Flowers & Bones, Band 1: Tag der Seelen - Sandra Grauer - E-Book
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Flowers & Bones, Band 1: Tag der Seelen E-Book

Sandra Grauer

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Beschreibung

Am Tag der Toten erwacht die Magie zum Leben Valentina hütet ein Geheimnis: Sie ist La Catrina, jene legendäre Figur, die zum Sinnbild für den mexikanischen Tag der Toten geworden ist. Damit ist es ihr bestimmt, verlorene Seelen ins Reich der Toten zu führen. Doch Valentina muss aufpassen, nicht zur Zielscheibe zu werden. Denn seit die Menschen von der Existenz übernatürlicher Wesen wissen, machen einige von ihnen unerbittlich Jagd auf sie. Valentina vertraut sich ausgerechnet der Hexe Lily an, nicht ahnend, dass diese ihre eigenen Pläne verfolgt – eine schicksalhafte Entscheidung … *** Urban Romantasy vor der atmosphärischen Kulisse des Día de los Muertos! Episch. Traumhaft. Magisch! *** Entdecke die fantastisch-romantischen Buchwelten von Sandra Grauer bei Ravensburger: Flowers & Bones Band 1: Tag der Seelen Band 2: Kuss der Catrina Flame & Arrow Band 1: Drachenprinz Band 2: Elfenkriegerin Clans of London Band 1: Hexentochter Band 2: Schicksalsmagie

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Seitenzahl: 533

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Originalausgabe

© dieser Ausgabe 2023, Ravensburger Verlag GmbH,

Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

 

Text © 2023 Sandra Grauer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

litmedia.agency, Germany.

 

Lektorat: Franziska Jaekel

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Verwendete Bilder von © Dmitriy Rybin, © WhyWork, © Siam Vector,

© kostins, © k_yu, © Olga_Rusinova, alle von Shutterstock

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-473-51197-6

 

ravensburger.com

 

 

Für Betty, Niklas und Christian

Und für alle Fans von

»Clans of London«

und

»Flame & Arrow«

 

Playlist

Rise Against    Tragedy + Time

Tonight Alive, Dave Petrovic    Little Lion Man

Watt White    Death Grip

Hey Violet    Hoodie

Hey Violet    Unholy

ITCHY    Dancing in the Sun

The Gaslight Anthem    45

New Found Glory    The King of Wishful Thinking

Jimmy Eat World    The Middle

Qietdrive    Africa

We Are The In Crowd    The Best Thing (That Never Happened)

Pink    So What

Jack White, Alicia Keys    Another Way To Die

The Offspring    This Is Not Utopia

Fall Out Boy    I Don’t Care

Pitbull, Pharrell Williams    Blanco

Wiz Khalifa, Charlie Puth    See You Again

Ed Sheeran    I Will Remember You

Belinda Carlisle    Heaven Is A Place On Earth

Axwell /\ Ingrosso    More Than You Know

Akwid    Es mi gusto

El Tri    Las piedras rodantes

Vorwort

»Flowers & Bones« ist bereits meine dritte Dilogie für Ravensburger, und ich freue mich so unglaublich darüber. Vielen Dank, dass ich diese Geschichte schreiben durfte!

Wusstet ihr eigentlich, dass alle Dilogien von mir in einem Universum spielen? Ihr könnt sie unabhängig voneinander lesen, aber in der richtigen Reihenfolge ergibt sich ein großes Ganzes.

In »Clans of London« passiert etwas, das nicht nur Auswirkungen auf »Flame & Arrow« hat, und in »Flame & Arrow« wiederum passiert etwas, das Auswirkungen auf »Flowers & Bones« hat. In allen Dilogien findet ihr versteckte Hinweise (liebt ihr diese Easter Eggs auch so sehr wie ich?), und bekannte Figuren spielen auch in den neuen Geschichten eine Rolle. Am Ende …

Aber lest am besten selbst. Ich wünsche euch ganz viel Spaß mit Valentina, Emiliano, Lily und natürlich mit den Hexenclans, den Drachen und den Fae.

Hinten im Buch findet ihr übrigens eine dilogieübergreifende Figurenliste, aber Vorsicht: Diese spoilert nicht nur die vorherigen Dilogien. Schaut am besten nicht vor der Mitte von »Tag der Seelen« hinein.

 

 

Jede Generation hat ihre Frage.

Für unsere Großeltern war es: Wo warst du, als Präsident Kennedy ermordet wurde?

Für unsere Eltern: Wo warst du, als die Flugzeuge ins World Trade Center geflogen sind?

Und für unsere Generation ist es: Wo warst du, als sich die Drachen offenbart haben?

Doch das hier ist keine Geschichte über Drachen.

Okay, der eine oder andere Drache spielt möglicherweise eine Rolle, außerdem kommen auch Hexen, Magier, Fae und Geister vor.

Aber in erster Linie ist das unsere Geschichte – die Geschichte meiner Familie.

Meine Geschichte.

Prolog

Valentina

Sechs Jahre zuvor

»Bist du bereit?«, fragte Mamá und hielt mir ihre Hand hin.

Heftig nickend griff ich danach und verschränkte auf der anderen Seite Oma Ximenas Finger mit meinen. Schon seit Wochen freute ich mich auf diesen Moment, dabei war es bei Weitem nicht mein erster Día de los Muertos. Als mexikanische Familie feierten wir den Tag der Toten natürlich jedes Jahr zusammen auf dem Friedhof. Es nicht zu tun wäre dasselbe, wie Weihnachten ausfallen zu lassen. Außerdem soll denen, die ihre Ahnen nicht gebührend gewürdigt haben, Schlimmes widerfahren sein.

Ich hatte diese Zeit des Jahres schon immer geliebt, den November sehnsüchtig herbeigewünscht, noch bevor ich überhaupt verstanden hatte, was wir eigentlich feierten. Bevor ich wusste, dass meine Familie eine besondere Rolle in diesem Fest einnahm. Doch heute war es anders als sonst. Heute wollten Mamá und Abuelita mir zeigen, was mich an meinem achtzehnten Geburtstag erwartete – denn in der Nacht von Halloween auf den ersten November würde ich zu Mamás Nachfolgerin werden. Dann könnte auch ich unsere Ahnen endlich sehen und mich mit ihnen unterhalten. Dann wäre es meine Aufgabe, geplagten Seelen, die zwischen den Welten gefangen waren, beim Übertritt in das Reich der Toten zu helfen.

Mamá lächelte mir zu, ihre schokoladenbraunen Augen strahlten vor Stolz. »Komm, mi chiquita«, sagte sie zu mir, bevor sie nach oben rief: »Diego? Wir machen uns jetzt auf den Weg. Hasta luego.«

»¡Espera! Warte!« Gleich darauf eilte mein Vater die Treppe herunter, einen Kaffeefleck auf dem hellblauen Hemd und die dunklen Haare ein wenig wirr, weil er schon wieder seit Stunden über seinen Büchern brütete. Er hielt einen Fotoapparat in den Händen, ließ ihn jedoch plötzlich sinken und blieb mitten auf der Stufe stehen. Seine Augen nahmen diesen liebevollen Ausdruck an, wie immer, wenn er Mamá ansah. »Pita, dein Kostüm ist umwerfend.«

Erneut nickte ich. Mamá war nicht nur die schönste Frau, die ich je gesehen hatte, sie war auch die allerschönste Catrina, und davon liefen am Tag der Toten in unserem kleinen Ort südlich von Mexiko-Stadt nicht wenige herum – auch wenn es nur eine echte gab.

»La Catrina steht symbolisch für den Diá de los Muertos«, hatte Abuelita mir an Halloween vor meinem fünften Geburtstag erklärt, als sie mich im Stil der Skelettdame geschminkt hatte. »Sie verkörpert den Tod, der uns eines Tages alle ereilt, egal, welcher Schicht wir angehören.«

Ihre dunklen Haare hatte Mamá wie jedes Jahr am Ansatz in einzelne Strähnen unterteilt, die offen über ihre Schultern fielen. Auf ihrem Kopf prangte ein Kranz aus orangefarbenen Studentenblumen, die am Día de los Muertos auf sämtlichen Friedhöfen und Altären in Mexiko zu finden waren. Dazu trug sie ein weißes Kleid mit einem Rock aus mehreren Lagen, die rot umsäumt und mit großen bunten Blumen bedruckt waren. Doch das Highlight war wie immer Mamás Gesicht. Es war komplett weiß geschminkt und darüber farbenfroh bemalt. Die mit blauem Lidschatten hervorgehobenen Augen waren von großen gelben Kreisen umgeben, die mit bunten Halbkreisen verziert waren. Auf Stirn und Kinn prangte je eine pinke Blume, Nase und Mund waren ebenfalls pink, wobei der Mund wie bei jedem Catrina-Make-up zusätzlich mit einer Naht versehen war.

»Nicht wahr?«, stimmte Abuelita zu. »Pita sieht zauberhaft aus. Und was sagst du zu Valentina?«

Schüchtern richtete ich den Blick auf Papá, der lächelte, als wäre er der stolzeste Vater der Welt. Dabei konnten er und mein Bruder Emiliano dem Tag der Toten lange nicht so viel abgewinnen wie die Frauen unserer Familie – was unter Umständen damit zusammenhing, dass die beiden keine Ahnung hatten, welche Rolle die weiblichen Mitglieder mit ihrem achtzehnten Geburtstag einnahmen.

Seit ich denken konnte, wurde auch ich zum Tag der Toten als Catrina verkleidet, doch heute fühlte es sich irgendwie besonders an. Das rosafarbene Rüschenkleid mit der weißen Spitze trug ich zum allerersten Mal. Dazu hatte Abuelita mir einen bunten Fächer überreicht, der schon ihr als Kind gehört hatte. Meine Haare waren zu zwei festen Zöpfen geflochten, und wie Mamá trug auch ich Blumenschmuck auf dem Kopf. Mein Catrina-Make-up war etwas weniger aufwendig und nicht ganz so farbenfroh wie ihres, und trotzdem liebte ich es. Meine Augen waren mit schwarzen Kreisen umrandet und mit hellblauen, rosafarbenen und durchsichtigen Strasssteinen verziert. Meine Nase war ebenfalls schwarz, und auf meiner Stirn prangte ein Herz. Nur mein Mund war wie Mamás pink geschminkt und mit der obligatorischen Naht versehen.

»Maravillosa«, sagte Papá. »Wunderschön. Stellt euch doch mal vor die Ofrenda, damit ich ein Foto von euch machen kann.«

Wie gewünscht, gingen wir ins Wohnzimmer zum Altar, auf dem Bilder meiner verstorbenen Urgroßeltern, meines Opas Héctor und meiner Tante Juanita standen. Dekoriert war der Altar mit unzähligen Studentenblumen und Kerzen, Räucherstäbchen, Girlanden und Heiligenbildern. Natürlich durfte auch das Pan de muerte nicht fehlen. Das süße Brot, das es nur zu dieser Jahreszeit gab, gehörte zum Tag der Toten wie der Tannenbaum zu Weihnachten.

»Und jetzt sagt mal alle Whisky.«

Papá drückte auf den Auslöser, als ihm das Wort entgegenschallte. Er machte noch jeweils ein Foto von mir und Mamá allein, von mir mit Abuelita sowie von Mamá mit Abuelita. Zum Abschluss musste Abuelita ein Familienbild schießen, nachdem auch Emiliano nach unten gekommen war.

»Vale, jetzt müssen wir aber wirklich los«, sagte Mamá lachend. »Wir sehen uns nachher auf dem Friedhof.« Sie wollte Papá einen Kuss auf die Wange geben, doch er drehte den Kopf, sodass sie stattdessen seinen Mund traf.

Fünf Minuten später waren wir auf dem Weg Richtung Stadtzentrum. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und auf den Straßen tobte das Leben. Überall waren Menschen unterwegs, lachten und sangen zusammen. Bunte Girlanden waren zwischen den Häusern gespannt, hier und da auch Lichterketten. Unsere Nachbarn verteilten Pan de muerte, und durch die offenen Haustüren konnte ich mehr als einmal die wunderschön dekorierten Ofrendas sehen.

Schon bald erreichten wir den eigens zu diesem Anlass aufgebauten Markt und schlenderten an den Spielbuden und Ständen vorbei, an denen man Getränke und Essen kaufen konnte, aber auch Taschen, Kleidung oder Tonwaren. Natürlich gab es auch Blumen, vor allem orangefarbene Studentenblumen oder purpurroten Hahnenkamm aus Oaxaca, und Totenköpfe in den verschiedensten Farben und Varianten, sogar als Süßigkeit. Die Luft war erfüllt von Mariachi-Musik – wie Cielito Lindo, der inoffiziellen Hymne Mexikos – und von Zuckerwatte, im wahrsten Sinne des Wortes. Kleine Wattestückchen schwebten umher, wurden eingefangen und verspeist. Mamá fing auch für mich ein Stück, dann kaufte sie mir eine Atole, ein Heißgetränk aus Mais, das wir immer zum Tag der Toten tranken und das es in verschiedenen Geschmacksrichtungen gab. Ich mochte am liebsten Guave.

Nachdem auch Mamá und Abuelita etwas zu trinken hatten, gingen wir hinüber zur Bühne, wo den ganzen Abend Live-Musik gespielt wurde. Ich saß auf Mamás Schoß, und wir schunkelten zu den Klängen mit. Als plötzlich Papá und Emiliano auftauchten, war die Überraschung groß. Die beiden kamen für gewöhnlich erst später dazu, wenn wir auf den Friedhof gingen. Mamá und Papá tanzten, Abuelita klatschte im Takt mit, und Emiliano und ich bekamen ein paar Pesos, damit wir uns etwas zum Naschen kaufen konnten. Am Ende bekamen wir unsere Zucker-Totenköpfe sogar geschenkt, denn heute war nicht nur der Start des Día de los Muertos, sondern auch Halloween. Deshalb hatten viele verkleidete Kinder Laternen bei sich, in denen sie Süßigkeiten sammelten.

Schließlich gingen wir auf den Friedhof, den Cementerio de San Andrés Mixquic, wo es übervoll, laut und bunt war. Hier duftete es nach süßen Blumen und Copal, einer Art Weihrauch, und überall brannten Kerzen. Die Kirchenglocken läuteten, fröhliche Musik war zu hören.

Zusammen mit Abuelita hatte ich bereits heute Mittag das Grab unserer Vorfahren geputzt und geschmückt. Nun versammelten wir uns auf den Klappstühlen, die dort bereitstanden, und machten uns über die Leckereien her, die Papá im Picknickkorb mitgebracht hatte. Es gab Opa Héctors Lieblingsessen, Hühnchen mit Reis und Mole Poblano, Schokoladen-Chili-Soße. Während wir aßen, erzählten die Erwachsenen Geschichten von früher. Von Mamás Schwester Juanita, die viel zu früh gestorben war und die ich daher nie kennengelernt hatte; von meinen Urgroßeltern, an die ich mich kaum noch erinnern konnte, und von Abuelitas Mann Héctor, der Mariachi-Musik geliebt hatte. Als Papá schließlich seine Gitarre hervorholte und zu spielen begann, sangen wir alle lauthals mit.

Die Zeit verging wie im Flug. Gegen Mitternacht wurde es ruhiger, denn die Ankunft der Angelitos, der Seelen verstorbener Kinder, stand kurz bevor. Sie kehrten in der Nacht von Halloween auf den ersten November für vierundzwanzig Stunden in unsere Welt zurück, um in der darauffolgenden Nacht Platz für die Seelen verstorbener Erwachsener zu machen.

Die Kirchturmuhr schlug zwölf Mal, und als der letzte Schlag verklungen war, schlich sich ein seliges Lächeln auf Mamás und Abuelitas Lippen. Da wusste ich, dass Tante Juanita ins Diesseits zurückgekehrt war. Auch ich musste lächeln, obwohl ich meine Tía nicht sehen konnte, doch ich glaubte ihre Anwesenheit zu spüren.

Mamá stand auf und hielt mir ihre Hand hin. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem zwölften Geburtstag, Valentina. ¿Vamos?«

Ich sollte mitgehen? Normalerweise machte sie sich zu dieser Zeit allein auf den Weg. Ich hatte immer gedacht, sie würde das Grab einer viel zu früh verstorbenen Schulfreundin besuchen und sich dort ein bisschen mit deren Eltern und Geschwistern unterhalten, doch seit einigen Jahren wusste ich es besser.

Mit großen Augen stand ich auf und nahm Mamás Hand. Stolz erfüllte mich, weil ich sie endlich begleiten durfte, und ich konnte es kaum erwarten, unsere Ahnen eines Tages selbst zu begrüßen.

Kapitel 1

Valentina

»Bitte, Diego, sag nicht gleich Nein. Schlaf eine Nacht drüber, Valentina und Emiliano zuliebe. Die Kinder haben erst vor Kurzem ihre Mutter verloren, du solltest ihnen nicht auch noch ihre Heimat nehmen.«

»Wir alle haben Pita verloren. Deshalb ist es umso wichtiger, dass diese Familie zusammenbleibt«, erwiderte mein Vater. »Es kommt überhaupt nicht infrage, dass ich ohne die Kinder nach Irland gehe.«

»Dann bleib in Mexiko.« Die Stimme meiner Oma wurde sanfter und so leise, dass ich sie kaum noch verstand. »Ich weiß, dass dich alles hier an Lupita erinnert, aber weglaufen ist keine Lösung. Gerade für Valentina ist es unglaublich wichtig, dass sie in ihrem gewohnten Umfeld bleibt.«

Ich lehnte mich angespannt nach vorn, um Papás Antwort nicht zu verpassen. Kurz glaubte ich Schritte und ein Seufzen wahrzunehmen, war mir aber nicht sicher, denn mein Zwillingsbruder hörte ein Stockwerk über uns mal wieder viel zu laut Musik. Zu allem Überfluss hatte er sich für Akwid entschieden, eine mexikanische Hip-Hop-Band. Auch aus dem Wohnzimmer, wo sich Papá und Abuelita unterhielten, drangen sanfte Gitarren- und Mundharmonikaklänge zu mir in den Flur, doch Papá hatte die Musik wie mein Bruder viel zu laut gestellt. Seit Mamá nicht mehr da war, liefen in unserem Haus fast nur noch die Alben von El Tri, dem mexikanischen Pendant zu den Rolling Stones. Vor allem Las piedras rodantes, Papás und Mamás Lied, war allgegenwärtig. Dazu hatten sie sich das erste Mal geküsst, damals auf Mamás Abschlussball.

Papás Antwort blieb nach wie vor aus. Vielleicht sollte ich zu den beiden gehen? Immerhin hing meine Zukunft von Papás Antwort ab. Was sollte ich in Irland? Für das, was mir bevorstand, brauchte ich meine Oma an meiner Seite, und sie würde Mexiko niemals verlassen.

Ich hatte mich bereits halb von der Treppe im Flur erhoben, als mir Abuelitas Worte in den Sinn kamen und ich mich zurück auf die Stufe fallen ließ. »Lass mich mit deinem Vater reden, Valentina. Wir wissen beide, wie emotional du werden kannst, und wir wissen auch, wie dein Vater darauf reagiert. Wenn du laut wirst und er dichtmacht, erreichst du gar nichts.« Abuelita hatte recht. Solange Papá keine endgültige Entscheidung gefällt hatte, musste ich mich wohl oder übel zurückhalten. Denn ich würde laut werden, und er würde dichtmachen. Das war so sicher wie die mexikanische Hurrikan-Saison in den Sommer- und Herbstmonaten – nur dass meine Mutter nicht mehr da war, um einzugreifen und sich auf meine Seite zu stellen.

Sie hatte immer gewusst, wie sie mit Papá umgehen musste. Sie war laut und leidenschaftlich gewesen, genau wie ich, und damit das komplette Gegenteil meines Vaters, der leise und rational war und sich von zu vielen Emotionen überfordert fühlte. Früher hatte ich mich oft gefragt, wie sie es miteinander aushielten. Sie waren wie Tag und Nacht gewesen, und doch hatten sie einander nicht nur ergänzt, sondern gebraucht. Beide konnten ohne einander nicht existieren. Und seit Mamá an Krebs gestorben war … Papá war anders, noch introvertierter und leiser als früher. Das belastete unsere Beziehung, denn es machte unsere Unterschiede immer deutlicher. Was zur Folge hatte, dass wir uns häufiger stritten – oder uns aus dem Weg gingen.

Mir war klar, dass Papá nur sich und sein Herz schützen wollte, denn Mamá fehlte ihm mehr, als er jemals hätte in Worte fassen können. Natürlich verstand ich ihn. Mir fehlte sie mindestens genauso sehr. Ich vermisste es, nicht mehr jeden Tag ihre Stimme und ihr Lachen zu hören, ihren Duft einzuatmen oder sie um Rat fragen zu können, den ich so kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag dringend gebraucht hätte. Trotzdem saß mein Schmerz nicht so tief wie Papás, denn ich glaubte – nein, ich wusste –, dass Mamá nicht für immer fort war. Wir würden uns wiedersehen, schon bald. Papá war dagegen einer der wenigen Menschen in Mexiko, die den Glauben an das Leben nach dem Tod nicht teilten, und das machte Mamás Verlust für ihn ungleich schlimmer.

Wenn ich ihm nur sagen könnte, dass alles in Ordnung war, dass es Mamá gut ging. Doch es hatte keinen Sinn. Er würde mir nicht glauben, und aus diesem Grund konnten wir ihm auch nicht sagen, warum ich unbedingt in Abuelitas Nähe bleiben wollte. Für ihn existierte nur das, was er mit eigenen Augen sehen konnte, dabei gab es so viel mehr als das. Er müsste nur über seinen Tellerrand hinausschauen, doch dazu war er nicht bereit.

Die Musik im Wohnzimmer wurde ausgestellt, und ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Gleich darauf atmete mein Vater hörbar aus.

»Ich werde die Dozentenstelle in Irland annehmen, und die Kinder kommen mit. Das ist mein letztes Wort.«

»Diego, bitte …«

»¡Ximena, basta!«, sagte mein Vater nicht laut, aber bestimmt. »Ich weiß, dass du es nur gut meinst, doch es reicht.«

Ich wusste genauso gut wie Abuelita, dass es nichts bringen würde, weiter auf Papá einzureden. Trotzdem hatte ich nicht vor, es dabei zu belassen. Als er nur wenige Sekunden später das Wohnzimmer verließ, stürzte ich jedoch nicht gleich auf ihn zu, sondern spürte mit einem Mal eine tiefe Traurigkeit. Papá kam zur Treppe, blickte auf mich herab und stieß ein Seufzen aus, ehe er sich neben mich setzte.

»Schau mich nicht so an, Valentina. Vertrau mir, es wird dir und Emiliano in Dublin gefallen. Die Stadt ist wunderschön, und das Trinity College hat einen hervorragenden Ruf. Wenn du dort studierst, stehen dir alle Türen offen.«

Das würden sie auch, wenn ich in Mexiko-Stadt aufs College gehen würde. Es lag sogar nur etwa vierzig Kilometer von San Andrés Mixquic, unserem Heimatort, entfernt. Doch anstatt ihm das um die Ohren zu hauen, sagte ich lahm: »Aber das Semester hat doch längst begonnen.«

»Die Vorlesungen fangen erst diese Woche an, ihr verpasst also nur ein paar Tage. Außerdem habe ich bereits alles mit dem Dekan geklärt. Du und Emiliano könnt planmäßig mit eurem Studium starten.«

Automatisch nickte ich, doch dann schüttelte ich den Kopf. »Papá, bitte, lass mich bei Abuelita bleiben. Nur ein paar Monate, okay? Ich komme zum nächsten Semester nach, wenn es dir wirklich so wichtig ist.«

Mein Vater ließ sich Zeit mit seiner Antwort, und meine Handflächen wurden feucht. Das war meine letzte Chance, ihn zum Umdenken zu bewegen. Noch war ich nicht volljährig und musste tun, was er von mir verlangte.

Er holte tief Luft. »Gegenvorschlag: Du gibst Irland eine Chance, und sollte es dir dort gar nicht gefallen, sehen wir weiter. ¿Vale?«

Drei Herzschläge vergingen, doch ich wusste, dass ich verloren hatte. Ein besseres Angebot konnte ich vergessen, und wenn ich weiterbohrte, würde ich es nur noch schlimmer machen.

»Vale«, wiederholte ich deshalb, auch wenn es mir schwerfiel. Einverstanden.

Ich klopfte an Emilianos Tür, doch die Musik war so laut, dass er mich garantiert nicht hören konnte, also öffnete ich die Tür einfach. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen lag er auf seinem Bett und starrte an die Decke. Nun blickte er zu mir.

»Und?«

Ich las das Wort von seinen Lippen ab, da er kaum zu verstehen war. Kurzerhand ging ich zu seinem Handy, stellte die Musik einige Dezibel leiser und wechselte von Akwid zu Tonight Alive. Little Lion Man hörten wir beide gern, weshalb mein Bruder keinen Einspruch erhob, sondern nur die Augen verdrehte.

»Nichts zu machen«, beantwortete ich seine Frage und ließ mich neben ihn auf die Matratze fallen. »Wir müssen Irland zumindest eine Chance geben.«

Emiliano wandte den Kopf wieder Richtung Decke. »Das hab ich mir schon gedacht.«

»Warum willst du eigentlich unbedingt hierbleiben? Ist es wegen Teresa?«

Mein Bruder schnaubte leise. »Das mit Teresa ist längst vorbei. Nach dem letzten Spiel habe ich sie erwischt, wie sie mit Miguel rumgemacht hat.«

»Oh! Tut mir leid.«

»Was soll’s. Wenn wir umziehen, hätte das sowieso keine Zukunft gehabt.«

Mein Bruder tat so, als wäre ihm die Trennung gleichgültig, doch ich wusste, dass dem nicht so war. Sein rechter Mundwinkel, den er leicht zur Seite zog, verriet ihn. Wir waren Zwillinge, ich kannte ihn genauso gut wie mich selbst. Seine blauen Augen wurden immer ein bisschen dunkler, wenn er wütend war, und obwohl er sehr viel Zeit auf dem Fußballplatz in der Sonne verbrachte, wollte seine Haut einfach nicht so richtig braun werden. Die braunen Haare, einige Schattierungen heller als meine, hatte er sich an den Seiten abrasiert, nachdem er sich vor einem Jahr von Juana getrennt hatte. Neuerdings band er sie nicht nur zu einem Männerdutt am Hinterkopf zusammen, sondern flocht sie vorher. Ich hätte mir denken können, dass etwas mit ihm und Teresa nicht stimmte, denn auf Enttäuschungen reagierte mein Bruder stets mit Veränderungen. Nach Mamás Tod hatte er sich ein Tattoo auf den linken Oberarm stechen lassen – eine Schildkröte mit Affenkopf und Stacheln auf dem Panzer, die normalerweise bunt schillern würde. Es war ein Alebrije, eines der tierähnlichen Fantasiewesen, das in unserer Kultur Glück brachte und böse Geister vertreiben sollte. Mamá hatte diese Wesen geliebt und gesammelt. Die Vitrine im Wohnzimmer war voll mit den farbenfrohen, aus Holz geschnitzten Wesen, die sie von ihren Reisen nach Oaxaca mitgebracht hatte.

»Warum willst du unbedingt bleiben?«, fragte Emiliano in die Stille, die nur von der Indie-Musik unterbrochen wurde. »Wegen María Elena und Abuelita?«

»Sicher«, antwortete ich nach kurzem Zögern. Natürlich würde ich meine Sandkastenfreundin und meine Oma vermissen, das alles hier. Ich liebte Mexiko, ich liebte unsere Kultur und unsere Traditionen. Leise fügte ich hinzu: »Und am ersten Día de los Muertos nach Mamás Tod wäre ich gern hier, weißt du?«

Denn in der Nacht auf den zweiten November würde Mamás Seele ins Diesseits zurückkehren, um mit uns den Tag der Toten zu feiern. Diesen Tag konnte ich unmöglich in Dublin verbringen. Dort würde ich Mamá nicht wiedersehen, dabei sehnte ich diesen Moment seit Monaten herbei. Wenn ich nur daran dachte, wie es für sie wäre, wenn sie die lange Reise aus dem Jenseits auf sich nahm, um dann nur Abuelita am Grab anzutreffen … Der Gedanke schmerzte mehr als die Tatsache, dass ich den kommenden Día de los Muertos ohne Abuelita überstehen musste. Ich schluckte gegen das trockene Gefühl in meinem Hals an. Tränen brannten in meinen Augen.

Emiliano drehte den Kopf wieder zu mir. »Ich verstehe dich, auch ich würde Anfang November gern hier sein.«

Überrascht erwiderte ich seinen Blick. Eigentlich war er wie Papá eher rational, auch wenn beide sämtliche Traditionen mitmachten. Zum einen konnte niemand den Feierlichkeiten entgehen, zum anderen hatten sowohl Abuelita als auch Mamá stets darauf bestanden, dass die beiden dabei waren. Dennoch hatte ich immer gedacht, dass mein Bruder nicht wirklich daran glaubte. Oder ging es ihm nur so, weil Mamá diese Zeit des Jahres so sehr geliebt hatte? Vielleicht kannte ich ihn doch nicht so gut, wie ich immer angenommen hatte. Seltsamerweise war der Gedanke tröstlich, denn auch ihm war ein wichtiger Teil meines Lebens bisher verborgen geblieben.

Der Moment zwischen uns dehnte sich aus, und ich konnte den Schmerz in Emilianos Augen sehen. Es war der gleiche Schmerz, den auch mein Vater in sich trug, und ich musste erneut schlucken. Um dem Moment die Schwere zu nehmen, sagte ich: »Hey, du wirst immerhin in die College-Fußballmannschaft aufgenommen. Das ist doch großartig.« Ich hatte mich noch nicht einmal für eine Studienrichtung entschieden.

Emiliano zuckte mit den Schultern. »Nur, wenn ich mich im Probespiel beweise.«

»Reine Formsache. Glaub mir, sie nehmen dich. Sie wären blöd, wenn sie es nicht täten. Aus dir wird der nächste Hugol, das weiß doch jeder.«

Emilianos Lippen umspielte wie immer ein Lächeln, wenn ich ihn mit Hugo Sánchez verglich, der als bester mexikanischer Fußballer aller Zeiten galt. Mein Bruder zog den Arm unter seinem Kopf hervor, und ich richtete mich leicht auf, damit er ihn um mich legen konnte. »Wenigstens haben wir einander. Zusammen werden wir das schon schaffen.«

Ich nickte und kuschelte mich an ihn. Die Familie war wichtig, doch bei dem, was mir in den kommenden Wochen bevorstand, würde mir weder mein Vater noch mein Bruder helfen können. Dafür brauchte ich ein weibliches Familienmitglied, und mit dem Umzug nach Dublin würde ich nach Mamá nun auch noch Abuelita verlieren.

Es klopfte an meiner Tür. »Sí? Ja?«, sagte ich und stopfte einen weiteren Stapel Strumpfhosen in verschiedenen Farben in den Koffer auf meinem Bett.

Abuelita öffnete die Tür und schloss sie wieder, bevor sie zu mir trat. Sie war kleiner als ich, und mit meinen einen Meter dreiundsechzig war ich nun wirklich keine Riesin. Dafür hatte sie eine beeindruckende Präsenz. Vielleicht lag es an der grauen Dauerwelle, die immer ein bisschen wirr aussah, oder an den grellen Farben, die sie stets trug, denn in diesem Punkt konnten wir uns kaum einiger sein: Schwarz und Weiß waren keine Farben. Ich glaubte jedoch, dass es vor allem an ihrem Gesicht lag. Jede Falte, jedes Funkeln in ihren Augen schien eine Geschichte zu erzählen, und davon hatte sie wirklich viele parat. Oma Ximena war eine großartige Geschichtenerzählerin, und das Faszinierendste daran war, dass sie die meisten davon selbst erlebt hatte.

»Du packst schon. Alles gut, Cariño?«

Ich nickte, auch wenn es nicht stimmte, aber ich wollte Abuelita nicht noch mehr Kummer bereiten. Sie sorgte sich ohnehin schon um mich, das konnte ich an ihren bernsteinfarbenen Augen erkennen, deren Mandelform ich ebenso von ihr geerbt hatte wie meine Vorlieben für Farben. Sie wusste jedoch ganz genau, dass ich nicht vor lauter Vorfreude packte, sondern um mich abzulenken.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie. »Ich habe eben noch einmal mit deinem Vater gesprochen, damit du wenigstens bis nach dem Tag der Toten bleiben kannst, aber er lässt sich nicht umstimmen.«

»Das wundert mich nicht, aber danke.« Ich wollte nach den kurzen Hosen greifen, die bereits auf dem Bett bereitlagen, hielt jedoch inne. Langsam drehte ich mich zu Abuelita um. »Und wenn wir …«, setzte ich an, unterbrach mich jedoch selbst. Es würde nichts bringen, auch wenn ich es vielleicht bereuen würde, am Ende nicht jede Chance genutzt zu haben.

Der Ausdruck in ihren Augen wurde noch weicher. »Wenn wir ihm die Wahrheit sagen? Ach, Valita. Ich wünschte, das wäre eine Option, aber du kennst deinen Papá. Würde nur die geringste Möglichkeit bestehen, dass er uns glaubt, hätte ich ihn längst eingeweiht. Doch ich fürchte, das würde alles nur noch schlimmer machen.«

»Du hast recht, das weiß ich. Es ist nur …« Plötzlich fühlte sich meine Brust zu eng an. Ich schloss die Augen, holte tief Luft, doch mein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. »Warum darf er über mein Leben bestimmen?«, platzte es aus mir heraus. »Warum darf er einfach so über meinen Kopf hinweg entscheiden, dass ich künftig in Dublin aufs College gehen soll? Zählt meine Meinung denn gar nicht?«

»Natürlich, aber du bist leider noch nicht volljährig, und in dem Punkt muss ich Diego zustimmen: Ihr solltet als Familie zusammenbleiben, denn la familia ist das Wichtigste.«

»Und was ist mit dir? Du gehörst doch auch dazu.«

»Ich komme klar, Valentina, mach dir keine Sorgen um mich. Außerdem weiß ich, dass dieser Umzug nicht endgültig ist. Diego läuft vor seinem Schmerz davon, aber irgendwann wird er einsehen, dass ihm das nicht gelingt.«

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich war mir da nicht so sicher. Papá war ein Verdrängungskünstler. Zumindest in dieser Hinsicht waren wir uns ähnlich. Ich packte meinen Koffer, während er mal eben das Land wechselte, um das Gedankenkarussell in seinem Kopf zu stoppen. Warum konnte er sich nicht einfach in seiner Arbeit vergraben, wie sonst auch, wenn ihn etwas bedrückte? Er war Paläontologe und liebte es, die vorzeitliche Tier- und Pflanzenwelt zu erforschen. An verregneten Nachmittagen beschäftigte er sich stundenlang mit seinen Büchern, die sich nicht nur in seinem Arbeitszimmer stapelten.

»Valita, sei nicht böse auf deinen Vater«, fuhr Abuelita fort und strich mir über die Haare. »Du und Emiliano seid ihm nicht egal, sonst würde er nicht so darauf beharren, dass ihr ihn begleitet.«

»Ich weiß, aber ich verstehe trotzdem nicht, warum er keine Rücksicht auf unsere Bedürfnisse nimmt. Mein Leben wird sich bald radikal ändern. Wie soll ich das ohne dich schaffen?« Frustriert warf ich die kurzen Hosen in den Koffer und ließ mich auf den frei gewordenen Platz auf der Matratze fallen.

Abuelita schob die Pullover zur Seite, setzte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schulter. »Du wirst das schaffen, Cariño, das bezweifele ich keine Sekunde. Und du kannst mich jederzeit anrufen oder mir schreiben. Nur deinetwegen habe ich mir von deinem Vater ein Handy aufschwatzen lassen. Du musst mir nur noch einmal zeigen, wie dieses Whats-wie-auch-immer funktioniert.«

Ich musste lachen und fühlte mich gleich ein bisschen besser. »Das ist gar nicht so schwer, wie es auf den ersten Blick vielleicht aussieht.«

»Gleiches gilt für deine Gabe«, sagte Abuelita sanft. »Sei einfach du selbst und glaub an dich. Außerdem solltest du Yoga machen.«

»Yoga?«, fragte ich skeptisch. Ich war durchaus sportlich und tanzte für mein Leben gern, aber Yoga? Wie sollte mir denn der herabschauende Hund helfen?

»Beim Yoga lernst du, dich zu erden und dich auf das Wesentliche zu konzentrieren«, erklärte Abuelita. »Vertrau mir, das wird dir bei deinen Aufgaben als Catrina helfen.«

»Aber woher weiß ich, was genau ich machen muss?« Mamá hatte mich zwar seit meinem zwölften Geburtstag mitgenommen, wenn sie die Seelen aus dem Jenseits empfangen hatte, aber da meine Fähigkeiten noch nicht entwickelt waren, hatte sie mir alles nur theoretisch erklären können. Und Theorie und Praxis lagen nun mal meilenweit voneinander entfernt.

»Du wirst es wissen, Cariño, das meiste passiert ganz intuitiv, und für alles andere bin ich ja da. Nur weil uns künftig der Nordatlantik trennt, heißt das nicht, dass du auf dich allein gestellt sein wirst.«

Ich nickte und schob meine Sorgen beiseite. Seit ich denken konnte, freute ich mich darauf, in die Rolle der Catrina zu schlüpfen – und das würde ich mir von nichts und niemandem nehmen lassen.

Kapitel 2

Valentina

Emiliano stellte einen meiner beiden Koffer vor meinem neuen Zimmer ab, bevor er sich auf die Suche nach seiner eigenen Zimmernummer machte. Einen Moment lang starrte ich auf die Ziffern 207. Als es hieß, dass wir beide einen Platz im Studentenwohnheim des Trinity College bekommen würden, war ich Feuer und Flamme gewesen. Zwischen den Studierenden hatte sich längst eine Dynamik entwickelt, Lerngruppen und Freundschaften hatten sich gebildet, und wenn Emiliano und ich nicht völlig außen vor bleiben wollten, war es besser, am Ort des Geschehens zu sein. Außerdem war in Papás kleinem Stadtappartement mit Blick auf die Liffey wenig Platz, und ich würde mir garantiert kein Zimmer mit meinem Bruder teilen. Das Wohnheimzimmer würde ich aber auch nicht lange für mich allein haben. Durch die nette Empfangsdame, die Emiliano und mir die Schlüssel und einen Katalog mit Wohnheimregeln überreicht hatte, wussten wir, dass unsere Zimmer theoretisch vermietet waren, jedoch vorübergehend leer standen. Falls die Studierenden, die dort gewohnt hatten, nicht bis zum Semesterende zurückkehrten, würden wir spätestens zum nächsten Semester Gesellschaft bekommen.

Ich stand dem Ganzen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Eine Mitbewohnerin wäre zwar toll, aber meine Verwandlung in eine Catrina würde zumindest um den Día de los Muertos herum auch äußerliche Veränderungen nach sich ziehen. Zudem hatte Abuelita, die nach Mamás Tod die Rolle der Catrina übernommen hatte, mich vorgewarnt, dass sich die eine oder andere Fähigkeit auch schon vor dem Tag der Toten zeigen könnte. Wie sollte das funktionieren?

Aber gut, darüber konnte ich mir immer noch den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war. Ich schloss die Tür auf und blieb ernüchtert im Türrahmen stehen. Ich hatte nichts Besonderes erwartet, natürlich nicht. Ein Studentenwohnheimzimmer sollte in erster Linie zweckmäßig sein. Ein bisschen mehr Farbe hätte allerdings nicht geschadet. Der Schrank, der Schreibtisch, die Betten, sogar die Bettwäsche waren weiß. Nicht einmal die Vorhänge boten einen Farbklecks. Das musste ich schleunigst ändern, sonst würde ich mich in diesen vier Wänden niemals wohlfühlen. Praktischerweise lag die Grafton Street mit ihren unzähligen Geschäften gleich in Campusnähe. Am liebsten wäre ich sofort losgezogen, um bunte Kissen, Duftkerzen und Lichterketten zu besorgen, doch ich riss mich zusammen und packte zuerst die Koffer aus.

Nach einer halben Stunde hatte ich es irgendwie geschafft, meine Klamotten in eine Hälfte des Schrankes zu quetschen, und schob die leeren Koffer unter das Bett auf der rechten Seite. Dann verließ ich das Zimmer und beschloss spontan, Emiliano zu fragen, ob er zum Einkaufen mitkommen wollte.

Schon von Weitem hörte ich die laute Musik, die bis auf den Flur dröhnte, und schüttelte den Kopf. Ich beschleunigte meine Schritte und öffnete die Tür mit der Nummer 250, ohne anzuklopfen.

»Hey«, beschwerte sich Emiliano, der auf dem Boden zwischen den beiden Betten Liegestütze machte. »Ach, du bist es«, grummelte er dann.

Ich stieg über ihn hinweg, um die Musik leiser zu stellen. »Ich hätte schwören können, du hast schlechte Laune«, bemerkte ich und konnte das Schmunzeln nicht aus meiner Stimme heraushalten.

Mein Bruder drehte die Musik mit Vorliebe lauter, wenn er mies drauf war oder Sport trieb, und beides war ziemlich häufig der Fall. Er ließ sich einfach wahnsinnig schnell aus der Ruhe bringen. Ich hörte zwar auch gern laut Musik, aber vor allem, wenn ich gute Laune hatte, denn dann wollte ich mitsingen und durchs Zimmer tanzen. Wenn ich mich freute, fiel es mir schwer, still zu sitzen.

Nun wischte sich mein Bruder mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. »Mein Work-out ist heute Morgen ausgefallen, wie du weißt, und außerdem hatte ich nach dem langen Flug das Bedürfnis, mich ein bisschen zu bewegen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Vor mir musst du dich nicht rechtfertigen, allerdings solltest du dir eventuell Kopfhörer zulegen, wenn du dich nicht schon in der ersten Woche unbeliebt machen willst.«

»Ich werd’s mir merken.« Er stand auf und ging hinüber zum Schreibtisch, wo eine Flasche Wasser stand. Er trank sie in einem Zug halb leer, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Bist du nur hier, um Papás Rolle zu übernehmen?«

Ich verdrehte die Augen. »Wenn dem so wäre, hätte ich das Chaos in deinem Zimmer nicht unkommentiert gelassen«, erwiderte ich trocken. Im Gegensatz zu mir hatte Emiliano den Inhalt seines Koffers noch nicht im Schrank verstaut, sondern auf der Suche nach seinen Sportsachen auf beiden Betten verteilt. »Ich wollte in die Grafton Street, ein paar Besorgungen machen, und dachte, du möchtest vielleicht mitkommen. Du könntest dir Kopfhörer kaufen«, schlug ich grinsend vor.

»Du mich auch.« Emiliano leerte die zweite Hälfte seiner Wasserflasche und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über den Mund. »Gib mir fünf Minuten, ich muss nur schnell duschen.«

»Fünf Minuten. Darf ich dich beim Wort nehmen?«

»Du bist heute ganz schön frech.« Emiliano warf die leere Wasserflasche nach mir.

Lachend wich ich ihr aus. »Hey, Mamá hat uns eingetrichtert, immer bei der Wahrheit zu bleiben.« Und die Wahrheit war nun mal, dass ich niemanden kannte, der morgens so lange im Bad brauchte wie mein Bruder.

Emiliano verdrehte die Augen, während er sich bereits das verschwitzte Muskelshirt über den Kopf zog. »Ich beeile mich.«

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schreib mir einfach, wenn du fertig bist. In der Zwischenzeit erkunde ich den Campus.«

Ein paar Stunden und eine erfolgreiche Shoppingtour später drehte ich mich schwungvoll mit dem Stuhl herum. »Und, was sagst du?«

Mein Bruder, der auf einem der Sessel im Wartebereich Platz genommen und den Blick auf sein Handy gerichtet hatte, sah auf. Seine Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er zu lachen begann.

»Also meiner Meinung nach steht dir die neue Frisur ganz hervorragend«, meinte die Friseurin hinter mir, nachdem sie meinem Bruder einen tadelnden Blick zugeworfen hatte, und nahm mir den Umhang ab.

Ich drehte mich noch einmal mit dem Stuhl um hundertachtzig Grad und betrachtete mich in dem runden Spiegel. Zugegeben, die Veränderung war ziemlich radikal. Vorher hatten mir die Haare bis zur Brust gereicht und in einem satten Braun geglänzt. Nun gingen sie mir nur noch bis zum Kinn und schimmerten rosa. Es war ungewohnt und würde bestimmt ein paar Tage dauern, bis sich mein Spiegelbild nicht mehr fremd anfühlte, aber ich liebte es jetzt schon. Die kürzeren Haare betonten meine hohen Wangenknochen und schmeichelten meinem herzförmigen Gesicht, und das Rosa stand in tollem Kontrast zu meinen schokoladenbraunen Augen, die ich von Mamá geerbt hatte.

»Also ich finde es total cool«, sagte ich und warf meinem Bruder im Spiegel einen herausfordernden Blick zu.

Er stand auf und steckte sein Handy weg. »Versteh mich nicht falsch, ich find’s auch super. Ich habe mir nur gerade vorgestellt, was Papá sagt, wenn er dich sieht.« Sein Mund verzog sich erneut zu einem Grinsen.

Schulterzuckend stand ich auf. »Soll er sagen, was er will. Das sind immerhin meine Haare, und mir gefällt’s.«

»So ist es richtig«, stimmte mir die Friseurin zu. »Selbstbewusste Frauen können alles tragen, und bunte Haare liegen gerade voll im Trend.« Ihr Blick wanderte hinüber zu meinem Bruder, der abwehrend die Hände hob, noch ehe sie etwas sagen konnte.

»Vergessen Sie’s, ich war erst beim Friseur.«

Grinsend ging ich hinüber zur Kasse, um zu bezahlen und der netten Friseurin gutes Trinkgeld zu geben, dann schnappte ich mir meine Einkaufstaschen und verließ mit Emiliano im Schlepptau den Salon. Mit der neuen Frisur und den Taschen voller bunter Dekoartikel fühlte ich mich schon gleich viel wohler in Irland.

Beschwingt näherte ich mich am nächsten Tag dem Raum, in dem die Theater-AG stattfand. Die Proben für Die drei Musketiere hatten längst begonnen – das Stück sollte um die Weihnachtsfeiertage herum aufgeführt werden –, aber der Dozent Sheldon Riley hatte mich trotzdem ins Ensemble aufgenommen, worüber ich mich riesig freute, denn mit meinem schauspielerischen Talent sah es bestimmt nicht besser aus als mit meinen Gesangskünsten, da machte ich mir nichts vor. Ich sang gern und oft, und mindestens genauso oft bat mich mein Bruder, es bleiben zu lassen. Aber weil ich auch Serien über alles liebte, wollte ich es mit der Schauspielerei zumindest probieren.

Der erste Tag war bisher gut gelaufen, viel besser als erwartet. Die Kurse in Psychologie, für die ich mich spontan eingeschrieben hatte, waren wirklich interessant. Außerdem hatte ich mich für Englische Literatur entschieden und mit Freude festgestellt, dass Sheldon Riley, der den Kurs gab, auch die Theater-AG leitete. Nach der ersten Vorlesung hatten wir uns kurz unterhalten, weil er mir netterweise ein paar Notizen für die verpassten Stunden zusammengestellt hatte. Er sah nicht nur leger aus – brauner Vollbart mit Zwirbelspitzen an der Oberlippe, zerlöcherte Jeans und AC/DC-T-Shirt – und wirkte sympathisch, er war es auch, und ich war froh, gleich ein bekanntes Gesicht zu treffen.

Als ich jedoch den großen Raum betrat, in dem Staubkörner im Licht der hereinfallenden Nachmittagssonne tanzten und in dem es durchdringend nach Theaterschminke und auch ein wenig nach Schweiß roch, konnte ich den Dozenten nirgends entdecken. Neugierig sah ich mich um und gab mich der kreativen Atmosphäre hin, die mir hier regelrecht entgegenschlug.

Es gab eine große Bühne, die fast eine komplette Seite des Raumes mit der hohen Decke einnahm. Rote Samtvorhänge warteten nur darauf, zugezogen zu werden, um die Kulisse zu verdecken, die aus altmodischen Möbeln bestand: eine Chaiselongue, ein Schminktisch, ein halbhoher Schrank. Sogar ein Bett stand auf der Bühne. Ob hier nur die Proben stattfanden oder später auch die Aufführungen? Platz genug gab es theoretisch, auch wenn im Moment nicht genügend Sitzplätze vorhanden waren. Nicht einmal für alle anwesenden Studierenden gab es einen Stuhl, wobei diese ohnehin überflüssig gewesen wären. Ein Teil hatte es sich auf der Bühne bequem gemacht, ein anderer auf den breiten Fensterbänken und bunt zusammengewürfelten Sofas, die verteilt herumstanden.

Erst jetzt fiel mir auf, dass das Stimmengewirr um mich herum verstummt war und sich alle Augenpaare auf mich gerichtet hatten, doch da mich alle neugierig oder freundlich statt skeptisch musterten, verunsicherte mich das nicht. Umgekehrt würde ich es schließlich genauso machen, außerdem war meine neue Frisur schon ein wenig auffällig.

Ich wollte mich den anderen gerade vorstellen, als Mr Riley hinter mir den Raum betrat. Er wirkte ein wenig abgehetzt und schenkte mir ein Lächeln, als er mich erkannte. »Ah, Valentina. Such dir einen Platz.« Er ging an mir vorbei zu den anderen, und ich folgte ihm. »Hi, Leute. Wie ihr seht, haben wir noch einen spontanen Neuzugang bekommen. Das ist Valentina Guadalupe López Sánchez. Sie ist gerade erst mit ihrer Familie aus Mexiko hergezogen.«

»Hi.« Ich winkte in die Runde und schnappte mir den letzten verbliebenen Stuhl.

»Valentina Guada… Wie war das?«, fragte ein rothaariger Student mit Sommersprossen.

Ich lachte. »Guadalupe. In Mexiko haben wir wie in Spanien zwei Nachnamen und in der Regel auch zwei Vornamen, aber Valentina reicht vollkommen. Ihr könnt mich auch Valita nennen, nur bitte nicht Vali.« Ich verzog den Mund, und ein paar Leute lachten nun ebenfalls.

»Also gut.« Mr Riley stellte seine Tasche ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Rand der Bühne. »Wir müssen zwei Rollen neu besetzen, und du könntest Lady de Winter übernehmen, Valentina. Mylady ist ziemlich durchtrieben, und du hättest die eine oder andere Kampf- und Liebesszene zu spielen. Traust du dir das zu?«

»Ähm, Mr Riley?« Eine Blondine meldete sich, die offenbar sehr viel Zeit in ihr Äußeres investierte – rot lackierte Nägel, aufwendiges Make-up und dezente Solariumbräune – und eine tolle Figur hatte, die sie in einem bauchfreien roten Top und Skinny Jeans zur Schau stellte. Sie war hübsch, keine Frage, doch für meinen Geschmack wirkte sie ein wenig zu künstlich. Bei einem Barbie-Ähnlichkeitswettbewerb hätte sie sicher einen der vorderen Plätze belegt.

Sie war mir schon in Englische Literatur aufgefallen, weil sie mich seltsam gemustert hatte, als ich nach der Vorlesung mit Mr Riley ins Gespräch gekommen war. Noch bevor sie weiterredete, wusste ich, dass sie mir das Leben schwer machen würde.

»Hatten wir nicht darüber gesprochen, dass ich die Rolle der Lady de Winter spielen könnte? Ich habe mir am Wochenende schon mal den Text angesehen und ein bisschen geprobt.« Die Blondine sprach perfektes Englisch, allerdings schien sie nicht in Irland geboren beziehungsweise aufgewachsen zu sein, denn sie hatte einen anderen, viel verständlicheren Akzent als die meisten hier in Dublin. Müsste ich raten, würde ich auf England tippen.

»Ach so?« Mr Riley runzelte die Stirn. »Ich dachte, du hättest das nur netterweise als Notlösung angeboten, denn eigentlich hattest du dir doch die Rolle der Constance gewünscht, die du im Übrigen hervorragend spielst. Ich würde dich nur ungern umbesetzen.«

»Ich mag die Constance nach wie vor, allerdings könnte meine Rolle ruhig etwas … anspruchsvoller sein.«

»Verstehe.« Mr Riley kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Also mir ist es gleich«, warf ich ein. Das war es wirklich, auch wenn ich fast auf der von Mr Riley vorgeschlagenen Rolle bestanden hätte – einfach nur, weil mir die Blondine mit ihrer penetranten Art auf den Keks ging. Aber da ich wenig Lust verspürte, sie mir schon am ersten Tag zur Feindin zu machen, ließ ich es bleiben. »Ich traue mir zwar zu, die Lady de Winter zu spielen«, fügte ich dennoch als kleinen Seitenhieb hinzu, »aber ich will niemandem im Weg stehen. Meinetwegen kann …« Ich warf der Blondine einen fragenden Blick zu, da ich keine Ahnung hatte, wie sie hieß.

»Amber.«

»Also meinetwegen kann Amber die Rolle gern haben.«

Mr Riley lächelte mir zu. »Das ist nett, Valentina, aber vielleicht sollten wir es davon abhängig machen, wer von euch am besten mit dem Degen umgehen kann. Aiden und Kailey haben das wirklich klasse gemacht.« Er seufzte wehmütig. »Diese Szenen müssen sitzen, sonst wirken sie schnell lächerlich, und bis zur Aufführung bleibt nicht genug Zeit, um das Ganze von Grund auf zu erlernen. Also ab nach vorn mit euch beiden.« Mr Riley stieß sich vom Bühnenrand ab und ging voraus.

Amber und ich folgten ihm die Stufen zum Podest hinauf.

Im Gegensatz zu mir wirkte sie ekelhaft selbstsicher, und zu allem Überfluss schien sie meine plötzliche Unsicherheit zu spüren, denn ich hatte keine Ahnung, wie man mit einem Degen umging. Das Lächeln, das sie mir schenkte, war zuckersüß, doch ich erkannte ihre Absicht dahinter, mich noch mehr zu verunsichern. Das stachelte jedoch meinen Ehrgeiz an, da ich nicht vorhatte, mich als erste Amtshandlung vor ihr und den anderen zu blamieren, geschweige denn mich von Amber vorführen zu lassen.

Mr Riley nahm zwei Degen aus einer Holztruhe und reichte sie Amber und mir. Die Waffe war lang und lag schwerer in meiner Hand als erwartet. Vorsichtig tastete ich mit den Fingern nach der Klinge, doch Mr Riley wies mich schmunzelnd darauf hin, dass diese selbstverständlich stumpf war. Er gab uns einige Anweisungen, dann wurden wir ins kalte Wasser geworfen. Amber und ich standen uns gegenüber, die Waffen ausgestreckt. Einige Sekunden lang musterten wir einander, bevor sie mich ohne Vorwarnung angriff. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr auszuweichen, was ihr süffisantes Grinsen sowie meine Entschlossenheit verstärkte. Trotzdem kam ich nicht gegen Amber an. Sie gewann die erste Runde. Erst, als Mr Riley mir den Tipp gab, den Degen als meinen verlängerten Arm anzusehen, und mir einfiel, dass ich früher immer mit meinem Bruder Zorro hatte spielen müssen, konnte ich sie mehrmals schlagen.

Zwanzig Minuten später wischte sich Amber mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Herzlichen Glückwunsch, Valentina«, gratulierte sie mir und wandte sich dann an Mr Riley. »Darf ich Sie um einen Aufschub bitten, bevor Sie eine endgültige Entscheidung treffen? Ich hatte noch nie einen Degen in der Hand und hätte gern die Gelegenheit zu üben. Ich weiß, dass ich das hinkriegen kann.«

Mr Riley unterdrückte ein Seufzen, doch er nickte. »In Ordnung, Amber. Wenn es dir so viel bedeutet und Valentina einverstanden ist, bekommst du noch eine Chance. Dir bleiben aber nur ein paar Tage, um dich zu verbessern, und wir müssen trotzdem weiterproben.«

Beide sahen zu mir, und ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass sie auf meine Zustimmung warteten. »Oh, ähm, klar. Ich habe nichts dagegen.«

Kapitel 3

Lily

Ich ächzte, als ich die Tür aufstieß und mir warme, feuchte Luft entgegenschlug. Würde ich mich jemals daran gewöhnen, dass es draußen mindestens doppelt so warm war wie drinnen? Und dabei war der Oktober in New Orleans nicht im Ansatz mit den Sommermonaten zu vergleichen.

Lavaughn, den ich im Jazz Museum kennengelernt hatte, als wir uns dort beide im August vor der Sommerhitze versteckt hatten, stieß von hinten gegen mich und ächzte nun selbst. »Du musst dich schon entscheiden, Sweetheart. Rein oder raus?«

»Ich bin noch unsicher.«

»Typisch Europäerin.«

Lachend schob er sich an mir vorbei, spannte seinen schwarzen Regenschirm auf, obwohl am Himmel keine einzige Wolke zu sehen war, und trat hinaus auf die Bourbon Street. Wie konnte ein Kerl in engen schwarzen Lederhosen, mit dem blassesten Teint, den ich je bei einem Mann gesehen hatte, und einem Schirm so verdammt gut aussehen? Es war mir ein Rätsel, wobei … Irgendwie erinnerte er mich an Jared Leto, selbst die schulterlangen dunklen Haare und der gestutzte Vollbart passten, und er war ebenso extravagant wie anziehend.

Ich warf noch einen letzten Blick über meine Schulter in das Diner mit den roten Lederhockern, in dem es – nach eigenen Angaben – die weltbesten Burger gab, bevor ich ebenfalls das Restaurant verließ. Lavaughn wollte etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor.

»Es war mir wie immer eine Ehre, mit dir zu plaudern«, begann ich in tiefem Tonfall.

Er lachte schallend. »Das war es tatsächlich, beste Lily, aber jetzt habe ich leider noch einen Termin. Langweilig, aber wichtig. Melde dich, wenn dir mal wieder nach einem weltbesten Burger ist.«

»Mach ich.«

Wir verabschiedeten uns mit Küsschen auf die Wange, dann schlenderte er die Straße entlang, als hätte er alle Zeit der Welt. Einen Moment lang sah ich ihm hinterher. Ich wusste nicht viel über Lavaughn, genauso wenig wie er über mich, und trotzdem war er zu so etwas wie einem Freund geworden. Wir schwammen auf einer Wellenlänge, redeten über Kunst, Musik, aktuelle Serien. Kurz gesagt über Gott und die Welt, wobei keiner von uns an einen Gott im klassischen Sinn glaubte.

Ich riss mich von dem Anblick seines Rückens los und warf einen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk. Meine Tante Mariposa war garantiert noch nicht zu Hause, daher beschloss ich, ein bisschen durch das French Quarter zu bummeln. Obwohl ich nun schon seit etwa drei Monaten in New Orleans war, faszinierte mich vor allem das älteste Viertel immer wieder aufs Neue. Hier pulsierte das Leben an jeder Ecke. Die Stadt strahlte so viel Charme aus, war immer voll, laut und bunt. Selbst jetzt zur Mittagszeit war auf der Bourbon Street einiges los, dabei lagen die ganzen Partygänger vermutlich noch in ihren Hotelbetten, um ihren letzten Rausch auszuschlafen. Deshalb mied ich die Bourbon Street auch nach achtzehn Uhr, so gut es ging, denn hier reihten sich Restaurants, Jazzclubs und Bars dicht an dicht und zogen zahlreiche Gäste an. Es ging nur darum, sich zu betrinken und Spaß zu haben. Das war nicht meine Welt, aber ich liebte das French Quarter trotzdem. An der spanischen Architektur und den bunten Häusern mit den gusseisernen Balkonen konnte ich mich einfach nicht sattsehen, und die Burger in diesem Diner waren wirklich gut.

Unter einer Vielzahl von Balkonen schlenderte ich den Bürgersteig entlang, vorbei an zugeklappten Fensterläden, die grau oder grün gestrichen waren. Als ich die Orleans Street kreuzte und die St. Louis Cathedral am anderen Ende in meinem Blickfeld auftauchte, blieb ich kurz stehen und überlegte, dem Jackson Square wie sonst einen Besuch abzustatten. Ich mochte den kleinen Park, auch wenn er meistens überfüllt war. Vor allem mochte ich die vielfältige Straßenkunst auf der Chartres Street zwischen dem Park und der Kathedrale. Dort war immer gute Musik zu hören, und wer wollte, konnte sich nicht nur malen, sondern auch mit Tarotkarten oder anderen Hilfsmitteln die Zukunft voraussagen lassen. Ich hatte das noch nie ausprobiert, obwohl ich insgeheim daran glaubte, aber nicht alle, die Tarotkarten vor sich liegen hatten, wussten auch damit umzugehen. Dafür war es jedes Mal amüsant, die Touristen zu beobachten. Einigen war die Skepsis von Weitem anzusehen, doch ein Großteil war so gutgläubig, dass man ihnen ein X für ein U hätte vormachen können.

Schon öfter hatte ich überlegt, meine eigenen Künste auf dem Jackson Square anzubieten, um meiner Tante nicht auf der Tasche liegen zu müssen. Doch ich verwarf den Gedanken immer wieder, weil ich dann offenbaren müsste, wer ich war. Und selbst wenn mir die Leute nicht glauben würden, machte ich mich damit verletzlich. Verletzlich und angreifbar.

Seltsamerweise zog es mich heute überhaupt nicht Richtung Jackson Square, also lief ich weiter die Bourbon Street entlang. An der nächsten Ecke blieb ich erneut stehen und starrte auf das einstöckige Gebäude, das zumindest von der Bauweise gut in einen Westernfilm gepasst hätte – ein Geschäft für Voodoobedarf. Mein Herz stolperte einmal schmerzhaft. Bisher war ich an dem Laden vorbeigelaufen, hatte ihm wie allen anderen Voodooläden, von denen es in New Orleans einige gab, keine große Beachtung geschenkt. Zum einen wurde Unwissenden dort der größte Blödsinn angedreht, zum anderen weckte es unschöne Erinnerungen an meine jüngste Vergangenheit. Und wenn ich eines nicht wollte, dann daran erinnert werden, was passiert war. Doch im Moment fühlte ich mich einsam, wie immer, nachdem ich mich mit Lavaughn getroffen hatte. Er hatte eine so präsente Art. Wenn er einen Ort betrat, richteten sich sofort alle Blicke auf ihn, was er genoss. Er stand gern im Mittelpunkt, konnte aber ebenso gut zuhören und dir das Gefühl geben, sich nur für dich zu interessieren. Gleichzeitig war es ihm egal, was andere über ihn dachten. Das zeigte er auch stets, allerdings ohne dabei arrogant zu wirken. Das bewunderte ich an ihm. Es fiel sofort auf, wenn er nicht mehr da war, und ich beschloss, es zu riskieren. Vielleicht würde ich in dem Voodooladen auf Gleichgesinnte stoßen und nicht auf die größten Hochstapler aller Zeiten.

Langsam trat ich auf das Geschäft zu, das seinen Namen der bekannten Hohepriesterin Marie Laveau zu verdanken hatte, die gern als Voodookönigin bezeichnet wurde und New Orleans im 19. Jahrhundert geradezu beherrscht hatte. Nachdem ich die drei Stufen hochgestiegen war, verharrte ich mitten im Türrahmen, völlig erschlagen von den Eindrücken und Gerüchen. Es roch nach Weihrauch und anderen Pulvern und Ölen, nach Staub und Schweiß, gemischt mit blumigen Deodorants und Parfüms. Eine grauenvolle Mischung. Ich hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen, was sich optisch noch verstärkte. Das Geschäft war von oben bis unten vollgestopft mit mehr oder weniger nützlichen Voodooutensilien. Auf dem Boden standen Skulpturen aus verschiedenen Materialien, Voodoopuppen und Traumfänger baumelten von Schnüren direkt unter der Decke, Masken zierten jeden freien Platz an den Wänden. Es gab Räucherstäbchen, Kerzen in den unterschiedlichsten Größen und Farben und kleine Beutel, um ein Gris-Gris zu erstellen, das Glück bringen oder den Träger vor Bösem beschützen sollte. Sogar fertige Gris-Gris entdeckte ich in einer Ecke, was reine Geldmacherei war. Solche Talismane waren speziell an die Bedürfnisse einer Person angepasst und nicht übertragbar.

Unzählige Ketten, die mich ein bisschen an die bunten Perlenketten erinnerten, die in New Orleans zu Mardi Gras verteilt wurden, sollten vor allem die weibliche Kundschaft zum Kauf verleiten, und es funktionierte. Ein paar Touristinnen, von denen vermutlich der süße Duft ausging, standen vor einem Holzbrett mit Ketten, die Schutz versprachen, und überlegten lautstark, welche Länge wohl die beste wäre. Halsketten aus Holzperlen, normalerweise in acht verschiedenen Farben, waren durchaus gebräuchlich im Voodoo. Priester trugen sie bei offiziellen Anlässen, sie kamen bei Gebeten oder beim Wahrsagen zum Einsatz, als Talisman waren sie mir neu.

Zuerst wollte ich das Geschäft wieder verlassen, denn viele Dinge, die mir ins Auge stachen, waren einfach nur teuer verkaufte Souvenirs. Es überraschte mich, dass überhaupt so viele Menschen in den Laden kamen, weil Voodoo doch meistens als Humbug abgetan wurde. Aber vermutlich waren die Leute nur neugierig, denn Voodoo war nun mal untrennbar mit New Orleans verbunden, ebenso wie Hexen, Geister oder Vampire. Das alles gehörte wie Jazz und Mardi Gras zur Stadt dazu.

Schließlich siegte auch meine Neugier. Ich schob mich an den Schaulustigen vorbei und ging an den Regalen entlang. Natürlich gab es Moschus-Liebes-Öl und Marie-Laveau-Wasser, das hauptsächlich aus Lavendelstaub bestand und ähnlich wie Weihwasser verwendet wurde, und auch solchen Firlefanz wie Weg-mit-allem-Bösen-Möbelreiniger. Ich verdrehte die Augen, hielt jedoch entsetzt inne, als ich Dosen mit Feuerpulver entdeckte. Das konnte unmöglich echt sein, sonst dürfte es hier gar nicht verkauft werden. Schließlich konnten Menschen wahnsinnig werden oder sogar vor Angst sterben, wenn man sie glauben ließ, sie würden bei lebendigem Leib verbrennen.

Ich fing den Blick der jungen Verkäuferin auf, die hinter der Kasse stand und immer wieder zu mir herübersah, während sie Ketten sortierte. Sie musterte mich weder skeptisch noch genervt oder herablassend, sondern wachsam, als wüsste sie ganz genau, was ich war – eine Voodoohexe. Schnell ging ich weiter und fühlte mich erst wieder unbeobachtet, als die Kasse aus meinem Blickfeld verschwand.

Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, etwas zu kaufen, schon gar nicht, nachdem die Verkäuferin mir diesen wissenden Blick zugeworfen hatte. Doch heute schienen mein Verstand und mein Herz völlig unterschiedliche Dinge zu wollen – und diesmal gewann mein Herz die Oberhand. Also schnappte ich mir einen Einkaufskorb, den ich nach und nach füllte. Ich wollte mir ein Gris-Gris machen, denn es war nie verkehrt, eins zu besitzen. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, konnte ein bisschen Glück nicht schaden. Außerdem wollte ich unbedingt mal wieder praktizieren. Meine Tante hielt das zwar für keine gute Idee, aber die Rituale fehlten mir. Ich hatte alles verloren, was mir wichtig gewesen war, hatte alles hinter mir lassen müssen. Dem Voodoo abzuschwören, fühlte sich an, als würde ich mich selbst verleugnen. Das konnte Mariposa nicht auf Dauer bezwecken, allerdings wollte ich sie weder um Geld noch um ihre Utensilien bitten. Einen kleinen Notgroschen hatte ich noch, und ihn auf diese Weise anzulegen, war sicher nicht verkehrt. Vielleicht konnte Voodoo helfen, die Leere in mir zumindest ein bisschen zu füllen, denn abgesehen von meiner Tante und Lavaughn war ich allein. Mariposa tat ihr Bestes, damit ich mich wie zu Hause fühlte, aber New Orleans war nun mal nicht meine Heimat, auch wenn ich die Stadt zu lieben gelernt hatte. Tief in meinem Herzen zog es mich zurück nach London. Zu allem Überfluss fehlte mir in den Südstaaten die Perspektive, und ich hatte keine Ahnung, wie es in Zukunft weitergehen sollte.

Leise seufzend legte ich noch ein Buch über Marie Laveau in meinen Korb und wollte zur Kasse gehen, als mir auffiel, dass es noch einen hinteren Ladenbereich gab. Neugierig trat ich näher und sah einen spirituellen Berater, der einer Frau an einem Tisch mithilfe von Tarotkarten die Zukunft voraussagte. Hier roch es noch intensiver nach Weihrauch, was mich an vergangene Zeiten erinnerte, als ich noch glücklich gewesen war, als ich noch eine Familie und ein Zuhause gehabt hatte.

Nun hob der Berater den Kopf und blickte direkt zu mir, als hätte er meine Anwesenheit körperlich gespürt. »Wir sind gleich fertig, dann sage ich dir, wohin dein Weg dich führt.«

Abwehrend hob ich eine Hand. Prinzipiell wüsste ich zwar gern, was mich in Zukunft erwartete, gleichzeitig machte mir der Gedanke Angst. Und solange ich nicht wusste, ob der Mann wirklich ein Priester war, der Talent für das Weissagen hatte, würde ich ihm garantiert keinen Cent zahlen. »Danke, heute nicht.«

Durch die Touristenmenge bahnte ich mir einen Weg zur Kasse, wo ich der Verkäuferin meinen Korb reichte, während ich versuchte, ihren prüfenden Blick zu meiden. Anhand meiner Einkäufe wurde überdeutlich, dass ich keine leichtgläubige Touristin war, die nur ein paar Andenken aus ihrem New-Orleans-Urlaub mit nach Hause nehmen wollte. Schon vorhin beim Feuerpulver hatte ich mir gedacht, dass auch sie keine unwissende Verkäuferin war, die diesen Job nur des Geldes wegen machte, und das bestätigte sich nun. Mit jedem Artikel, dessen Preis sie in die Kasse tippte, wurden ihre braunen Augen größer. Ich rechnete damit, dass sie jeden Moment etwas sagen würde, doch sie steckte schweigend Artikel für Artikel in eine Tüte. Wie viele Voodoonsi sie wohl täglich bediente? Oder deckten sie sich woanders ein?

Schließlich schob sie mir die Tüte zu, und ich bezahlte mit meiner Kreditkarte. Dann wollte ich mich verabschieden, doch das plötzliche Lächeln der Verkäuferin hielt mich davon ab. Es wirkte warm und echt und alles andere als aufgesetzt.

»Komm doch mal wieder«, sagte sie mit breitem Südstaatenakzent. »Ich bin auch oft nach Ladenschluss noch hier und würde mich freuen.«

Ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln, und die Leere in meinem Herzen fühlte sich zumindest für den Moment ein bisschen weniger schmerzhaft an. »Danke, ich werd’s mir überlegen.«

Ich saß auf dem Teppichboden in meinem Zimmer und starrte auf die Sachen, die ich im Voodooladen gekauft hatte. Es waren nicht nur die Utensilien, um ein Gris-Gris herzustellen. Unbewusst hatte ich alles mitgenommen, um eine Beschwörung vorzunehmen – die Beschwörung eines Verstorbenen. Ich schluckte, beugte mich hinüber zum Bett und griff nach meinem Handy, auf dem eine Mitteilung angezeigt war.

Tut mir leid, Lily, aber ich muss leider noch eine halbe Schicht dranhängen. Wir haben einen Notfall reinbekommen, und meine Kollegin steht im Stau. Vollsperrung auf dem Freeway. Unseren Kinoabend werden wir leider verschieben müssen. Mach es dir trotzdem schön, Mari.

Die Nachricht hatte meine Tante vor zwanzig Minuten geschickt. Ich würde den Abend also allein verbringen müssen, dabei hatte ich mich schon riesig auf ihre Gesellschaft gefreut. Seit meiner Ankunft in New Orleans verbrachten Mariposa und ich einen Abend in der Woche mit Popcorn, Käsenachos und einem Berg Süßigkeiten auf dem Sofa, um uns einen Film anzusehen und in Ruhe zu quatschen. Diese Tradition war uns beiden heilig, wir hatten sie kein einziges Mal verschieben müssen – bis heute.

Seufzend tippte ich eine Antwort.

Schade, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Ich las die Nachricht noch einmal durch, löschte die ersten beiden Wörter und fügte ein Zwinkersmiley hinzu, bevor ich sie abschickte. Auf keinen Fall wollte ich meiner Tante ein schlechtes Gewissen bereiten. Sie versetzte mich schließlich nicht mit Absicht. Dafür schien das Krankenhaus, in dem sie angestellt war, notorisch unterbesetzt zu sein.