Goldmarie - Sandra Grauer - E-Book

Goldmarie E-Book

Sandra Grauer

0,0

Beschreibung

In Friedrichshafen wird ein Mann auf offener Straße erschlagen. Der Fall führt Kriminalkommissarin Katharina Danninger in einen Konstanzer Nachtclub: Schnell gerät die Tänzerin Mary Gold unter Verdacht, die von dem Opfer bedrängt worden war. Der Fall scheint klar. Allein Katharina glaubt an Marys Unschuld und setzt alles daran, den wahren Täter zu finden. Als sie dabei auf dunkle Machenschaften der hochrangigen Lokalprominenz stößt, beginnt ein Kampf zwischen Wahrheit und Macht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 482

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sandra Grauer

Goldmarie

Ein Bodensee-Krimi

Zum Buch

Tatort Bodensee Kriminalkommissarin Katharina Danninger hat sich nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt gerade wieder eingelebt und steckt mitten in einem Date, als ein Mord Friedrichshafen erschüttert. Ein Mann wird erschlagen in einer Gasse gefunden. Die Ermittlungen führen Katharina nach Konstanz zu einer Tänzerin, die unter dem Namen Mary Gold in einem Nachtclub auftritt. Das Opfer hatte sie vor seinem Tod mehrmals bedrängt. Die Beweislast ist erdrückend und die junge Frau scheint überführt. Aber Katharina ist von Marys Unschuld überzeugt und setzt alles auf eine Karte, um den wahren Mörder zu finden. Bald stößt sie auf dunkle Geschäfte hochrangiger Lokalprominenz und auch im Nachtclub geht offenbar nicht alles mit rechten Dingen zu. Als sie sich in dem Dickicht aus Seilschaften und Machtmissbrauch zu verfangen droht, gerät Katharina selbst in Gefahr.

Sandra Grauer, Jahrgang 1983, arbeitete als Diplom-Übersetzerin, PR-Redakteurin und Journalistin, bevor sie sich vollständig der Schriftstellerei verschrieben hat. Seitdem sind von ihr mehrere erfolgreiche Jugendbücher und Liebesromane erschienen. Während sie zehn Jahre in Baden-Württemberg lebte, schloss sie insbesondere den Bodensee in ihr Herz und machte ihn zum Schauplatz ihrer atmosphärischen Krimireihe rund um Kriminalkommissarin Katharina Danninger.

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2025 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ricarda Dück

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © xuuxuu / Pixabay

ISBN 978-3-7349-3442-1

Widmung

Für Niklas, Betty und Christian

Prolog

Donnerstag, 28. September

Ich warne dich, die Nummer ist zu groß für dich. Hör auf weiterzugraben, oder es wird dir noch leidtun.

Eine Taube, die Robert nicht gesehen hatte und die nun aufgeregt davonflatterte, verstärkte die Gänsehaut auf seinem Rücken. Gegen seinen Willen hallten Bens Worte in seinem Kopf wider und wider. Ben hatte es vielleicht nicht explizit gesagt, aber Robert war nicht dumm – sein Leben stand auf dem Spiel. Das wusste er. Zwar war das blaue Auge inzwischen halbwegs verheilt, aber seine schmerzenden Rippen erinnerten ihn nach wie vor an die Prügelattacke. In den letzten Tagen hatte er kaum geschlafen. Ja, er hatte Angst, war immerzu auf der Hut, und er fühlte sich selbst zu Hause nicht mehr sicher. Die Warnung war mehr als deutlich gewesen und dennoch: Wie sollte er aufhören? Robert konnte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen, immerhin ging es hier um seine Tochter! Sie war alles, was ihm noch geblieben war. Zuerst hatte er sich zwar tatsächlich gefragt, ob er sich in etwas verrannt hatte, denn Paula und er hatten schon lange Differenzen gehabt, doch Bens Warnung hatte ihn schlussendlich in seinem Verdacht bestärkt. Was auch immer hier vor sich ging, daran, dass etwas vor sich ging, bestand kein Zweifel mehr, und seine Tochter hing irgendwie mit drin. Robert musste mehr herausfinden, dann konnte er sich erneut an die Polizei wenden und endlich auf Mithilfe hoffen. Doch bis dahin war er auf sich allein gestellt, und er musste mehr als behutsam sein, sonst bestand für seine Tochter überhaupt keine Hoffnung mehr.

Er machte sich Vorwürfe, denn er hätte sich von vornherein wachsamer verhalten müssen. Wie hatte er so naiv sein können, zu glauben, seine Beschattungsaktionen würden nicht auffallen? Nachdem er Ben zuvor angegangen war und damit auf sich aufmerksam gemacht hatte, hätte er viel mehr Vorsicht walten lassen müssen, doch da war das Kind längst in den Brunnen gefallen. Er war wütend und verzweifelt gewesen; wie hatte er auch ahnen können, dass so viel mehr hinter der ganzen Sache steckte?

Immerhin war er so Marie auf die Spur gekommen, doch auch hier war er unvernünftig gewesen. Er hatte sie zu sehr bedrängt. Ob es überhaupt etwas bringen würde, noch einmal mit ihr reden zu wollen? Auch sie hatte ihn gewarnt, sich ihr nicht noch einmal zu nähern, doch er musste es zumindest versuchen. Es war seine einzige Chance. Er würde sie draußen abfangen, denn in der Bar hatte sie zu viel Unterstützung. Und dann würde er an ihr Mitgefühl appellieren. Marie musste ihm einfach helfen. Sonst würde er auch nicht davor zurückschrecken, noch weiter zu gehen und sie zu bedrohen.

Robert zuckte zusammen, als er ein Geräusch hinter sich wahrnahm. Er fuhr herum, doch niemand war zu sehen. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass ihm jemand folgte, während er durch die Straßen von Friedrichshafen eilte. Warum hatte er sich keine Pistole besorgt, ein Pfefferspray oder etwas anderes, was ihn im Notfall wirklich beschützen konnte? Zwar trug er ein Schweizer Taschenmesser bei sich, aber er bezweifelte, dass ihm das im Falle eines Falles hilfreich sein würde. Nicht, wenn sein Gegenüber im Gegensatz zu ihm eine richtige Waffe hatte. Wie hatte er in dieser Situation nur so unvernünftig sein können? Auch wenn er wider besseren Wissens inständig hoffte, dass ihm von Ben keine Gefahr drohte. Ben hatte ihn verprügelt und unmissverständlich gewarnt. Aber Mord? Das war eine ganz andere Hausnummer. War Ben wirklich so kaltblütig? Und was war mit Marie? Würde sie ihm etwas antun? Robert konnte es sich zwar nicht vorstellen, aber vielleicht unterschätzte er sie. Keinesfalls durfte er den Fehler machen, zu weich oder zu nachsichtig zu sein. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Da! Ein erneutes Geräusch ließ ihn zusammenfahren, als er sein Ziel endlich erreichte. Wieder war nichts zu sehen. Was war nur los mit ihm? Wurde er wirklich verfolgt, oder sah er nun schon Gespenster? Sicher war es nicht seine beste Idee gewesen, in der Dämmerung loszuziehen und Marie in dieser verlassenen Gasse abfangen zu wollen, aber es war seine beste Chance, an sie heranzukommen und in Ruhe mit ihr zu reden. Er hatte sie beobachtet und wusste daher, dass sie jeden Montag- und Donnerstagabend ins Fitnessstudio ging und auf dem Weg zum Parkhaus eine Abkürzung durch diese Gasse nahm. Perfekt, um ihr ungestört ein paar Fragen über seine Tochter zu stellen. Aber der Plan hatte auch seine Schwächen. Gerade weil es um diese Uhrzeit und mitten unter der Woche an dieser Stelle so menschenleer war, konnte er Marie verschrecken. Vielleicht würde sie sich wehren und ihn angreifen, und dann konnte er nicht auf Hilfe hoffen. Er hätte sich wirklich eine vernünftige Waffe besorgen sollen!

Ein Mann bog eilig in die Gasse ein, und Robert spannte sich sofort an. Zuerst dachte er, es wäre Ben, doch dem war zum Glück nicht so. Der Mann war größer, älter, mit Schnauzbart und Brille. Robert versuchte sich daran zu erinnern, ob er ihn schon einmal gesehen hatte, doch er konnte nicht klar denken. Nicht, während so viel Adrenalin durch seinen Körper gepumpt wurde. Er drückte sich gegen die Hauswand hinter sich, eine Hand an der Tasche seiner Jeans, und beobachtete den Mann ganz genau, doch dieser warf ihm im Vorbeigehen nur einen kurzen skeptischen Blick zu und eilte weiter. Robert wartete, bis der andere außer Sichtweite war, dann zog er das Taschenmesser aus seiner Hosentasche. So fühlte er sich einfach sicherer. Doch beim Auseinanderklappen glitt es ihm durch die schweißnassen Finger und fiel scheppernd zu Boden.

Robert bückte sich danach, um es aufzuheben. Fast im selben Moment bemerkte er aus den Augenwinkeln die Gestalt, die sich aus den Schatten der Hauswand löste und auf ihn zutrat. Roberts Herzschlag beschleunigte sich erneut. Er packte das Messer, bereit, sein Leben zu verteidigen, doch es war zu spät: Er konnte weder zum Angriff übergehen noch ausweichen. Im nächsten Moment traf ihn ein Schlag an der Schläfe, und er fiel vornüber auf den Asphalt. Das Messer rutschte ihm erneut aus der Hand, Blut lief ihm über das Gesicht und in seinen Mund, wo es einen metallischen Geschmack hinterließ. Robert wollte aufstehen, sich wehren. Er war nicht bereit, kampflos aufzugeben, auch wenn er sich in diesem Moment benommen fühlte. Der Gedanke an seine Tochter gab ihm neue Kraft. Ohne ihn war sie verloren. Blind tastete seine Hand nach dem Messer, aber sein Gegenüber stieß mit dem Fuß dagegen, sodass es außer Reichweite rutschte.

»Ich hab dich gewarnt«, sagte der Angreifer. »Ich hab dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören. Jetzt musst du dafür bezahlen.«

Robert schaffte es gerade noch, die Arme schützend über seinen Kopf zu halten, ehe ihn der nächste Schlag traf. Verzweifelt dachte er an Paula und Linda, während er sich gegen die Bewusstlosigkeit wehrte. Er hatte so vieles falsch gemacht, das er unbedingt wiedergutmachen wollte, doch sein Atem wurde immer schwächer und seine vor Schmerz brennenden Arme schafften es nicht, seinen Kopf weiterhin zu schützen. Kraftlos rutschten sie an seine Seite.

Der nächste Schlag brachte die erlösende Dunkelheit.

Kapitel 1

Donnerstag, 28. September, einige Stunden zuvor

»Sag endlich Ja«, meinte Emily, ohne von ihrem Buch aufzusehen.

»Ja wozu?« Katharina tat so, als wüsste sie nicht, wovon ihre Tochter sprach – zwecklos.

Emily grinste und klappte ihr Buch nun doch zu, einen Vampirroman. Seit Twilight war sie verrückt nach den Dingern. »Na, zum Staatsanwalt.«

»Woher weißt du, dass er mir geschrieben hat?« Katharina legte das Handy beiseite und blickte ihre Tochter an. Tatsächlich hatte Linus erneut gefragt, ob sie nicht Lust hätte, mit ihm essen zu gehen.

»Weil deine Augen dann immer diesen verträumten Ausdruck annehmen«, antwortete Emily. »Du magst ihn.«

Es war eine Feststellung und keine Frage, und Emily hatte recht. Katharina mochte den Staatsanwalt, den sie während ihres ersten Falls am Bodensee kennengelernt hatte. Er war nett, zuvorkommend und charmant, außerdem hartnäckig, ohne dabei aufdringlich zu sein. In den vergangenen Wochen hatte er ihr ab und zu Blumen oder Pralinen geschickt und sich nicht nur nach ihr erkundigt, sondern auch nach Emily und Daniels verstauchtem Fuß gefragt, der inzwischen wieder verheilt war. Und er hatte, wie auf Katharinas Geburtstagsparty angekündigt, immer wieder gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde.

Aber Katharina mochte auch Jonas, ihren besten Freund seit Schulzeiten. Und Daniel, ihren Exmann, der sie vor zehn Jahren betrogen hatte und dessentwegen sie Friedrichshafen für ein ganzes Jahrzehnt den Rücken gekehrt hatte.

Sie setzte sich auf, zog die Beine an und ließ ihren Blick über den Garten schweifen – die Rosensträucher, die nach wie vor in voller Blüte standen und in sämtlichen Rot- und Pinktönen strahlten. Die Hortensienbüsche, die ihre Mutter Maria bereits zurückgeschnitten hatte. Und das Laub der Bäume, das von Gelb und Orange über Rot bis hin zu Braun reichte.

Katharina und Emily hatten es sich mit Kissen und Decken, Tee und Keksen in dem alten Baumhaus gemütlich gemacht, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen. Es war mild und für Ende September erstaunlich warm. Katharina atmete die frische, würzig duftende Luft ein. Auf einen herrlichen Sommer war ein wunderschöner Herbst gefolgt. Der Sommer war wirklich traumhaft gewesen. Katharina hatte sich eine Auszeit genommen. Eine Auszeit von der Arbeit, den Männern und den ständigen Grübeleien. Sie und Emily hatten in den großen Ferien sehr viel Zeit miteinander verbracht und sich wieder ein wenig angenähert. Sie hatten mit Jonas’ und auch Daniels Hilfe das Baumhaus restauriert, das Katharinas verstorbener Vater damals für Katharina und ihre Zwillingsschwester Katja gebaut hatte, waren im Kino und viel am See gewesen. Doch der Sommer und die Ferien waren vorbeigegangen, und nun neigte sich auch der September dem Ende zu. Allmählich musste Katharina eine Entscheidung treffen. Wem sollte sie eine Chance geben? Dem verlässlichen Freund, der schon so lange ein Auge auf sie geworfen hatte und stets für sie da war? Dem charmanten Staatsanwalt, mit dem sie so viel gemeinsam hatte und der sie immer zum Lächeln brachte? Oder dem Ex, der sie einst betrogen hatte, aber alles tat, um für die vergangene Liebe zu kämpfen? Unwillkürlich hatte Katharina die Frauenstimme aus der alten Fernsehsendung Herzblatt im Ohr, die den Kandidaten die Vorzüge der vermeintlichen Traumpartner aufzählte. Fast hätte sie gelacht; stattdessen unterdrückte sie ein Seufzen. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, dabei wusste sie tief in ihrem Herzen, dass sie sie längst getroffen hatte. Sie war nur zu feige, um es sich einzugestehen. Und es gab da noch ein weiteres Problem. Katharina sah zu Emily. Gegen Jonas hatte sich Katharina längst entschieden, denn obwohl sie ihn wirklich gern hatte, war ihr die Freundschaft zu ihm wichtiger. Die wollte sie nicht aufs Spiel setzen, und das würden sie, auch wenn Jonas noch so oft das Gegenteil behauptete. Blieb noch Daniel, der seit Katharinas Rückzug an den See wieder eine große Rolle in ihrem Leben spielte. Er und Emily hatten sich in den vergangenen Wochen ebenfalls angenähert. Nachdem Katharina Emily so viele Jahre den Vater vorenthalten hatte, hatte sie in den letzten Wochen der gemeinsamen Tochter zuliebe alles getan, um ihn ihr zurückzugeben. Zu dritt hatten sie viel unternommen, hatten Dinge zusammen gemacht, die man als Familie zusammen machte. Und jetzt sollte sie ihrer Tochter den Vater wieder nehmen und sich mit einem anderen Mann treffen? Auch wenn sie Daniel mochte und ihm vielleicht verziehen hatte – was er ihr vor so vielen Jahren angetan hatte, konnte sie nicht so einfach vergessen. Sie war noch nicht bereit, ihm eine zweite Chance zu geben. Die Entscheidung war längst gefallen, aber Katharina war nicht allein. Sie hatte Verantwortung und eine Tochter, auf die sie Rücksicht nehmen musste.

»Wäre es denn für dich in Ordnung?«, fragte Katharina nun vorsichtig an Emily gewandt.

»Was? Wenn du mit dem Staatsanwalt ausgehst?«, fragte Emily. »Klar. Warum denn nicht? Du kannst definitiv einen Mann in deinem Leben gebrauchen.«

Auch diesbezüglich lag ihre Tochter richtig. Seit der Scheidung von Daniel hatte Katharina keine ernst zu nehmende Beziehung mehr gehabt, doch nun war sie endlich wieder bereit, sich auf jemanden einzulassen. Auf Linus, um genau zu sein. Allein bei dem Gedanken prickelte es in ihrer Magengegend. Und trotzdem … »Was ist mit deinem Vater?«, fragte sie leise.

Emily, die auf der Seite gelegen hatte, den Kopf auf dem aufgestützten Arm abgelegt, setzte sich auf und sah ihre Mutter unerwartet ernst an. »Papa hat mir erzählt, was er getan hat.«

Katharina schluckte. Das hatte sie nicht gewusst, und damit hatte sie auch nicht gerechnet. »Wann?«

»Vor zwei Wochen, als wir zusammen auf dem Ed-Sheeran-Konzert waren. Ich war ein bisschen sauer auf dich, weil wir damals so weit weggezogen sind und du mir nie den Grund dafür nennen wolltest. Papa hat gesagt, dass dich absolut keine Schuld trifft und dass ich sauer auf ihn sein soll.«

Deshalb war das Mädchen so seltsam gewesen, als es von dem Konzert nach Hause gekommen war. »Und bist du es? Sauer auf deinen Vater?« Unbewusst hielt Katharina die Luft an.

Emily zuckte mit den Schultern. »Anfangs schon. Ich meine, es ist echt mies, mit jemand anderem ins Bett zu hüpfen, wenn man in einer Beziehung ist. Das macht man einfach nicht. Aber ich glaube, Papa hat sich wirklich geändert. Er ist nicht mehr derselbe, auch wenn ich nicht so viele Erinnerungen an ihn von damals habe.«

»Er war schon immer ein guter Mensch«, sagte Katharina. »Und er war dir immer ein guter Vater. Einen besseren hättest du dir nicht wünschen können. Aber …« Sie verstummte. Nur ungern dachte sie an den Tag zurück, als Daniel ihr den Seitensprung gebeichtet hatte – kurz nach dem Tod ihres Vaters, als sie ihn am dringendsten gebraucht hatte.

Emily nickte. »Ich weiß, er hat dir wirklich wehgetan. Deshalb verstehe ich auch, wenn du ihn nicht wieder in dein Herz lassen willst.«

»Ach, Emily.« Katharina lächelte und schloss ihre Tochter in die Arme. In diesem Moment wirkte das Mädchen so reif und erwachsen, und Katharina musste sich ins Gedächtnis rufen, dass Emily das auch war. Schon am Sonntag wurde sie sechzehn.

Emily löste sich aus der Umarmung. »Außerdem ist der Staatsanwalt doch ganz niedlich. Na los, antworte ihm schon. Vielleicht hat er ja heute Abend noch nichts vor.«

»Aber wir wollten es uns doch noch mal so richtig gemütlich machen.« Sie wollten sich den letzten Teil der Twilight-Saga anschauen. Katharina hatte nach der Arbeit extra Popcorn und Schokoladeneis besorgt.

Wieder zuckte Emily mit den Schultern. »Mama, wir haben es uns die ganzen Ferien über gemütlich gemacht. Du kannst ruhig mal wieder ausgehen. Ich frage Franzi, ob sie mit mir ins Kino geht. Da läuft der neue Avengers.«

Katharina runzelte die Stirn. »Seit wann stehst du auf diese Superhelden?«

»Tue ich nicht, aber Chris Hemsworth spielt mit.«

Katharina grinste und griff nach dem Handy, um Linus’ Nachricht zu öffnen und eine Antwort zu schreiben.

Wie spontan bist du?

»Schön, dass du endlich Ja gesagt hast.« Linus lächelte Katharina kurz zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.

»Du hast mir ja kaum eine Wahl gelassen«, erwiderte sie scherzhaft. Sie freute sich auf den bevorstehenden Abend, hatte extra Parfum aufgelegt, was sie ewig nicht getan hatte, und sich nach dem Duschen in schicke Wäsche gehüllt. Nicht, dass sie irgendwelche Pläne hatte, aber sie wollte ihrem angeknacksten Selbstbewusstsein auf die Sprünge helfen. Daniel hatte sie nicht betrogen, weil sie hässlich oder grantig war – selbst nach zehn Jahren musste sie sich das immer wieder ins Gedächtnis rufen.

»Man hat immer eine Wahl«, bemerkte Linus.

»Stimmt«, gab Katharina zu, »aber ich dachte mir, ich hab dich lange genug zappeln lassen. Außerdem hatte ich mal wieder Lust auf Sushi, und Emily steht nicht so auf rohen Fisch.«

Linus lachte. »Glück für mich. Wie sieht es momentan auf der Arbeit aus?«

»Verhältnismäßig ruhig«, antwortete Katharina, kam aber nicht umhin, sich zu fragen, ob ihnen bereits jetzt der Gesprächsstoff ausging. Doch da fügte Linus hinzu:

»Ich hab mich gefragt, ob du nach dem Essen noch Lust hast, ein bisschen am See entlang zu spazieren. Aber wenn du gerade viel zu tun hast und morgen früh aufstehen musst …«

»Wir haben derzeit keinen Fall, wie du weißt, also sehr gern«, antwortete Katharina, deren Herz einen kleinen Hüpfer machte. Linus wollte mehr Zeit mit ihr verbringen, dabei hatte der Abend gerade erst begonnen! Warum hatte sie seine Einladung zum Essen so lange ausgeschlagen?

Linus lenkte den BMW um eine Kurve, und ein von einem Waldstück eingerahmtes Maisfeld, das inzwischen abgeerntet war, kam in Sicht. Erst jetzt wurde Katharina bewusst, dass Linus über die Kreisstraße von Friedrichshafen nach Oberteuringen fuhr. Hier – auf einem forstwirtschaftlichen Weg zwischen Wald und Maisfeld – war der Tatort von Katharinas erstem Fall am Bodensee gewesen. Im Juli war am Abend vor dem zwanzigjährigen Klassentreffen Katharinas ehemalige Mitschülerin Anna umgebracht worden. Katharina lief ein Schauer über den Rücken. Sie und Anna hatten sich nie sehr nahegestanden und sich seit Jahren nicht gesehen, trotzdem konnte Katharina immer noch nicht fassen, was passiert war.

»Alles okay?«, fragte Linus mit einem kurzen Seitenblick zu ihr.

»Wie? Ja, natürlich.«

Linus’ Blick wanderte weiter aus dem Fenster, und er schien zu verstehen. »Oh, tut mir leid. Ich hab nicht nachgedacht und hätte über die Landstraße fahren sollen, anstatt die Kreisstraße zu nehmen.«

»Nein, nein, schon gut«, winkte Katharina ab. »Es ist nur so seltsam. Ich bin nicht mehr hier gewesen, seit Annas Leiche an jenem Abend gefunden worden ist.« Im Vorbeifahren bemerkte sie ein kleines Holzkreuz und einen Strauß frischer Dahlien am Straßenrand. Ob Annas Eltern das Kreuz hier aufgestellt hatten?

»Oli hat auch noch an dem Tod eurer ehemaligen Mitschülerin zu knabbern. Er macht sich Vorwürfe, weil er denkt, dass er den Mord hätte verhindern können, wenn er Anna nur dazu gebracht hätte, mit ihm zu reden.«

Katharina sah Linus verblüfft an. Sie sollte sich mal wieder bei Oli melden. In den letzten Wochen hatte sie sich so auf Emily konzentriert, dass neben ihr und der Arbeit kaum noch Zeit für etwas anderes geblieben war. Dabei hatte sie Oli immer gemocht und war froh, ihn während der Ermittlungen zum ersten Fall wiedergetroffen zu haben. »Das ist doch Blödsinn, und das sollte er wissen. Niemand trägt Schuld, außer dem Mörder. Oli hätte nichts tun können. Als er wieder Kontakt zu Anna hatte, war der Stein längst ins Rollen gekommen. Sag ihm das bitte.«

»Was hältst du davon, wenn du ihm das selbst sagst? Er und Elena haben mich für den dritten Oktober zum Essen eingeladen. Sie würden sich sicher freuen, wenn du mich begleitest.« Linus zögerte kurz. »Es sei denn, das geht dir zu schnell. Tut mir leid, vielleicht hätte ich nicht …«

»Alles gut«, unterbrach Katharina ihn. Sie mochte nicht nur Oli; auch seine Frau Elena, die gleichzeitig Linus’ Schwester war, war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. »Ich komme gern mit, wenn die beiden nichts dagegen haben.«

Linus schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Sehr schön. Dann hören sie hoffentlich auch endlich damit auf, mich verkuppeln zu wollen.«

Katharina schmunzelte und wollte gerade etwas erwidern, als ihr Handy klingelte. In ihrer Magengegend breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Und tatsächlich – es war Hubert. Wenn er sie an einem Donnerstagabend um diese Uhrzeit anrief, konnte das nichts Gutes bedeuten.

»Katrinchen, ich brauche dich. Wir haben eine Leiche.«

Katharina seufzte, was ausnahmsweise einmal nicht an dem ungeliebten Spitznamen lag. Auf der einen Seite freute sie sich, endlich einmal wieder richtig zu tun zu haben; die Ermittlungsarbeit mochte sie nämlich viel lieber als den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch zu sitzen und Akten zu wälzen. Auf der anderen Seite war der Zeitpunkt wirklich ungeschickt. Sie hatte sich so auf das Sushi und den Abend mit Linus gefreut! Stattdessen musste sie nun hungrig zu einem Tatort hetzen. »Wo soll ich hinkommen?«

Hubert erklärte ihr den Fundort der Leiche, der sich mitten in Friedrichshafen in der Nähe eines Fitnessstudios befand, und beendete dann das Gespräch. Katharina steckte das Handy ebenfalls wieder weg und fing Linus’ Blick auf.

»Ein Mord?«

Sie nickte. »Tut mir echt leid. Ich fürchte, wir müssen den gemeinsamen Abend verschieben.«

Linus versuchte, nicht allzu enttäuscht auszusehen. »Macht doch nichts. Ist zwar sehr schade, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

»Das holen wir auf jeden Fall nach«, stimmte Katharina zu.

Linus fuhr langsamer. »Wo soll ich dich hinbringen?«

Als Katharina mit Linus im Schlepptau am Tatort ankam, waren die Kollegen der Kriminaltechnik in ihren weißen Anzügen noch damit beschäftigt, die letzten Spuren zu sichern. Der Tatort befand sich in einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern, die sonst bei Nacht dunkel und verlassen wirken musste, jetzt aber nahezu taghell erleuchtet war. In sicherer Entfernung standen Schaulustige herum und beobachteten das Spektakel. Katharina fiel eine junge Frau auf, schätzungsweise ein paar Jahre jünger als sie selbst. Über ihrer Schulter hing eine große Sporttasche, und sie trug schwarze Leggings zu einem pinkfarbenen Kapuzenpullover mit Uni-Heidelberg-Emblem. Sie war sehr hübsch – lange goldblonde Haare, die momentan in einem Pferdeschwanz steckten, Figur und Größe wie ein Model. Doch ihr Sportoutfit oder ihr schönes Aussehen waren nicht der Grund, warum sie aus der Menschenmenge hervorstach. Sie wirkte völlig verstört, als würde sie das Opfer kennen. Allerdings musste das nichts bedeuten, denn Katharina hatte schon oft miterlebt, wie Menschen angesichts eines Mordes die Fassung verloren.

Hubert wartete, die Pfeife in der Hand, direkt hinter dem Absperrband auf seinen Einsatz. Neben ihm waren Dr. Sprung und Daniel in eine Diskussion darüber vertieft, wer von ihnen beiden die Leiche zuerst würde begutachten dürfen.

»Durch dieses Vorgehen verlieren wir kostbare Zeit«, sagte Daniel in diesem Moment.

»Das war nun einmal schon immer so«, erwiderte Dr. Sprung, dem man seinen Unmut deutlich anhören konnte. »Als die Kollegen aus Ulm noch die gerichtsmedizinischen Untersuchungen gemacht haben, wurde meine Anwesenheit nie infrage gestellt.«

»Die Kollegen aus Ulm brauchten ja auch mindestens eineinhalb Stunden, bis sie vor Ort waren«, murmelte Daniel so leise, dass Katharina ihn gerade noch verstehen konnte. Er setzte an, um noch etwas hinzuzufügen, verstummte jedoch, als er Linus neben Katharina entdeckte. Seine Laune sank augenblicklich noch weiter in den Keller.

Katharina hatte gewusst, dass es keine gute Idee gewesen war, Linus mitzunehmen, doch er hatte sich nicht überzeugen lassen. »Wissen wir bereits, dass es sich um einen gewaltsamen Tod handelt?« Sie wollte von Linus ablenken, was ihr jedoch nicht gelang.

»Herr Staatsanwalt, was machen Sie denn hier?«, fragte Hubert ebenso überrascht wie Daniel.

»Guten Abend, Herr Riedmüller. Herr Danninger.« Linus schüttelte Hubert und Daniel nacheinander die Hand und wandte sich dann an den Arzt. »Wir sind uns noch nicht begegnet, oder? Linus Reuter, Staatsanwalt.«

»Dr. Maximilian Sprung, niedergelassener Arzt aus Friedrichshafen.«

»Freut mich.« Linus begrüßte auch den Arzt mit Handschlag und deutete dann auf Katharina. »Wir waren zusammen unterwegs, und da ich Katharina ohnehin herbringen musste, dachte ich mir, begleite ich sie einfach mal. Sollten Sie einen richterlichen Beschluss benötigen, kann ich mich gleich darum kümmern.«

»Sehr gut.« Hubert zog zufrieden an seiner Pfeife und wandte sich an Katharina. »Dass es sich um einen gewaltsamen Tod handelt, ist auch ohne ärztliche Begutachtung ersichtlich. Die Blutlache ist mehr als eindeutig.«

»Wer hat die Leiche gefunden? Ein Passant?«

Hubert nickte. »War völlig verstört, der arme Kerl. Kam vom Sport und wollte Richtung Parkhaus, als er buchstäblich über die Leiche stolperte. Er wird gerade psychologisch betreut. Glattauer hat die Personalien schon aufgenommen. Willst du ihn noch befragen?«

»Das wird nicht nötig sein. Da würde ich lieber der Frau da drüben ein paar Fragen stellen, die ebenfalls völlig verstört wirkt.«

»Welche Frau?«, wollte Hubert wissen.

»Die Frau in den Sportsachen.« Katharina sah sich um, konnte die hübsche Blondine aber nirgends mehr entdecken. »Hm, gerade stand sie noch da vorne.«

Hubert zog die Augenbrauen hoch. »Und du denkst, sie könnte etwas mit dem Mord zu tun beziehungsweise etwas gesehen haben?«

»Sie wirkte weniger schuldig als …« Einen Moment suchte Katharina nach dem richtigen Wort. »… verstört. Anders kann ich es nicht beschreiben.«

»Vielleicht war sie auch einfach nur überfordert bei dem Anblick des Toten«, mutmaßte Daniel. »Wäre durchaus verständlich und kommt öfter vor.«

Einer der Kriminaltechniker näherte sich dem Absperrband. »Sie können dann jetzt, wir sind hier fertig«, sagte er und verschwand wieder im Getümmel.

Hubert ging voraus, Dr. Sprung folgte ihm. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Daniel vorher noch einen entsprechenden Blick zuzuwerfen.

Katharina wartete mit ihrem Exmann und ihrem Date weiterhin hinter dem Absperrband, um den Kriminaltechnikern genug Platz zu lassen, ihre Ausrüstung zusammenzuräumen. »Mach dir nichts draus«, sagte sie zu Daniel und war versucht, ihm eine Hand auf den Arm zu legen, ließ es aber lieber bleiben. Das war keine gute Idee, würde es doch sowohl bei Daniel als auch bei Linus einen falschen Eindruck machen.

»Ihr wart also zusammen aus?«, wollte Daniel wissen. Sein Ton klang angriffslustig, aber Linus schien es entweder nicht zu bemerken oder bewusst zu ignorieren.

»Wir waren gerade auf dem Weg zum Restaurant, als der Anruf kam«, antwortete er. »Aber so ist das nun mal.«

Daniel nickte nur; Schweigen setzte ein. Unangenehmes Schweigen. Katharina suchte nach einem unverfänglichen Gesprächsthema, um die Situation zu überbrücken, doch ihr wollte partout nichts einfallen. Zumindest nichts, was jetzt angebracht wäre, denn prinzipiell hätte sie Daniel gern auf die Tatsache angesprochen, dass er Emily die Wahrheit über ihre Scheidung erzählt hatte. Das hier war jedoch weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür, und es erschien ihr unangebracht, stattdessen über das Wetter zu reden. Sie war fast dankbar, als Dr. Sprung den Tatort wieder verließ und auf sie zukam.

»Es handelt sich definitiv um einen unnatürlichen Tod. Schlag auf den Kopf. Der Mann scheint noch nicht lange tot zu sein, aber das können Sie sicher besser beurteilen, Herr Kollege. Herr Staatsanwalt, Frau Danninger. Habe die Ehre.«

Der Arzt eilte davon, während Linus das Absperrband hochhielt und Daniel sowie Katharina den Vortritt ließ. Daniel stellte seine Tasche ab und streifte sich Handschuhe über, dann verschaffte er sich zuerst einen Überblick. Er betrachtete die Kopfwunde, die Kleidung des Opfers und die Position, wie es auf dem Boden lag. Anschließend bewegte er die Gliedmaßen des Toten, um festzustellen, ob die Totenstarre bereits eingesetzt hatte beziehungsweise wie weit sie fortgeschritten war.

Das Opfer war noch nicht sehr alt. Ein Mann, schätzungsweise Ende dreißig bis Mitte vierzig. Seine dunklen Haare wurden schon ein wenig licht und grau. Er wirkte unscheinbar, sofern man das über einen Mann seines Alters sagen konnte. Das Auffälligste an ihm waren die roten Turnschuhe, ansonsten wäre er in der Menge untergegangen. Was hatte er getan, um so zu enden? Diese Frage stellte sich Katharina immer zuerst an einem neuen Tatort.

Daniel drehte die Leiche auf die andere Seite und entkleidete sie, um den Körper auf Prellungen oder Einstichstellen zu untersuchen und außerdem die Körpertemperatur messen zu können. Katharina sah sich derweil in der Gasse etwas genauer um, doch ihr fiel nichts Besonderes auf. Nichts, was auf einen Kampf hindeuten würde. Das Opfer schien von seinem Mörder überrascht beziehungsweise überrumpelt worden zu sein.

»Und, wie sieht’s aus?«, fragte Hubert nach einer Weile ungeduldig an Daniel gewandt.

»Tja, ausnahmsweise muss ich dem Kollegen recht geben. Das Opfer ist noch nicht lange tot, die Totenstarre hat gerade erst eingesetzt. Das passiert nach etwa einer, maximal drei Stunden. Durch die Außentemperaturen, die heute Abend deutlich unter Zimmertemperatur liegen, wird der Prozess zwar verlangsamt, aber wenn man bedenkt, dass die Kriminaltechniker hier schon eine Weile zugange waren …« Daniel warf einen Blick auf seine silberne Armbanduhr, die Katharina ihm vor sehr langer Zeit geschenkt hatte. »Ich würde sagen, der Tod trat irgendwann zwischen halb sieben und halb neun ein.«

Hubert legte den Kopf in den Nacken und sah sich um, Katharina folgte seinem Blick. Einige wenige Fenster zeigten auf diese Gasse. »Vielleicht können wir das noch weiter eingrenzen, wenn einer der Anwohner etwas gehört oder eventuell sogar gesehen hat. Glattauer soll dem gleich mal nachgehen.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass das Opfer hier nicht lange unbemerkt gelegen hat«, überlegte Linus laut. »Wann ging denn der Anruf bei der Polizei ein?«

Hubert zog einen Notizblock aus der Innentasche seiner Jacke und warf einen Blick darauf. »Kurz vor halb neun. Ich kann mir zwar auch nicht vorstellen, dass das Opfer hier ewig gelegen hat, ohne dass es jemandem aufgefallen ist, aber das sind nur Mutmaßungen. Darauf können wir nicht bauen. Außerdem ging die Sonne gegen sieben unter. Die Gasse liegt nicht nur verlassen da, sie verschwindet um diese Uhrzeit auch regelrecht in der Dämmerung beziehungsweise im Dunkeln.«

»Sie haben recht, deshalb sitze ich normalerweise auch nur hinter dem Schreibtisch.« Linus strich sich verlegen über das Kinn. »Aber die Todesursache ist eindeutig, oder?«

»Das schon«, antwortete Daniel. »Schädeltrauma durch stumpfe Gewalteinwirkung, allerdings hat der Mörder mehrfach zugeschlagen. Mindestens fünf Mal. Da war jemand ziemlich wütend, wenn ihr mich fragt.«

»Oder das Opfer hat sich gewehrt«, mutmaßte Katharina.

»Sieht allerdings nicht danach aus, ich konnte keine Deckungsverletzungen finden, die darauf hinweisen würden. Ich denke eher, der Mann wurde von seinem Mörder mehr oder weniger überrascht, zumindest stand er bei dem Angriff nicht aufrecht.«

»Die Techniker haben ein Schweizer Taschenmesser gefunden, das nicht weit entfernt lag.« Hubert schwenkte einen durchsichtigen Beutel, in dem das Messer steckte.

Daniel nickte. »Das kommt hin. Das Opfer hört etwas, zieht das Messer, lässt es aus Versehen fallen. Bei dem Versuch, es wieder aufzuheben, schlägt der Mörder zu.«

Katharina lief ein Schauer über den Rücken. »Kannst du schon etwas über die Mordwaffe sagen?«

»Noch nicht, dafür muss ich den Mann erst auf dem Tisch haben.«

»Gleich morgen bitte«, ordnete Hubert an. »Katharina, du bist dabei anwesend. Wie du weißt, hasse ich Obduktionen.«

Ich auch, wollte Katharina erwidern. Die Kälte, der Geruch, der ganze Prozess … Es würde jedoch nichts bringen, zu protestieren. Hubert war ihr Chef und konnte die unliebsamen Aufgaben daher einfach delegieren. Wenigstens hatte er sie nicht vor all den Anwesenden Katrinchen genannt, das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sie hatte ihn zwar bereits darauf hingewiesen, wie sehr sie diesen Spitznamen verabscheute, doch das bedeutete bei Hubert leider gar nichts.

»Kann es Raubmord gewesen sein?«, fragte Linus zögernd.

Hubert schüttelte den Kopf. »Handy, Geldbörse, Schlüssel … alles noch da. Die Techniker haben mir einiges in die Hand gedrückt, was sie sicherstellen konnten.«

Er reichte Katharina einen der durchsichtigen Beutel. Während er den Rest unter die Lupe nahm, zog sie Handschuhe über und ließ den Geldbeutel des Opfers in ihre Hand fallen, um dessen Inhalt zu inspizieren. Kreditkarte, EC-Karten, Bargeld – sogar recht viel davon – waren nicht gestohlen worden. Sie warf einen Blick auf den Personalausweis. »Robert Klemm, geboren am zehnten März dreiundsiebzig, wohnhaft in Fischbach.«

»Da schieß mir doch einer ’nen Achtender«, sagte Hubert triumphierend.

»Bitte was?« Katharina sah von dem Personalausweis auf und bemerkte, dass es Hubert nicht um Klemms Eckdaten ging. Sie nahm einen weiteren Beutel entgegen, in dem ein Flyer steckte. O nein, bitte nicht! Der Flyer war aus dem Sugar & Spice in Konstanz. Katharina holte ihn heraus und faltete ihn auseinander. Das Gesicht einer hübschen Blondine namens Mary Gold war eingekreist. Eine Burlesque-Tänzerin. Katharina runzelte die Stirn. War ihr die Frau bei ihren Ermittlungen zum Mordfall Anna Maier schon einmal begegnet? Das Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor, sie konnte sich jedoch beim besten Willen an keine Burlesque-Tänzerin erinnern.

»Besorgen Sie uns bitte einen Durchsuchungsbeschluss für Klemms Wohnung.« Hubert wartete die Antwort des Staatsanwalts nicht ab und sah stattdessen zu Katharina. »Und wir zwei fahren nach Konstanz.«

»Jetzt noch?«, fragte Linus. »Aber nach Konstanz braucht man sowohl mit dem Auto als auch mit der Autofähre fast eineinhalb Stunden, da die Fähre nur von Meersburg aus verkehrt, und der Katamaran fährt nur am Wochenende abends. Soweit ich weiß auch nur bis Ende September.«

»Der Katamaran kommt sowieso nicht infrage. Der fährt schon tagsüber nur einmal in der Stunde, braucht dazu fast eine ganze Stunde zum Übersetzen, und vor Ort wären wir auch noch auf ein Taxi angewiesen«, erwiderte Hubert. »Nein, danke. Außerdem ist im Sugar & Spice bis spät in die Nacht was los, das können Sie mir glauben.«

»Vielleicht sollten trotzdem die Kollegen aus Konstanz …«

»Wir kümmern uns selbst darum«, unterbrach Katharina Linus, bevor Hubert das tun konnte. »Die Besitzerin Sugar ist … nun ja, sagen wir mal, besonders. Wir kennen sie von unserem ersten gemeinsamen Fall. Es ist besser, wenn wir die Befragung durchführen.«

Linus hob abwehrend die Hände. »Ich wollte mich keineswegs in eure Arbeit einmischen. Ihr wisst schon, was ihr tut.«

»In der Tat. Katrinchen? Du kannst dich noch kurz verabschieden. Ich werde Glattauer instruieren, heute Abend noch die Anwohner zu befragen, und er soll auch gleich schauen, wie es mit Hinterbliebenen des Opfers aussieht.« Hubert rauschte davon.

»Katrinchen?« Linus unterdrückte ein Schmunzeln. »Ich wusste gar nicht, dass ihr euch bereits nach einem gemeinsamen Fall so nahesteht.«

Katharina verzog das Gesicht. »Ich kenne Hubert seit meiner Geburt. Er ist nicht nur mein Chef, er ist auch mein Patenonkel.«

»Verstehe, das erklärt so einiges.«

Da sie jetzt nicht näher darauf eingehen wollte, sagte sie: »Okay, ich muss los. Wir sehen uns morgen früh in den Räumen der Pathologie.«

»Warte, ich komme mit«, meinte Linus. »Dann kümmere ich mich gleich um den Durchsuchungsbeschluss, damit ihr spätestens morgen die Wohnung des Opfers begutachten könnt. Sie brauchen mich hier doch nicht mehr, Herr Danninger?«

Daniel sah kaum auf, während er antwortete: »Danke, aber ich brauche Sie nicht.«

Es war mehr als eindeutig, dass sich seine Antwort nicht nur auf die Gegenwart bezog. Katharina war verärgert über seine Reaktion. Sie waren geschieden, und das seit fast zehn Jahren. Es ging ihn nichts an, wenn sie sich mit anderen Männern traf. Aber sie konnte ihn auch ein bisschen verstehen. Er hatte noch Gefühle für sie, das hatte er ihr unmissverständlich klar gemacht. Außerdem war er der Vater ihrer Tochter. Mit einem anderen Mann, auch wenn es sich um den Staatsanwalt handelte, an einem Tatort aufzutauchen, war sicher nicht eine ihrer Glanzleistungen. »Bis morgen«, sagte sie daher noch einmal zu Daniel. Dann ging sie auf Hubert zu, der Glattauer bereits informiert hatte und sich gerade mit einem Kollegen von der Spurensicherung unterhielt. »Tut mir leid«, murmelte sie Linus zu, der ihr folgte.

Er legte ihr einen Arm um die Schulter. »Wofür entschuldigst du dich?«

Kapitel 2

Donnerstag, 28. September

Katharina freute sich sehr darauf, Sugar wiederzusehen. Zwar war sie ihr bisher nicht oft begegnet, doch sie hatte sie auf Anhieb sympathisch gefunden. Nur um Oli machte sie sich Sorgen, denn auch ihn würde sie nun wahrscheinlich früher als erwartet wiedertreffen. Inständig hoffte sie, dass er nicht auch in diesem Fall auf irgendeine Weise verdächtig war, denn sie wusste nicht, wie lange sie sein Geheimnis dann noch würde wahren können.

Das Sugar & Spice hatte sich zumindest von außen nicht verändert, seit Katharina das letzte Mal hier gewesen war. Der Putz war immer noch bröckelig, und die Fassade brauchte dringend einen neuen Anstrich; nur die Fenster waren inzwischen geputzt worden. Katharina folgte Hubert durch den Windfang und den violetten Samtvorhang ins Innere der Bar. Auch heute Abend saß die füllige Frau mittleren Alters neben dem Vorhang und hielt die Hand auf.

»Achtunddreißig Euro macht das.«

»Riedmüller und Danninger von der Kriminalpolizeidirektion Friedrichshafen.« Hubert zog seinen Ausweis hervor, den die Frau jedoch keines Blickes würdigte. Stattdessen zog sie die Stirn kraus.

»Sie schon wieder? Haben Sie Ihren Mörder etwa immer noch nicht gefunden? Ich hätte schwören können, Luna hat erzählt …«

»Wir sind in einem anderen Fall hier«, unterbrach Hubert sie und ging bereits Richtung Bar.

»Hoffentlich kein neuer Mordfall«, bemerkte die Frau. »Das würde Sugar gar nicht gefallen.«

»Machen Sie sich keinen Kopf«, erwiderte Katharina und folgte Hubert.

Auch von innen sah das Sugar & Spice genauso aus, wie Katharina es in Erinnerung hatte: Kronleuchter und Neonlicht sorgten statt Fenstern für die Beleuchtung, roter Samt und dunkelrotes Leder dominierten die Einrichtung. Die Bar strahlte nach wie vor den Charme einer verrauchten Kneipe zu Zeiten der Prohibition aus, wozu auch die Musik passte. Eine Brünette in einem silbernen Glitzerkleid stand auf der Bühne und sang eine Nummer von Billie Holiday – ein Travestiekünstler, so wie auch Sugar einer war. Musikalisch begleitet wurde die Sängerin von zwei Männern, die beide im Frack steckten. Der eine spielte Klavier, der andere Saxofon. Dasselbe Trio, das Katharina und Hubert schon bei ihrem ersten Besuch hier auf der Bühne gesehen hatten.

Trotz der späten Stunde war tatsächlich noch einiges los, doch die Gäste sahen sich die Show an und schienen im Moment zufrieden, sodass Sugar ebenfalls der Musik lauschte. Sie stand hinter der Bar und hatte sich mit einem Ellbogen auf dem Tresen aufgestützt. Mit den rot lackierten Fingernägeln der anderen Hand tippte sie im Takt der Musik mit. Heute steckte sie in einem Kleid aus goldfarbenen Pailletten, das ihre schmale Taille betonte. Sie sah auf, als Hubert und Katharina die Bar betraten, und ihr Blick blieb an Katharina hängen.

»Moment mal, diese roten Locken kenne ich doch, oder nicht?«, fragte sie mit ihrer tiefen Stimme.

Katharina lächelte. »Richtig, ich bin eine Freundin von Luna.«

»Die Polizistin, jetzt fällt’s mir wieder ein. Was kann ich für euch tun? Aber nicht wieder ein Mordfall!«

»Ich fürchte doch.«

Einen Moment war Sugar sprachlos, was sicher nicht oft vorkam, so wie Katharina sie einschätzte. »Ernsthaft? Das sollte ein Scherz sein. Jetzt brauche ich erst mal einen Drink.« Sie schüttete sich einen Gin ein und stürzte ihn in einem Zug hinunter. »Für euch auch einen?«

»Danke, wir sind im Dienst, aber ich würde eine Cola nehmen.« Katharina setzte sich auf einen der ledernen Barhocker.

Hubert nahm neben ihr Platz. »Für mich ein alkoholfreies Bier, wenn Sie so etwas haben.«

Sugar zog die Augenbrauen hoch. »Sehen wir so aus, als hätten wir nur Hochprozentiges auf der Karte?« Sie machte die Getränke fertig und schob Katharina und Hubert jeweils ein Glas entgegen. »Wer ist denn das Opfer? Doch keiner von meinen Leuten, oder?«

»Vermutlich nicht«, antwortete Katharina und trank einen Schluck Cola. »Aber vielleicht ein Gast. Er trug zumindest einen Flyer vom Sugar & Spice bei sich. Robert Klemm. Sagt dir der Name etwas?«

Sugar dachte nach und zuckte dann mit den Schultern. »Mit Namen hab ich es nicht so, Schätzchen. Die meisten Gäste stellen sich uns auch nicht persönlich vor. Habt ihr kein Bild von ihm?«

»Nur ein Foto vom Tatort.« Hubert zog ein Polaroid aus seiner Jackentasche und legte es verkehrt herum auf den Tresen. »Wenn Sie den Anblick ertragen können …«

Sugar griff nach dem Foto und verzog den Mund. »Autsch, das hat sicher wehgetan. Wer hat den armen Kerl denn so zugerichtet?«

»Wenn Sie uns sagen können, was Klemm mit Ihrem Laden zu tun hatte, bringt uns das der Antwort auf diese Frage hoffentlich ein Stück näher.«

»Ja, natürlich.« Sugar warf einen erneuten Blick auf das Bild. »Hm, er sieht aus wie jemand, den ich tatsächlich kenne. Seit ein paar Wochen haben wir einen ziemlich aufdringlichen Gast. Er hat unserer Mary nachgestellt, wollte unbedingt zu ihr hinter die Bühne.«

»Mary Gold?«, fragte Hubert.

»Richtig, woher wissen Sie das?« Sugar legte das Foto des Opfers wieder verkehrtherum auf den Tresen und schob es zurück.

Hubert steckte es ein. »Was wollte er von Mary?«

Sugar zuckte mit den Schultern. »Angeblich mit ihr reden, aber worüber, kann ich euch nicht sagen. Ich habe ihn nicht hinter die Bühne gelassen. Solche Männer haben für gewöhnlich nur eins im Sinn, zumal Marys Nummer recht aufreizend ist.«

»Und dann?«, fragte Katharina weiter. »Hat er sich damit zufriedengegeben, dass er nicht an Mary herankam?«

»Anfangs ja, aber bei Marys letztem Auftritt ist er handgreiflich geworden. Nach ihrer Show hat er sie abgepasst, als sie nach dem Umziehen wieder aus der Garderobe kam. Er hat sie am Arm gepackt und geschrien, sie solle ihm endlich zuhören. Sie hat um Hilfe gerufen, und ich bin natürlich sofort zu ihr geeilt.«

»Und?« Hubert wedelte ungeduldig mit der Hand.

»Was und?« Sugar verschränkte die Arme vor der Brust. »So geht niemand mit meinen Mädchen um. Natürlich hab ich den Kerl hinausgeworfen und ihm Hausverbot erteilt.«

»Wann war das?«, wollte Hubert wissen.

»Gestern erst.«

»Ist er seitdem noch mal hier gewesen?«

Sugar schüttelte den Kopf. »Wir öffnen erst nachmittags. Ich bin seit fünf Uhr hier, aber der Typ ist nicht wieder aufgetaucht. Sein Glück.«

»Und Mary?«, fragte Katharina.

»Warum, was soll mit Mary sein?«, entgegnete Sugar.

»War sie heute hier? Wie hat sie das Ganze verkraftet?«

»Donnerstags ist sie eigentlich nie hier, auch heute nicht. Und wie soll es ihr schon gehen? Sie hatte inzwischen schon ein wenig Angst. Destiny hat sie gestern nach Hause begleitet. Wir wollten sichergehen, dass sie gut heimkommt.«

»Haben Sie die Polizei über den Vorfall informiert?«

»Bisher nicht, und bis gestern ist ja auch nicht wirklich etwas vorgefallen, was wir hätten melden können.«

»Na ja, das würde ich so nicht sagen. Der Kerl klingt für mich nach einem Stalker«, bemerkte Hubert. »Vor denen sollte man sich besser in Acht nehmen.«

»Wenn es Sie beruhigt – ich hatte Mary geraten, ihn anzuzeigen. Sie wollte es sich überlegen, aber das hat sich ja jetzt ohnehin erledigt, nicht wahr? Entschuldigt mich kurz.« Sugar ging hinüber zum Tisch direkt vor der Bühne, um eine Bestellung aufzunehmen. Kurz darauf kehrte sie zurück, machte die bestellten Getränke fertig – eine Flasche Champagner, ein Martini und ein Cosmopolitan – und servierte alles.

»Was meinst du?«, fragte Hubert unterdessen an Katharina gewandt. »Klingt fast so, als hätte diese Mary Gold sich auf eigene Faust um das Problem gekümmert.«

Katharina zog die Augenbrauen zusammen. »Das ist ein bisschen weit hergeholt, findest du nicht?«

Schulterzuckend nahm Hubert einen Schluck von seinem Bier. »Kommt drauf an, was diese Mary für ein Schlag Mensch ist. Auf jeden Fall müssen wir sie genauer unter die Lupe nehmen.«

»Das schon«, stimmte Katharina zu. Sie griff nach einem Flyer, die überall für die Gäste zum Mitnehmen auslagen, und klappte ihn auf, um das Bild von der Burlesque-Tänzerin noch einmal genauer zu betrachten. Auf den ersten Blick wirkte sie nicht wie jemand, der einen Mord begehen würde, sondern eher wie jemand, der sich aus Angst zurückzog und das Haus nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr allein verließ, aber so ein Eindruck konnte natürlich täuschen. Den wenigsten Menschen sah man an, ob sie zu einer grausamen Tat fähig waren oder nicht.

Sugar kehrte an ihren Platz hinter den Tresen zurück. »Kann ich euch noch was machen?«

»Danke, nein, aber du könntest uns die Kontaktdaten von Mary Gold geben«, bat Katharina. »Wir müssen auch mit ihr über die ganze Angelegenheit reden.«

»Natürlich, Schätzchen. Mary heißt eigentlich Marie Goldberg und wohnt in Meersburg. Moment, ich schreibe euch die genaue Adresse auf.« Sugar nahm einen Zettel und einen Stift und notierte dort die gewünschten Daten, nachdem sie einen Blick auf ihr Handy geworfen hatte.

»Meersburg?« Hubert seufzte. »Es ist mitten in der Nacht, bis wir in Meersburg ankommen. So ein Mist!«

»Dann befragt ihr Marie halt morgen. Sie wird euch schon nicht weglaufen.« Sugar lachte ein rauchiges Lachen, verstummte jedoch, als sie Huberts ernsten Blick auffing.

»Marie Goldberg ist eine potenzielle Verdächtige, sie hatte immerhin ein Motiv, Klemm umzubringen.«

»Moment mal, ein Motiv? Was denn für ein Motiv? Ich hab euch das Ganze nicht erzählt, damit ihr Marie festnehmt. Sie ist ein echtes Goldstück, ein herzensguter Mensch. Sie könnte niemals einen Mord begehen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Dabei hat sich schon so mancher verbrannt«, bemerkte Hubert und trank sein Bier leer, bevor er mit der Hand auf den Tresen haute und sich vom Hocker schob. »In Ordnung, packen wir’s. Ich frage mal bei Glattauer nach, wie es mit den Hinterbliebenen aussieht, und warte draußen auf dich.«

Sugar sah hilfesuchend zu Katharina, die ihr aufmunternd zulächelte. »Keine Sorge. Du verstehst sicher, dass wir Marie dringend zu der Sache mit Klemm befragen und ihre Aussage mit deiner abgleichen müssen, aber das ist vorerst reine Routine. Theoretisch hat sie so etwas wie ein Motiv, aber wenn sie ein Alibi hat, braucht sie sich keine Gedanken zu machen. Um sie zu verhaften, gehört weit mehr dazu als ein schwaches Motiv.« Sie kramte ihr Portemonnaie aus der Tasche, doch Sugar hob die Hände.

»Bitte, ihr seid natürlich eingeladen.«

»Lieber nicht«, erwiderte Katharina. »Das ist sehr nett, aber wir wollen doch nicht, dass uns jemand Bestechlichkeit nachsagt. Außerdem übernimmt ohnehin die Kriminalpolizeidirektion die Rechnung.« Sie legte einen Zehneuroschein auf den Tresen und stand ebenfalls auf. »Stimmt so. Ach, und Sugar? Es wäre gut, wenn du Marie nichts von unserem Besuch erzählen würdest. Du würdest euch damit nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen.«

Sugar atmete hörbar aus. »Du weißt nicht, was du da von mir verlangst, Schätzchen.«

»Doch, glaub mir, das weiß ich.«

»Also, mir wäre es wirklich lieber, Marie Goldberg heute Abend noch zu befragen.«

Katharina unterdrückte ein Gähnen. »Hubert, es ist mitten in der Nacht, und wir haben bisher nicht wirklich was gegen Marie in der Hand. Wenn du mich fragst, besteht keine Fluchtgefahr, es gibt also keinen Grund, die Frau zu solch einer unchristlichen Zeit zu stören. Und du weißt, wie das läuft. Um diese Uhrzeit kann sie keinen Anwalt erreichen, im Zweifelsfall dürften wir ihre Aussage also eh nicht vor Gericht verwenden.«

»Dieses dämliche Beweisverwertungsverbot«, grummelte Hubert. »Das wird immer schlimmer. Und was ist mit Verdunkelungsgefahr?« Er bog in die Straße ab, in der Katharina wohnte. »Diese Sugar würde alles tun, um ihr Häschen aus dem Schussfeld zu nehmen.«

»Sie hat uns doch überhaupt erst das mögliche Motiv für Marie geliefert.« Katharina schüttelte den Kopf. »Mach dir mal nicht so viele Gedanken. Außerdem habe ich Sugar gebeten, keinen Kontakt zu Marie aufzunehmen, bevor wir selbst mit ihr gesprochen haben.«

Hubert schnaubte. »Und du glaubst, sie hält sich daran? Na, wenn du meinst.«

»Ich war ziemlich deutlich. Wenn du heute Abend unbedingt noch etwas unternehmen willst, sollten wir lieber die Hinterbliebenen des Opfers informieren.« Glattauer hatte inzwischen herausgefunden, dass Klemm eine Ehefrau namens Linda sowie die Tochter Paula zurückgelassen hatte.

Hubert warf ihr einen Seitenblick zu. »Glattauer war bereits zwei Mal bei Klemm zu Hause, hat dort aber niemanden angetroffen.«

»Ich weiß, aber ich fühle mich überhaupt nicht wohl dabei, bis morgen zu warten. Irgendwo müssen die Frau und die Tochter doch sein. Vielleicht sind sie inzwischen zurück, oder womöglich ist ihnen sogar etwas passiert. Was, wenn es der Mörder nicht nur auf Klemm abgesehen hat? Nachdem er nicht ausgeraubt wurde, scheint es um etwas Persönliches gegangen zu sein. Seine Frau und die Tochter könnten in Gefahr sein.«

»Jetzt beruhige dich mal, Katrinchen. Oh, Pardon – Katharina. Den beiden wird es schon gut gehen. Vielleicht machen sie ein langes Wochenende und sind weggefahren.«

Katharina hob die Augenbrauen. »Ohne Mann? Außerdem sind keine Ferien, und wenn das Mädchen Abitur macht …«

»Mensch, jetzt hör mal auf, das Wild zu verschrecken. Vielleicht macht das Mädchen auch eine Ausbildung und hat gerade Urlaub. Wir haben absolut nichts in der Hand, was deinen Verdacht auch nur ansatzweise bestätigen würde. Bei Klemms zu Hause deutete nichts auf Einbruch oder ein Gewaltverbrechen hin, also beruhige dich bitte.«

Hubert fuhr langsamer und kam vor der Doppelhaushälfte zum Stehen, in der Katharina mit Emily wohnte. Die gesamte Straße lag im Dunkeln, in keinem der Häuser brannte noch Licht. Nur die Straßenlaternen und der Mond sorgten dafür, dass man etwas sehen konnte.

»Na schön, wenn du meinst. Danke fürs Fahren.« Katharina hatte zwar weiterhin kein gutes Gefühl, aber im Moment konnte sie nichts tun. Also öffnete sie die Beifahrertür.

»Moment mal, ist das nicht Daniels Auto?« Hubert beugte sich nach vorne, um besser durch die Windschutzscheibe blicken zu können.

Tatsächlich, direkt vor Huberts altem VW Golf parkte Daniels schwarzer Mustang. Hat er etwa die ganze Zeit auf mich gewartet?, fragte sich Katharina. Oder hatte er Emily besucht? Wobei das Mädchen am nächsten Tag zur Schule musste und daher längst im Bett sein sollte. Als Katharina genauer hinsah, bemerkte sie jedoch, dass Daniel im Auto saß. Hubert schaltete kurzerhand den Motor aus. Die drei verließen ihre Autos fast gleichzeitig.

»Und, habt ihr was erreicht?«, fragte Daniel, der jeden Blickkontakt zu Katharina vermied.

»Wir haben unsere erste Verdächtige, die wir aber erst morgen befragen können«, antwortete Hubert. »Deshalb muss die Obduktion so früh wie möglich stattfinden. Ich will nicht noch mehr Zeit vergeuden.«

»Warum machst du nicht zuerst beziehungsweise parallel die Befragung?«

»Weil die Obduktion vielleicht brauchbare Erkenntnisse bringt. Außerdem kann es nicht schaden, wenn Katharina bei der Befragung dabei ist. Ich bestelle die Verdächtige für zehn Uhr aufs Revier.«

Daniel zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Dann machen wir die Obduktion gleich um acht.«

»Sehr gut. Benachrichtigst du deinen Staatsanwalt?«, fragte Hubert an Katharina gewandt.

Er ist nicht mein Staatsanwalt. Die Antwort lag ihr auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter und nickte stattdessen nur.

»In Ordnung, dann bis morgen.« Hubert hob die Hand zum Gruß und ließ sich wieder hinters Lenkrad fallen.

Katharina sah dabei zu, wie er seinen Wagen in der nächsten Einfahrt wendete und davonfuhr. Erst dann wandte sie sich Daniel zu. Sein Blick traf sie mitten ins Herz; sie schluckte.

»Können wir kurz reden?«, fragte er.

Sie unterdrückte ein Seufzen. »Es ist schon spät, Daniel, und ich bin wirklich müde. Lass uns morgen streiten.«

»Ich habe nicht vor, mich zu streiten, und es wird auch nicht lange dauern. Versprochen.«

»Na schön, was gibt’s?«

»Ich …« Daniel senkte für einen kurzen Moment den Blick und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Bist du jetzt mit dem Staatsanwalt zusammen?«

Hörbar stieß sie die Luft aus. »Bin ich nicht, das war unser erstes Date. Oder es hätte es zumindest werden sollen.«

»Verstehe. Weißt du, ich dachte eigentlich, du hättest mir inzwischen verziehen. In letzter Zeit lief es ziemlich gut zwischen uns. Wir haben uns oft gesehen und gut verstanden, deshalb dachte ich … Ach, vergiss, dass ich was gesagt habe.«

Jetzt, wo er das Thema einmal angeschnitten hatte, ließ Katharina ihn aber nicht so schnell vom Haken. »Was? Dass wir noch eine Chance haben?«

»Ist das so abwegig?« Daniel schnaubte. »Na, vielen Dank auch. Du hättest ja zumindest mal Bescheid sagen können, dass du einen neuen Freund hast. Ich stand vorhin da wie ein Idiot.«

Katharina seufzte, doch dieses Mal nicht aus Frust. »Du hast recht. Ich hätte es dir auch noch gesagt, aber ich wollte selbst erst mal sehen, wohin das führt. Schließlich konnte ich nicht wissen, dass ich ausgerechnet heute zu einem Tatort gerufen werde. Dass Linus dabei war, war nicht optimal, ich weiß, aber er ließ es sich nicht ausreden. Und was uns angeht …« Traurig erwiderte sie seinen Blick. »Ja, wir verstehen uns gut, und wir haben uns in letzter Zeit oft gesehen, aber in erster Linie wegen Emily. Zwar habe ich dir verziehen, aber ich habe nicht vergessen. Das braucht Zeit.«

»Zeit? Kathi, es ist zehn Jahre her.«

»Schon, aber der Umzug hierher hat alles wieder aufgewühlt. Darf ich ehrlich zu dir sein?« Er bedeutete ihr mit einer Geste fortzufahren. »Bisher hatte ich nicht in Betracht gezogen, es noch einmal mit uns zu versuchen, und bevor ich das tun kann, muss ich erst wieder lernen, dir zu vertrauen.«

Er nickte. »Das akzeptiere ich. Denkst du denn, wir haben überhaupt noch eine Chance? Eines Tages? Versteh das nicht falsch, ich geb dir die Zeit, die du brauchst, aber … Ich will nicht eines Tages aufwachen und feststellen, dass ich ganz allein bin.«

Katharina senkte den Blick. »Ich weiß es nicht, Daniel. Wenn es sein soll, dann wird es geschehen, und wenn nicht … dann nicht.« Sie sah ihm wieder in die Augen. »Du hast Emily erzählt, was damals passiert ist. Danke.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich danke dir, dass du ihr bisher nichts gesagt hast. Das ist weiß Gott nicht selbstverständlich.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wollte nicht, dass sie schlecht von dir denkt. Es war eine Sache zwischen dir und mir, und das habe ich ihr auch so erklärt.«

»Es war an der Zeit, dass sie es erfährt. Sie ist alt genug, und wenn sie deshalb schlecht von mir denkt, bin ich selbst schuld.«

»Das tut sie nicht«, erwiderte Katharina.

»Das ist schön.«

Für einen Moment, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Katharina wollte noch etwas sagen, damit sie nicht einfach so auseinandergingen. Aber ihr fiel nichts ein.

Schließlich war es Daniel, der das Schweigen brach. »In Ordnung, dann sehen wir uns morgen.«

»Bis morgen, Daniel.«

Er schien sich nicht entscheiden zu können, ob er noch etwas sagen wollte, doch dann stieg er in seinen Mustang und fuhr davon. Seufzend ging Katharina zum Haus und holte ihr Handy heraus, um Linus anzurufen und ihn über den Termin für die Obduktion zu unterrichten.

Katharina hasste Obduktionen, und an diesem Morgen war sie noch weniger als sonst dazu aufgelegt. Sie hatte schlecht geschlafen, da war es auch schon egal, dass die Nacht viel zu kurz gewesen war. Und sie verspürte absolut keine Lust, mit Daniel und Linus in einem Zimmer zu sein. Als sie den kühlen Raum in der Pathologie betrat, wo Daniel die rechtsmedizinische Untersuchung vornehmen würde, war sie dennoch fast erleichtert, Linus bereits dort anzutreffen. So hatte Daniel wenigstens keine Gelegenheit, noch einmal auf ihr letztes Gespräch zurückzukommen. Sie hätte absolut nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen, und sie hatte momentan auch keinen Kopf dafür. Sie machte sich nach wie vor Sorgen um Klemms Tochter und Frau und hatte trotz der frühen Stunde schon mit Hubert telefoniert, doch es gab immer noch nichts Neues. In etwa einer Stunde war sie mit ihm vor Klemms Haus verabredet. Immerhin hatte sie ihn davon überzeugen können, dass das wichtiger war und Maries Befragung noch eine Stunde länger würde warten können. Doch vorher musste sie das hier hinter sich bringen.

Daniel trug bereits seinen grünen Kittel und Handschuhe und legte gerade sämtliche Instrumente bereit. Die Leiche war auf dem hohen Metalltisch aufgebahrt und momentan noch zugedeckt.

»Guten Morgen, ihr beiden«, begrüßte Katharina die Männer, als wäre alles in bester Ordnung.

Daniel sah nur kurz von seiner Arbeit auf. »Morgen.«

Linus hingegen schenkte ihr ein Lächeln. »Guten Morgen. Und, hast du noch gut geschlafen?«

»Die Nacht war viel zu kurz«, wich sie seiner Frage mehr oder weniger aus. »Und du? Tut mir leid, dass ich dich so spät noch mal gestört habe.«

Er lächelte immer noch. »Das macht überhaupt nichts, du darfst mich jederzeit stören.«

»Wollen wir?«, fragte Daniel und deckte die Leiche ab.

Katharina lief wie jedes Mal ein Schauer über den Rücken. Sie hasste diese Momente, wenn ihnen das Opfer nackt und schutzlos ausgeliefert war. Daniel hingegen ging wie immer routiniert vor. Er schaltete das Diktiergerät ein und untersuchte die Leiche von allen Seiten, während er seine Beobachtungen einsprach. Katharina hörte aufmerksam zu, doch nichts, was er sagte, war neu für sie. Sie wusste bereits, wie das Opfer gestorben war und dass es sich nicht hatte wehren können.

Schließlich setzte Daniel den Y-Schnitt an. Katharina starrte auf die gelb-braunen Kacheln an der Wand und versuchte, nicht zu tief zu atmen.

»Wie sieht’s aus? Wollen wir unsere Verabredung zum Sushi-Essen heute Abend nachholen?«, fragte Linus leise, der diesen Teil der Obduktion ebenfalls zu hassen schien.

Daniel ließ sich nicht beirren, sah weder auf, noch zeigte er sonst eine Regung. Er fuhr einfach damit fort, die inneren Organe des Opfers weiter zu begutachten. Trotzdem war es Katharina unangenehm, dass Linus sie ausgerechnet hier und in dieser Situation fragte. Er jedoch schien sich überhaupt nichts bei der Tatsache zu denken, dass Daniel ihr Exmann war und noch dazu gerade bis zu den Unterarmen im Innenleben eines Menschen herumwühlte. Aber gut, das zwischen ihr und Daniel war auch schon zehn Jahre her und gehörte längst der Vergangenheit an. Oder zumindest sollte es das. Linus konnte nicht ahnen, dass Daniel sich Hoffnungen auf eine Neuauflage ihrer Ehe machte, und das war gewiss auch besser so. Es reichte, wenn Daniel eifersüchtig war.

Linus schien ihr Zögern zu bemerken und fügte hinzu: »Oder wir gehen zum Italiener. Dann kann deine Tochter mitkommen.«

Nun lächelte Katharina. »Lieb, dass du an sie denkst, aber darum geht es nicht. Ich muss erst mal schauen, wie wir mit dem Fall vorankommen. Außerdem hat Emily Sonntag Geburtstag, und ich muss vorher noch einiges erledigen.« Sie musste Emilys Geschenk besorgen, und sie hatte ihr versprochen, dass sie eine Party geben durfte.