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Die alleinerziehende Kriminalkommissarin Katharina Danninger ist gerade erst nach Jahren in Mannheim zurück nach Friedrichshafen gezogen, schon erschüttert ein Verbrechen die Idylle am Bodensee: In einem Feld wird eine ermordete Frau gefunden. Katharina erkennt in ihr ihre ehemalige Schulkameradin Anna wieder, einst das Aschenputtel der Klasse. Rasch geraten alte Mitschüler ins Visier der Ermittlungen, während Katharina zunehmend mit den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit zu kämpfen hat. Bis ein weiterer Mord alles auf den Kopf stellt.
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Seitenzahl: 419
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Sandra Grauer
Blut im Schuh
Ein Bodensee-Krimi
Dunkle Schatten am see Kaum ist Kriminalkommissarin Katharina Danninger mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter zurück in ihre alte Heimat an den Bodensee gezogen, wird sie zu ihrem ersten Mordfall gerufen. In einem Feld wurde eine tote Frau gefunden, die als Escort-Dame gearbeitet hat. Doch der schöne Schein trügt: Katharina ist überzeugt, dass es sich bei dem Opfer um ihre alte Mitschülerin Anna handelt, dem einstigen Aschenputtel der Klasse. Was ist aus dem damals unscheinbaren Mädchen geworden? Und kann es wirklich Zufall sein, dass Anna kurz vor dem zwanzigjährigen Klassentreffen sterben musste? Rasch geraten alte Mitschüler ins Visier der Ermittlungen, während sich Katharina zunehmend ihrer eigenen Geschichte stellen muss. Als ein weiteres Mordopfer aufgefunden wird, stößt Katharina auf düstere Kapitel der Vergangenheit.
Sandra Grauer, Jahrgang 1983, arbeitete als Diplom-Übersetzerin, PR-Redakteurin und Journalistin, bevor sie sich vollständig der Schriftstellerei verschrieben hat. Seitdem sind von ihr mehrere erfolgreiche Jugendbücher und Liebesromane erschienen. Während sie zehn Jahre in Baden-Württemberg lebte, schloss sie insbesondere den Bodensee in ihr Herz und machte ihn zum Schauplatz ihrer atmosphärischen Krimireihe rund um Kriminalkommissarin Katharina Danninger.
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2025
Lektorat: Ricarda Dück
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Gemeinde Bodman-Ludwigshafen
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Ludwigshafen_Hafen2.JPG
ISBN 978-3-7349-3320-2
Für Niklas, Betty und Christian
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte er, als Charlène aus dem Badezimmer kam, eingewickelt in ein Handtuch. In dem kleinen Raum hinter ihr waberte Dampf, und der Duft von Lavendel wehte langsam zu ihm herüber. Charlène hatte geduscht, so wie sie es immer tat, nachdem sie miteinander geschlafen hatten.
»Du liebst deine Frau doch noch, oder?« Ganz kurz sah sie ihn aus braunen Augen an und griff nach ihrer Handtasche, die neben der Badezimmertür stand. Dann setzte sie sich auf den Stuhl vor dem Schminkspiegel, holte einen korallenroten Lippenstift aus ihrer Tasche und zog sich die Lippen nach.
Er hatte nackt und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Doppelbett gelegen und sie beobachtet. Nun stand er auf und warf Charlène noch einen langen Blick im Spiegel zu, bevor er seine Sachen zusammensuchte und sich anzog. Der blaue Jogginganzug wirkte in dem teuren Hotelzimmer und neben Charlènes eleganter Erscheinung deplatziert. Gerne hätte er sich für sie etwas Besseres angezogen, aber nach dem Streit mit seiner Frau hatte er einfach so schnell wie möglich weggewollt, und Charlène schien sein Aufzug nicht zu stören. Mit ihr war alles so einfach. Manchmal wünschte er sich, mit seiner Frau könnte es genauso sein. Charlène war hübsch. Sie war groß und schlank, hatte aber weibliche Rundungen, die ihn immer wieder um den Verstand brachten. Ihre Haare fielen ihr glänzend braun über den Rücken.
Zu Schulzeiten und vor den Kindern hatte seine Frau auch mal so lange Haare und eine tolle Figur gehabt, doch wie so vieles hatte sich auch das geändert. Sie trug ihre Haare seit Jahren höchstens kinnlang, das war praktischer bei vier Kindern, darunter ein drei Monate altes Baby. Trotzdem wünschte er sich, sie würde nicht immer so pragmatisch an die Dinge herangehen.
»Kriege ich heute noch eine Antwort?«, fragte Charlène, ein Lächeln auf den Lippen. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, und er trat zu ihr, legte die Hände auf die Lehne ihres Stuhls.
Liebte er seine Frau noch? »Ich weiß nicht, schätze schon«, antwortete er leise.
»Wo ist dann das Problem?«, fragte sie, während sie einen Flakon aus ihrer Tasche kramte und sich je einen Spritzer Parfum auf die Handgelenke und den Hals sprühte, ein schwerer Duft. »Geh nach Hause und rede noch mal mit ihr.«
Charlène stellte sich das zu einfach vor. Seine Frau war verletzt, zu Recht. Dass Worte allein genügen würden, um alles wieder geradezubiegen, bezweifelte er. Wahrscheinlich war es auch nicht seine beste Idee gewesen, nach ihrem Streit Charlène anzurufen, aber er hatte Ablenkung gebraucht, und die hatte Charlène ihm gegeben.
Er umschlang sie von hinten mit seinen Armen, beugte sich nach unten und küsste sie auf den Hals. Ihr teures Parfum stieg ihm in die Nase, und ihm wurde mit einem Mal bewusst, dass er nicht nach Hause wollte.
»Hast du nicht noch ein bisschen Zeit für mich?«, fragte er und küsste sie erneut in die Halsbeuge, während seine Hände nach ihren Brüsten griffen. Zu gerne hätte er ihr das Handtuch abgestreift, doch Charlène schob seine Hände sanft beiseite und stand auf.
»Ich kann nicht, das weißt du doch. Sei froh, dass ich es überhaupt so spontan einrichten konnte.«
»Kannst du den Termin nicht absagen? Wär doch nicht das erste Mal. Hör zu, ich will nicht nach Hause, ich will aber auch nicht allein sein.« Klar, denn dann wäre er gezwungen, über sein Leben nachzudenken.
Charlène schüttelte den Kopf. »Erste Treffen mit einem neuen Kunden sage ich aus Prinzip nicht ab, das macht einen schlechten Eindruck. Und ich bin ja nicht deine Geliebte.« Sie blickte demonstrativ zu den Geldscheinen, die er wie immer auf den Nachttisch gelegt hatte.
»Aber ich brauche dich«, sagte er und zog sie an sich. Sie mochte es nicht, wenn er sie nach dem Sex noch küsste, trotzdem drückte er seine Lippen auf ihren frisch geschminkten Mund.
Charlène wich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bitte geh jetzt, ich muss mich fertig machen.«
»Wie du meinst, aber das wirst du noch bereuen«, sagte er und knallte die Tür hinter sich zu.
Charlène atmete tief durch. Sie warf einen langen Blick auf die geschlossene Tür, dann zog sie sich an. Allmählich wurde er anhänglich. Zu anhänglich, und sie fragte sich, ob es gut war, sich weiterhin mit ihm zu treffen. Sie hätte sich von vornherein nicht mit ihm einlassen dürfen. Zum Glück schien er sie bisher nicht erkannt zu haben, aber sie fürchtete sich jedes Mal davor. Wie würde er reagieren, wenn er es herausfand? Doch darüber würde sie später nachdenken, jetzt musste sie sich beeilen.
Eine halbe Stunde später verließ auch sie das Hotelzimmer. Die Schritte ihrer mörderisch hohen High Heels wurden vom Teppich des Hotelflurs gedämpft. Fast erwartete sie, dass er ihr auflauern würde, doch er tat es nicht. Erleichtert stieg sie in den Aufzug, fuhr nach unten und verließ das Hotel. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich beeilen musste. Mit schnellen Schritten lief sie vorbei an verschiedenen Restaurants und Geschäften. Um diese Jahreszeit wimmelte es hier nur so von Menschen, und auch wenn es schon spät war, waren die Straßen noch voll.
Ohne langsamer zu werden, bog sie auf die Friedrichstraße ein. Schon von Weitem konnte sie die schwarze S-Klasse erkennen. Der Wagen wartete bestimmt auf sie. Ihr neuer Kunde hatte am Telefon gesagt, er würde sie mit einer Limousine abholen lassen, und tatsächlich stieg in diesem Moment ein Fahrer aus. Er trug einen dunklen Anzug, schwarze Handschuhe und eine Schirmmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Seine Augen konnte sie nicht erkennen, doch sein mit einem üppigen Bart umrundeter Mund verzog sich zu einem Lächeln und entblößte dabei strahlend weiße Zähne.
»CharlèneLa Bouche?«, fragte er. Seine Stimme klang rau, als ob er erkältet wäre. Sie nickte, woraufhin er ihr immer noch lächelnd die Tür öffnete.
Sie stieg ein und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Während der Mercedes das Stadtzentrum verließ, holte sie einen Spiegel aus der Tasche und überprüfte ihren Lippenstift. Dann schloss sie erneut die Augen und lehnte ihren Kopf zurück. Als sie das nächste Mal aus dem Fenster sah, passierten sie das Ortsschild. Der Fahrer beschleunigte und fuhr über die Kreisstraße Richtung Norden. Sie kannte das Restaurant, in dem ihr Kunde sie erwartete. Ein abseits gelegener Treffpunkt war nichts Ungewöhnliches. Viele Männer waren verheiratet oder anderweitig liiert und wollten auf Nummer sicher gehen.
»Warum nehmen Sie eigentlich nicht die Landstraße?«, fragte Charlène.
Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Ist kürzer«, brummte er.
Charlène sah wieder aus dem Fenster. Die Sonne war längst untergegangen, aber sie konnte die Landschaft noch erkennen. Eine Weile fuhren sie vorbei an Feldern, Wiesen und Wäldern. Plötzlich bremste der Fahrer ab und bog auf einen unbefestigten Weg. Forstwirtschaftlicher Verkehr frei stand auf einem Schild. Charlène warf dem Fahrer über den Rückspiegel einen fragenden Blick zu.
»Der Reifen«, erklärte er knapp und brachte das Auto zum Stehen. »Keine Sorge, es dämmert. Ich will nicht, dass mir jemand ins Auto fährt, deshalb der Feldweg«, sagte er mit seiner rauen Stimme. »Warten Sie hier.«
Der Fahrer stieg aus. Charlène hörte, wie der Kofferraum geöffnet wurde. Kurz darauf leuchtete ein Licht auf, und das Auto begann, leicht zu schaukeln. Sie hörte ein Fluchen, dann wurde ihre Autotür geöffnet.
»Könnten Sie mir mal helfen, Madame?«, fragte der Fahrer. »Der linke Vorderreifen ist platt.«
»Und wie kann ich Ihnen da behilflich sein?«, fragte Charlène zurück, die noch nie in ihrem Leben einen Reifen gewechselt hatte und heute Abend auch nicht damit beginnen wollte.
»Sie könnten die Taschenlampe halten«, sagte er und reichte sie ihr.
Charlène unterdrückte ein Seufzen, stieg aus dem Mercedes und umrundete den Wagen. Während der Fahrer das Reserverad aus dem Kofferraum holte, sah sie sich um. Rechts wuchs der Mais etwas mehr als hüfthoch, linker Hand führte ein zugewucherter Trampelpfad in den Wald hinein. Hoffentlich dauert das nicht so lange, dachte sie. Ganz wohl war ihr hier nicht.
»Leuchten Sie mal bitte«, sagte der Fahrer und legte das Reserverad auf den Boden.
Charlène ging in die Hocke, was auf High Heels und in dem knappen Kleid alles andere als einfach war, und richtete die Taschenlampe auf den Reifen. »So?«, fragte sie.
»Perfekt«, erwiderte der Fahrer, der schon wieder hinter ihr verschwunden war. »Einen Moment, ich habe den Radmutternschlüssel vergessen.«
Charlène schluckte. Die Stimme des Fahrers klang mit einem Mal nicht mehr rau und krächzend, sie war viel höher. Und sie kam ihr merkwürdig bekannt vor … Aber das war unmöglich. Wie war ihre Identität so schnell herausgekommen? Niemand wusste von ihrem Doppelleben. Ihr Herz begann zu rasen, die Taschenlampe rutschte ihr aus der Handfläche und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Feldweg. Sie wollte sich umdrehen, doch dazu kam sie nicht mehr. Ein Schlag traf sie auf dem Hinterkopf. Augenblicklich verlor sie das Bewusstsein.
»Ich hasse dich.« Emily funkelte ihre Mutter über das Dach des gelben Fiat 500 böse an, bevor sie sich auf der Beifahrerseite auf den Sitz fallen ließ und mit einem Knall die Tür hinter sich schloss.
Katharina ließ die Luft entweichen und schüttelte langsam den Kopf. Der Umzug fing ja gut an, und dabei waren sie noch gar nicht weit gekommen. Ihr graute vor der etwa dreieinhalbstündigen Fahrt von Mannheim nach Friedrichshafen, doch da musste sie durch. Ein letztes Mal sah sie sich um: das vertraute Backsteingebäude, die Straße, der Nachbar, der jeden Tag zur gleichen Zeit mit seinem Dackel eine Runde drehte. Dann stieg auch sie ins Auto. Emily saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz und schmollte wie ein kleines Kind. Rudi, der Cocker-Spaniel-Pudel-Mischling, hatte es sich hinten auf der Rückbank in seinem Transportsitz gemütlich gemacht, sprang aber wieder auf und bellte aufgeregt, als Katharina ins Auto stieg. Sie kraulte den Hund hinter den Ohren, sah aber zu ihrer Tochter.
»Hör zu, Kleines. Ich mach das nicht, um dich zu ärgern. Das weißt du, oder? Ich will nur dein Bestes.«
Emily gab keine Antwort. Stattdessen blickte sie demonstrativ aus dem Fenster. Seufzend schob Katharina eine CD in den Player. Sofort umhüllten sie die zugleich sanften und imposanten Töne von David Garretts Version von Child’s Anthem und beruhigten sie etwas. Es hatte jetzt keinen Sinn, Emily alles erklären zu wollen, also startete sie den Wagen, lenkte ihn auf die Straße und Richtung Autobahn. Wenn sie sich doch wenigstens selbst hundertprozentig sicher wäre, dass sie das Richtige tat. Vielleicht reagierte sie zu heftig? Wobei es bei ihrer Vorgeschichte kein Wunder war. Emily musste ihre Zweifel jedenfalls gespürt haben, denn seitdem war sie nur noch uneinsichtiger. Aber irgendwann würde ihre Tochter schon verstehen, dass es Katharina ganz allein um ihr Wohl ging.
»Ich mache das wirklich nur für dich«, versuchte sie es noch einmal.
»Das ist doch Blödsinn, du liebst den Bodensee.«
»Sicher, er ist meine Heimat. Aber das ist nicht der Grund für den Umzug, und das weißt du. Oder muss ich dich daran erinnern, was passiert ist?«
Emily gab wie erwartet keine Antwort. Schweigend fuhren sie eine Weile über die Autobahn. Es begann zu nieseln, und Katharina hätte sich gerne mit ihrer Tochter unterhalten, um sich von der eintönigen Beschäftigung abzulenken, doch das Mädchen versteckte sich hinter dem Smartphone.
»Wie geht es Markus denn?«, fragte sie irgendwann.
Emily schnaubte. »Als ob dich das interessiert.«
»Natürlich tut es das.«
»Ach ja? Und warum hast du mich dann gezwungen, mich von meiner großen Liebe zu trennen?«
»Große Liebe? Du bist fünfzehn, und ihr kennt euch seit drei Wochen.«
»Na und? Wie alt warst du denn, als du Papa kennengelernt hast?«
»Ich möchte jetzt nicht über deinen Vater sprechen.«
»Gut, ich hab nämlich keine Lust auf dein Gequatsche.«
Na super, das ist ja richtig gut gelaufen, dachte Katharina. Emily beschäftigte sich wieder mit ihrem Smartphone und schwieg den Rest der Fahrt.
»Mann, haben die hier unten nicht mal ’ne beschissene Autobahn?«, war alles, was sie noch von sich gab. Sie waren bei Stockach auf die B 31 gefahren und mittlerweile auf Höhe von Überlingen.
Katharina warf Emily einen entschuldigenden Blick zu. »Wir sind auf dem Land, irgendwann gibt es hier unten halt keine Autobahn mehr.«
Kurz sah sie aus dem Fenster und lächelte beim Anblick der vertrauten Gegend. Vor zehn Jahren war sie weggezogen, aber es kam ihr länger vor. Damals hatte sie ein ganz anderes Leben geführt, da war alles noch so viel einfacher gewesen. Sie war glücklich gewesen, hatte geglaubt, im Leben sei alles möglich. Seitdem war »viel Wasser den Bach hinuntergeflossen«, wie ihr Vater immer zu sagen gepflegt hatte. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte noch so vertrauensvoll in die Zukunft blicken wie damals, aber die Zeiten waren ein für alle Mal vorbei.
Als Katharina den Fiat in die Seitenstraße lenkte und kurz darauf am Straßenrand der Wohnsiedlung parkte, hatte es aufgeklart, und die Sonne kam hervor. Wenigstens das Wetter war auf ihrer Seite. Sie streckte sich und blickte sich um. Hier sah alles ganz anders aus als in der anonymen Straße, in der sie in Mannheim gewohnt hatten. Hübsche Häuschen reihten sich aneinander, mit Vorgärten, in denen Rosen, Lavendel, Hortensien oder Lilien in voller Pracht erblühten.
Der Umzugswagen war eine ganze Weile vor ihnen abgefahren und parkte bereits in der Einfahrt vor dem Haus. Die Möbelpacker wuselten wie Ameisen umher und trugen nach und nach alles hinein.
»Und, was sagst du?«, fragte Katharina an Emily gewandt und sah an ihr vorbei aus dem Fenster der Beifahrerseite. »Das Haus ist doch schnuckelig, oder? Und wir haben sogar einen Garten.« Den mussten sie sich zwar mit ihrer Mutter teilen, aber in Mannheim hatten sie nicht mal einen Balkon gehabt.
Emily stieg aus, ohne eine Antwort zu geben. Sie wird sich hier schon eingewöhnen, sprach Katharina sich Mut zu. Und ich mich auch. Sie zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, schnallte Rudi ab und stieg ebenfalls aus. Ihre Mutter Maria trat gerade mit einem Tablett, auf dem sie Thermoskanne und Kaffeetassen balancierte, aus der Tür des Nachbarhauses. Als sie ihre Tochter und Enkelin erblickte, stellte sie es auf der Mauer ab und kam auf sie zugelaufen. Missbilligend nahm sie zur Kenntnis, dass Rudi sich in dem Geranienbeet neben der Mauer erleichterte, sagte aber nichts dazu. Stattdessen nahm sie erst Emily, dann Katharina in die Arme.
»Da seid ihr ja. Willkommen zu Hause, ihr Lieben. Jetzt sind wir endlich wieder zusammen, wie es sich für eine richtige Familie gehört.«
Eine richtige Familie waren sie schon lange nicht mehr, seit ziemlich genau zehn Jahren. Damals war Katharinas Welt entzweigebrochen, und das gleich zwei Mal kurz hintereinander. Doch daran wollte sie jetzt lieber nicht denken. »Du siehst gut aus«, sagte sie zu ihrer Mutter. Tatsächlich sah Maria wie immer aus wie aus dem Ei gepellt: weiße Bluse, beigefarbene Stoffhose, der blonde Pagenschnitt mit Pony perfekt zurechtgeföhnt. Und das an einem Umzugstag.
Maria lächelte und musterte ihre Tochter. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Du leider nicht, mein Kind. Du hast ganz schön dunkle Augenringe und bist auch ein bisschen blass. Aber das kriegen wir schon wieder hin, nicht wahr? Wäre doch gelacht, wenn wir mit ein bisschen Seeluft und Liebe nicht wieder die Miss Oberschwaben aus dir machen könnten.«
Katharina unterdrückte ein Augenrollen und folgte ihrer Mutter und Tochter ins Haus.
Nervös wanderte Katharina auf und ab, während sie im abgetrennten Eingangsbereich der Kriminalpolizeidirektion Friedrichshafen darauf wartete, dass man sie abholte. Sie war aufgeregt wie an ihrem ersten Schultag, dabei wusste sie, dass sie gut war in ihrem Job. Den Grund für ihre Nervosität sah sie durch die Fensterfront genau in diesem Moment die breite Treppe hinunterkommen: ihr neuer Chef, Kriminalhauptkommissar Hubert Riedmüller. Er öffnete die Tür und winkte sie zu sich.
»Katrinchen, so hübsch wie immer.« Väterlich schlug er ihr auf die Schulter.
Katharina biss sich auf die Lippe. Sie hasste es, wenn er sie so nannte. Mit fünf Jahren war das vielleicht noch ganz niedlich gewesen, aber spätestens mit zehn Jahren hatte es sie bereits genervt. Und dabei hatte sie sich heute extra für einen dunkelblauen Hosenanzug entschieden, um einen professionellen Eindruck zu machen. Normalerweise kleidete sie sich lieber sportlich-leger, das war praktischer. Aber ihrem Patenonkel konnte Katharina nichts vormachen, er kannte sie eben schon zu lange. Hubert hatte immer noch ein paar Kilo zu viel auf den Rippen und eine Vorliebe für Hosenträger. Heute kombinierte er sie mit einer schwarzen Stoffhose und einem weißen Hemd. Nur an den grauen Strähnen, die seine ansonsten dunklen Haare inzwischen deutlich mehr durchzogen, erkannte man die Zeit, die vergangen war. Zehn Jahre war ihre letzte Begegnung her, damals auf der Beerdigung.
»Hallo, Hubert. Schön, dich wiederzusehen. Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit.«
»Dann komm mal mit. Wir haben gerade nicht übermäßig viel zu tun, die Mörder scheinen im Sommerurlaub zu sein, also kann ich dir alles zeigen.«
Fast eine halbe Stunde lang führte Hubert sie durch das Gebäude, das sie an diesem Tag nicht zum ersten Mal sah: Besprechungsräume, den Gewahrsamsraum, den Vernehmungsraum für Kinder, den Mikrospurensicherungsraum … Sie schüttelte unzählige Hände und erkannte sogar einige der Kollegen wieder. Zum Schluss landeten sie in ihrem neuen Büro im ersten Stock. Seinem Büro. Katharina blieb im Türrahmen stehen und betrachtete einen Moment den Schreibtisch, der wie vor zehn Jahren seitlich zum Fenster und gegenüber dem anderen Schreibtisch stand. Hubert bemerkte ihr Zögern erst, als er die Kaffeemaschine erreicht hatte.
»Stimmt was nicht?«, fragte er.
»Nein, nein, alles bestens«, sagte sie mit einem Lächeln und ging hinüber zu dem Schreibtisch, der ab sofort ihrer sein würde. Vorsichtig zog sie den Drehstuhl hervor. Theoretisch erinnerte nichts mehr daran, dass ihr Vater einmal hier gearbeitet hatte, und doch konnte sie an nichts anderes denken. Einst war er Huberts Chef gewesen, nun war Hubert ihr Chef.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte er, die leere Kanne bereits in der Hand.
»Nein, danke, ich trinke lieber Tee.«
Hubert verzog den Mund. »Tee? Na, dann mal her mit dir. Du lernst jetzt erst einmal, wie man einen vernünftigen Kaffee kocht.«
Katharina hatte es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich gemacht, Rudi zu ihren Füßen, doch sie konnte sich nicht so recht auf die Buchstaben vor ihren Augen konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu der letzten Woche zurück, die sie sich völlig anders vorgestellt hatte. Wenigstens Emily schien sich bereits besser eingelebt zu haben, als sie jemals zugeben würde. In der Schule fehlte ihr zwar noch der Anschluss, aber schon in ein paar Tagen würden die Sommerferien starten. Und immerhin verstand sie sich sehr gut mit Franzi, der Tochter einer Nachbarin. Maria hatte die beiden zusammengebracht, und auch heute Abend waren die Mädchen gemeinsam unterwegs. Katharina freute sich für Emily, auch wenn sie insgeheim gehofft hatte, den ersten Samstagabend im neuen Heim zusammen mit ihrer Tochter verbringen zu können.
Rudi sprang vom Sofa, noch ehe es an der Tür klingelte. Gähnend folgte sie dem Hund zur Haustür – und erstarrte. »Daniel!«
Sie hätte damit rechnen müssen, eine Begegnung war schließlich unausweichlich, und doch traf es sie völlig unvorbereitet, ihm mit einem Mal gegenüberzustehen.
»Du lebst, wie schön«, bemerkte er trocken.
»Bitte?«
»Du bist schon fast eine Woche hier. Ich dachte, du meldest dich mal.«
Er lächelte, und doch hörte Katharina den leichten Vorwurf in seiner Stimme. Sie erwiderte nichts, verschränkte nur die Arme vor der Brust. Ebenso angestrengt wie erfolglos versuchte sie, ihren Exmann nicht zu mustern. Er hatte sich nicht verändert, war lediglich etwas erwachsener und reifer geworden. Seine Statur, die blauen Augen, die hellbraunen, leicht zerzausten Haare, dazu der Drei-Tage-Bart, das tiefe Grübchen im Kinn und die Lachfältchen um die Augen. Ein Charmeur und Sonnyboy, auf den die Mädels schon zu Schulzeiten standen, doch Katharina hatte ihn sich geangelt und geheiratet. Ein Fehler, wie sich später herausstellte.
Daniel bückte sich und wuschelte Rudi durchs beigefarbene Fell. Nur um die Nase herum, an den Pfoten und am Bauch hatte der Hund ein paar weiße Flecken. »Du musst Rudi sein. Emily hat nicht gelogen, du siehst wirklich aus wie ein Teddybär.« Ein Bellen war die Antwort.
»Du weißt von Rudi?«, fragte Katharina.
»Klar, Emily hält mich in ihren Mails immer auf dem Laufenden. Ich weiß sogar, warum der Hund Rudi heißt, wenn auch nicht von ihr.« Er zwinkerte ihr zu.
Katharina errötete leicht. Kaum jemand erinnerte sich mehr daran, dass sie zu Kinderzeiten ein Rudi-Völler-Fan gewesen war, aber Daniel kannte sie eben besser als jeder andere Mensch, ob ihr das nun gefiel oder nicht.
Daniel erhob sich wieder. »Wo ist unsere Tochter?«
»Sie ist mit Franzi unterwegs, dem Mädchen von gegenüber.«
»Und du bist ganz allein zu Hause, an deinem ersten Wochenende? Warum bist du nicht bei Maria?« Mit dem Kopf deutete er zum Nachbarhaus.
»Meine Mutter hat Pfarrer Peters da, um über seine morgige Predigt zu reden. Offenbar ein Ritual der beiden.« Daniel grinste, und nun konnte auch Katharina sich das Grinsen nicht verkneifen.
Allerdings verging es ihr, als ihr Exmann sagte: »Dann entführe ich dich jetzt. Komm, zieh dich um. Es sei denn, du möchtest so bleiben.«
Abwehrend hob sie die Hände. »Keine Sorge, ich bin ganz gerne mal für mich.« Außerdem hatte sie absolut keine Lust, den Abend mit Daniel zu verbringen.
»Aber nicht heute, es ist zwanzigjähriges Klassentreffen.«
»Ach richtig, ich erinnere mich an die Einladung. Eigentlich hatte ich nicht vor, dahin zu gehen.« Um ehrlich zu sein, hatte sie die Mail ihrer ehemaligen Klassenkameradin Nathalie sofort gelöscht. Zwar war sie neugierig, aber dies hier hätte ja das erste Wochenende mit Emily im neuen Haus werden sollen.
»Nicht?« Daniel zog die Augenbrauen hoch. »Willst du denn nicht wissen, was aus den anderen geworden ist? Oli, Moni, Robin?«
Katharina rang mit sich, doch schließlich trat sie beiseite. Auf Emily musste sie keine Rücksicht mehr nehmen, also konnte sie genauso gut zum Klassentreffen gehen. »Na schön, komm kurz rein. Ich ziehe mir nur schnell was anderes an.«
Während der Fahrt schwiegen sie. Katharina sah aus dem Fenster und genoss den Blick auf ihre alte und zugleich neue Heimatstadt. Nichts schien sich verändert zu haben, und doch hatte sich seit damals so gut wie alles geändert. Sie riss sich zusammen. Es brachte nichts, sich an vergangene Zeiten zu klammern, und sie hasste es, wenn andere Menschen es taten.
Daniel parkte seinen schwarzen Mustang, inzwischen ein Oldtimer, in einem Parkhaus direkt an der Seepromenade, dann schlenderten sie die Uferstraße entlang, vorbei am Stadtgarten und dem Yachthafen. Linker Hand glitzerte der Bodensee in der tief stehenden Sonne. Restaurantterrassen, Bänke, die Wiesen des Stadtgartens – überall tummelten sich Menschen und genossen den lauen Sommerabend und das Wochenende. Katharina atmete die frische Seeluft ein. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee gewesen, das Haus zu verlassen.
»Wie läuft es auf der Arbeit?«, fragte Daniel beiläufig. Katharina holte erneut tief Luft, als sie merkte, wie sich ihre Laune wieder verschlechtern wollte. Daniel, der es bemerkte, lachte. »So schlimm, ja?«
»Schlimmer. Im Moment ist absolut nichts los, und anstatt mich in die interne Arbeitsweise einzuarbeiten, lässt Hubert mich literweise Kaffee kochen. Ohne das Zeug ist er nicht lebensfähig und vor allem morgens zu nichts zu gebrauchen. Dabei trinke ich nicht mal Kaffee.«
Daniel warf ihr einen überraschten Seitenblick zu. »Seit wann das?«
Seit ich meine Sonntagmorgen nicht mehr mit dir, sondern allein mit meiner Tochter verbringe, dachte sie, doch sie zuckte nur mit den Schultern. »Tee ist gesünder und abwechslungsreicher.«
Er nickte, ohne sich anmerken zu lassen, was er dachte. »Glaub mir, die Leute lassen das Morden nicht. Eher früher als später habt ihr einen neuen Fall, und dann kannst du dich vor Hubert beweisen.«
Katharina schnaubte. »Beweisen? Im Gegensatz zu ihm habe ich die Weiterbildung in Villingen gemacht.«
»Ich weiß«. Daniel wich einem etwa dreijährigen Mädchen auf einem Dreirad aus, das ihnen von vorne entgegenkam. »Aber das ist eine spezielle Situation. Hubert hat so viele Jahre mit deinem Vater zusammengearbeitet. Dir hat er die Windeln gewechselt, und nun bist du plötzlich seine neue Kollegin. Lass ihm ein wenig Zeit, um sich daran zu gewöhnen.«
Katharina strich sich eine Locke hinters Ohr, die der Wind ihr immer wieder ins Gesicht wehte. »Das Problem ist doch viel mehr, dass Hubert einem weiblichen, jungen Wesen, das noch dazu ganz hübsch ist, nichts zutraut.«
»Ganz hübsch? Kathi, du bist wunderschön. Das warst du schon immer, und daran hat sich in den letzten Jahren nichts geändert.«
Katharina spürte die Hitze in ihren Wangen und wich Daniels Blick aus. Im Kindergarten hatten die anderen Kinder sie noch wegen der grünen Augen, den langen roten Locken und den vielen Sommersprossen Pippi Langstrumpf genannt, doch schon in der Schule hatte sich das gelegt. Ab da war sie höchstens aus Eifersucht gehänselt worden, was es allerdings auch nicht einfacher gemacht hatte. Sie räusperte sich. »Nett von dir. Und wie läuft es bei dir? Was macht die Arbeit?«
»Ich bin im Moment in der Pathologie.«
Katharina erinnerte sich, dass ihre Mutter es mal am Telefon erwähnt hatte. »Richtig. Und wie ist es als Rechtsmediziner in der Pathologie? Vermisst du deine Arbeit nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sicher, aber was will man machen? Rechtsmedizinische Institute sind rar, und von irgendwas muss der Mensch ja leben. So, da wären wir.«
Vor dem Graf-Zeppelin-Haus blieb er stehen und bedeutete Katharina, vorzugehen. Sie brauchten nicht einmal zu fragen, wo sie hin mussten, denn schon von Weitem waren die Musik der 90er-Jahre und lautes Gelächter zu hören. Das Klassentreffen war bereits in vollem Gange. Das Buffet samt Geschirr und Besteck sowie ein halbes Dutzend Tische waren vorbereitet, doch im Moment standen die ehemaligen Klassenkameraden noch wie zu Schulzeiten in denselben Grüppchen zusammen und plauderten über vergangene Zeiten. Katharina erkannte auf den ersten Blick, dass sich die meisten von ihnen aufgebrezelt hatten, um einen guten Eindruck zu machen. Nicht wenige hatten sich in Anzüge oder schicke Kleider geworfen. Sie und Daniel bildeten eine der wenigen Ausnahmen. Daniel trug einen marineblauen Pullover zu einer hellen Chino-Hose, sie selbst hatte sich für eine Jeans mit weißem Top und grauem Blazer entschieden.
Daniel lehnte sich zu ihr. »Mein Haus, mein Auto, mein Boot«, witzelte er.
Bevor Katharina etwas erwidern konnte, eilte Nathalie auf sie zu. Sie hatte das Treffen organisiert und die Einladungen verschickt. Außerdem war sie heimliche Vorsitzende des Schnepfen-Clubs gewesen, zu dem neben ihr und Michelle noch einige andere Blondinen gehört hatten. »Daniel, Kathi. Ihr beide zusammen, was für eine Überraschung. Mit dir habe ich gar nicht mehr gerechnet, Kathi. Du hast überhaupt nicht auf die Einladung reagiert.«
Natürlich hatte sich unter den ehemaligen Mitschülern längst herumgesprochen, dass sich das Traumpaar der 10a inzwischen hatte scheiden lassen. Für den Schnepfen-Club war das bestimmt die schönste Nachricht des Jahres gewesen. Katharina hasste Getratsche hinter ihrem Rücken und bereute schon jetzt, dass sie sich von Daniel zu diesem Treffen hatte überreden lassen. Sie biss sich auf die Lippe. »Das war eine spontane Entscheidung. Wir bringen dir doch nicht die ganze Planung durcheinander?«
Nathalie winkte ab. »Ach Gott, nein. Es gibt doch immer einige Unentschlossene, damit muss man rechnen. Hol dir was zu trinken und gesell dich zu den anderen.« Sie hakte sich bei Daniel unter. »Erzähl doch mal, klärst du immer noch Mordfälle auf? Das muss ja unglaublich spannend sein.«
Missmutig beobachtete Katharina, wie Nathalie ihren Exmann davon schleppte. Die Blondine war schon immer eifersüchtig auf Katharina und scharf auf Daniel gewesen.
Jemand legte ihr einen Arm um die Schulter. »Hallo, meine Hübsche. Was machst du denn hier?«
»Jonas!« Katharina fiel ihrem damals wie heute besten Freund um den Hals. Seit ihrem Umzug an den See hatten sie noch keine Zeit für ein Treffen gehabt. Jonas war neben Daniel der begehrteste Junge der Klasse gewesen, und dass Katharina gleich beide bekommen hatte – einen als festen Freund, den anderen als Kumpel – hatte sie unter den anderen Mädchen nicht eben beliebt gemacht. »Endlich ein nettes Gesicht. Ich hab ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, mich wieder hinauszuschleichen.«
»Was mich zurück zu meiner Frage bringt: Was machst du hier?«
»Na, was wohl! Daniel hat mich hergeschleppt und sich dann sofort von Nathalie in Beschlag nehmen lassen.«
Jonas grinste. »Versucht sie’s mal wieder bei ihm? Wie oft muss er ihr noch einen Korb geben, bis sie endlich begreift, dass er nur dich will?«
Katharina verdrehte die Augen. »Das war einmal.«
»Sagst du.«
Sie stöhnte. »Also, wenn du mir jetzt den ganzen Abend Vorträge halten willst, gehe ich echt. Das zwischen Daniel und mir ist lange vorbei.«
Jonas hob beschwichtigend die Hände. »Hoppla, war doch nur Spaß. Na komm, ich hole uns was zu trinken, und dann erzählst du mir, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist.«
An diesem Abend wurde Katharina das Gefühl nicht los, die Zeit wäre stehen geblieben und die letzten zwanzig Jahre hätte es nie gegeben. Der eine oder andere hatte die Haarfarbe gewechselt oder ein paar Pfund zugelegt beziehungsweise abgenommen, aber je später es wurde, desto mehr brachen sich die alten Verhaltensmuster Bahn. Die Tratschmäuler von damals zerrissen sich auch heute das Maul über alles und jeden, Michelle schmiss sich wie zu Schulzeiten an jeden halbwegs gut aussehenden Mann heran, und Robin, dessen rote Haare deutlich weniger geworden waren, machte den Klassenclown. Zudem waren ausnahmslos alle damit beschäftigt, mit ihrem ach so erfolgreichen Leben zu prahlen.
Katharina saß mit Jonas und Frederik zusammen an einem Tisch und trank ein Glas Weißwein. Mit dem aalglatten Frederik hatte sie nie besonders viel zu tun gehabt, aber die beiden Männer hatten sich auch in den letzten Jahren nicht aus den Augen verloren. Ihre Väter waren seit jeher Mitglieder im selben Yachtclub, und nun waren es auch die Söhne.
»Wann warst du das letzte Mal draußen?«, fragte Frederik.
»Ist schon ein paar Wochen her«, antwortete Jonas. »Diesen Sommer bin ich bisher kaum zum Segeln gekommen.«
Frederik trank einen Schluck von seinem Burgunder. »Das lasse ich mir nicht nehmen. Wenn es mein Terminkalender zulässt, komme ich jedes Wochenende runter, um rauszufahren.«
»Was machst du eigentlich in Stuttgart?«, fragte Katharina.
»Ich bin Anlageberater. In der Großstadt kann man diesbezüglich einfach mehr reißen als hier auf dem Land.« Er kraulte sich seinen Bart und wandte sich an Jonas. »Wir sollten mal wieder zusammen einen Törn wagen, so wie früher. Clemens ist bestimmt auch dabei.«
»Klar, warum nicht? Vielleicht magst du auch mitkommen?«, fragte Jonas Katharina. »Wir wollten doch immer mal zusammen segeln. Clemens hat sicher nichts dagegen, und du doch auch nicht, Frederik, oder?«
»Meinetwegen gern.«
»Mal sehen«, erwiderte Katharina vage. Ehrlich gesagt hatte sie keine große Lust. Mit Jonas alleine, jederzeit, aber Frederik hatte sie schon zu Schulzeiten nicht ausstehen können. Er war ein Poser und Angeber gewesen, und das hatte sich bis heute nicht geändert. Und Clemens kannte sie nicht einmal.
Frederik strich sich durch die blonden, nach hinten gegelten Haare und stand auf. »Noch ein Chardonnay für dich, Katharina?«
»Gern«, erwiderte sie mit einem aufgesetzten Lächeln. Sie beobachtete, wie er sich durch die Menge schob und immer mal wieder stehen blieb, um ein paar Worte mit jemandem zu wechseln. »Ich werde wohl nie verstehen, warum du ausgerechnet mit Frederik befreundet bist.«
»Was heißt befreundet?«, meinte Jonas. »Durch den Yachtclub läuft man sich halt hin und wieder über den Weg, aber Frederik ist gar nicht so schlimm, wie du immer behauptest. Du kennst ihn halt nicht richtig.«
»Er ist noch arroganter und von sich selbst eingenommener als damals, und das will was heißen.«
»Zugegeben, aber er ist auch offen und spendabel. Er kann sogar richtig charmant sein, wenn er will.«
»Wer kann charmant sein?«, fragte Daniel und ließ sich mit einem Seufzen gegenüber Katharina auf einen Stuhl fallen.
»Frederik.« Katharina ließ ihren Blick durch die Menge schweifen. Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, war es immer noch voll. Der Schnepfen-Club von damals tanzte zu Barbie Girl, die anderen saßen einfach nur zusammen und unterhielten sich. »Bist du Nathalie endlich losgeworden?«
Daniel schnaubte. »Vielen Dank auch. Du hättest mir schon mal helfen können.«
»Was kann ich denn dafür, wenn du dich von der Trulla immer wieder einfangen lässt?«
»Redet ihr von Michelle?« Monika ließ sich auf den freien Stuhl neben Daniel fallen, einen Stapel Zeitschriften in der Hand. Monika war eigentlich sehr nett, aber ihr Problem war immer gewesen, dass sie überall dazugehören wollte.
»Nathalie«, korrigierte Katharina.
Monika lachte, sie wedelte mit dem Stapel in ihrer Hand. »Habt ihr schon eine Abgangszeitung?« Sie drückte jedem ein Exemplar in die Hand.
Als sie damals ihren Abschluss gemacht hatten, hatten sie bei jedem Foto genügend Platz gelassen, um zwanzig Jahre später ein neues Bild daneben abzudrucken. Katharina schlug die Zeitschrift auf. Einige wenige Platzhalter waren leer geblieben, aber sogar neben ihrem Foto von 1997 prangte ein aktuelles. Sie sah auf.
»Woher habt ihr denn das Foto?«, wollte sie wissen, denn sie hatte es niemandem gegeben. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie dieses Bild überhaupt kannte.
»Von deiner Mutter«, antwortete Monika und beugte sich vor. »Habt ihr schon das von Anna gehört? Sie hat wohl so einiges machen lassen. Schade, dass sie nicht hier ist, das hätte ich zu gern mit eigenen Augen gesehen.« Monika schob Daniel ein weiteres, aufgeschlagenes Exemplar der Abgangszeitung über den Tisch. »Schreibst du mir was Nettes rein?«
»Ach herrje!«
Jonas starrte mit großen Augen auf das alte und neue Foto von Susanne. Katharina folgte seinem Blick. Susanne war damals der Traum aller Jungs gewesen, aber sie hatte sich extrem verändert. Die langen blonden Haare der 90er waren einer praktischen Kurzhaarfrisur gewichen. Dadurch wirkte sie lange nicht mehr so weiblich wie früher, aber das war nicht alles. Sie war extrem gealtert, ihre Augen hatten den Glanz verloren.
Monika beugte sich erneut verschwörerisch über den Tisch. »Sie ist ganz schön aus dem Leim gegangen, was? Aber was will man auch anderes erwarten. Sie und Max haben immerhin drei Kinder bekommen. Oder sind es inzwischen sogar vier?«
Susanne und Max waren Anfang der zehnten Klasse ein Paar geworden und heute noch miteinander verheiratet. Katharina suchte den großen Raum nach den beiden ab und fand sie schließlich in der Nähe des Getränkeausschanks. Ob sie glücklich waren, stand auf einem anderen Blatt. Zumindest im Moment sah keiner von beiden danach aus, sie waren in einen Streit vertieft. Susanne hielt Max am Arm fest, und er sprach so laut, dass jeder es hören konnte.
»Ich denke, das ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.« Damit riss er sich los und ließ seine Frau einfach stehen.
Die Gespräche der anderen verstummten, alle Blicke richteten sich auf Susanne, der das Ganze extrem unangenehm zu sein schien. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel, lächelte verlegen und wandte sich ab, um sich noch etwas zu trinken zu holen. In diesem Moment tat sie Katharina unglaublich leid.
»Ich hätte nie gedacht, dass die beiden mal so enden«, sagte Monika. »Andererseits hätte ich auch nie gedacht, dass ihr zwei euch mal scheiden lasst. Nathalie und die anderen Schnepfen haben immer gesagt, dass das zwischen euch nicht halten wird, aber die sind auch heute noch Singles.«
»Oder ebenfalls geschieden«, fügte Jonas hinzu.
Katharina und Daniel wechselten einen betretenen Blick. Katharina hätte selbst nie geglaubt, dass es zwischen ihr und Daniel so ausgehen würde. Sie kannten sich fast ein ganzes Leben, waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen. Mit fünfzehn hatten sie sich ineinander verliebt und waren immerhin zehn Jahre lang ein Paar gewesen, bevor Katharina mit fünfundzwanzig die Scheidung eingereicht hatte.
Daniel setzte an, um etwas zu sagen, doch im selben Moment klingelte Katharinas Handy. Sie wandte sich ab und zog es aus ihrer Tasche. Das war bestimmt Emily, die wissen wollte, wo ihre Mutter blieb, doch zu ihrer Überraschung meldete sich Hubert.
»Hallo, Chef. Ist alles in Ordnung?«
Hubert hielt sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf. »Raus aus den Federn, wir haben eine Leiche.«
Katharina überkam sofort die altbekannte Aufregung, auch wenn sie deshalb jedes Mal ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie sich eigentlich nicht über den Fund einer Leiche freuen sollte. »Wo soll ich hinkommen?«
»Der Tatort ist auf der Kreisstraße zwischen Friedrichshafen und Oberteuringen. Halte Ausschau nach einem Maisfeld mit Blaulicht. Hier sind inzwischen haufenweise Polizeiwagen, du kannst es also gar nicht verfehlen.«
»Bin schon unterwegs.« Sie legte auf, und alle am Tisch sahen sie erwartungsvoll an. Inzwischen war auch Frederik mit ihrem Glas Weißwein zurückgekehrt. »Wir müssen zu einem Tatort«, sagte sie mit Blick zu Daniel.
»Wir?« Überrascht zog er die Augenbrauen hoch.
»Ja, wir. Ich bin ohne Auto hier und hab was getrunken, außerdem können wir vor Ort sicher einen Gerichtsmediziner gebrauchen.« Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Und was ist mit deinem Chardonnay?«, fragte Frederik.
»Gib ihn Moni«, antwortete Katharina und sah erneut zu Daniel. »Kommst du?«
Schon von Weitem erkannte Katharina die vielen Autos am Straßenrand und das Absperrband. Daniel ging vom Gas und parkte seinen Mustang hinter Huberts VW Golf, der mindestens so alt war wie Katharina selbst. Zwischen einem Waldstück auf der linken und einem Maisfeld auf der rechten Seite führte ein Schotterweg hindurch, dem Katharina folgte. Im offenen Kofferraum eines Streifenwagens saßen ein junger Mann und eine junge Frau, beide wirkten abwesend. Der Polizist, der mit ihnen sprach, machte sich Notizen. Überall wuselten Kollegen in weißen Anzügen herum, die Spuren gesichert oder Fotos gemacht hatten und nun ihre Sachen zusammenräumten, und im Maisfeld kniete ein älterer Mann, um die Leiche zu untersuchen. Hubert stand mit einer Taschenlampe daneben; er wirkte unzufrieden.
»Und genauer können Sie’s nicht sagen?«, fragte er den am Boden knienden Mann.
»Leider nein«, antwortete dieser. »Das Opfer ist ziemlich ausgekühlt, es liegt sicher schon eine Weile hier, aber den genauen Todeszeitpunkt kann ich im Moment nicht nennen.«
Hubert seufzte. »Ich hasse Leichen am frühen Morgen. Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als jemanden vom gerichtsmedizinischen Institut in Ulm aus dem Bett zu klingeln. Bis die hier sind …«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Katharina.
Hubert drehte sich zu ihr um. »Katrinchen, das ging aber schnell.« Er stutzte, als sein Blick auf Daniel fiel. »Du hier?«
»Hallo, Hubert. Lange nicht gesehen.« Die beiden Männer schüttelten sich freundschaftlich die Hände. Hubert hatte Daniel schon immer gemocht.
»Wir waren zusammen auf einem Klassentreffen«, erklärte Katharina. »Ich dachte, ich bringe Daniel gleich mit. Dann können wir uns den Anruf in Ulm sparen.«
»Sehr schön, da denkt endlich mal jemand mit.« Hubert nickte zufrieden, doch dann näherte er sich Katharina und sog tief die Luft ein. Skeptisch betrachtete er sie. »Hast du was getrunken?«
»Nur ein Gläschen Wein«, gestand sie. »Meine ehemaligen Mitschüler kann man anders nicht ertragen.«
Hubert unterdrückte ein Grinsen, er reichte Daniel ein Paar Handschuhe. »Bitte, das Opfer gehört dir.«
Widerwillig machte der ältere Mann Platz, den Katharina nun auch erkannte. Es war Dr. Sprung, der Hausarzt ihrer Mutter und Nathalies Vater. Sofort wünschte Katharina sich, sie hätte sich den Kommentar mit ihren Mitschülern gespart. Sie und der Arzt nickten sich knapp zu.
»Ich schätze, das Opfer ist seit mindestens neunzehn Stunden tot, da die Körpertemperatur auf Umgebungstemperatur abgesackt ist«, sagte Dr. Sprung.
Daniel erwiderte nichts, sondern kniete sich wie der Arzt zuvor neben die Leiche. Katharina bückte sich über ihn und die noch junge Frau, die auf dem Rücken im Maisfeld lag. Sie trug ein hautenges schwarzes Kleid, dazu roten Lippenstift. Blut war aus einer Wunde am Kopf über ihre braunen Haare gelaufen, sie hatte nur einen roten High Heel am Fuß. Katharina sah sich um, erblickte aber nur wenige Meter entfernt eine schwarze Clutch und eine Blutspur, die sich über den Weg bis zum Maisfeld zog.
»Wo ist der zweite Schuh?«, fragte sie.
Hubert zuckte mit den Schultern. »Unser Aschenputtel scheint nur einen gehabt zu haben, jedenfalls konnten wir den anderen bisher nicht finden.«
»Aber ihr habt die Leiche nicht bewegt?«, fragte Daniel und sah kurz auf. Hubert nickte, und Daniel begann, das Opfer von allen Seiten zu untersuchen. Ganz genau betrachtete er die Wunde am Kopf und drückte mit dem Daumen in die Haut am Rücken. »Die Totenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken, zudem hat die Totenstarre komplett eingesetzt und löst sich bereits wieder. Ich würde sagen, der Tod trat zwischen zweiundzwanzig und ein Uhr letzter Nacht ein. Todesursache ist ein Schädeltrauma durch stumpfe Gewalteinwirkung. Genaueres kann man erst nach der Obduktion sagen.«
»Das ist doch schon mal was«, sagte Hubert und wandte sich an Dr. Sprung. »Ich schätze, wir brauchen Sie nicht mehr. Danke für Ihre Mühe.«
Der Arzt nickte erneut knapp und verschwand ohne jedes weitere Wort. Offensichtlich fühlte er sich in seiner Medizinerehre verletzt.
»Handelt es sich um ein Sexualverbrechen?«, fragte Katharina.
Daniel stand auf. »Danach sieht es nicht aus. Das Opfer hat keine Deckungsverletzungen an Armen und Händen, die durch Abwehren entstehen. Die Frau wurde hier drüben von hinten erschlagen«, er deutete auf den Blutfleck, »und dann ins Maisfeld gezogen, damit man sie nicht so schnell entdeckt. Dem Einschlagwinkel nach zu urteilen muss sie am Boden gekniet haben, andernfalls wäre der Täter ein Riese.«
»Also kannst du nichts über die Größe des Täters sagen?«, fragte Katharina. Daniel schüttelte den Kopf.
»Dann können die Kollegen das Opfer schon mal einpacken?«, fragte Hubert.
»Meinetwegen ja«, antwortete Daniel.
Hubert winkte den Kollegen zu, die bereits auf ihren Einsatz warteten. Zu zweit kamen sie mit einer Trage und hoben die Leiche an, um sie darauf zu legen. Dabei kam der zweite High Heel zum Vorschein. Er lag blutverschmiert unter dem Oberkörper der Leiche.
»Sieh mal einer an, unser Aschenputtel hatte doch zwei Schuhe«, sagte Hubert.
Daniel ging noch einmal in die Hocke, um das Ganze genauer zu betrachten. »Der Schuh muss dem Opfer vom Fuß gefallen sein und sich dann irgendwo im Bereich der Schulterblätter verkantet haben und mitgeschleift worden sein, als der Täter das Opfer an den Beinen ins Maisfeld gezogen hat.«
»Wer hat die Leiche eigentlich gefunden?«, wollte Katharina wissen, während die Kollegen das inzwischen abgedeckte Opfer zu einem Leichenwagen brachten.
»Die Turteltauben da vorne«, antwortete Hubert und nickte hinüber zu dem jungen Pärchen. »Die zwei wollten hier offenbar ein bisschen rummachen. Glattauer nimmt gerade die Personalien und die Aussagen auf, dann werden sie psychologisch betreut.«
»Gehört eines der Autos dem Opfer?«, fragte Katharina und sah sich um.
»Leider nein. Da es hier ziemlich abgelegen ist und unser Aschenputtel wohl kaum auf diesen Schuhen hierhergelaufen ist, hat der Mörder sie vermutlich mitgenommen. Oder sie hat sich ein Taxi bestellt und ihren Mörder hier getroffen, wobei das ein seltsamer Treffpunkt wäre. Die Spusi hat bereits Abdrücke von den Reifenspuren genommen. Morgen wissen wir hoffentlich mehr. Übrigens handelt es sich nicht um Raubmord. Wir haben zwar kein Portemonnaie beim Opfer gefunden, dafür aber einige Hundert-Euro-Scheine.«
Katharina zog ein Paar Einweghandschuhe, die sie immer dabei hatte, aus ihrer Jeanstasche und streifte sie sich über. »Darf ich?«, fragte sie und hob die Clutch auf, nachdem Hubert nickte. In der Tasche befanden sich neben dem Geld ein Handspiegel, ein Lippenstift, ein Handy, ein Schlüsselbund, eine Handvoll Kondome und ein Dutzend teuer aussehende Visitenkarten. Katharina betrachtete sie von beiden Seiten. CharlèneLa Bouche war dort eingraviert, außerdem eine Handynummer. »Sieht nach einer Prostituierten aus.« Katharina runzelte die Stirn. »Vielleicht doch ein Sexualverbrechen?«
»Dafür muss ich sie erst auf dem Tisch haben.« Daniel räusperte sich. »Oder besser gesagt, der Kollege aus Ulm.«
»Papperlapapp.« Hubert machte eine wegwerfende Handbewegung. »Den langen Dienstweg können wir uns sparen. Wofür haben wir einen Gerichtsmediziner in der Nähe?«
»Ich arbeite jetzt in der Pathologie«, setzte Daniel an, doch Hubert ließ ihn nicht weiterreden.
»Na und? Eine Obduktion wirst du wohl noch hinbekommen, und die Ausrüstung ist doch da. Wir brauchen schnelle Ergebnisse, am besten gleich morgen früh. Ich kläre das mit der Staatsanwaltschaft. Katrinchen, du bist bitte anwesend bei der Obduktion.«
Katharina verkniff sich einen Kommentar über den ungeliebten Spitznamen. Ihr wurde ein wenig flau im Magen, trotzdem nickte sie. Nachdenklich betrachtete sie das Opfer. Warum nur kam es ihr so bekannt vor?
»Guten Morgen!« Katharina betrat den Raum in der Pathologie Friedrichshafen, in dem die Obduktion stattfinden würde. Er war genauso kahl und kühl eingerichtet wie die gerichtsmedizinischen Institute, die sie kannte: gelb-braune Kacheln an den Wänden und auf dem Boden, ansonsten alles aus Metall oder abwaschbarem Material. Es war nicht Katharinas erste Obduktion, dennoch graute es ihr jedes Mal aufs Neue davor. Daniel stand in einem grünen Kittel vor einem hohen Metalltisch. Die Leiche lag bereits auf dem Tisch, allerdings war sie im Moment noch mit einem weißen Laken bedeckt.
»Hi, Kathi. Und, bist du bereit?«
»Mir geht es gut«, antwortete sie vage. Es gab Zeiten, in denen hatte sie ihrem Exmann alles anvertraut, doch heute behielt sie ihre Gedanken und Gefühle lieber für sich. »Was sagt dein Chef zu deiner neuen Tätigkeit? Die Aufklärung unnatürlicher Todesursachen fällt doch normalerweise nicht in den Aufgabenbereich eines Pathologen.«
»Er ist wenig begeistert, aber Hubert hat das alles geklärt«, erzählte Daniel, während er sich Gummihandschuhe überstreifte und das Besteck bereitlegte.
»Bist du froh, endlich wieder deiner eigentlichen Aufgabe nachgehen zu können, anstatt Gewebeproben von lebenden Patienten untersuchen zu müssen? Wobei ich bis heute nicht verstehe, was dich an toten Menschen so fasziniert.«
»Das werde ich auch nie verstehen«, bemerkte ein Mann im dunkelgrauen Anzug, der mit raschen Schritten den Raum betrat.
Katharina betrachtete ihn eingehend, auch wenn sie es nicht wollte. Schlecht sah er nicht aus mit den braunen Haaren und den freundlichen blauen Augen. Sie schätzte ihn auf höchstens Ende dreißig. Er war ziemlich hoch gewachsen, sogar noch ein Stückchen größer als Daniel. Nun hielt er direkt auf Katharina zu und streckte ihr die Hand entgegen.
»Hallo, Linus Reuter von der Staatsanwaltschaft. Wir sind uns noch nicht begegnet, richtig? Zwischen all dem Elend wäre mir ihr hübsches Gesicht sicher in Erinnerung geblieben.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Daniel den Mund verzog, doch sie lächelte dem Neuankömmling zu. »Katharina Danninger. Ich bin seit einer Woche bei der Kriminalpolizeidirektion.«
»Danninger?« Linus sah zwischen ihr und Daniel hin und her.
»Mein Exmann«, erklärte sie und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als sich Linus’ Miene wieder entspannte.
»Ah, verstehe. Auf gute Zusammenarbeit.«
»Dann legen wir mal los«, sagte Daniel und zog ohne jede Vorwarnung das Tuch von der Leiche.
Es hatte nichts mit den kühlen Temperaturen in der Pathologie zu tun, dass es Katharina am ganzen Körper fröstelte. Nackt und schutzlos lag das Opfer vor ihnen – eine junge Frau, die kaum älter sein konnte als sie. Katharina hasste diesen Moment, auch wenn sie wusste, dass es nötig war.
Wie in der Nacht zuvor betrachtete Daniel die Leiche zunächst gründlich von allen Seiten. Seine Entdeckungen sprach er in ein Diktiergerät, das während der ganzen Zeit lief. Schließlich blickte er auf. »Die Frau ist jahrelang auf hohen Schuhen herumgelaufen. Die Verkürzung der Bänder und Sehnen an den Füßen spricht eindeutig dafür. Außerdem hat sie sich einigen Schönheits-OPs unterzogen: Brustvergrößerung, Lippenvergrößerung, Nasenkorrektur, Facelifting, Oberschenkelstraffung. Aber alles gute Arbeit, da war kein Stümper am Werk.«
Katharina schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie man sich freiwillig unters Messer legen kann.«
»Du hattest es ja auch nie nötig«, bemerkte Daniel und untersuchte nun den Genitalbereich des Opfers. Katharina versuchte, nicht so genau hinzusehen. »Hoppla! Es könnte sein, dass du recht hast.«
Eine Gänsehaut überzog Katharinas Arme. »Doch ein Sexualverbrechen?«
»Sie hatte Sex, bevor sie ermordet wurde, aber ich denke nicht, dass man sie vergewaltigt hat. Zumindest deutet nichts auf ein gewaltsames Eindringen hin. Allerdings sind hier eindeutige Vernarbungen zu sehen. Es scheint ganz so, dass die Frau vor einigen Jahren Opfer eines Sexualverbrechens wurde.«
»Merkwürdig. Warum sollte eine Frau, die mal vergewaltigt wurde, später als Prostituierte arbeiten?«, überlegte Katharina laut. »Sofern sie wirklich Prostituierte war. Hubert klärt das gerade.«
Daniel zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war sie auch nur für einen Begleitservice tätig und hat keinen Sex gegen Geld angeboten. Ich nehme noch einen Abstrich, falls sie kein Kondom benutzt hat.« Er griff nach einem Stäbchen.
»Weiß man denn, wer das Opfer ist?«, hakte Linus nach und sah bewusst zur Seite, was ihn in Katharinas Augen noch sympathischer machte.
Katharina schüttelte den Kopf. »Sie hatte keine Papiere bei sich, und ihre Fingerabdrücke sind nicht im System erfasst.«
»Vielleicht hat sie ja ihren einstigen Vergewaltiger, wenn es denn einen gab, angezeigt.«
»Ja, vielleicht, aber ich mache mir keine große Hoffnung. Leider kommen viel zu viele Täter ungeschoren davon, weil die meisten Frauen Angst haben oder sich schämen.« Den Frust konnte sie nicht aus ihrer Stimme heraushalten. »Ich kann mir nicht helfen, aber das Opfer kommt mir so bekannt vor.«
Daniel sah von seiner Arbeit auf. »Du kennst sie?«