein kurzes Telefonat sagte ihr, dass er im Haus war.
»Musa, hast du Zeit?«
Als es kurz darauf klopfte, hob sie den Kopf. Der junge Ägypter betrat ihr Sprechzimmer. Wie immer war sie betört von seiner Schönheit, den goldenen Augen, dem dunklen Teint. Sie fragte sich, auf welchem Weg dieser junge Mann, er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein, zu dem Wunsch gekommen war, Dirigent zu werden. Sie lächelte.
»Setz dich, Musa.«
Nora war nicht überrascht, als Musa Chopin vorschlug. Nach einem einstündigen Gespräch mit ihm hatten sie sich auf eines der Pianokonzerte geeinigt.
Nachdem er gegangen war, sah sie noch eine Weile auf die geschlossene Tür. Ein junger Mann mit erstaunlichem Selbstbewusstsein, das du in deinem Beruf auch brauchen wirst, dachte sie. Wenn er sich gut machte, wovon sie ausging, würde Sidney vielleicht ein Sprungbrett für ihn sein.
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Johan betrat die Küche in dem Moment, in dem der Herd sich ausschaltete und eine ca. dreißig Zentimeter hohe Schublade ausstieß. Er lächelte. Obwohl Nora diese intelligenten Geräte hasste, hatte sie doch gelernt, sie zu benutzen. Die Zeitschaltuhr hatte nicht nur den Herd abgeschaltet, sondern auch die Ladefläche mit ihrem Inhalt in Bewegung gesetzt. Eine goldbraune Quiche entfaltete ihren köstlichen Duft.
Weder Nora noch Paula waren zu Hause. Eine SMS informierte ihn, dass Nora noch zu arbeiten habe und seine Tochter bei ihrer Freundin Emily übernachtete. Johan nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich mit der Quiche an den Küchentisch. Er dachte nach. Die nächsten Abende würden ähnlich verlaufen. Nora war mit ihren Vorbereitungen beschäftigt, seine Tochter war ohnehin so wenig wie möglich zu Hause. Sein Handy brummte.
»Johan, hast du einen Moment für mich?«
Susan hielt sich nie mit einer Begrüßung auf. Sie war die Frau eines Kollegen und Paulas Patentante. Eine zierliche Frau mit einem braunen Pagenschnitt. Sie mochte einige Jahre älter als Nora sein. Attraktiv und quirlig. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sie ausgerechnet im Männervollzug arbeitete. Er fragte sich, ob seine Gedanken noch politisch korrekt wären. Manchmal bat sie ihn um seine Meinung zu einem ihrer Fälle.
»Kann ich kurz rüberkommen?«
Sie wohnte nur fünf Minuten entfernt.
»Wenn du dich beeilst«, sagte er, »ist die Quiche noch warm.
»Bis gleich.«
Sie hatte aufgelegt. Kaum stand der zweite Teller auf dem Tisch, klingelte es. Johan begrüßte Susan mit einem Wangenkuss.
Sie aßen schweigend, bis Susan begann: »Er ist sich seiner Schuld bewusst und zeigt Reue. Allerdings besitzt er keine erkennbare Selbstsicherheit. Er wird sich immer wieder beeinflussen lassen.«
Es ging um einen noch jungen Mann und dessen Unterbringung, entweder im offenen oder geschlossenen Vollzug?
Johan unterhielt sich gerne mit Susan. Sie war klug und anregend. Inzwischen stand eine fast geleerte Flasche Wein auf dem Tisch. Die Quiche war verzehrt. Beide sahen auf, als Nora plötzlich in der Küche stand. Sie hatten sie nicht kommen hören.
»Nora.« Johan erhob sich und küsste sie.
Auch Susan stand auf. Sie umarmte Nora. »Wir haben uns festgequatscht«, sagte sie und lachte.
Noras Blick richtete sich auf die Weinflasche. Seit wann trinkst du Wein, Johan? Aber sie sprach nicht aus, was sie dachte. Sie lächelte, nahm ein Glas aus einem Regal, schenkte sich den Rest des Weines ein und setzte sich.
Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, was Susan dazu trieb, ihre Tage in einem Gefängnis zu verbringen. Einer Einrichtung, in der es nur Männer gab, Schwerverbrecher. War es die Lust einer Frau, Macht über Kerle zu besitzen, sie hin und her zu schieben, wie sie es wollte. Sie konnte in Grenzen die Zukunft eines solchen Mannes bestimmen. Nora beneidete sie nicht um diesen Job. Letztlich war Susan genauso gefangen wie ihre Schützlinge. Sie verbrachte Stunden hinter Gittern in einer Strafanstalt.
Nora gähnte. »Es war ein langer Tag. Ich bin müde.«
Sie warf Johan und Susan eine Kusshand zu und verließ die Küche. Im Badezimmer betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah wirklich müde aus. Nora warf einen Blick auf das Display ihres Handys. Dreiundzwanzig Uhr dreißig.
Als Johan später das gemeinsame Schlafzimmer betrat, schlief Nora. Sie lag auf der Seite, eine Wange in der Handfläche. Wie ein vom Spielen erschöpftes Kind.
Unwillkürlich fragte er sich, in welcher Haltung die Frau im gelben T-Shirt schlief.
Kaum hatte Johan nach der Vorlesung sein Büro betreten, stand sie in der halb geöffneten Tür und sah ihn fragend an.
»Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«
Johan ließ die Tür seines Büros gewöhnlich offen stehen. Für die Studenten ein Zeichen, dass er ansprechbar war.
»Natürlich. Setzen Sie sich.«
Johan lehnte sich zurück, betrachtete sie und wartete. Ihm gefiel, was er sah. Sie war nicht mehr ganz so jung wie seine Studenten. Anfang dreißig?
Sie hatte sich ihm vorgestellt als Charlott irgendwas. An ihren Nachnamen erinnerte er sich nicht. Sie war auf der Suche nach einem Doktorvater, der bereit war, ihre Dissertation zu begleiten. Der Kollege, der sie bisher betreut hatte, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Johan wusste davon.
»Ja«, sagte er, »ein Verlust für uns alle.« »Konnten Sie an Ihrer Universität niemanden finden?«
Er fragte sich, warum sie ihre Uni, ihre Stadt und obendrein ihr Land verlassen hatte, um einen Nachfolger zu finden. Als er in ihre Augen sah, wusste er es. Ihm wurde klar, dass der Kollege etwas mehr als ihr Professor gewesen sein musste.
»Entschuldigen Sie, es geht mich nichts an.«
Sie hatte ihre Unterlagen und den Titel ihrer Arbeit dagelassen, nachdem er zögernd zugesagt hatte, sich ihre begonnene Dissertation anzusehen. Sein Bedarf und seine Kapazität waren mit den Doktoranden, die er bereits betreute, mehr als gedeckt. Dass er das Zugeständnis gemacht hatte, war einzig dem Umstand zu verdanken, dass ihr Thema ihn genauso interessiert wie sie. Wie beurteilte eine Frau die Frage: Inwieweit sich männlich dominierte KI auch in männlichen Denkmustern niederschlug oder umgekehrt, männliche Denkmuster die KI korrumpierten.
Sie sagte: »Solange sich nur so wenige Frauen für dieses Thema erwärmen, wird sich nichts ändern, und wir werden in der künstlichen Intelligenz ein neues Patriarchat wiederfinden.« Sie fügte lächelnd hinzu: »Ich will das verhindern.«
Bevor er einschlief, gestand er sich ein, dass nicht nur sein Interesse an ihrer Arbeit der wahre Grund für seine Zusage war. Er wollte sie wiedersehen.
3
Nora stand mit bloßen Füßen vor dem Herd und schwenkte eine Pfanne. Es duftete nach Butter und Kaffee. Fenster und Türen waren zum Garten hin weit geöffnet. Der August war wie das ganze Jahr zu heiß und zu trocken. Johan trat hinter Nora und küsste sie auf den Nacken.
»Gut geschlafen?«
»Verdammt!« Die heiße Crêpe fiel ihr auf den bloßen Fuß. Nora schrie auf. »Musst du mich so erschrecken?«
»Entschuldige.«
Johan ging in die Hocke, hob die Crêpe auf und legte sie auf einen Teller. Dann ergriff er ein Handtuch, hielt es unter kaltes Wasser und wickelte es Nora um den Fuß.
Paula stand in der Tür und beobachtete ihre Eltern. Sie war bereits angezogen und verzog angewidert das Gesicht.
»Igitt. Den esse ich nicht.«
Nora humpelte zum Tisch und setzte sich.
Johan nahm die Pfanne vom Herd, trug die fertigen Pfannkuchen zum Tisch und sagte an seine Tochter gewandt: »Ich werde diese Crêpe mit großem Vergnügen essen.«
Paula verzog erneut das Gesicht. »Als Ersatz für Sex?«
Nora fragte sich, wie lange sie Paulas Benehmen noch hinnehmen würde, ohne durchzudrehen.
»Paula«, hörte sie die Stimme ihres Mannes. »Dein Status als Pubertierende gibt dir nicht das Recht, dich schlecht zu benehmen.«
Paula erhob sich und nahm den Rest ihres Pfannkuchens vom Teller, ohne sich um die Marmelade zu kümmern, die auf ihr T-Shirt tropfte. »Hab ich einen wunden Punkt getroffen?«
Nora wusste nicht, was Paula von ihrem und Johans Leben als Paar mitbekam.
»Das hat ja wunderbar geklappt.«
»Was meinst du?«
»Deine Zurechtweisung.«
Johan trank einen Schluck Kaffee. Er überlegte, ob er ein Thema anschneiden sollte, das ihm schon lange auf der Zunge lag. Er wusste genau, wann er und Nora zuletzt Sex gehabt hatten. Wusste sie es auch? War es ihr wichtig? Wann war der richtige Moment, das Thema anzusprechen? Gab es überhaupt einen richtigen Moment?
»Sie ist halt in einem schwierigen Alter.«
Nora sah ihn nachdenklich an. »Sind wir das nicht alle?«
Johan spürte die leichte Röte auf seinem Gesicht. Er fühlte sich ertappt. Nora besitzt keinen siebten Sinn, beruhigte er sich. Und es ist nichts passiert, dachte er beinahe trotzig.
Flüchtig erschien vor seinem inneren Auge Charlott. Ihre Arbeit interessierte ihn, noch mehr die Ruhe und Bestimmtheit, mit der sie ihre Ansichten darlegte. Selbst wenn in den Seminaren heftig und erstaunlich streitsüchtig diskutiert wurde, blieb sie ruhig. Das Beharren war eines ihrer auffälligsten Merkmale. Die jungen Männer in seinem Seminar stritten ganz unbekümmert, bis ein kluger Einwurf von Charlott sie stoppte.
»Was willst du damit sagen? Wir sind alle in einem schwierigen Alter.«
»Die Frage könntest du dir selbst beantworten.«
Er fragte sich, ob Nora nicht doch einen siebten Sinn besaß.
»Was ist denn in deinem Alter so besonders schwierig?”
Johan schob sorgfältig sein Besteck zusammen. Nora sah ihm dabei zu. Als er ihren Blick bemerkte, unterließ er es, Ordnung zu schaffen. Ihm wurde bewusst, dass diese äußere Ordnung dazu diente, seine innere Unordnung zu verbergen. Und er befürchtete, dass auch Nora das erkannte.
In den letzten Monaten waren sie sich kaum begegnet. Nora hatte mit ihren Proben und der Vorbereitung der Reise nach Sidney zu tun, er mit den Studenten und deren abschließenden Semesterarbeiten. Dazu kamen seine Doktoranden. Wenn er schon schlief, kam sie erst nach Hause. Meist ging er schon aus dem Haus, wenn Nora noch schlief.
Johan erhob sich. Für eine Aussprache, beschloss er, ist Zeit nach ihrer Reise. Er schob seinen Teller in den Geschirrspüler, gab das Besteck in den dafür vorgesehenen Korb und verließ die Küche. Seine letzte Frage hatte sie nicht beantwortet. Er hätte gerne gewusst, welche Schwierigkeiten ihr derzeitiges Alter ihr bereitete.
~~~
Nora fragte sich, ob Johan sich in den letzten Monaten verändert hatte oder ob ihr Blick auf ihn ein anderer war. Vielleicht hatte sie selbst sich verändert? Sie sah ihm nach, nachdem sie ihn zur Tür gebracht und sich von ihm mit einem Kuss verabschiedet hatte. Jetzt wartete sie, dass er sich noch einmal zu ihr umdrehte. Aber das tat er nicht. Sie blieb, wo sie war, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Ein schlanker, hochgewachsener Mann, dessen Alter schwer zu bestimmen war. Sein dunkelblondes Haar wurde langsam grau.
Jeder Mensch wünschte sich einen sicheren Ort. Johan war für sie immer dieser Ort gewesen. Nora duschte lange und kalt. Sie wollte nicht nachdenken, jedenfalls nicht über ihre Ehe. Aber sie wusste, dass sie über ihre Beobachtung mit Johan sprechen musste.
Sie und er hatten immer über alles miteinander gesprochen. Es gab nur ein einziges Thema, eine Ausnahme: Der Tod ihres Sohnes. Vielleicht spürte auch er eine Veränderung. Aber dafür, dachte sie, ist Zeit nach meiner Reise.
In drei Wochen wäre sie in Sidney. Die Organisation der Flüge, Proben mit dem Orchester und Recherchen hatten sie in den letzten Monaten so sehr in Anspruch genommen, dass ihre Rolle als Ehefrau und Mutter in den Hintergrund getreten war. Sie konnte sich an kein Gespräch in den letzten Wochen mit Johan erinnern. Das gemeinsame Frühstück heute war eine seltene Ausnahme.
Und das, dachte sie, ist ja auch gründlich daneben gegangen. Wenn sie an Paula dachte, tat sie das mit schlechtem Gewissen. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrer Tochter umgehen sollte, konnte sich nicht einfühlen in die Vierzehnjährige. Nora bewunderte Johan, bewunderte die Ruhe, mit der er auf Paula einging. Das hatte er immer besser gemacht als sie.
Nora rubbelte sich die Haare trocken, stieg in eine schwarze Leinenhose und nahm ein weißes T-Shirt aus dem Schrank. Heute Abend würde sie früher zu Hause sein, nahm sie sich vor. Vielleicht könnte sie Johan und Paula dazu bewegen, mit ihr zu ihrem Lieblingsitaliener zu gehen. Die letzte Möglichkeit, vor ihrer Abreise noch einmal etwas gemeinsam zu unternehmen und das verunglückte Frühstück vergessen zu machen?
Später fuhr Nora durch flimmernde Hitze. Sonnenflecken auf dem Asphalt. Vor dem Eingang des schneeweißen Gebäudes der Hochschule schob sie ihr Fahrrad zwischen die anderen und schloss es ab.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer begegnete sie ihrem südkoreanischen Kollegen Choi. Ein ausgezeichneter Dirigent. Der Name Choi, hatte er ihr einmal lächelnd erklärt, bedeute hochgewachsen, imposant. Er war klein, zierlich und außerordentlich höflich.
»Ich war sicher eine große Enttäuschung für meine Eltern«, hatte er hinzugefügt.
Mit einer leichten Verbeugung grüßte er Nora. »Darf ich Sie fragen, wie sich mein junger Kollege macht?”
Nora verbeugte sich ebenfalls. »Sehr gut. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet.«
Choi sprach von seinen Schülern stets von Kollegen. Ausdruck seiner Achtung?
Sie mochte ihn sehr. Mit seinem Hang zur Selbstironie hatte er ihr Herz erobert. Davon abgesehen war er ein begnadeter Dirigent und Pädagoge.
»Ich wünsche ihm viel Erfolg in Sidney.« Wieder folgte eine kleine Verbeugung.
»Ich bin sicher, dass er ein Erfolg wird. »Ihr ‚Kollege’ Musa«, jetzt lächelte sie, »wird ganz bestimmt Eindruck machen.«
Ein Blick auf die Uhr, noch eine Stunde bis zur nächsten Unterrichtsstunde. Nora schritt einen langen Flur entlang und betrat den Mendelsohn-Raum. Holzpaneele an den Wänden, ein schön gemusterter Holzfußboden, ein hohes Fenster mit Jugendstilmuster, davor ein glänzend schwarzer Flügel. Ihr liebster Raum. Nur sie und dieses wunderschöne Instrument.
Nora erstand auf dem Weg nach Hause einen üppigen Blumenstrauß. Sie fragte sich, warum Johan ihr nie Blumen schenkte. Er war ein großzügiger Mann, mit ebenso großzügigen Geschenken. Aber nie brachte er ihr Blumen.
Die Hitze war noch drückender als am Vormittag. Die Blumen brauchten Wasser und sie eine Dusche. Sie trat heftiger in die Pedale.
Vielleicht waren er und Paula schon daheim? Nora schob das Rad in die Garage. Kaum hatte sie die Haustür aufgeschlossen, schlug ihr aus dem Zimmer ihrer Tochter laute House-Musik entgegen. Ein Zeichen, dass sie nicht alleine war. Allein hörte Paula lieber Jazz oder Klassik. In der Küche sah es aus, als ob eine Horde Vandalen darin gehaust hätte.
Wenn sie sich jetzt aufregte, dachte sie, wäre es mit dem gemütlichen Abendessen mit Mann und Tochter vorbei. Sie erkannte bitter, dass sie um eines Friedens willen, der nicht wirklich einer war, vor Paula kapitulierte. Nora empfand eine Mischung aus Scham und Wut. Sie arrangierte die Blumen in einem Glasgefäß und stellte es, nachdem sie schmutzige Teller, Besteck und zerknüllte Papierservietten weggeräumt hatte, auf den Tisch. Sie würde erst einmal duschen, bevor sie sich Paula stellte.
Johan las Noras SMS: Ich möchte mit dir und Paula zum Italiener gehen. Bin früh zu Hause. Kuss. Die Nachricht war vor Stunden eingegangen, aber er hatte sein Handy ausgestellt.
Jetzt war es zu spät, ihr abzusagen. Nora würde sicher schon auf ihn warten. Er rannte fast und kam außer Atem an. Sein Tag war ausgefüllt gewesen mit Seminaren, Besprechungen mit Kollegen und Terminen mit seinen Doktoranden. Aus seinem Treffen mit Charlott, das er absichtlich spät eingeplant hatte, um mehr Zeit mit ihr zu haben, war nun nichts geworden. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Sie war klug, einige ihrer Gedanken brillant. Charlott war inspirierend. Und mit ihr waren die Meetings spannender geworden.
Johan schloss die Haustür auf und stieß beinahe mit Ollie zusammen.
Der hob entschuldigend die Hände. »Wir wollten gerade gehen.«
Hinter Ollie erschienen drei weitere Jugendliche. Die mit einem lässigen, aber unverständlichen Gruß seine Wohnung verließen. Wer sind die?, fragte er sich, nachdem er ein dümmliches: »Hat mich gefreut« gemurmelt hatte. Was redest du denn da? Er schüttelte über sich selbst den Kopf.
»Wer sind die?«, fragte er jetzt seine Tochter, die aus ihrem Zimmer kam.
»Ollie und ein paar Freunde.«
»Freunde?«
»Ja, Freunde«, sagte Paula ungeduldig. »Wir sind alle gegen Tierversuche. Du kannst dir nicht vorstellen, wie diese Leute die Tiere quälen.«
»Worum geht es?« Nora hatte Hosen und T-Shirt gegen ein knöchellanges, schmales Leinenkleid getauscht.
Jadegrün. Wie der Leib einer Nixe, dachte Johan. »Um Tierversuche«, sagte er.
»Um Tierquälerei«, sagte Paula.
»Aha.« Sie ging nicht weiter darauf ein. »Habt ihr Lust auf italienisches Essen?«
»Ich habe schon gegessen.« Paula wandte sich ab, hielt aber in der Bewegung inne, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte:
»Das war nicht zu übersehen.« Nora biss sich auf die Lippe. Verdammt! Aber sie konnte den Satz nicht ungesagt machen.
»Was dagegen, wenn ich die Küche mal benutze?«
»Natürlich nicht. Aber du musst kein Schlachtfeld hinterlassen.«
»Du bist sowas von spießig.«
Johan legte Paula eine Hand auf die Schulter. »Begleite doch deine Spießer-Eltern zum Italiener. Eine von den köstlichen Nachspeisen wirst du doch noch essen können?«
Paula musste lachen. Sie besaß den gleichen Humor wie ihr Vater. »Na gut, ich hole mein Handy.«
Nora schenkte Johan ein dankbares Lächeln. »Du bist der Beste.« Sie küsste ihn.
Die kleine Terrasse der Trattoria war gut gefüllt. Angelo begrüßte sie mit Handschlag und führte sie zu dem letzten freien Tisch. Er zwinkerte Paula verschwörerisch zu.
»Heute haben wir Cannoli al Limoncello.«
Angelo kannte Paulas Vorliebe. Und dieses cremegefüllte Sommerdessert mochte sie besonders gerne.
Paula strahlte Angelo an. Nora sah die Verwandlung ihrer Tochter vom mürrischen Teenager in ein reizendes junges Mädchen.
Johan blickte sie lächelnd an. Sie verstanden sich ohne Worte. Dafür liebte Nora ihn. Er war so erwachsen, sie konnte ihn sich nicht als Kind vorstellen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher. Sie legte ihre Hand auf seine und zog sie zurück, als Paula das Gesicht verzog.
»Wer war die Frau?«, fragte Paula beiläufig und stopfte sich einen Löffel Eis in den Mund. Es war der dritte Nachtisch, den sie sich bestellt hatte. Erst die Cannoli, dann Pannacotta mit Erdbeersoße, jetzt das Eis.
»Welche Frau?«
»Na, die Frau, mit der ich dich heute gesehen habe.«
»Wo soll das gewesen sein?« Johan legte den Löffel, mit dem er Zucker in seinen Espresso gerührt hatte, sorgfältig auf die Untertasse.
»Im Park. Vor dem Institut.«
»Stalkst du mich?« Johan hob eine Braue.
Nora sah eher interessiert als beunruhigt auf.
»Und wenn?« Paula kratzte das letzte Eis aus ihrem Becher. »Sie ist jung und ziemlich hübsch«, sagte sie an ihre Mutter gewandt. »Du musst dich anstrengen, Nora. Vielleicht solltest du deine Reise nach Sidney verschieben?«
Paula hat mit wenigen Worten die Stimmung gekippt, dachte Johan. Darin war sie eine Meisterin.
Nora schwieg.
»Eine Doktorandin. Sie ist in meinem Seminar.«