Schattendasein - Der erste Teil der Schattenwächter-Saga - Sandra Grauer - E-Book

Schattendasein - Der erste Teil der Schattenwächter-Saga E-Book

Sandra Grauer

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Beschreibung

"Was willst du denn von mir?", fuhr ich Gabriel an. Er antwortete nicht und ließ mich los. Ich wollte wegrennen, doch dazu kam ich nicht. Mit einer schnellen Bewegung zog Gabriel sein Schwert und schlug zu. Ich schrie. Dann wurde es um mich herum dunkel. Emmalyn ist siebzehn, und ihr Leben dreht sich um Probleme wie Matheklausuren, eine unglücklich verliebte Freundin oder die eigene Beziehung. Doch als sie mitten in Heidelberg in einen Schwertkampf gerät, nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung: Sie wird in ein uraltes und mächtiges Geheimnis um Wächter und Schatten verstrickt. Aber jedes Geheimnis hat seinen Preis, denn es gibt für Emmalyn kein Zurück mehr. "Twilight in Heidelberg – ganz ohne Vampire" – Sylvia Schreiber (Lovelybooks) "Gelungener Auftakt zu einer spannenden Saga!" – Anna Klatt (Amazon)

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Seitenzahl: 459

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Sandra Grauer

Schattendasein - Der erste Teil der Schattenwächter-Saga

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Satanismus für Anfänger

Custos umbrarum

Erwischt!

Ein Aushilfsjob

Auf der Schattenseite des Lebens

Frohe Ostern!

Feuertaufe

Entwicklungen und Verwicklungen

Walpurgisnacht

Entschlossen

Es liegt was in der Luft ...

Guter Rat ist teuer

Abiball

Ende der Maskerade

Wende

Epilog

Leseprobe »Schattenspiel«

Prolog

Flucht

Eure Meinung

Weitere Bücher

Widmung

Impressum neobooks

Prolog

Ich sah Gabriel einen Moment lang an. Er blickte in die Ferne und wirkte relaxt. »Vertraust du mir?«, fragte ich schließlich. Nun sah er mich ebenfalls an, unsere Blicke trafen sich. Es dauerte einen Moment, bevor er mir antwortete. »Ja, ich vertraue dir. Und was ist mit dir? Vertraust du mir?« Ohne zu zögern, antwortete ich: »Das hab ich immer getan.« Er lächelte, und ich lächelte zurück. Dann hing jeder für eine Weile seinen eigenen Gedanken nach. Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen und die Atmosphäre um mich herum zu genießen. Lautes Stimmengewirr und Trommeln drangen an mein Ohr. Viele Studenten hatten einfache Musikinstrumente mitgebracht und spielten darauf. Und obwohl aus allen Richtungen unterschiedliche Takte und Rhythmen kamen, klang es wie ein großes Ganzes. Von Minute zu Minute wurde es dunkler, und das Areal wurde voller. Immer noch strömten massenhaft Besucher durch die Öffnungen in der Mauer. Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. »Es geht los«, hörte ich Gabriel neben mir sagen. Ich öffnete meine Augen und sah, wie sich auch der Platz vor uns langsam zu füllen begann. Das war also unser Startsignal. Mein Herz begann, schneller zu schlagen. Ich sah Gabriel an. »Und, bist du bereit für die Grillparty deines Lebens?«, fragte er. Ohne es zu wollen, musste ich grinsen. Gabriel schien wirklich Spaß an der Sache zu haben. »Lass uns grillen.«

Satanismus für Anfänger

»Ist er nicht süß?«, fragte Hannah zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Morgen. »Ja, er ist ganz süß«, gab ich zu und biss in mein Käsebrötchen. Wir hatten Frühstückspause und saßen in der Sonne auf dem Schulhof. Es war der erste schöne Tag in diesem Jahr: ein herrlicher Frühlingstag mit allem, was dazugehörte, inklusive Frühlingsgefühlen. Obwohl, wenn man's genau nahm, litt Hannah das ganze Jahr über an Frühlingsgefühlen, wenn es um Gabriel ging. Er war eine Klasse über uns und stand gerade mit ein paar Jungs aus seinem Jahrgang in der Sonne. »Ganz süß«, maulte Hannah. »Emmalyn, er ist megasüß. Google das Wort und du findest ein Bild von Gabriel. Er ist der süßeste Junge auf der ganzen Welt.« Sie machte ein Gesicht wie eine Dreizehnjährige, aber das kannte ich schon von ihr, wenn es um Gabriel ging. »Jetzt übertreib mal nicht«, meinte ich grinsend. »Sei du mal lieber ganz ruhig, ja? Ich erinner mich noch sehr gut daran, wie das vor zwei Jahren mit dir und Tim anfing. Wie oft musst ich mir damals anhören: Ach Hannah, Tim ist ja so süß. So einem Jungen wie ihm bin ich vorher noch nie begegnet.« Sie äffte meine Stimme nach, und leider machte sie das gar nicht mal schlecht. Ich spürte das Blut in meinen Wangen. Hatte ich mich damals echt so peinlich verhalten? »Hast ja recht«, gab ich zu. »Aber das mit Tim war auch was Besonderes. Er ist mein erster Freund. Vorher hat sich doch nie ein Kerl für mich interessiert.«»Das ist doch totaler Blödsinn. Die Jungs waren einfach nur zu schüchtern, die Hammerbraut mit den langen blonden Haaren anzusprechen.« Wieder spürte ich, wie mir das Blut in die Wangen schoss. »Das ist lieb, Hannah, aber du musst das nicht sagen.« »Aber wenn's doch wahr ist! Wieso sieht eigentlich jeder, wie scharf du aussiehst, nur du selbst nicht? Guck dir mal das langweilige braune Gezottel auf meinem Kopf an, und dann guck dich an. Andere müssen mit Lockenwicklern ins Bett, was übrigens mega-unsexy ist, um am nächsten Morgen so geile Wellen zu haben, aber nicht Fräulein Blum.« Ich zuckte die Schultern. »Kann schon sein.« »Weißt du, wenn ich ein Kerl wär, hätt ich mich auch nicht getraut, dich anzusprechen. Tim war halt der Erste, der keine Angst vor deinem guten Aussehen hatte. Er sieht ja auch selbst echt schnucklig aus, muss ich schon zugeben.« »Hey, pass auf, was du sagst«, meinte ich scherzhaft, und wir mussten beide lachen. »Keine Sorge, Gabriel gefällt mir sowieso viel besser. Was hältst du denn von ihm?« Ach ja, Hannah und Gabriel, das war ein Thema für sich. Seit über einem halben Jahr war sie total verschossen in den Kerl und konnte von nichts anderem mehr reden, was ich überhaupt nicht verstehen konnte. Okay, ein bisschen vielleicht schon. Gabriel gehörte wirklich zu der Sorte Jungs, die verboten gut aussahen. Er hatte dunkle Haare, die fast schon ins schwarze gingen, und grüne Augen. Außerdem hatte er einen tollen, durchtrainierten Körper. Um ehrlich zu sein, hätte ich ihn eher als heiß statt als süß bezeichnet, aber das wollte ich Hannah nicht auf die Nase binden. Auch wenn sie keine Angst zu haben brauchte, dass ich ihr ins Gehege kommen könnte. Zum einen hatte ich schon einen Freund, und zum anderen war mir Gabriel total suspekt. Ich wollte mit diesem Kerl lieber nichts zu tun haben.»Gabriel ist süß, stimmt schon. Aber du weißt, was ich von ihm halte«, antwortete ich ehrlich. »Du stellst dich schon ein bisschen an, das sind schließlich alles nur Gerüchte. Außerdem kann es doch nicht schaden, ein bisschen geheimnisvoll zu sein. Ich find das sehr sexy.« Geheimnisvoll, das war das richtige Wort, um Gabriel zu beschreiben. Unter den Schülern der Oberstufe war er das Gesprächsthema Nummer eins. Bei den Jungs seines Jahrgangs war er zwar beliebt, und die meisten Mädchen himmelten ihn sowieso an. Dennoch kursierten um ihn mindestens so viele Gerüchte wie um Michael Jackson. Gabriel und seiner Familie wurde zum Beispiel nachgesagt, dass sie Satanisten wären. Andere behaupteten wiederum, dass die Familie nur einer Sekte angehören würde. Okay, das waren solche Gerüchte der Sorte der Freund eines Freundes eines Freundes hat erzählt, dass er Gabriel und seinen Bruder nachts auf dem Friedhof gesehen hat. Wer konnte also schon wissen, was da wirklich dran war? Und dennoch. Es waren einfach zu viele Gerüchte dieser Art, und meiner Meinung nach steckte in jedem ein Körnchen Wahrheit.Gabriel hüllte sich in tiefes Schweigen, wenn es um ihn und seine Familie ging. Man hatte im Gegenteil eher das Gefühl, er würde die Gerüchte auch noch schüren. Die ganze Schule wusste mittlerweile Bescheid, dass er mal ein Referat über Satanismus gehalten hatte, und zu Karneval will ihn einer im Neo-Aufzug ausMatrixgesehen haben. »Na ihr zwei Hübschen, was gibt’s Neues?«, fragte mein Bruder Mark, der auf uns zukam. Er ließ sich neben mir auf den Tisch fallen, beugte sich zu mir und nahm einen großen Bissen von meinem Käsebrötchen. »Na was wohl?«, meinte ich und verdrehte die Augen. Mark stöhnte. »Och Hannah, das Thema hatten wir doch schon.« »Hör mal, Mark, ich find das ja echt nett, dass du dir Sorgen um mich machst, aber das musst du nicht. Du bist nicht mein großer Bruder, sondern Emmalyns.« Ich musste grinsen, ohne es zu wollen. Dass Mark nicht Hannahs Bruder war, hielt ihn nicht davon ab, sich um sie zu kümmern. Immerhin war sie meine beste Freundin, seit wir uns im Kindergarten kennengelernt hatten. Sie gehörte praktisch zur Familie, und Mark nahm die Familie sehr ernst. Er war neunzehn und damit nur zwei Jahre älter als ich. Dass er immer noch aufs Gymnasium ging, lag daran, dass er ein Jahr in den USA gewesen war und deshalb eine Klasse wiederholen musste. Er hatte so etwas wie die Vaterrolle für mich übernommen, weil mein Vater uns verlassen hatte, als ich noch ganz klein gewesen war. Seitdem hatte ich meinen Vater kaum mehr gesehen. Nun seufzte Mark. »Ich will doch nur vermeiden, dass er dir wehtut, Hannah. Denn das wird er, wenn du dich auf ihn einlässt.« Hannah bekam immer strahlende Augen, wenn sie von Gabriel sprach, doch nun sah sie wehmütig in seine Richtung. »Er wird mir nicht wehtun, denn wir werden nie zusammenkommen. Du brauchst dir also wirklich keine Sorgen zu machen.« Mark nickte. »Ich lass euch besser mal allein.« Er nahm noch einen Bissen von meinem Brötchen, dann verschwand er. Ich legte währenddessen einen Arm um Hannahs Schulter und versuchte, sie aufzumuntern. »Hey Süße, das sind ja ganz neue Töne, die du da anschlägst. Ich dachte, du magst diesen Typen, auch wenn ich das immer noch nicht so ganz nachvollziehen kann.« Ich wollte Hannah zum Lachen bringen, doch sie warf mir nur einen traurigen Blick zu. »Ich mag ihn ja auch. Trotzdem werden wir nie zusammenkommen. Er interessiert sich doch gar nicht für mich. Er weiß nicht mal, dass ich existiere.« Normalerweise hätte ich alles getan, damit es so blieb. Gabriel und Hannah, das war eine grausige Vorstellung. Aber sie war meine beste Freundin, und ich wollte, dass sie glücklich war. Deshalb sagte ich: »Dann sorgen wir halt dafür, dass er's erfährt. Du hast es doch noch nicht mal versucht, und es ist auch gar nicht deine Art, schon vorher aufzugeben. Also fang jetzt nicht damit an.« Einen Moment überlegte sie, dann lächelte sie. Sie drückte mir einen klebrigen Lipgloss-Kuss auf die Wange und sprang vom Tisch. »Du hast absolut recht, und deshalb werd ich jetzt auch deinen Bruder um Hilfe bitten.« Bevor ich nachfragen konnte, was sie vorhatte, war sie auch schon verschwunden. Ich wischte mir die Lipgloss-Spuren von der Wange und steckte mir die kläglichen Überreste meines Brötchens in den Mund. Dann stützte ich mich hinter dem Rücken auf meinen Händen ab, um die Sonne zu genießen. Hoffentlich würde es am Wochenende auch so schön sein. Es war so warm, dass ich meinen dicken Wintermantel ausgezogen und neben mich auf den Tisch gelegt hatte. Wir hatten erst Mitte März, aber der Frühling lag bereits in der Luft. Die Sonne fühlte sich warm und angenehm auf der blassen Winterhaut an, und der Schulrasen war mit Schneeglöckchen und Krokussen übersät. Bald würden sicher die ersten Osterglocken sprießen. Wirklich genießen konnte ich das schöne Wetter in diesem Moment aber nicht, denn die Schulglocke läutete. Während ich nach meinem Mantel und meiner Tasche griff, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, dass Gabriel mir einen Blick zuwarf. Ich konnte mich aber auch getäuscht haben, denn als ich mich in seine Richtung umdrehte, waren er und seine Freunde bereits verschwunden.

Seufzend ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen. Der Platz neben mir war noch leer. Wo Hannah nur blieb? Wir hatten eine Doppelstunde Religion vor uns, und ich hätte gerne vorher noch von ihr gewusst, was sie eigentlich von meinem Bruder wollte. Es klingelte zum zweiten Mal, damit war die Pause offiziell zu Ende. Hannah huschte in den Raum und sah erleichtert aus, dass unser Religionslehrer Herr Müller noch nicht da war. Ebenso seufzend wie ich vorher ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen. Allerdings klang ihr Seufzen mehr nach »Ach, ist das Leben nicht schön?« als nach »Wie soll ich nur zwei Stunden Reli überstehen?« Fragend sah ich sie an. »Und?« »Ich hab 'ne super Idee, wie ich an Gabriel rankomm. Und du musst mir dabei helfen.« »Ich? Aber ich hab doch keine Ahnung von dem Kerl.« »Es geht um unser Referat. Wärst du sehr böse, wenn ich unser Thema über'n Haufen werfe?« Wieder sah ich sie fragend an. Wir hatten uns bis heute ein Thema für unser Religionsreferat überlegen müssen, und Hannah und ich hatten uns für Buddhismus entschieden. Zugegeben, ich hing nicht sonderlich an dem Thema, aber ich verstand nicht, warum sie es jetzt wechseln wollte. In diesem Moment betrat Herr Müller den Raum, wie immer zwei Minuten zu spät und vollbepackt mit Unterrichtsmaterialien. »Also, machst du mit?«, zischte Hannah. Ich hatte kein gutes Gefühl, schließlich wusste ich nicht, auf was ich mich da einlassen würde. Trotzdem zischte ich zurück: »Okay, meinetwegen.« Hannah strahlte übers ganze Gesicht. Was tat man nicht alles, damit die beste Freundin glücklich war?

»Du hast sie wohl nicht mehr alle. Ich soll ein Referat über Satanismus halten?« Ich war wohl ein wenig zu laut, denn einige Mitschüler drehten sich zu uns um. Doch das war mir gerade ziemlich egal. Hannah musste irre sein. Kaum hatte Herr Müller den Raum betreten und seine Sachen auf dem Tisch ausgebreitet, war er gleich zu den Referatsthemen übergegangen. Hannah hatte sich als Erste gemeldet und stolz verkündet, dass sie und ich das Thema Satanismus behandeln würden. Ich hatte ihr einen schockierten Blick zugeworfen, zwecklos. Herr Müller schrieb unser Thema auf, gab uns zwei Wochen Zeit und rief dann Jessica auf. Und ich hatte ganze fünfundvierzig Minuten warten müssen, bevor ich Hannah endlich zur Rede stellen konnte. Nun legte sie einen Finger auf die Lippen und flüsterte: »Ich erklär dir ja alles, aber bitte schrei nicht so. Muss ja nicht gleich die ganze Klasse mitbekommen.« Ich atmete ein paar Mal tief durch. »Okay, ich bin ganz ruhig. Also?« Hannah schob sich eine dunkle Strähne hinters Ohr, bevor sie begann. »Also das Ganze war so: Mir ist eingefallen, dass Gabriel ja mal ein Referat über Satanismus gehalten hat. Ich dachte, es wär ganz nett, wenn wir dasselbe Thema nehmen, um an ihn ranzukommen. Wir sind in der Mittagspause mit deinem Bruder verabredet, er stellt uns Gabriel vor. Vielleicht leiht er uns ja seine Materialien.« »Und was wenn nicht?« »Keine Sorge, ich werd ihn schon überzeugen.« Ich seufzte. »Ja, so wie du meinen Bruder überzeugt hast. Er hat sich doch sicher nicht freiwillig auf die Sache eingelassen.« Hannah grinste. »Natürlich nicht, aber Tränen ziehen bei Mark immer.« Ich musste lachen und stieß Hannah in die Seite. »Du kannst froh sein, dass du meine beste Freundin bist. Jemand anderem hätt ich das nämlich nicht durchgehen lassen.« »Ich weiß«, meinte sie und grinste schon wieder.

Als es endlich zur Mittagspause klingelte, machten Hannah und ich uns auf den Weg nach draußen, um uns dort mit meinem Bruder zu treffen. Mir war nicht wohl bei der ganzen Sache, auch wenn ich gar nicht so genau sagen konnte warum, aber Hannah fand die Idee nach wie vor toll. Vor lauter Aufregung bekam sie kleine rote Flecken am Hals. Ich hielt sie am Arm fest, als wir nach draußen in die Sonne traten. »Was ist denn?«, fragte Hannah und blieb endlich stehen. »Bist du dir wirklich sicher? Herr Müller akzeptiert bestimmt noch ein andres Thema.« »Kommt gar nicht in Frage, wir ziehen das jetzt durch«, erwiderte sie und ging zielstrebig auf Mark zu, der an dem Tisch lehnte, auf dem wir schon in der Frühstückspause gesessen hatten. Er warf mir einen genervten Blick zu. »Also wirklich, Emmalyn, dass du bei der ganzen Sache mitmachst.« Abwehrend hob ich die Hände. »Hey, ich kann nichts dafür, Hannah hat mir überhaupt keine Wahl gelassen.« »Und ihr seid euch auch wirklich sicher?«, fragte Mark. Hannah stöhnte und verdrehte die Augen. »Die Familienähnlichkeit ist echt nicht zu übersehen. Nun kommt schon.« Sie holte ein paar Mal tief Luft, dann warf sie ihre Haare nach hinten, setzte ihr süßestes Lächeln auf und marschierte geradewegs auf Gabriel zu, der am anderen Ende des Schulhofs mit ein paar Freunden in der Sonne saß. Mark und ich hatten Mühe, ihr zu folgen. Als wir drei vor Gabriel stehen blieben, sah er uns etwas irritiert an. »Ja?«, fragte er. »Hey Gabriel, sorry, dass wir stören«, begann mein Bruder. Er hatte mit Gabriel in der Regel nicht allzu viel zu tun, und ich merkte ihm an, dass ihm das Ganze etwas unangenehm war. »Das sind Hannah und meine kleine Schwester.« Meine kleine Schwester. Am liebsten hätte ich ihn umgebracht.Aber gut, es hätte auch noch schlimmer kommen können. Wenigstens hatte er mich nicht als Emmaliehn vorgestellt. So nannte er mich seit unserer Kindheit immer wieder gerne, und blöderweise blieb den Leuten das sofort im Gedächtnis.Gabriel grinste und stand auf. Ich war ganz froh darüber, denn indem er vor uns stand, fühlte ich mich von seinen Freunden weniger beobachtet. Gabriel reichte erst Hannah die Hand und dann mir. »Hallo Hannah. Hallo Marks kleine Schwester.« »Emmalyn«, korrigierte ich ihn. »Gabriel. Also, was gibt's?« Er sah mich an, doch ich antwortete nicht, um Hannah nicht die Show zu stehlen. Schließlich taten wir das Ganze nur für sie. »Wir müssen in Religion bei Herrn Müller ein Referat über Satanismus halten.« »Sehr interessantes Thema«, unterbrach Gabriel Hannah mit einem Grinsen, und ich hätte am liebsten laut gestöhnt. »Du hast doch mal zum selben Thema ein Referat gehalten«, fuhr Hannah unbeirrt fort. »Wir dachten, du könntest uns vielleicht ein paar Tipps geben oder hättest vielleicht sogar noch deine Materialien.« Gabriel verschränkte die Arme vor der Brust. »Na ja, ich hätt da schon einiges anzubieten. Die Frage ist nur, was krieg ich dafür?«, fragte er mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen.Wie wär's mit einem Tritt in den Arsch,dachte ich mir, sprach es aber nicht laut aus. Hannah war weniger auf den Mund gefallen. Sie verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust und erwiderte Gabriels Grinsen. »Mir würd da schon was einfallen. Ich könnt dich ja mal zum Essen einladen.« Gabriel zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Klingt nicht schlecht, aber man soll ja nie das erste Angebot annehmen. Was legst du drauf?« Ich räusperte mich. Wenn ich nicht schnell was unternahm, würde Hannah noch anbieten, sich bei irgendeinem satanischen Ritual entjungfern zu lassen. »Vielleicht können wir das später besprechen, wir haben's nämlich gerade etwas eilig. Irgendwie werden wir uns bestimmt einig, also würdest du uns die Materialien ausleihen?« Ich spürte, dass mir Hannah einen wenig begeisterten Blick zuwarf, doch ich ignorierte sie. Gabriels Grinsen verwandelte sich in ein Lächeln. »Wenn du mich so lieb bittest, will ich mal nicht so sein. Montag, okay?« »Super, du rettest uns das Leben«, entfuhr es mir, und das meinte ich wirklich ernst. Ich hatte nicht vor, mich länger als nötig mit Satanismus zu befassen, und Gabriels Materialien halfen da ungemein. Nun grinste Gabriel wieder. »Gut zu wissen, dann lass ich mir mal was Schönes als Bezahlung einfallen.« Doch bevor ich etwas erwidern konnte, wandte er sich an Mark. »Also, morgen dann?« Mark nickte. »Sieht so aus.« Gabriel nickte ebenfalls, dann setzte er wieder sein Grinsen auf und blickte von Hannah zu mir. »Tschüss Hannah. Tschüss Marks kleine Schwester.« Dieses Mal verkniff ich es mir, ihn auf meinen Namen hinzuweisen, auch wenn ich das liebend gern getan hätte. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, während wir uns auf den Weg in die Cafeteria machten, um etwas zu essen. Hannah war alles andere als begeistert, dass ich ihr Geplänkel mit Gabriel unterbrochen hatte. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, meinen Bruder zu fragen, warum er am nächsten Tag mit Gabriel verabredet war, und ich war ehrlich gesagt auch neugierig. »Wir sollen nach den Osterferien in Spanisch ein Referat zusammen halten, zur Vorbereitung auf die mündliche Abiprüfung.« »Lass mich raten, spanische Inquisition?«, fragte ich. »Nee, Opferrituale der Maya.« Ich stöhnte. Was sonst, warum fragte ich überhaupt noch? Aber warum ließ sich mein Bruder ein so beknacktes Thema aufschwatzen?

Den Samstagmorgen verbrachte meine Mutter wie üblich im Supermarkt, um den Wocheneinkauf zu erledigen, und mein Bruder stand noch unter der Dusche. Tim und ich hingegen ließen den Tag in aller Ruhe starten, schließlich war Wochenende. Wir saßen in unseren Schlafanzügen in der Küche und frühstückten gemütlich. Ich wollte mir gerade ein weiteres Brötchen aus dem Brotkorb nehmen, als es an der Tür klingelte. Erschrocken hielt ich inne und sah an mir hinunter. »Mist, wer kann das sein?« Tim lehnte sich zu mir hinüber und gab mir einen Kuss. »Hey, du siehst süß aus in dem Schlafanzug, und wahrscheinlich ist es eh nur der Postbote.« »Na hoffentlich«, meinte ich und sprang auf. Ich hatte mir vor zwei Tagen ein Buch bestellt, auf das ich schon sehnsüchtig wartete. In freudiger Erwartung öffnete ich die Tür. Und stand Gabriel gegenüber. Er grinste und musterte mich mit einem raschen Blick von oben bis unten. Ich hätte mich ohrfeigen können. Ausgerechnet heute trug ich meinen gelben Winnie Puuh-Pyjama aus Flanell. Ich kam mir ziemlich blöd vor und spürte, wie ich rot wurde. »Hübsches Outfit«, meinte Gabriel immer noch grinsend. »Darf ich reinkommen?« Mir war das Ganze so peinlich, dass ich ihn hereinließ, ohne zu fragen, was er eigentlich wollte. Ich ging voran in die Küche, er folgte mir. Als er Tim entdeckte, blieb er einen Moment überrascht im Türrahmen stehen. Dann wandte er sich wieder mir zu. »So früh am Morgen schon Herrenbesuch, hm? Der war doch nicht etwa die ganze Nacht da?« Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, doch er schien auch keine Antwort zu erwarten. Er ging auf Tim zu und reichte ihm die Hand. »Hey Tim, mit dir hab ich jetzt gar nicht gerechnet. Ich wusste gar nicht, dass du mit Marks kleiner Schwester zusammen bist. Wie läuft's?« »Gut. Das ist echt mal 'ne Überraschung. Was machst du so?« »Ihr kennt euch?«, unterbrach ich die beiden verwirrt und blickte von einem zum anderen. Tim nickte. »Gabriels Bruder und ich haben zusammen Abi gemacht. Wir waren 'ne Zeit lang ganz gut befreundet. Wie geht's Joshua?«, fragte er dann an Gabriel gewandt. »Wie soll's dem schon gehen? Der hat schließlich gerade Semesterferien und liegt auf der faulen Haut, während ich für's Abi pauken darf.« Ich lauschte der Unterhaltung und war immer noch verwirrt, dass die beiden sich kannten. Ich sah an mir hinunter und ließ mich auf meinen Stuhl fallen, damit weniger von meinem Schlafanzug zu sehen war. Ich beneidete Tim in diesem Moment, der immer in T-Shirt und Boxershorts schlief und relativ unverfänglich aussah. »Was machst du hier?«, hörte ich Tim fragen und war wieder voll ansprechbar. »Richtig, was machst du eigentlich hier?«, wollte nun auch ich wissen. »Wie, hast du deinem Freund etwa nicht erzählt, dass wir uns in letzter Zeit öfter treffen?« Ich wünschte, Gabriel würde wie sonst grinsen, aber das tat er in diesem Moment natürlich nicht. Fragend sah ich ihn an. »Bitte?« Gabriel lachte leise. »Spaß beiseite. Ich bin mit Mark verabredet, wegen des Referats.« Erleichtert atmete ich auf. »Ach so. Er hat gar nicht erwähnt, dass ihr euch hier treffen wolltet.« »Offensichtlich«, erwiderte er und musterte mich wieder amüsiert von oben bis unten. Ich wusste genau, dass er auf meinen Aufzug anspielte. »Wo ist Mark denn?« Ich spürte, dass ich mal wieder rot wurde, versuchte aber tapfer, das zu ignorieren. »Der steht noch unter der Dusche, müsste aber jeden Moment fertig sein. Willst du was trinken oder essen? Wir haben genug Brötchen.« Ich hatte zwar keine große Lust, dass er mit uns frühstückte, aber ich wollte auch nicht unhöflich sein. »Ach lass nur. Ich will eure traute Zweisamkeit nicht stören, außerdem hab ich schon gefrühstückt. Übrigens hab ich noch was für dich.« Er warf mir ein anzügliches Grinsen zu, zog einen schwarzen Ordner aus seinem Rucksack und hielt ihn mir entgegen. Ich warf einen Blick hinein. Das waren die Unterlagen für das Satanismus-Referat. Überrascht sah ich ihn an. Er zuckte die Schultern. »Ich dacht mir, du hättest sicher nichts dagegen, wenn ich dir die Sachen heut schon mitbringe. Biste denn schon neugierig, was ich mir Nettes für uns zwei überlegt hab?«, fragte er und zwinkerte mir zu. »Äh, nein«, brachte ich gedehnt hervor. »Danke für die Sachen.« Ich fühlte mich etwas unbehaglich, also sprang ich auf. »Ich seh mal nach, wo Mark bleibt.« Ich lief die Treppen nach oben und blieb vor dem Badezimmer stehen. Auf mein Klopfen hin öffnete Mark die Tür. Er war gerade dabei, sich zu rasieren. »Bin gleich fertig«, meinte er und stellte sich wieder vor den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. »Gabriel ist hier«, meinte ich. Mark nickte mir zu. »Ich komm sofort.« Doch anstatt wieder nach unten zu gehen, trat ich ins Badezimmer und zog die Tür heran, sodass sie nur noch einen Spalt geöffnet war. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass ihr euch hier trefft?«, flüsterte ich, obwohl mich die zwei Jungs in der Küche garantiert nicht hören konnten. »Jetzt musste ich ihm im Schlafanzug die Tür öffnen, das ist doch voll peinlich.« »Was stört's dich?«, erwiderte Mark und warf mir einen kurzen Blick zu. Vielleicht hatte er recht. Eigentlich konnte es mir egal sein, aber das war es nicht. Ohne noch etwas zu sagen, verließ ich das Badezimmer und zog die Tür hinter mir ins Schloss. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich mir schnell etwas Vernünftiges anziehen sollte. Das würde vielleicht einen komischen Eindruck machen, aber ich würde mich definitiv wohler fühlen. In meinem Zimmer schlüpfte ich also schnell in Jeans und Shirt und lief dann wieder hinunter in die Küche. »Mark kommt gleich«, sagte ich und setzte mich an den Küchentisch. Gabriel musterte mich einen Augenblick. »Wegen mir hättest du dir doch nicht extra was anziehen müssen.« Ich beschloss, den Kommentar einfach zu ignorieren, und zog stattdessen den Ordner zu mir. Ich blätterte ein paar Seiten durch. »Wie kamst du eigentlich auf die Idee, das Thema zu behandeln?«, fragte ich Gabriel möglichst beiläufig. Gabriel vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans und grinste. »Na ja, es macht doch Sinn, ein Thema zu wählen, mit dem man sich gut auskennt, oder nicht?« Ich versuchte, zu lächeln, auch wenn mir überhaupt nicht danach zumute war. Gabriel war wirklich nicht leicht zu durchschauen. Einerseits machte er einen netten und vor allem normalen Eindruck, wenn man mal davon absah, dass er ziemlich dreist war. Aber auf der anderen Seite sagte und machte er solche Sachen. Gerne hätte ich mehr gewusst, aber ich hatte das Gefühl, dass ich ohnehin keine brauchbaren Antworten bekommen hätte. Außerdem kam mein Bruder in dem Moment in die Küche, die sich sofort mit dem Geruch von Rasierwasser und frisch gewaschenen Haaren füllte. Mark begrüßte Gabriel mit Handschlag und ging hinüber zur Kaffeemaschine. »Trinkst du Kaffee?«, fragte er an Gabriel gewandt. Der nickte und meinte: »Jep, schwarz wie meine Seele.« Ich fühlte mich noch unbehaglicher, sofern das überhaupt möglich war, und war froh, als Mark und Gabriel nach oben gingen. Gabriel drehte sich im Türrahmen noch einmal zu uns um und grinste. »Sorry für die kleine Unterbrechung, aber jetzt könnt ihr ja weitermachen.« Ich wartete, bis ich hörte, wie Marks Tür ins Schloss fiel. Dann wandte ich mich an Tim. »Du kennst also Gabriel und seinen Bruder?« »Klar.« Tim nickte und griff nach einem weiteren Brötchen. Mir war der Appetit fürs erste vergangen. »Ich hoffe, du nimmst Gabriels Verhalten nicht ernst. Ich schwör dir, dass ich bis gestern nie was mit ihm zu tun hatte.« Doch Tim lachte nur. »Keine Sorge, ich kenn Gabriel.« »Und wie sind die so?« »Wer?« »Na Gabriels Familie. Du weißt doch, was ich mein. Diese ganzen Kommentare von Gabriel, die Gerüchte, das Referatsthema ...« »Also Joshua ist ganz in Ordnung. Ich kam immer sehr gut mit ihm klar. Na und Gabriel. Ich bin nicht sicher, was ich von ihm halten soll oder was an den Gerüchten dran ist. Hat auf jeden Fall 'ne ziemlich große Klappe.« »Kennst du auch den Rest seiner Familie?« Ich sah Tim fragend an. »Ich war einmal bei Joshua zu Hause. Seitdem sind sie aber umgezogen, soweit ich weiß. Der Vater und die kleine Schwester haben einen netten Eindruck gemacht, die Mutter war mir ein wenig unsympathisch, aber sie wirkte normal. Und trotzdem ...« Er stoppte. »Was?« Er zog die Schultern hoch und schmierte sich Butter auf beide Brötchenhälften. »Weiß auch nicht. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass die was zu verbergen haben.«

Nachdem Tim gegangen war, rief ich sofort Hannah an. Sie war ein wenig sauer auf mich, dass Gabriel mir die Unterlagen mitgebracht hatte, auch wenn ich ja eigentlich nichts dafür konnte. Schließlich hatte ich ihn nicht darum gebeten. So sauer war Hannah dann aber doch nicht, als dass sie sich nicht gleich auf den Weg zu mir gemacht hätte. Gabriel war allerdings schon wieder weg, bis sie da war. Hannahs Laune wurde noch mieser. Wir machten uns daran, die Unterlagen durchzusehen. Je mehr Seiten wir durchblätterten, desto mulmiger fühlte ich mich. Gabriel hatte wirklich sämtliches Recherchematerial, das er finden konnte, in diesen Ordner geheftet. Mir war von vornherein klar gewesen, dass es sich bei Satanismus um ein unangenehmes Thema handelte, aber mit dem, was ich zu sehen bekam, hatte ich nicht gerechnet. Im Ordner befanden sich nicht nur Informationen über die Geschichte und Entwicklung des Satanismus, sondern auch ausführliche Beschreibungen diverser Rituale. Mir wurde fast schlecht. Was hatte Hannah sich bei der ganzen Sache nur gedacht? Wir hätten sicher noch einen angenehmeren Weg gefunden, mit Gabriel ins Gespräch zu kommen. Wenigstens waren Hannah und ich uns einig, dass wir uns in unserem Referat auf die Entstehung und Entwicklung des Satanismus beschränken wollten und als Anschauungsmaterial lediglich einige Symbole zeigen wollten, die mit dem Satanismus in Zusammenhang standen. Und danach wollte ich das Thema und Gabriel einfach nur noch vergessen.

»Nächster Halt: Evangelische Kirche«, dröhnte die markante Männerstimme durch den Bus. Ich schreckte hoch und sah aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich zugezogen, und die Dämmerung war bereits über Heidelberg hereingebrochen, aber ich konnte noch genug sehen, um zu erkennen, dass der Busfahrer die richtige Haltestelle durchgesagt hatte. So ein Mist, jetzt hatte ich doch tatsächlich meine Haltestelle verpasst. Hastig klappte ich mein Buch zu, ließ es in meine Tasche fallen und sprang auf, um diese Haltestelle nicht auch noch zu verpassen. Als ich gerade noch rechtzeitig auf den roten Knopf drückte, blieb der Bus mit quietschenden Reifen stehen. Einige Passagiere schüttelten den Kopf. Stolpernd stieg ich aus und bemühte mich, schnell außer Sichtweite zu kommen. Ich bog in die Kreuzstraße ein und atmete ein paar Mal tief durch. So etwas war mir noch nie passiert, aber Stolz und Vorurteil war einfach so schön gewesen, dass ich alles um mich herum vergessen hatte. Zum Glück war es heute Vormittag doch noch geliefert worden. Viel hatte ich aber noch nicht darin lesen können, denn nachdem Hannah und ich vorerst keine Lust mehr darauf hatten, uns mit Satanismus zu befassen, waren wir in der Stadt gewesen. Hannah hatte unbedingt etwas Neues zum Anziehen kaufen wollen, und im Gegensatz zu mir war sie auch fündig geworden. Sie war der Meinung, ein Shopping-Tag ohne volle Einkaufstaschen war ein verlorener Tag, aber ich sah das nicht so. Außerdem hätte ich eh kein Geld für neue Klamotten gehabt. Ich hatte mir in diesem Monat schon so viele Bücher gekauft, dass mein ganzes Taschengeld dabei drauf gegangen war. Und jetzt freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen, um weiterlesen zu können. Wenigstens war ich nur eine Haltestelle zu weit gefahren. Zwar war es noch recht mild, aber es fing an, zu nieseln, und ich hatte meinen Regenschirm zu Hause liegen lassen. Ich hätte weiter geradeaus durch die Klappergasse nach Hause laufen können, doch es zog mich wie immer in Richtung der kleinen Straße Hostig. Ich beschleunigte meine Schritte, um zu Hause zu sein, bevor es richtig anfing, zu regnen und lief den kleinen, düsteren Pfad entlang. Hier wurde es besonders schnell dunkel, denn überall gab es Bäume und Büsche. Außerdem verlief rechter Hand eine hohe Mauer, die das Gelände meiner Schule vor neugierigen Blicken schützen sollte. Ich hatte aber keine Angst, denn wir wohnten in einer guten Gegend, hier war noch nie was passiert. Der Heidelberger Stadtteil Wieblingen war ein friedliches Örtchen, und bei meiner Schule handelte es sich um eine Privatschule. Schnell ging ich also den kleinen Pfad entlang und hatte fast den Spielplatz auf der linken Seite erreicht, als ich ein komisches Geräusch hörte. Ich blieb stehen. Was war das? Für einen Moment hielt ich unbewusst die Luft an, aber es war nichts mehr zu hören. Ich wollte weitergehen, als plötzlich jemand schrie. Mein Herz schlug wie wild, ich zuckte zusammen. Die Geräusche kamen vom Spielplatz, der nur noch ein paar Meter entfernt war. Ich schluckte schwer und überlegte fieberhaft. Was sollte ich machen? Am liebsten wäre ich einfach nach Hause gerannt, aber was, wenn hier jemand Hilfe brauchte? Ganz in der Nähe war eine Polizeiwache, die könnten also schnell jemanden herschicken. Aber zuerst musste ich wissen, was hier eigentlich los war. So leise wie möglich schlich ich den Weg weiter entlang Richtung Spielplatz. Die Geräusche wurden immer lauter und mir immer schlechter. Und da sah ich sie: die Umrisse von drei Männern, die miteinander kämpften. Ich ließ einen erstickten Schrei los und schlug mir die Hand vor den Mund, um mich nicht zu verraten. Mein Herz schlug wie wild, ich konnte kaum noch richtig atmen. Hastig griff ich in meine Tasche und suchte nach meinem Handy. Warum hatte ich es nicht schon vorher herausgeholt? Vor Angst und Nervosität zitterten meine Hände, und ich ließ die Tasche fallen. Ich erstarrte, doch die Männer schienen nichts zu bemerken. Schnell hockte ich mich hin, leerte den kompletten Inhalt der Tasche auf dem Boden aus. Mit schweißnassen Händen griff ich nach meinem Handy. Scheiße, wie war die Nummer der Polizeiwache? Egal, dann eben 110. Das Blut rauschte in meinen Ohren, während die Sekunden vergingen. »Notruf, was kann ich für Sie tun?«, fragte eine weibliche Stimme. »Bitte schicken Sie sofort die Polizei her«, flüsterte ich. Meine Stimme zitterte. »Sie müssen lauter sprechen, ich habe Sie nicht verstanden.« »Ich kann nicht lauter sprechen«, antwortete ich und kroch auf allen Vieren rückwärts, um von den Männern wegzukommen. »Sie müssen die Polizei herschicken, bitte. Da kämpfen drei Männer miteinander.« In diesem Moment entdeckten sie mich. Mein Herz setzte einen kurzen Moment aus und schlug dann noch schneller weiter. »Wo sind Sie denn?«, wollte die Frau wissen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Zwei der Männer hielten inne und sahen zu mir hinüber. Der dritte Mann nutzte die Gelegenheit, riss sich los und rannte weg. Er kam genau auf mich zu. Die anderen beiden Männer folgten ihm sofort. »Hallo, sind Sie noch da? Wo befinden Sie sich?« Ich schluckte und antwortete mit zitternder Stimme: »In Heidelberg, Wieblingen. Der Spielplatz beim Gymnasium. Bitte, kommen Sie schnell.« Die Männer waren gleich bei mir. Tränen stiegen mir in die Augen. Mittlerweile zitterte nicht nur meine Stimme. Ich zitterte am ganzen Körper. »Ich werde sofort einen Streifenwagen losschicken. Sagen Sie mir noch schnell Ihren Namen.« »Emmalyn Blum«, antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. »Es wird gleich jemand da sein. Haben Sie keine Angst, und verhalten Sie sich ruhig.« Dann legte die Frau auf. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst wie in diesem Moment. Ich ließ das Handy auf den Boden fallen und stand auf, wollte wegrennen. Doch ich stolperte und fiel hin. Der erste Mann hatte mich fast erreicht, als die beiden anderen Männer ihn einholten. Beide Verfolger hatten Schwerter dabei. Ich wollte schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus. Einer der Männer schlug mit dem Schwert zu und traf den ersten Mann von hinten. Er fiel zu Boden und direkt auf meine Beine. Ich versuchte, nach hinten zu rutschen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Der Mann war zu schwer. »Stirb«, hörte ich eine tiefe Stimme. Ich konnte nicht sehen, wer gesprochen hatte. »Bitte tun Sie mir nichts«, stammelte ich. Meine Stimme war vor Angst kaum zu hören. Tränen strömten mir über die Wangen, und ich zitterte immer noch. Ich starrte auf die Schwerter der Männer. »Emmalyn?«, fragte einer der beiden ungläubig.

Custos umbrarum

Ich sah auf und erkannte Gabriel. Neben ihm stand ein zweiter Junge. War das sein Bruder? »Gabriel? Aber ...« Weiter kam ich nicht, denn plötzlich war da ein vierter Mann und stürzte sich auf Gabriel. Er war immer noch irritiert, mich hier zu sehen. Nur mit Mühe wich er aus. Daraufhin ging der Mann auf den zweiten Jungen los, der nicht darauf vorbereitet war. Er versuchte, den Mann mit seinem Schwert abzuwehren, war aber nicht schnell genug. Der Mann traf den Jungen am Bein. Ich konnte nicht erkennen womit, denn er hatte mir den Rücken zugedreht. Das Schwert landete klirrend auf dem Boden. Der Junge schrie und stürzte. Mit beiden Händen umklammerte er sein Bein. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Joshua, verdammt«, rief Gabriel und versetzte dem Mann einen Tritt, sodass dieser zurücktaumelte. Nun konnte ich ihn sehen. Das war kein Mann. Das war nur der Schatten eines Mannes, ohne Konturen. »Nein, bitte nicht«, stammelte ich und versuchte, mich von dem Mann auf meinen Beinen zu befreien. Mit aller Kraft konnte ich ihn schließlich wegschieben. Gabriel schlug wie besessen mit seinem Schwert auf den Schattenmann ein. Wieder und wieder traf er ihn. Alles, was ich hörte, war Gabriels schwerer Atem, ansonsten war es still. Zu still. Der Schattenmann musste jeden Moment blutüberströmt zusammenbrechen. Ich wollte wegsehen, konnte es aber nicht. Und da sah ich, dass der Schattenmann zwar wankte, aber nicht blutete. Wie konnte das sein? Gabriel holte etwas aus seiner Tasche und richtete es auf seinen Gegner. Eine Stichflamme schoss hervor und setzte den Schattenmann in Brand. Gabriel warf sein Schwert beiseite und stürzte zu seinem Bruder. Ich sah entgeistert zu, wie das seltsame Wesen von oben nach unten abbrannte und schließlich nur noch ein Häufchen Asche zurückblieb. Meine Ohren rauschten. Nur wie aus weiter Ferne hörte ich, dass Gabriel und sein Bruder sich unterhielten. »Emmalyn.« Gabriel musste mehrmals meinen Namen gerufen haben, doch erst jetzt hörte ich ihn. Ich sah ihn an. »Was war das?«, fragte ich leise. »Hast du 'nen Gürtel?«, wollte Gabriel wissen. »Joshua ist verletzt, ich muss sein Bein abbinden.« Ein Gürtel. Ich fasste an meine Taille und spürte etwas aus Leder. Ich wollte aufstehen, aber meine Beine gaben gleich nach, also kroch ich hinüber zu Gabriel. Etwas umständlich zog ich den Gürtel aus meiner Hose und reichte ihn Gabriel. Er legte ihn um Joshuas Bein. »Gib mir bitte das Schwert«, bat er und deutete neben mich. Ich fühlte mich immer noch wie in Trance und fragte nicht, was Gabriel damit vorhatte. Stattdessen griff ich nach Joshuas Schwert, das neben mir auf dem Boden lag, und warf einen kurzen Blick darauf. Es war relativ klein und hatte eine schwarze Klinge. Der Griff war dunkelgrün und mit kleinen Steinen in einem helleren Grünton verziert. Außerdem waren die Worte Custos umbrarum eingraviert. Ich reichte Gabriel das Schwert. Er stach damit eine weitere Öffnung in den Gürtel und schloss ihn. Ich hätte protestieren können, dass er dabei war, meinen Lieblingsgürtel zu ruinieren, aber das war im Moment mein kleinstes Problem. »Geht's so?«, fragte Gabriel seinen Bruder. Joshua nickte. Er sah ziemlich blass aus. »Ich denk schon.« Nun sah Gabriel wieder mich an. »Hast du vielleicht was zu trinken dabei?« Ich nickte und zeigte hinter ihn, wo der komplette Inhalt meiner Tasche immer noch auf dem Boden verstreut lag. Gabriel stand auf, holte meine Wasserflasche und reichte sie Joshua. Der trank einen Schluck und sah gleich ein wenig besser aus. Ich hingegen fühlte mich kein bisschen besser. Die Tränen, die während des Schocks getrocknet waren, kamen nun mit aller Macht wieder. Ich wollte nicht weinen, schon gar nicht vor Gabriel, doch ich musste schluchzen. »Bitte nicht weinen. Auf weinende Mädchen reagier ich immer irgendwie allergisch«, meinte Gabriel nun. Bisher war er ja ganz umgänglich gewesen, doch jetzt schien er zu seiner üblichen Form zurückzufinden. Meine Stimmung schlug um. Ich wurde wütend auf Gabriel, und die Tränen versiegten. Am liebsten hätte ich ihm sämtliche Schimpfwörter, die mir in diesem Moment einfielen, an den Kopf geworfen, doch ich ließ es. »Was machst du hier?« »Was ich hier mache? Was machst du hier?« »Ich wohne hier und geh nicht mit Schwertern auf andere Menschen los. Was soll das Ganze?« Gabriel sammelte die beiden Schwerter ein und sah mich an. Mir fiel auf, dass er nicht wie sonst grinste. »Wir waren auf einer verspäteten Faschingsparty.« »Und das soll ich dir glauben?« »Seh ich etwa nicht glaubwürdig aus?«, meinte er und baute sich in voller Größe auf. »Ist ja auch egal, ich muss mich jetzt um Joshua kümmern. Er braucht dringend einen Arzt.« Das sah ich ein, aber so leicht wollte ich es ihm trotzdem nicht machen. »Erst will ich wissen, was hier läuft.« Nun grinste er doch wieder. »Hier läuft gar nichts, aber das können wir gern ändern, wenn du willst.« »Gabriel, ich mein's ernst.« »Ich auch.« Einen Moment war ich sprachlos. In genau diesem Moment waren Polizeisirenen zu hören. »Shit. Hast du die gerufen?«, fragte Gabriel und sah mich fast ein wenig böse an. Ich nickte. »Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.« Gabriel bückte sich und half seinem Bruder hoch. »Was machst du da?«, wollte ich wissen. »Ich sagte doch, Joshua braucht einen Arzt. Wir haben jetzt keine Zeit, auf die Polizei zu warten.« »Aber ihr könnt doch nicht einfach abhauen, nach allem, was ihr hier angerichtet habt.« »Was haben wir denn bitte angerichtet?« Ich sah zu dem Mann, der am Boden lag. Gabriel folgte meinem Blick und musste lachen. »Der da? Der ist bloß bewusstlos. Du musst mir vertrauen, Emmalyn. Wir tun keinem was, aber wir müssen jetzt hier weg.« Ich zögerte. Der bewusstlose Mann schien nicht verletzt zu sein, aber das änderte nichts daran, dass Gabriel ihn niedergeschlagen hatte. »Komm schon, Emmalyn, du bist mir ohnehin noch was schuldig.« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er auf die Sache mit den Referatsmaterialien anspielte. Ich wusste nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, dass es richtig war, sie gehen zu lassen. Also nickte ich schließlich. Gabriel warf mir ein flüchtiges Lächeln zu, dann verschwanden er und sein Bruder. Ich hatte kaum Zeit, meine Gedanken zu sortieren, als zwei Polizisten angerannt kamen. Der eine stürzte sich gleich auf den ohnmächtigen Mann, der andere hockte sich neben mich. »Sind Sie verletzt?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« »Haben Sie die Polizei gerufen?« Ich nickte. »Was ist denn passiert?« »Ich ... Ich weiß auch nicht so genau. Da waren drei Männer, die miteinander gekämpft haben.« Ich zeigte auf den bewusstlosen Mann. »Der Mann dort ging zu Boden. Ich weiß nicht, ob er verletzt ist.« »Und die anderen beiden Männer?« »Die sind weggerannt, als sie mich gesehen haben.« »Da haben Sie aber Glück gehabt. Können Sie die Männer beschreiben?« »Sie waren maskiert«, log ich nach kurzem Zögern. Auch wenn ich selbst nicht so genau wusste, warum ich Gabriel und seinen Bruder eigentlich in Schutz nehmen sollte. »Mit dem hier ist alles in Ordnung, er ist nur bewusstlos«, sagte der zweite Polizist und kam auf uns zu. »Was ist denn passiert?« Ich erzählte meine Geschichte noch einmal. Währenddessen sah sich der erste Polizist etwas genauer um. Er inspizierte vor allem das Häufchen Asche genauer, stellte aber keine Fragen. Dann begutachtete er meine Sachen, die auf dem Boden verstreut lagen. »Sind das Ihre Sachen?«, fragte er. Ich nickte. »Ja, das sind meine. Mir ist die Tasche heruntergefallen, als ich nach meinem Handy gesucht hab.« Er begann, alles einzusammeln und in die Tasche zu stopfen. Ich stand auf, um ihm dabei zu helfen. In diesem Moment entdeckte der andere Polizist die Wasserflasche und den Blutfleck. »Was ist denn hier passiert?«, wollte er wissen. Mein Herz begann wieder, schneller zu schlagen. »Ich weiß nicht. Vielleicht hat sich einer der beiden anderen Männer verletzt?« »Waren sie bewaffnet?« Ich überlegte einen Moment fieberhaft, was ich sagen sollte, doch dann entschied ich mich für die Wahrheit. »Sie hatten zwei Schwerter.« Die beiden Polizisten warfen sich einen komischen Blick zu. Dann griff der eine Polizist nach der Wasserflasche. »Ich darf doch?« Ich wusste zwar nicht, was er damit wollte, doch ich nickte trotzdem. Der Polizist ging daraufhin zu dem bewusstlosen Mann, schüttete ihm etwas Wasser ins Gesicht und tätschelte ihm die Wange. »Hallo, können Sie mich hören?« Der Mann schien langsam zu Bewusstsein zu kommen. Währenddessen hatten der andere Polizist und ich all meine Sachen aufgesammelt. »Wo wohnst du?«, fragte er. Anscheinend war ihm mittlerweile aufgefallen, dass ich noch nicht volljährig war. »Neckarhamm«, antwortete ich. »Das ist ja gleich hier vorne. Dann bring ich dich mal eben nach Hause, während mein Kollege den Mann befragt.« Dankbar griff ich nach meiner Tasche. »Wolfgang? Ich bring das Mädchen schnell nach Hause«, meinte der eine Polizist zum anderen. »Warte, der Mann hier kann sich an nichts erinnern. Ich schätze, unsere Arbeit ist damit erledigt.«

Keine zehn Minuten später stand ich unter der Dusche und ließ warmes Wasser auf mich prasseln. Als ich nach Hause gekommen war, war niemand da gewesen. Einerseits war ich froh darüber, so musste ich wenigstens keine Fragen beantworten. Andererseits war ich nicht sicher, ob ich jetzt wirklich allein sein wollte. Das warme Wasser dämpfte den Schock, und so langsam fühlte ich mich wieder klar, während sich der heiße Dampf auf den Spiegel legte. Und mit der Klarheit kamen auch die Fragen. Was war da passiert? Warum liefen Gabriel und sein Bruder mit Schwertern herum, und was war das für ein komisches Wesen gewesen, dass da abgebrannt war? Hatte das Ganze etwa irgendetwas mit einem satanischen Ritual zu tun? Und welche Rolle spielte die Polizei? Ich war heilfroh gewesen, dass mich die Männer gleich nach Hause gefahren hatten, aber andererseits wunderte es mich auch. Sie hatten nur meine Daten aufgenommen. Eine offizielle Aussage hatte ich nicht machen müssen, geschweige denn, dass sie mich mit aufs Revier genommen hätten. Zudem hatten sie den Tatort nicht abgesperrt, sie hatten keine Fingerabdrücke genommen und sich auch nicht wirklich für Joshuas Blutspuren interessiert. Ich kannte mich mit der Polizeiarbeit nicht sonderlich gut aus, aber das Ganze kam mir doch etwas suspekt vor. Hatten die Polizisten hier versucht, etwas zu vertuschen? Und was hatten Gabriel und Joshua zu verbergen? Auch wenn ich sonst nur Fragen hatte, dessen war ich mir sicher: Gabriel war nicht auf einer Faschingsparty gewesen.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Tim und schloss mich fest in seine Arme. Gleich nach der Dusche hatte ich Tim angerufen und gebeten, vorbeizukommen. Ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich über alles reden konnte, und ich wollte über Nacht auch nicht alleine sein. Tim war zwar mit Freunden verabredet gewesen, hatte sich aber gleich auf den Weg gemacht. Als ich ihm die Tür öffnete und ihn da stehen sah, war ich in Tränen ausgebrochen, ohne es zu wollen. Eine Weile standen wir im Flur, und Tim tröstete mich. Dann kochte er eine Kanne Tee für uns, und wir gingen nach oben in mein Zimmer, wo ich ihm erzählte, was passiert war. Ich bemerkte, dass Tim wütend wurde, aber er hörte mir geduldig zu und unterbrach mich nicht. Doch kaum war ich fertig, legte er los. »Gabriel. Und Joshua? Das darf doch nicht wahr sein. Bist du dir wirklich sicher?« Ich nickte. »Ich versteh's nicht. Warum treiben die sich auf einem Spielplatz rum, noch dazu mit Schwertern?« Ich zuckte die Schultern. »Frag mich was Leichteres, ich kann's mir auch nicht erklären.« Tim war irgendwann aufgestanden und lief nun in meinem Zimmer auf und ab. Er machte mich damit ganz nervös, aber ich bat ihn trotzdem nicht, damit aufzuhören. »Ich wusste doch, dass die irgendwas zu verbergen haben. Vielleicht ist an dem ganzen Satanismus-Kram doch was dran. Bei Gabriel wundert mich nichts mehr. Aber ich frag mich, warum Joshua bei so was mitmacht. Er war eigentlich ganz vernünftig.« »Du hast ihn ja schon eine Weile nicht mehr gesehen«, gab ich leise zu bedenken. »Menschen ändern sich.« Tim blieb einen Moment stehen und sah mich an. »Was hat er denn für einen Eindruck auf dich gemacht?« Ich überlegte einen Moment. »Wenn ich ehrlich bin, hat er bei mir überhaupt keinen Eindruck hinterlassen. Er hat kaum zwei Sätze gesprochen.« Tim nickte, dann kam er zu mir und setzte sich neben mich aufs Bett. »Bitte halt dich von den beiden fern«, sagte er. »Ich hab doch eh nicht viel mit ihnen zu tun.« »Weiß ich, aber ich mein's ernst. Gabriel ist mir nicht geheuer, und ich möchte nicht, dass er dich oder Hannah in irgendwas reinzieht. Haltet einfach Abstand.« »Aber das Referat ...«, begann ich. »Das Referat könnt ihr ja machen, dafür braucht ihr ihn doch nicht mehr. Und was den Ordner angeht, gib ihn Mark. Der kann ihn dann Gabriel zurückgeben.« »Okay«, stimmte ich schließlich zu, auch wenn ich nicht vorhatte, mich daran zu halten. Ich fand das Ganze etwas übertrieben. Ich hatte ja nicht vor, mich mit Gabriel anzufreunden, und was war schon dabei, wenn ich ihm seinen Ordner zurückgab? Zwar konnte ich nicht sagen, was genau geschehen war, aber ich war mir dennoch ziemlich sicher, dass ich weder vor Gabriel, noch vor seinem Bruder Angst haben musste.

Ich hatte die Nacht über kaum ein Auge zugetan, obwohl Tim da gewesen war. Mir hatte einfach zu viel im Kopf herumgespukt. Das Ganze war unheimlich und unerklärlich, aber ich wollte eine Erklärung. Nun saß ich müde in meinem Schlafanzug auf meinem Bett und versuchte, eine Antwort zu finden. Tim war vor etwa einer halben Stunde gegangen. Er hatte ein Fußballspiel, und ich sah nicht ein, dass er nach seiner Verabredung mit seinen Freunden gestern Abend auch noch das Spiel verpassen sollte. Während ich darüber nachdachte, was das alles zu bedeuten hatte, drückte ich meinen Winnie Puuh-Stoffbären fest an mich und hörte mir die Jonas Brothers an, um mich gleichzeitig ein wenig abzulenken. Ich war vielleicht schon etwas zu alt für Stoffbären und die Jonas Brothers, aber das war mir gerade ziemlich egal. Beides beruhigte mich etwas, und ich verhielt mich auch nicht wie ein vierzehnjähriger, kreischender Fan, wenn ich Nick oder Joe Jonas irgendwo im Fernsehen sah. Ich mochte einfach nur deren Musik. Es klopfte an meiner Tür. Ich wollte alleine sein, aber ich wusste, dass sich meine Mutter Sorgen machte. Ich hatte heute Morgen nichts gefrühstückt, wahrscheinlich wollte sie mir etwas zu essen bringen. »Komm rein«, rief ich, um die Musik zu übertönen. Herein kam allerdings nicht meine Mutter, sondern Gabriel. Na super, und wieder eine Begegnung im Schlafanzug. Einen Moment dachte ich an Tim. Zum Glück war er schon auf dem Fußballplatz. Gabriel schloss die Tür und sah mich einen Moment an. Ich legte den Bären auf mein Kopfkissen und wartete auf eine bissige Bemerkung seinerseits, doch die blieb aus. Ein Grinsen konnte er sich aber nicht verkneifen. »Darf ich reinkommen?«, fragte er. Ich setzte mich etwas aufrechter hin. »Wenn's unbedingt sein muss.« »Wie geht’s dir?« »Wie soll's mir schon gehen?« »Ich hoffe, du hattest keinen Ärger mit der Polizei?« »Nee, hatte ich komischerweise nicht. Dein Glück. Du kannst mir das nicht zufällig erklären?« Ich funkelte ihn an. Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich tatsächlich keine Angst. Ich war eher sauer auf ihn, und neugierig. Ich wollte unbedingt wissen, was da geschehen war. Gabriel zuckte die Schultern und kam zu mir. Er warf mir eine kleine Tüte hin. Dann ließ er sich neben mich aufs Bett fallen und machte es sich gemütlich. »Was ist das?«, wollte ich wissen und zeigte auf die Tüte. »Tja, um das rauszufinden, gibt's 'ne ganz einfache Lösung: Schau rein.« Ich griff nach der Tüte und leerte den Inhalt auf meinem Bett aus. Zum Vorschein kam ein pinkfarbener Gürtel, auf dem kleine, schlafende Puuh-Bären abgebildet waren. Fassungslos sah ich ihn an. Er grinste. »Ich dacht mir, der passt zu deinem Stil. Dein Gürtel war leider nicht mehr zu retten.« Wo zum Geier hatte er den am Sonntag aufgetrieben? Aber ich fragte nicht nach, und ich bedankte mich auch nicht, obwohl ich das wohl hätte machen sollen. Stattdessen wechselte ich das Thema. »Wie geht's deinem Bruder?« »Ganz gut. Er musste genäht werden, aber es wurde keine wichtige Arterie verletzt. Er darf sich eine ganze Weile nicht körperlich betätigen, aber da er Sport nicht ausstehen kann und auch keine Freundin hat, sollte das kein Problem sein.« Gabriel grinste. »Freut mich.« »Dass er keine Freundin hat?« Ich stöhnte. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön nerven kannst?« »In der Regel wissen die Leute meine Anwesenheit zu schätzen, aber ich kann auch gehen.« Er machte Anstalten, aufzustehen, aber ich drückte ihn zurück aufs Bett. Er grinste. »Das kommt in der Tat öfter mal vor.« Wieder stöhnte ich. »Hör mal, ich hab überhaupt kein Problem damit, dich aus meinem Bett zu schmeißen.« »Tatsächlich? Du würdest mich einfach so von der Bettkante stoßen?«, unterbrach er mich und grinste amüsiert. Ich verdrehte die Augen. »Ich hätte aber vorher gern einige Antworten von dir.« »Normalerweise unterhalte ich mich ja nicht im Bett, aber bei dir mach ich mal 'ne Ausnahme. Also, was willst du wissen?« »Frag doch nicht so blöd, du weißt ganz genau, was ich wissen will. Du könntest mir zum Beispiel erklären, was das gestern sollte.« »Hab ich das nicht bereits gestern getan?« »Nein, hast du nicht.« »Muss ich wohl vergessen haben.« Ich sah ihn an und wartete darauf, dass er weiter redete, doch er schwieg. Also meinte ich: »Willst du es mir dann vielleicht jetzt erklären?« Er gab vor, einen Moment zu überlegen. »Nein, will ich nicht.« »Und warum nicht?« »Lass mal überlegen. Vielleicht, weil's dich nichts angeht? Außerdem ist es doch langweilig, wenn man jede Kleinigkeit vom anderen weiß. Wo bleibt denn da das Geheimnisvolle?« Ich ignorierte seine beiden letzten Kommentare. »Ich finde schon, dass mich das was angeht. Schließlich hast du mich ja in die ganze Sache hineingezogen.« Gabriel lachte. »Hab ich das? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich eingeladen zu haben. Ich hab dich auch nicht gebeten, die Polizei zu rufen oder zu bleiben.« »Mag sein, aber jetzt war ich nun mal da. Und ich finde, ich hab eine Erklärung verdient.« »Ich finde auch, dass ich 'nen Porsche verdient hab. Das Leben läuft halt nicht immer so, wie man's gern hätt. Du weißt schon, die Sache mit dem Ponyhof und so.« Ich ließ meinen Kopf auf meine Knie fallen. Wie konnte eine einzelne Person so anstrengend sein? Ich holte ein paar Mal tief Luft, dann setzte ich mich wieder auf und sah ihn an. Er grinste. »Das Ganze hatte nicht zufällig was mit einem bescheuerten, satanischen Ritual zu tun?«, wagte ich einen neuen Versuch. Gabriel lachte. Es war das erste Mal, dass ich ihn richtig lachen hörte. Dann sah er mich an. »War die Frage etwa ernst gemeint?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und nickte. »Ein satanisches Ritual, was denkst du denn von mir?« »Willst du das ehrlich wissen?«, fragte ich. »Ich hör mir immer wieder gern an, dass ich toll bin, tu dir keinen Zwang an.« Ich musste lachen. Das Ganze war aberwitzig. Man konnte einfach keine normale Unterhaltung mit Gabriel führen. Er stand auf und streckte sich. »War schön mit dir im Bett, aber ich muss leider weiter.« »Du weißt ja, wo die Tür ist.« Einen Moment sah er mich grinsend an. »Sag mal, läufst du eigentlich den ganzen Tag im Schlafanzug rum?« »Nur, wenn ich Männerbesuch erwarte.« Gabriel lachte und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal zu mir um. »Nette Musik hörst du da übrigens. Meine kleine Schwester steht auch auf die Jonas Brothers. Vielleicht könnt ihr ja mal CDs austauschen.« Er zwinkerte mir zu, dann war er verschwunden, und ich blieb mit meinen Gedanken und Fragen alleine zurück.

Am Montagmorgen machten mein Bruder und ich uns gemeinsam auf den Schulweg. Wir wohnten ja in der Nähe der Schule und konnten daher zu Fuß gehen. Es war das erste Mal seit dem Vorfall am Samstagabend, dass ich wieder Richtung Spielplatz ging, daher fühlte ich mich ein wenig unwohl. Es war aber nicht so schlimm, wie ich vorher befürchtet hatte.