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Die aufstrebende Sängerin Evie erhält ein Stipendium für ein Musicalstudium in Nightwood. Ihr Plan in Kanada sah vieles vor: Endlich den Verlust ihrer Vergangenheit zu überwinden und nach der Zukunft zu greifen, die sie für unerreichbar gehalten hat. Nicht vorgesehen war ein unerwarteter Mitbewohner, der ihr Zimmer besetzt und sich weigert zu gehen. Adam steht am Beginn seiner Karriere. Mit einem Plattenvertrag in der Tasche kehrte er seiner WG den Rücken, bis seine Pläne sich von der einen auf die andere Sekunde änderten und er nun auf sein altes Zimmer angewiesen ist. Pleite und ohne Alternative versuchen beide, sich gegenseitig loszuwerden. Doch es ist nicht einfach zu hassen, wenn man sich jede Nacht eine Decke teilt. Und so kommt Adam Stück für Stück hinter Evies Vergangenheit, die sie mit allen Mitteln zu verheimlichen versucht …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Content Warnung
Essstörung, Tod und Trauer, toxische Beziehungen,
chronische Krankheit, Obdachlosigkeit, Krebs, Drogenabhängigkeit
Über die Autorin
Ronja Sova wurde 1997 in Gießen geboren. Mittlerweile lebt sie im wunderschönen Saarland, das zwar klein, aber trotzdem groß genug ist, um sich ständig zu verlaufen. Bei der Arbeit in einer Buchhandlung versucht sie, nicht nach jeder Schicht ein Buch zu kaufen. Nebenbei bringt sie sich mit Google-Übersetzer und furchtbar schlechten Spanisch-Kenntnissen von Deutschland aus durch den Tierschutz-Alltag in Andalusien. Seit Jahren schreibt sie in jeder freien Minute und das an allen Orten, an denen es sich schreiben lässt.
WREADERS E-BOOK
Band 273
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Bestellung und Vertrieb: epubli, Neopubli GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Jessica Rose
Lektorat: Lektorat Zeilenwunder
Korrektorat: Barbara Dier
Satz: Elci J. Sagittarius
www.wreaders.de
Für alle,
die denken, sie seien nur für die zweite oder dritte Reihe bestimmt.
Es kommen Menschen, für die ihr in der ersten stehen werdet.
Versprochen.
Playlist
Stubborn Love – The Lumineers
birthday cake – Dylan Conrique
Void – Melanie Martinez
Crushed – Imagine Dragons
Sleep Deprivation – Chance Peña
Rote Flaggen – Berq
The View Between Villages – Noah Kahan
Cry – Benson Boone
Wonderland (Taylor’s Version) – Taylor Swift
Follow Me Up To Carlow – The High Kings
Old Irish Blessing – Denes Agay, Quatro Forte
Haunted (Taylor’s Version) – Taylor Swift
Take Yours, I’ll Take Mine – Matthew Mole
Freefalling – Scottish Fish
How to Be Me – Ren, Chinchilla
Devil Doesn’t Bargain – Alec Benjamin
1. Kapiteladam
»Das ist nicht dein Ernst.«
Luke steht vor mir, die Hände in den Hosentaschen vergraben und einen Unschuldsblick de luxe aufgesetzt. Und das, obwohl er mir eben offenbart hat, dass mein altes Zimmer vermietet wurde und das Sofa ab sofort meine nächtliche Bleibe ist.
»Adam, wie hätte ich denn wissen sollen, dass du nicht mit auf Tour fährst? Eigentlich solltest du jetzt … wo sein?«
»New York«, knurre ich und reiße mich zusammen, um ihm keine zu verpassen. Unsere ranzige WG kann höchstens mit einer zwielichtigen Gasse in New York mithalten, in der mehr Ratten als Menschen zwischen überdimensionalen Mülltonnen wandeln.
»Ryan und ich brauchen das Geld für die Miete.«
»Ich zahle euch das Doppelte«, starte ich den Versuch, irgendeinen armen Studenten auf die Straße zu setzen. »Meinetwegen das Dreifache, solange ich wieder in mein altes Zimmer ziehen kann.«
Seufzend lehnt Luke sich gegen die Arbeitsplatte in der Küche, die mit einem Quietschen nachgibt und auf ihr dringendes Bedürfnis einer Reparatur, die seit Jahren aufgeschoben wird, hinweist.
»Woher nimmst du die Kohle überhaupt, Adam?«
Autsch. Die Frage tut weh, und das vor allem, weil sie absolut berechtigt ist.
Denn woher soll ich das Geld nehmen, nachdem mein Kartenhaus in sich zusammengestürzt ist?
Job weg, Auto weg, Freundin weg. Karriere auf Eis und mein Kontostand liegt bei zweihundert Dollar. So viel zur doppelten Miete.
»Komm schon, Alter. Du darfst mich nicht vor die Tür setzen. Ich stehe bei null.«
»Du kannst das Sofa haben. Abgesehen davon stehst du bei Null, weil deine dämliche Ex deinen besten Freund gevögelt hat«, erinnert er mich netterweise an die furchtbarste Nacht meines Lebens.
Die Bilder, wie ich ihren blonden Haarschopf im Schoß von — nein, lassen wir das.
»Sie ist nicht dämlich, schließlich war ich mit ihr zusammen.«
»Ich habe nie behauptet, dass du nicht mindestens genauso dämlich bist«, schießt Luke zurück. »Sie hat dich wie oft betrogen … dreimal? Viermal? Und wie oft hast du sie zurückgenommen?«
Offenbar dreimal zu oft.
Müde reibe ich mir übers Gesicht und setze mich auf einen der Stühle, der seine beste Zeit gemeinsam mit der Küche hinter sich hat.
»Bis ich wieder einigermaßen auf die Beine gekommen bin«, bitte ich meinen Bruder und benutze mein charmantestes Lächeln.
»Adam«, sagt er ernst. »Das Zimmer ist längst vergeben. Sorry, aber du musst dir etwas anderes suchen für die nächste Zeit. Oder du pennst im Wohnzimmer.«
Auf dem Sofa, auf dem, den Flecken nach zu urteilen, schon diverse Kinder gezeugt wurden?
Stöhnend lege ich den Kopf in den Nacken und starre zur Decke. Auch die passt zum Rest der WG.
Die verdunkelten Ecken betteln um einen neuen Anstrich und die Deckenlampe, die wir nach einer ausgiebigen Runde Beerpong angebracht haben, hängt immer noch schief.
»Wer hat sich überhaupt so schnell auf das Zimmer beworben?«
»So schnell?« Luke lacht und nimmt sich eine Cola aus dem Kühlschrank.
»Wasser«, bitte ich ihn, bevor er mir ebenfalls eine zuwirft.
Mit einem Stirnrunzeln mustert er mich, ehe er leicht den Kopf schüttelt, jegliche Kommentare für sich behält und mir eine Flasche Wasser reicht. Gegenüber von mir lässt er sich auf den Stuhl sinken.
»Das Inserat wurde vor einem halben Jahr online gestellt, kurz nachdem ihr den Vertrag unterschrieben habt und klar war, ihr würdet auf Tour gehen. Es ist ein Wunder, dass sich überhaupt jemand gemeldet hat und wir es vermieten konnten. Schau dich in der Wohnung um und dann erst in der Gegend. Ich werde sie nicht vor die Tür setzen.«
Ich horche auf. »Sie?«
Luke rollt mit den braunen Augen. »Schluck es runter.«
Sein mahnender Blick wird von Ryan unterbrochen, der aus seinem Zimmer in die offene Küche schlendert. Oberkörperfrei, einen Schokoriegel in der Hand und ein Handtuch über der Schulter.
»Es hat nichts damit zu tun, dass der da hofft, er würde endlich mit ordentlichem Essen bekocht werden?«
»Nope«, antwortet Ryan und wirft das Handtuch nach mir. Das Piercing in seiner Lippe blitzt auf, als sein Mund sich zu einem spöttischen Grinsen verzieht. »Liegt daran, dass ich kein bescheuerter Sexist bin. Sie war cool und wirkte unkompliziert.«
Mein Bruder lehnt sich vor, um ihn mit der Faust zu begrüßen. Ist ja nicht so, dass sie seit drei Jahren zusammenwohnen und sich täglich sehen.
»Außerdem war sie die einzige Bewerberin, trotz Semesterstart.«
»Ihr setzt mich echt auf die Straße?«
»Lass das!« Luke kickt mir gegen das Schienbein. »Tränen werden dir zu keinem Zimmer verhelfen. Sofa oder Boden.«
»Du bist ziemlich gemein. Mir wurde das Herz gebrochen«, stöhne ich wehleidig. »Einmal in der Mitte durch.«
»Warum habt ihr eigentlich Schluss gemacht?« Der Stuhl neben mir kratzt über den Boden und ächzt unter Ryans Gewicht, als er sich darauf plumpsen lässt.
»Sina hat mit seinem besten Freund geschlafen«, erklärt Luke hilfsbereit.
»Mann, ich wollte es von ihm hören«, beschwert Ryan sich und platziert einen sachten Boxhieb auf Lukes Schulter.
»Weil du mich leiden sehen willst?«
»Nein, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie dir den Kopf wäscht und du sie zurücknimmst. Mal wieder.« Ryan verdreht die Augen und sie verlieren für wenige Sekunden das belustigte Funkeln. Beinahe huscht so etwas wie Mitleid über seine Miene, wird aber doch davon überlagert, dass er und Luke noch verstimmt sind. Verständlicherweise.
Ich zeige ihm den Mittelfinger, doch er beugt sich bloß vor und küsst die Fingerkuppe. Genervt wende ich mich von ihm ab und zupfe an dem von Kondenswasser vollgesogenen Etikett der Flasche.
Seit Ryan mit fünf entschieden hat, Luke solle sein bester Freund sein, sind wir praktisch Familie. Mom und Dad bekamen einen weiteren Sohn und ich einen zweiten Bruder. Obwohl sein größtes Hobby das Provozieren anderer Menschen ist, liebe ich ihn.
»Apropos ›Du schläfst bald mit Ratten auf der Straße‹«, beginnt Ryan und dreht sich Luke zu. »Solltest du nicht längst im Auto sitzen und zum Airport fahren?«
Die leere Coladose landet klappernd auf der Tischplatte. Lukes Mund formt ein stummes ›Oh‹.
»Fuck«, flucht er und fischt in der Hosentasche nach seinem Handy. Hektisch tippt er den Code — Moms Geburtstag — ein und verzieht das Gesicht beim Anblick der Nachrichten.
»Der Flieger ist schon gelandet«, bemerkt er für sich selbst und schreibt eine Antwort, stoppt und tippt erneut.
»Moment mal. Airport? Ihr kennt sie nicht persönlich? Mein Zimmer gehört bald vielleicht einer Serienkillerin und in der mehrteiligen Netflix-Doku tauchen eure Fotos bei dem Bericht über ihre ersten Opfer auf!«
Luke wedelt bloß mit der Hand in meine Richtung und würdigt dem Einwand keine weitere Aufmerksamkeit.
»Sieh es mal so«, sagt Ryan und beißt von seinem Riegel ab. »Sollte es mit der Gesangskarriere nicht laufen, zahlen die Produzenten bestimmt suuuper viel für den Bruder von Opfer Nummer eins, damit er den Sprecher mimt.«
Diesmal wedele ich mit der Hand in die Richtung der nervigen Stimme.
»Luuuuuuuuke«, ziehe ich den Namen meines Bruders möglichst anklagend in die Länge.
Dessen Finger tanzen nach wie vor über den Bildschirm, halten inne und erstarren.
»Was willst du, Adam?«, fragt er genervt.
»Dass du eurer neuen Mitbewohnerin erklärst, ihr wollt euch erst kennenlernen und du sie unsympathisch findest. Schwups, schon habe ich mein Zimmer zurück.«
»Werd erwachsen, du Ochse. Außerdem haben wir sie kennengelernt. Sie erschien nicht wie die weibliche Version von Ted Bundy.«
»Ted Bundy wirkte auch unscheinbar, während er Frauen in sein Auto gelockt hat.« Ich fasse nicht, dass Luke mich für eine Wildfremde vor die Tür setzt.
»Adam, sie hat gerade einen Zwölfstundenflug hinter sich. Sie hat sich für die WG beworben und wir haben zugesagt. Ende deiner Leidensgeschichte.«
Wie ein trotziges Kleinkind kreuze ich die Arme vor der Brust. »Ich gehe nicht.«
Die dunklen Augen fixieren mich wütend.
»Schlaf auf der Couch«, presst er durch zusammengebissene Zähne. »Wir haben das Zimmer bereits für sie fertig gemacht.«
»Fertig gema– Halt!« Ich springe auf die Füße. »Ihr habt nicht meine Sachen verscherbelt, oder?«
Der klägliche Rest meines alten Lebens ist in Sinas Wohnung und die ist in New York und ich … Verdammt, ich bin so was von geliefert, sollten Ryan und Luke das tatsächlich durchziehen. Andererseits habe ich nach meinem Verhalten in den letzten Monaten vermutlich genau das verdient.
»Nur, um dich daran zu erinnern, dein Wortlaut war ungefähr folgender: Macht mit meinen Sachen, was ihr wollt, ich bin jetzt reich.«
»›Reich‹.« Ryan boxt mir kichernd in den Bauch. Ich schlage zurück und erwische lasch seinen Oberarm.
»Ryan, kannst du Evie abholen?«
Der hört auf, seinen Riegel zu essen, und starrt meinen Bruder stattdessen fassungslos an.
»Ernsthaft? Bei dem Verkehr bin ich mindestens eine Stunde unterwegs.«
»Warum holt ihr sie überhaupt ab? Ist das neuerdings ein Service der WG?«, frage ich und werde von beiden ignoriert.
»Biiiitte, als mein bester Freund –«
»Na … nee, nee, du spielst nicht die Wir-sind-beste-Freunde-Karte. Ich hatte Pläne für heute!«
Luke streckt seine Finger in die Höhe. Ein imaginäres Kartendeck in der Hand grinst er Ryan siegessicher an. »Sag mir ihren Namen, ohne auf dein Handy zu schauen, und ich stecke die Karte zurück.«
»Evie aus Dublin«, antwortet Ryan.
Evie. Wäre meine Verzweiflung nicht derart groß, hätte ich sicher mehr für den Namen übrig, der wie ein Echo in meinen Ohren nachhallt. Mit jeder sich wiederholenden Silbe fühle ich mich schlechter.
Ein abfälliges Schnauben von Luke reißt mich aus der verwirrenden Mischung aus Scham und dem verzweifelten Schmieden von Plänen. »Nicht den Namen von unserer neuen Mitbewohnerin. Ich meinte deine Verabredung für heute Abend. Sag mir, wie sie heißt, und du bist raus.«
Ryans Belustigung weicht Entgeisterung.
»Das kannst du nicht machen.«
»Name, Ryan.« Das Grinsen meines Bruders wird breiter.
Seit Jahren ist unser Freund ein Frauenheld mit dem Makel, sich keinen der Namen zu merken. Warum auch, wo es nie zu einem zweiten Treffen kommt? Seine Worte, nicht meine.
»Du bist ein Arsch«, grummelt Ryan, erhebt sich aber dennoch. »Aber du zahlst den Sprit und ich nehme deine Karre.«
»Danke, Schatz«, säuselt Luke.
»Schatz mich nicht. Du kannst mich mal!«
»Oder so«, gluckst er und wir sehen Ryan hinterher, der vom Türrahmen zu seinem Zimmer verschluckt wird.
»Wie wäre es hiermit? Ich bezahle ihr das Hotel für die nächsten Nächte, bis sie eine neue Bleibe gefunden hat«, starte ich meinen letzten Versuch.
»Bruderherz, du verspielst gerade deine Sofa-Option.«
Ich rolle mit den Augen. »Darf ich dich daran erinnern, dass du mir was schuldest?«
»Wofür?«
»Ähmm, für das Folge-deinen-Träumen-Gespräch, das mir den Todesstoß verpasst und mich direkt zurück in die WG geführt hat?«
»Himmel, Adam.« Luke schmeißt die leere Dose nach mir. »Du hast überlegt, ob du die Chance deines Lebens annehmen oder weiter in kleinen Bars singen solltest. Natürlich hab ich dich dazu animiert, deinem Traum von einer Musikkarriere zu folgen. Ich konnte ja nicht wissen, dass Sina es noch vor Reiseantritt versaut und dir alles wegnimmt, was ihr euch gemeinsam erarbeitet habt.«
Bei ihrem Namen schießen sofort wieder die ungewollten Bilder in meinen Kopf. Geknickt schüttele ich sie ab.
»Also stimmst du mir zu, dass du Schuld trägst?«
Luke stöhnt frustriert auf und marschiert an mir vorbei in das kleine Wohnzimmer, das an die Küche anschließt. Außer dem Sofa, das definitiv keine rückenfreundliche Schlafalternative ist, einem Fernseher und einem runden Holztisch findet hier kaum etwas Platz.
Rasch eile ich ihm hinterher, rutsche beinahe auf den getragenen Socken aus, die ihren Weg selten in den Wäschekorb finden, und verdränge die zig Augenpaare unserer jüngeren Versionen, die mich anklagend von der Wand aus beobachten. Die schief hängenden Bilderrahmen mit Fotos von uns dreien und Lukes und meinen Eltern bilden das einzige Element in der Wohnung, das als Deko durchgeht.
Da fällt mir ein … Ihnen muss ich meine neue Lebenssituation noch mitteilen. Mom wird mich zum Trost mit Kuchen mästen, und Dad wird mir vorschlagen, bei ihm in der Buchhandlung anzufangen.
»Ich lasse mir nicht die Schuld für deine fehlende Menschenkenntnis geben«, schnauzt Luke mich an. »Aber du willst dein Zimmer, bitte. Ich hoffe, es ist deine Farbe!«
Er kickt die Tür auf und entblößt ein grauenhaftes pinkes … Etwas.
»Ihr habt es gestrichen?!«, rufe ich entsetzt und wage kaum einen Schritt in den Raum.
»Ja.« Auf einmal verlegen zieht Luke mich herein und betrachtet sein Werk.
Angewidert verziehe ich das Gesicht.
»Pink! Ihr habt es pink gestrichen und was ist das für ein abstruses Monstrum!« Ich deute auf den rosa Fellteppich, der es früher niemals über die Schwelle der Haustür geschafft hätte.
»Die Verkäuferin meinte, der Teppich wäre aktuell der letzte Schrei«, verteidigt mein Bruder diese Hässlichkeit einer Fehlentscheidung.
»Er ist pink!« Ich drehe mich im Kreis und befürchte, in ein Barbie-Koma zu fallen.
»Altrosa«, korrigiert Luke mich und verschränkt die Arme vor der Brust.
Kopfschüttelnd spiegle ich seine Geste. »Macht es rückgängig.«
»Vergiss es. Es ist nicht mehr dein Zimmer. Es bleibt so. Ich finde es schön.«
»Das gefällt dir? Luke, es ist die rosa Version der Hölle.«
»Du kannst in der Vorhölle im Wohnzimmer schlafen.«
Resigniert gebe ich mich geschlagen und betrachte stumm die Verunstaltung.
»Pink«, wispere ich.
»Herzlichen Glückwunsch, es wird ein Mädchen. Falls wir in dieser Farben-sind-Geschlechtern-zuzuordnen-Thematik denken wollen.« Ryan schlüpft frisch parfümiert und frisiert durch die Tür und klopft mir auf die Schulter. Seine störrischen blonden Haare hat er mit einer Baseballcap gebändigt und bloß an den Schläfen kämpfen sie sich ins Freie.
»Meinetwegen. Wir teilen uns dein Zimmer, Luke.«
»Großer Bruder, ich hab dich wirklich lieb, aber ich werde mir nicht das Bett mit dir teilen und riskieren, dass Mom und Dad bald einen Sohn weniger haben.«
»Angst vor mir?«
»Angst um dich, würde es treffender beschreiben. Du weißt gar nicht, wie anstrengend du im wachen Zustand bist.«
»Okay«, sage ich und wende mich an Ryan, der sofort den Kopf schüttelt.
»Nein, Alter. Bei mir ist kein Platz für deinen hässlichen Hintern.«
»Gut«, murmele ich.
»Gut?«
»Ja.« Ich zucke mit den Schultern. »Bevor ich im Wohnzimmer schlafe, teile ich mir eben das Zimmer mit der Schottin.«
»Sie kommt aus Dublin.«
»Dann halt mit der Irin.«
Ryan stöhnt auf. »Das war übrigens mein Stichwort. Ich muss los.«
Luke wirft ihm seinen klimpernden Autoschlüssel zu und unser Bonusbruder verabschiedet sich mit einem knappen Winken.
»Du willst es dir teilen? Wie stellst du dir das vor?«
»Lass das mal meine Sache sein«, antworte ich und male mir insgeheim aus, wie ich der nervigste Zimmer-Mitbewohner werde, den die Welt je gesehen hat. Sie wird verschwinden und ich werde – nach einem neuen Farbanstrich – wieder allein wohnen.
Und dann mache ich all das wieder gut, was ich in den letzten Jahren aus den Augen verloren habe. Wenn das überhaupt noch möglich ist.
2. Kapitelevie
Es hat ganze dreiundzwanzig Jahre gedauert, bis ich Regen über einer anderen Stadt als Dublin sehe. Wassertropfen, die die roten Ahornblätter auf den Fahnen am Wegesrand durchnässen. Schwer schwingen sie zur Begrüßung im Wind.
Dreiundzwanzig Jahre bis zu meinem ersten Flug und einem unangenehmen Sitznachbarn, der es für eine grandiose Idee hielt, eine Packung Dörrfleisch zu öffnen und im Schneckentempo zu essen.
Dreiundzwanzig Jahre, bis ich herausgefunden habe, dass in Kanada nicht an jeder Ecke ein Elch auf mich wartet und Wasser ohne Kohlensäure überall gleich schlecht schmeckt.
Dreiundzwanzig Jahre, bis ich weiß, wie hektisch mein Herz schlagen kann, weil ich vergessen wurde.
Nervös fliegen meine Finger über die Tasten des Handys, bei dem der Großteil der Buchstaben vor Jahren herausgebrochen ist. Ja, ich bin glückliche Besitzerin eines uralten Tastenhandys.
Der einzige Vokal, der überlebt hat, ist das O, dafür klemmt die Taste leicht, weshalb Empfänger meiner Nachrichten nie wissen, ob es ein überraschtes, kurzes O oder ein fassungsloses, gedehntes Ooooo sein soll.
Die restlichen Vokale bilden ein reines Ratespiel. Man könnte meinen, ich wüsste mittlerweile, wo welcher Buchstabe liegt, allerdings hört meine Koordinationsfähigkeit bei einer schlichten Tastatur auf.
Nach einer halben Ewigkeit habe ich die Frage, bestehend aus vier Wörtern, fehlerfrei getippt und abgeschickt.
Hast du mich vergessen?
Zwischen der Fassade des Airports und der asphaltierten Straße direkt vor meiner Nase tänzele ich gegen die Kälte ankämpfend auf der Stelle und halte Ausschau nach meinem neuen Mitbewohner. Im stärker werdenden Regen, der auch alle unter dem Vorsprung erreicht, werden Koffer in Autos gewuchtet, Taxifahrer mit einem einfachen Handzeichen angehalten und im Hintergrund nimmt ein Zug an Fahrt auf und rattert über die Gleise.
Der Metallverschluss des Seesacks, in dem mein ganzes Leben steckt, klappert im salzigen Wind, der vom Meer zu mir getragen wird und um meine Nase streift. Stetig wie ein Metronom zählt er die verstreichenden Sekunden.
Der Bildschirm leuchtet unverändert. Nur der Riss, der ihn in der Mitte spaltet, erzeugt durch das helle Flimmern eine leichte Bewegung.
Anns Stimme klingt mir im Ohr, ich solle endlich ein neues kaufen oder wenigstens ihr altes nehmen. Wie es aussieht, hätte ich ihrem Vorschlag nachkommen sollen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Regen ins System eindringt und die ganze aus Drähten bestehende Technik flutet, ist hoch. Es wird versagen, wenn ich es am meisten brauche. Ein Mörder wird meine missliche Lage erkennen und ausnutzen.
Ende der Geschichte.
Evie Murtaugh, dreiundzwanzig, tot durch ihre Starrköpfigkeit und unzählige tiefe Messerstiche.
Das war’s.
Den Blick unscharf über die Menge gleitend nehme ich bloß noch bunte Flecken wahr, die geschäftig an mir vorüberziehen. In dieser Masse an Menschen, die alle ein gewisses Ziel haben, fühle ich mich verloren.
Natürlich habe auch ich ein Ziel, aber ich bin maximal abhängig von diesem, dass es mich aus einer der größten Städte Kanadas abholen wird. Die ich mir aufregender vorgestellt habe, als ich vor einem Monat das Flugticket nach Vancouver buchte. Besser irgendwie. Auf jeden Fall weniger grau, hektisch und nass.
Ich trete einen Schritt unter dem Dach hervor und lege den Kopf in den Nacken. Statt der sanften Tropfen, die ich vorher vom Display gewischt habe, peitscht der Schauer nun mit seiner gesamten Kraft in mein Gesicht, frisst sich durch die dünnen Stofflagen. Einige Atemzüge lange rede ich mir ein, der Regen käme einer Massage gleich. Fehlanzeige.
Bis auf die schlackernden Ahornfahnen, die mittlerweile vom Wind in alle Richtungen geschleudert werden, gibt es keinen Hinweis darauf, wie weit ich von zu Hause entfernt bin.
Seufzend blicke ich auf den Bildschirm, auf dem drei Punkte leuchten, innehalten und wieder aufleuchten.
Sie haben mich vergessen.
Sie haben mich echt vergessen.
Dabei war es ihr Vorschlag, Taxi zu spielen.
Mein Magen zieht sich bei dem Gedanken zusammen, dass vor zwanzig Stunden nicht mal das überteuerte Sandwich in Dublin drin war und ich mir jetzt anscheinend ein Taxi leisten muss.
Weil mein Magen schon immer ein lauter Verräter war und im unpassendsten Moment knurrte, hat Ann es mir aufgezwungen. ›Als letzten Freundschaftsdienst in Irland‹, meinte sie. Und weil sie schon immer darauf pochte, sich um meine Gesundheit zu kümmern. Mit leerem Magen auf den Flug zu warten, passte nicht in ihr Konzept.
Ann.
Der einzige Mensch, der geblieben ist. Hätte sie mir bei unserem ersten Zusammenstoß nicht unsere Freundschaft prophezeit, fände mein Leben nach wie vor auf der Straße statt. In den dunkelsten Momenten war sie da und hat mir das erste Mal die Angst davor genommen, jemandem echtes Vertrauen zu schenken. Unumstößliche Freundschaft und wahre Loyalität, und das egal, was der andere verbockt hat oder gerade durchsteht. Fünfzehn Stunden getrennt von ihr und ich vermisse sie bereits.
Genervt mustere ich weiterhin die Punkte meines Gesprächspartners, der sich mit seiner Antwort ziemlich lange Zeit lässt. Und das bei der simplen Frage, ob er mich vergessen hat.
Je stärker der Regen auf die Erde prasselt und je dunkler der Himmel sich färbt, umso mehr sinkt mein Mut, was dieses Abenteuer betrifft.
Gedanklich schweife ich zu dem Abend vor drei Monaten ab, der den Startschuss für diese Reise gegeben hat. Der mich dazu veranlasste, mein Leben in Irland ein- und auf einem anderen Kontinent auszupacken.
Ich stand in meinem überfüllten Lieblingspub im Herzen Dublins. Die alte Gitarre, die ich vor fünf Jahren für ein paar Euro auf einem Flohmarkt direkt vor der Haustür erstanden habe, um die Schulter geschlungen. Obwohl … Haustür würde bedeuten, ich hätte in einem richtigen Haus gewohnt. Trotzdem klingt der Satz so besser. Solange ich nicht >Autotür< sage. Wer gibt schon freiwillig zu, mit stehlenden Ratten in einer rostenden Metallkiste gelebt zu haben?
Eben.
Niemand.
Erinnerungen an laute Gespräche, noch lautere Livemusik, Rauch durchbrochen von dem Geruch nach dem besten Stout, das unser Land zu bieten hat, ziehen an mir vorüber. An das Gefühl der dünnen Saiten, die bei jeder Berührung nachgaben und die schönsten irischen Lieder erzeugten, unter meinen Fingerspitzen.
Jahrelang war es mein Job, mich zwischen den Notenschlüsseln zu bewegen. Zu spielen, bis alles wehtat, mir schwindelig wurde und ich gemeinsam mit den Leuten im Pub vergessen konnte, welche Probleme wir alle auf unseren Schultern umherschleppten.
Es erfüllte mich und trotzdem schwirrte die gesamte Zeit über diese Frage in meinem Kopf, ob es das jetzt schon war. Ob ich mit dreiundzwanzig Jahren das Limit meiner Lebensziele erreicht habe und nichts mehr auf mich wartet, was ich an Silvester auf meine Liste schreiben könnte. Dann spazierte diese Frau in ihrem feinen Anzug und auf verboten hohen Absätzen herein, die Finger mit rot manikürten Nägeln um einen Stapel glänzender Broschüren geschlossen.
Zwei irische Lieder später unterbreitete sie mir ein Angebot. Eine professionelle Ausbildung an einer Musikhochschule … Ann ist ausgeflippt, als ich ihr davon erzählt habe. Sie war auch diejenige, die per Mail zusagte, weil ich damit beschäftigt war, den Schwanz einzuziehen und mich an den bereits erreichten Zielen festzuhalten. Mich weiter in den dunklen Schatten, in denen ich in den meisten Fällen übersehen wurde, zu verstecken.
Ich schnaube. Die Punkte hüpfen, stoppen und hüpfen weiter.
Ungeduldig verlagere ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Unter den Regen mischt sich … Hagel. Echt jetzt?
Die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, dränge ich mich weiter an die Fassade.
Ich: Ich wurde vergessen …
Ann: Hast du an die Zeitverschiebung gedacht, als du ihnen deine Landezeit geschrieben hast?
Ich: Da du mich mehrmals daran erinnert hast UND die Landezeit schon korrekt auf dem Ticket steht: Ja! Ein Taxi kann ich mir nicht leisten. Die Wohnung ist knapp eine Stunde entfernt …
Darüber, in der kurzen Zeit ein WG-Zimmer zu ergattern, das mein preisliches Limit nur minimal übersteigt und zudem in Uninähe liegt, war ich schon heilfroh. Dass mein zukünftiger Mitbewohner mich außerdem vom Flughafen abholen wollte, war der Jackpot.
Na ja, bis ich in einer unangenehmen Mischung aus Regen und Hagel stehe und auf ihn warte. Oder eine Antwort von ihm.
Mein Handy klingelt und ich schäme mich für die Enttäuschung, die mich durchrauscht, kaum erkenne ich Anns dunkle Locken über dem grünen Telefonsymbol.
»Evie, ruf ihn an«, höre ich sie abgehackt zwischen Verkehrslärm und Gesprächsfetzen. »Er kann dich nicht einfach in der Pampa stehen lassen. Bromaire!«
»Ich glaube nicht, dass sich das hier als Pampa bezeichnen lässt«, entgegne ich und lächle über die gälische Beleidigung. Wen auch immer sie als Furzer beschimpft hat, er hat es wahrscheinlich verdient.
»Mir egal. Trotzdem kann er dich nicht stehen lassen, ohne ein Wort zu sagen!« Wieder brüllt sie und ich halte das Handy zum Wohle meines Trommelfells ein gutes Stück von meinem Ohr entfernt. »Aus welchen Löchern sind diese ganzen Ärsche heute gekrochen?«, flucht sie.
»Wo willst du hin?«
»Bin mit Dad im Joey’s verabredet. Ich glaube, er will mir den Geldhahn zudrehen.«
»Du meinst die fünfzig Euro, die er dir monatlich zusteckt und die weit unter dem Muss an Unterhalt liegen? Diesen Geldhahn?«
Im direkten Vergleich zu Anns Dad kann ich quasi froh sein, keine Eltern mehr zu haben. Obwohl … streicht das >mehr<.
Die vierundzwanzig Stunden, bevor sie mich auf den Stufen des Waisenhauses zurückließen, sind kaum ein adäquater Zeitraum, der die Behauptung rechtfertigt, Eltern gehabt zu haben.
Tja, ich habe keine Eltern, die mir einen Geldhahn zudrehen könnten. Ich habe keine Eltern und kein Geld.
»Ja«, stöhnt sie. »Warum sagt er mir nicht, dass er seine Kohle lieber in seine neue Freundin investiert, die übrigens genauso alt ist wie ich.«
»Ihh.«
»Ja! Ihhh …« Ein Hupen, gefolgt von einer Beleidigung. Diesmal auf Italienisch. »›Stronzo‹!«
In mich hinein lachend nutze ich den kurzen Moment, in dem Ann sich aufregt, und schaue nach, ob ich eine Antwort von meinem Mitbewohner habe. Nö. Nichts.
»Okay, Evie. Bitte, bitte erzähl mir was Lustiges, damit ich mir ein fast echtes Lächeln ins Gesicht kleistern kann«, fleht sie. Den Dackelblick sehe ich gestochen scharf vor mir.
»Was fändest du lustiger?«, frage ich. »Die Geschichte vom Flug, in der meine beiden Sitznachbarn für eine geraume Zeit in der Toilettenkabine verschwunden sind und ich anschließend in einer Sex-Geruchswolke gesessen habe, die netterweise die Dörrfleischwolke abgelöst hat? Oder die mit dem Regen, der begonnen hat, kaum habe ich meine Jacke verschenkt?«
»Du hattest nur eine dabei«, erinnert Ann mich trocken an mein Kleiderdilemma.
Weil ich bloß eine besitze …
Ich linse um die Ecke, in der der Junge mit meiner Jacke sitzt. Er ist so dünn, dass sie ihm viel zu groß ist.
»Er kann sie dringender gebrauchen«, flüstere ich.
»Ich habe dich lieb, Maus«, seufzt Ann. »Aber ab und an darfst du dich an die erste Stelle setzen. Beispielsweise, wenn du mit lediglich einer Jacke in ein Unwetter auswanderst.«
»Er sieht so jung aus, Ann. Höchstens fünfzehn«, halte ich dagegen. »Ich konnte nicht anders.«
Bilder von früher steigen auf. Von der Zeit vor Ann. Vor einer richtigen Wohnung. Die Tage, die zu Wochen flossen und irgendwann Monate zählten. Tage und Nächte, in denen die Kälte hartnäckig in jede Zelle meines Körpers vorgedrungen ist und mich mit steifen Gelenken und Hoffnungslosigkeit zurückließ.
»Ich weiß«, antwortet sie mit weicher Stimme. »Hast du noch Geld?«
»Ich habe ihm ein bisschen davon gegeben«, gestehe ich kleinlaut.
»Evie …«
»Ihm ist meine Jacke zu groß. Meine …«, sage ich verzweifelt. »Er ist zu dünn und viel zu jung für die Straße. Keiner von den reichen Snobs hat ihm einen einzigen Blick geschenkt, geschweige denn ein paar Dollar oder etwas zu essen. Ich musste es tun. E-es wird Winter und ich … Ich erinnere mich daran, wie kalt es wird.«
»Deswegen bist du mein Lieblingsmensch«, erwidert Ann. Der Verkehrslärm ebbt weiter ab. »Ich werde dir einen Teil von meinem Lohn überweisen.«
»Wage es ja nicht.«
»Und wie ich es wage. Du kannst es mir zurückzahlen, sobald dein Konto wieder Lebensfreude ausstrahlt.«
Das Thema Geld ist für mich schwierig. Ich hatte nie welches und wollte es ausschließlich, solange ich es mir selbst verdiene.
»Konnte ich dir weiterhelfen?«, wechsele ich das Thema. »Oder muss ich dir noch mal erzählen, wie ich aus dem Fenster meines Ex klettern wollte, stecken geblieben bin und auf die Feuerwehr warten musste, die ganze zwei Stunden gebraucht hat? Zwei Stunden, in denen mein Ex wach geworden ist und ein Foto von meinem Hintern auf Instagram gepostet hat?«
»Danke für die Erinnerung an dieses Desaster! Ich werde mir sofort die Bilder anschauen, die ich damals selbst noch gemacht habe.« Im Stillen danke ich Ann, dass sie auf meinen Ablenkungsversuch eingeht.
»Statt mir zu helfen«, gebe ich zu bedenken.
»Ich bin nicht bei der Feuerwehr.«
»Klar, und das Video musste natürlich auch sein.«
»Ja, weil man da deine Verzweiflung besser sieht als auf den Bildern.«
»Ich hasse dich.«
»Du liebst mich«, widerspricht Ann.
Ich rolle mit den Augen. »Ja, das tue ich. Jetzt sag deinem Dad, er soll von den fünfzig Euro eine Handtasche für seine Neue kaufen.«
»Aye, aye und du rufst deinen Fahrer an, damit er dich aus der Pampa holt.«
Kaum gibt der rote Telefonhörer unter meinem Daumen nach, schleicht sich Heimweh in mein Herz. Es klammert sich fest und lässt die Stimmen, die unablässig brüllen, welch grandiosen Fehler ich mit diesem Abenteuer begehe, lauter werden.
Ein Passagier nach dem anderen zieht mit einem Rollkoffer an mir vorbei, um in die Trockenheit der gelben Taxis, die sich umgeben von Abgasen vor mir stauen, zu gelangen.
Gerade checke ich meinen Kontostand – knapp über dem Minus – da stoppt ein alter Jeep mit quietschenden Reifen in zweiter Reihe. Aus dem Inneren dröhnt lauter Rap und ich lächele über die Frau in einem grünen Anzug, die den Kerl, der aus dem Auto springt, verstört mustert. Ihr Weltbild wurde offensichtlich zerschlagen. Schnell bringt sie Abstand zwischen sich und die Musik und ich senke den Blick erneut auf mein Handy.
»Ist hier eine Evie?«, ruft der Kerl. Laut.
Ein blonder Riese mit gepiercter Lippe und Baseballcap balanciert auf Zehenspitzen, ignoriert das hupende Taxi hinter sich und sucht den Eingang zum Airport ab.
Ryan.
Ich erkenne ihn von dem Bewerbungsgespräch für das WG-Zimmer, wobei er während des Zoom-Meetings weniger groß und definitiv weniger einschüchternd gewirkt hat. Um genau zu sein, hat er einmal kurz in die Kamera geschaut, sich vorgestellt und ist dann mit einer Tiefkühlpizza verschwunden.
Dass er mich nicht erkennt, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit an Anns Abschiedsgeschenk. Die dunkelbraunen Haare sind auf Schulterlänge geschrumpft und rote Strähnen ziehen sich stellenweise bis zum Ansatz.
Mit zusammengekniffenen Augen halte ich nach dem zweiten Mitbewohner Ausschau. Aber hinter den Scheiben warten leere Sitze. Was seltsam ist, immerhin wollte Luke mich abholen.
Der Riese zieht genervt sein Handy aus der hinteren Hosentasche und hält es sich ans Ohr.
»Scheiße, Luke. Hier ist niemand. Hast du ihr gesagt, wo sie warten soll? … Ich weiß, dass du Stress hast … ja … Nerv mich nicht, ich tue dir gerade einen Gefallen, du Pisser! Bis nachher und sag deinem verdammten Bruder, er soll seine Griffel von meinem Abendessen lassen!« Damit legt er auf und lässt seinen Blick erneut wandern, ehe er seine Hände wie einen Trichter an den Mund hält.
»Eeeeeeeeevieeeeeeee?«, brüllt er und ich zucke zusammen. Genau wie der ältere Herr, der neben mir ebenfalls Schutz vor dem kühlen Nass sucht.
Zaghaft hebe ich meine Hand und winke. »Hier.« Meine Stimme klingt kratzig und ich bin viel zu leise, um das Hupen der Autos zu übertönen.
Er übersieht mich und setzt zu einem neuen Brüllen an.
»Eeeeeeeeevieeeeeeee?«
»Himmel, Kindchen«, sagt der Mann neben mir und verpasst meiner Schulter einen Stups, der mich ins Straucheln bringt. »Das Gebrüll ist nicht zum Aushalten.« Bevor es richtig peinlich wird, fange ich mich wieder und funkele ihn wütend an.
»Evie?« Ryan kommt mit langen Schritten auf mich zu und mustert mich nachdenklich aus seinen blauen Augen. »Sorry, habe dich nicht erkannt. Schöne Haare.« Verlegen kratzt er sich am Hinterkopf. »Ist das dein ganzer Scheiß?« Er zeigt auf den jämmerlich kleinen Seesack.
»Ja, das ist mein ganzer Scheiß.« Ich mache Anstalten, mich zu bücken, aber Ryan ist schneller und hebt ihn vom Boden auf.
»Sorry, wir haben zu Hause … ähm … ein kleines Problem und ich konnte nicht eher losfahren. Musstest du lange warten?«
Er bedeutet mir, zu folgen, und mit wackeligen Knien komme ich der stummen Bitte nach.
»Nicht lange«, lüge ich und verbeiße mir den Hinweis auf den Regen, den Hagel, die fehlende Jacke und die eineinhalb Stunden, in denen ich mir ausgemalt habe, wie meine Traueranzeige aussehen würde.
»Wie war der Flug?«, erkundigt er sich weiter und hält mir die Tür auf. Ich schenke ihm ein scheues Lächeln, ziehe den Kopf ein und klettere auf den Beifahrersitz.
Eine Heizung! Bitte lieber Autogott, lass es eine Sitzheizung mit mindestens drei Stufen geben.
Ryan schmeißt mein kümmerliches Gepäck auf die Rückbank und schwingt sich hinters Steuer. Netterweise dreht er die Musik runter.
»Kalt?«, fragt er und begutachtet schamlos mein durchnässtes Outfit. »Hast du keine Jacke dabei?«
»Habe sie verloren«, behaupte ich.
Ich werde ihm nicht sagen, dass ich sie einem obdachlosen Jugendlichen gegeben habe. Wer will seinen Mitbewohner denn gleich am ersten Tag als Vollpfosten abstempeln, weil er möglicherweise das Gesicht verzieht bei dem Gedanken an Menschen, die es nicht so leicht haben?
»Hmm.« Er quetscht seinen Oberkörper zwischen den Sitzen hindurch.
»Müsste frisch sein.« Ein rot-blau kariertes Hemd taucht in meinem Sichtfeld auf und landet in meinem Schoß.
»Danke.« Ich vergrabe die Finger in dem weichen Stoff. Zitternd streife ich es über.
»Nichts zu danken, glaub mir.« Leise lachend startet er den Motor. »Das ist das Mindeste für das Chaos, in das du hineinschlitterst.«
3. Kapitelevie
Das unruhige Meer verschmilzt im Rückspiegel mit dem Wolkenbruch, während wir uns an den hupenden Taxis vorbei zum Highway schlängeln.
Ich konzentriere mich auf die Umgebung außerhalb der Straße und versuche, dem Rechtsverkehr keine sonderlich große Beachtung zu schenken. Sonst erleide ich einen Herzinfarkt. Es fühlt sich falsch an, auf der rechten Seite zu sitzen und kein Steuer vor sich zu haben.
Abgeschirmt von der beschlagenen Scheibe zieht eine Landschaft an uns vorüber, deren Grünfarben von einem gräulichen Schleier umgeben sind. Kanadas Natur versinkt in einem Unwetter und erinnert mich mit jedem Meter, den wir zurücklegen, mehr an Irland. An den Rand Dublins inmitten eines Herbstschauers. Vielleicht wegen der Menschen in ihren gelben Regenjacken, die von der Straße in die Häuser getrieben werden und eine idyllische Einöde zurücklassen.
Gierig sauge ich die Luft, die trotz der aufgedrehten Heizung nach Regen riecht, in meine Lungen.
»Was führt dich nach Nightwood?«, fragt Ryan, kramt eine Packung Gummibärchen aus der Mittelkonsole und wirft sie mir in den Schoß. Unsicher öffne ich die Plastiktüte und reiche sie ihm. Ist es in Ordnung, wenn ich mir eins nehme?
»Studium«, beantworte ich seine Frage. »Ich habe überraschend ein Stipendium erhalten.«
»Cool, was studierst du?« Die Tüte knistert, als er sich eine weitere Handvoll herausfischt und in den Mund schmeißt.
»Musik.« Ich räuspere mich, halte die Packung verkrampft zwischen den Fingern. Small Talk und ich waren noch nie die besten Freunde. Eher entfernte Bekannte. Ich war nie begabt darin, neue Menschen kennenzulernen und einen guten Eindruck bei ihnen zu hinterlassen. Irgendeinen Eindruck zu hinterlassen. Doch hier, auf dem Weg zu meinem neuen Ziel, will ich einen Eindruck hinterlassen. Ich will von ihnen gemocht werden, obwohl ich mehr als einen Ratgeber gelesen habe, dass wir nicht von jedem gemocht werden müssen, um eine Daseinsberechtigung zu haben. »Mit Schwerpunkt auf Musical«, füge ich deshalb hinzu.
Keine Ahnung, was ich mir bei meiner Studienwahl gedacht habe. Nicht viel, schließlich habe ich bisher nie auf einer Bühne gestanden und geschauspielert. Aber ein reines Musikstudium? Dafür fehlt mir das Können. Ich singe und ich spiele Gitarre. Ein zweites Instrument stand nie zur Diskussion. Wie auch? Es hätte mit dem Gesang und meinem Leben im Auto vereinbar sein müssen. Dazu der Makel, keine Noten lesen zu können. Meine ersten Versuche auf der Gitarre wurden von Videos auf meinem gesplitterten Handy-Display begleitet. Dutzende qualitativ unterirdische YouTube-Videos später kannte ich die grundlegenden Griffe und fand mich mehr schlecht als recht zwischen den Notenschlüsseln zurecht.
»Musical? Du bist eine kleine Sängerin?«
Bei dem Wort ›klein‹ verziehe ich den Mund. Klein ist selten ein positiv behafteter Begriff. Nicht in meiner Welt. ›Kleines Mäuschen‹ bedeutet, unbedeutend, schwach und unscheinbar zu sein. Ich will nichts davon sein.
»Sorry, meinte ich nicht so«, entschuldigt sich Ryan, kaum bemerkt er meinen Gesichtsausdruck. »Manchmal rutschen mir die Worte raus, ehe ich drüber nachdenken konnte.«
»Kein Problem«, erwidere ich und schenke ihm ein Lächeln. »Was machst du?«
»Sport und Geschichte.« Er hebt die Schultern. »Will Lehrer werden.«
Lehrer? Unauffällig linse ich zu ihm. Einen Lehrer mit Piercings und vermeintlich lockerer Art hätte ich mir früher selbst gewünscht. Stattdessen habe ich meinen Abschluss auf einer streng katholischen Schule genießen müssen, in der ein Rock, der oberhalb der Knie endete, einer Todsünde glich. Einer Todsünde, wegen der ich Dutzende Male die Hausordnung handschriftlich bei der Schulleiterin einreichen musste.
»Kann ich mir gut vorstellen.«
Überrascht nickt er und wird sogar leicht rot.
›Das hört er nicht oft‹, denke ich mir und notiere mir geistig, ihm das häufiger zu sagen. Albern, einen Menschen aufbauen zu wollen, den man seit zehn Meilen kennt.
»Danke«, erwidert er. »Was gibt es sonst über dich zu wissen, Evie? Willst du uns umbringen und unsere Organe auf dem Schwarzmarkt verkaufen oder haben wir eine realistische Chance, unseren Abschluss zu machen?«
»Mir sind Morde zu anstrengend«, entgegne ich. »Das ganze Blut und so. Außerdem sitzt meine Komplizin in Dublin und ohne sie funktioniert mein blutrünstiges Gehirn nicht.«
Er lacht leise und greift erneut nach den Süßigkeiten. »Gut zu wissen. Wie heißt deine Komplizin? Nur für den Fall, dass sie zu Besuch kommt und ich die Jungs vorwarnen muss.«
»Ann. Und sie ist die Grausamere von uns beiden.«
Mein Lächeln versiegt bei dem Gedanken an meine beste Freundin, der von ihrem Dad vermutlich gerade das Herz gebrochen wird. Die Mundwinkel sinken herab und auf einmal sind meine Gefühle ebenso trüb wie das Willkommenskomitee des kanadischen Wettergottes.
Ich bin nicht da, um sie aufzumuntern oder anhand ihrer Bewegungen oder der Auswahl der Playlist zu erkennen, was in ihr vorgeht. Ab sofort muss ich mich darauf verlassen, dass sie mir ehrlich erzählt, was los ist. Und ich kann nur hoffen, über die Distanz als Freundin nicht zu versagen. Die Schulter zum Anlehnen bieten, obwohl Wassermassen uns trennen.
»Die Grausamere? Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen«, sagt Ryan und holt mich zurück aus meinen wehleidigen Gedanken. »Was hast du bisher gemacht?«
Ich kontrolliere meine Gesichtszüge. Das Prozedere ist mir bekannt. Nicht nur in Bewerbungsgesprächen wird die Frage nach dem bisherigen Werdegang auf den Tisch gebracht.
Man lernt neue Leute kennen und ihnen reicht es nicht, zu wissen, wie man aktuell sein Leben gestaltet. Sie bohren in der Vergangenheit und fragen, ob ich mir den Lebensunterhalt mit Auftritten in versifften Pubs durch meine steinreichen Eltern leisten kann. Unterschwellig könnte ich das privilegierte Mädchen sein, das sich eine rebellische Phase mit reiner Faulheit erlaubt. Woher sollen sie auch wissen, dass ich mir in den meisten Monaten nicht mal die Miete verdienen konnte und immer wieder auf der Straße landete?
»Ich habe in Dublin in einem Pub gesungen«, erkläre ich deswegen ausweichend.
»Allein oder in einer Band?«
»Meistens allein«, erkläre ich. Froh, nicht gefragt zu werden, was ich außerdem gemacht habe. »Manchmal haben sich Chöre angeschlossen und ab und an andere Musiker.«
»Cool.« Er nickt … anerkennend? »Spielst du ein Instrument?«
»Gitarre.«
»Warum hast du sie nicht dabei?«
Ich lache leise. »Sie hätte den Flug niemals überlebt. Sie war ziemlich günstig und hatte ihre besten Zeiten lange hinter sich, bevor sie bei mir eingezogen ist. Ich muss mir wohl eine neue zulegen.« Sobald ich mir eine Jacke und die Unterrichtsmaterialien gekauft habe.
»Bis dahin kannst du dir bestimmt eine von Luke ausleihen.«
»Eine? Er hat mehrere?«
Ryan schmunzelt. »Er studiert Musik und seine Eltern schenken ihm jedes Jahr zum Geburtstag eine Gitarre. Luke kann dir auf alle Fälle eine ausleihen. Und Adam vermutlich auch, sollte sein Ego-Hintern dir eine anvertrauen.«
Verwirrt runzle ich die Stirn. »Adam?«
»Oh … ähm«, druckst Ryan herum und ist plötzlich sehr auf die gerade Straße konzentriert. »Wirst ihn kennenlernen.«
Damit ist das Gespräch beendet.
Mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend wende ich mich wieder der Natur Kanadas zu. Den Holzhütten, die zwischen Nebelschwaden und Nadelbäumen stehen und Idylle schreien.
Die getrübten Farben meines neuen Zuhauses lullen mich ein, bis der Schlaf schwer auf die Knochen drückt und ich einnicke.
»Tu mir den Gefallen und hau nicht sofort wieder ab, wenn du oben bist«, bittet Ryan mich, kaum berühren die Sohlen meiner Boots den feuchten Asphalt.
»Ist die Wohnung so schlimm?«, frage ich unsicher und linse an ihm vorbei die Fassade hinauf.
Eng aneinandergedrängt stützen die Häuser sich gegenseitig. Hier und da blättert der Putz ab, schiefe Fensterläden klappern im Wind und die Tür zu dem Gebäude vor uns sieht auch nicht vertrauenserweckend aus.
Ryan wirft sich meinen Seesack über. »Die Wohnung ist nicht das Beste vom Besten, aber sie ist vollkommen in Ordnung.«
»Was dann? Seid ihr schlechte Mitbewohner? Oder seid ihr Serienkiller?«, flüstere ich und schließe die Autotür. »Wie gesagt, ich kann euch bei den Leichen nicht helfen. Ich kann kein Blut sehen. Da müssten wir auf Ann warten. Und für spätere Dokumentationen über euch schreibt sie sicherlich gern die Texte.«
Mein neuer Mitbewohner schnaubt belustigt. »Vielleicht passt es doch.«
Es?
Ich will nachfragen, was er meint, da ist er bereits auf dem Weg zur aus den Angeln geratenen Holztür.
Ist es seltsam, sich bei diesem Anblick zu freuen? Weil es sich besser anfühlt, in einer Wohnung mit kaputter Haustür zu leben, die mich an zu Hause erinnert? An die kleine Wohnung, die ich mir mit Ann teilte und deren Miete wir häufig zu spät bezahlten und trotzdem nie rausgeflogen sind. Weil, tja, keiner sonst hätte sich auf die zwei Zimmer unterm Dach beworben, und wie es aussieht, hat mein siebter Sinn bei der Suche nach einer neuen Bleibe erneut zugeschlagen.
Ann würde mich auslachen, weil mir im Hausflur Glücksgefühle durch die Venen rasen.
Abgeblätterte Wandfarbe, durchgetretene Holzdielen, von Etage zu Etage abgenutzter. Spätestens beim kaputten Geländer im dritten Stock kann ich mir das Grinsen nicht mehr verkneifen.
Beschwingten Schrittes folge ich Ryan die zwei weiteren Stockwerke hinauf und ignoriere den beißenden Geruch, der sich unter die Mischung aus Regen und verbrauchter Luft mischt.
»Riechst du das?« Ryan hält abrupt inne. Die Nase in die Luft gestreckt, wie ein Hund, der eine Spur aufnimmt.
Ich luge an ihm vorbei und bleibe an der Fußmatte hängen, auf der drei Namen stehen.
Luke, Ryan und Ad-
»Meinst du den modrigen Geruch? Das macht mir nichts aus, ehrlich«, beteuere ich.
»Meine Pizza.« Er stößt die Tür auf.
Mir bleibt kaum Zeit, mein neues Zuhause genauer zu mustern. Ryan gönnt mir einen knappen Blick auf die Dachschrägen und die darin eingelassenen Fenster, ehe er mein Handgelenk umgreift und hinter sich her schleift.
Vorbei an der offenen Küche, dem anschließenden Wohnzimmer und der Wand voller Fotos. Eine Sekunde lang zieht mein Magen sich beim Anblick der lächelnden Gesichter inmitten der schwarzen Rahmen zusammen. Dann stolpere ich in einen dunklen Flur und im nächsten Moment in einen hell erleuchteten Raum.
»Du kleines Sackgesicht!« Blitzschnell stürzt Ryan sich aufs Bett. Ein Knäuel aus blonden und fast schwarzen Haaren vor pinkem Hintergrund entsteht. Die besagte Pizza landet auf dem Boden. Glücklicherweise mit der richtigen Seite nach oben.
»Lass das, Ryan«, stöhnt der andere Kerl. »Das ist nur ‘ne Pizza.«
»Meine Pizza«, keucht Ryan und klemmt den Kopf seines Gegners zwischen Ober- und Unterarm.
»Du hast doch jetzt jemanden, der für dich kocht«, entgegnet der andere unbeeindruckt. Seine tätowierten Finger legen sich um Ryans Unterarm und rütteln erfolglos an den beachtlichen Muskeln.
»Ernsthaft, Adam? Nur weil du plötzlich keine Freundin mehr hast, der du die Rosette pudern musst, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass du wie ein sexistischer Horst durch die Gegend stolzieren sollst.«
Adam.
Braune Augen finden meine, und für den Bruchteil einer Sekunde verliert er seine flapsige Art und wirkt ehrlich überrascht.
Die Lippen verziehen sich zu einem Grinsen und Belustigung breitet sich übers ganze Gesicht aus. Er hebt das Kinn und gibt mir freie Sicht auf die schwarze Tinte, die unter dem schwarzen T-Shirt hervorkriecht. Ich kneife die Augen zusammen. Ein gespreizter Flügel bedeckt seinen Kehlkopf und breitet sich bis zum Kiefer aus.
»Du musst meine neue Zimmer-Mitbewohnerin sein«, presst er hervor, als der Griff um seinen Hals verstärkt und damit der Großteil des Tattoos verdeckt wird.
»Zimmer-Mitbewohnerin?«
»Adam. Freut mich, dein Bett zu teilen.«
»Evie.« Dann, Stück für Stück, setzen meine Synapsen die Worte zusammen.
»Keine Angst, er pennt auf dem Sofa«, keucht Ryan und verstärkt den Schwitzkasten nochmals.
»Ryan, Luft!«
»Adam, Pizza!«
»Du Pis-«
»Hört auf, ihr Deppen!« Lukes Stimme, so schneidend sie im Moment auch klingt, erkenne ich nach dem einzigen Video-Call sofort. Selbst jetzt, wo die Ruhe und die Sanftheit fehlen, schwingt eine Wärme in ihr mit, die meine Muskeln von der Anspannung befreit.
Automatisch trete ich zur Seite und lasse den letzten Mitbewohner herein.
Die Arme vor der Brust gekreuzt betrachtet er Ryan, der Adam nach wie vor festhält. Unterschiedliche Rotnuancen setzen dessen Gesicht in Brand.
So ähnlich, wie sie sich sehen, sind es mindestens Cousins.
»Echt jetzt? Adam, ich habe gesagt, du sollst dich benehmen«, ruft Luke und befreit ihn aus dem Klammergriff. Adam greift sich mit der Hand an den Hals und atmet angestrengt. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, sich zur Seite zu lehnen und ein weiteres Stück Pizza zu stibitzen.
Ryan verfolgt jede seiner Bewegungen. Seine Rückenmuskulatur spannt sich an und er macht einen Schritt vor, um sich erneut auf Adam zu stürzen. »Ich bring dich –«
»Wo hast du Evie gelassen?«, geht Luke dazwischen. »Wartet sie etwa im Auto? Ist sie weg? O nein. Hast du ihr von Adam erzählt und sie hat es sich anders überlegt? Oder ist euch die Ratte begegnet, die neuerdings um den Block streift? Ich bin mir sicher, dass sie letzte Woche den Hund von Mr. Barns verjagt hat.«
Ich räuspere mich und warte, bis Luke mich in der Ecke entdeckt. Vorsichtig winke ich ihm zu.
»Hi«, sage ich. »Ich bin Evie und ich werde nicht das Bett mit ihm teilen.«
»Du …« Er lacht auf. Langsam dreht er sich zu Adam. Das Gesicht eine Mischung aus Unglaube und Zorn. »Du hast ihr gesagt, dass sie das Bett mit dir ›teilen‹ muss? Bist du nicht mehr ganz dicht?«, zischt er.
Adam grinst und wackelt mit den Augenbrauen. »Ihr wolltet ja nicht.«
»Evie, es tut mir leid. Bitte hau nicht ab, wir sind eigentlich ganz normal.«
Luke breitet den Arm aus und schirmt mich ab, wohl bedacht, mich nicht ungefragt zu berühren, und deutet mit dem Kinn zum Flur.
Einen einzigen wackeligen Schritt weg von dem Chaos hinter mir schaffe ich, ehe Adam vor meine Füße springt.
»Sie sind nicht normal. Der da«, er deutet auf Ryan, »schläft mit übermäßig vielen Frauen. Stell dich darauf ein, keine zwei Mal zu sehen, außer sie bricht hier ein. Was übrigens schon passiert ist. Mehrfach! Er ist wie die Pest. Infiziert alle und wir müssen mit den Beulen klarkommen. Luke ist ein Morgenmuffel. Vor elf Uhr kannst du ihn nicht ansprechen, obwohl er bereits drei Stunden wach ist. Oh, und das Beste ist, dass er von diesen drei Stunden mindestens eine auf der Toilette verbringt, was sich schlichtweg nicht mit einer Frau verträgt.«
»Nicht mit einer … Was?«, frage ich perplex.
»Ihr braucht länger. Also entweder du stehst um sechs auf, um vor allen anderen fertig zu sein, oder du musst dich in der Küchenspüle waschen.«
Ich lege den Kopf schief und zucke mit den Schultern. »Okay.«
Wenn er wüsste, dass ich in meiner Ich-lebe-im-Auto-Phase das Waschen an Waschbecken perfektioniert habe.
»Okay?«, echot er und schüttelt den Kopf. »Luke schnarcht! Laut. Und die Wände hier sind dünn. Außerdem muss im Treppenhaus irgendein totes Tier liegen, so wie es da stinkt. Die Haustür ist seit Jahren kaputt und insgesamt ist das keine gute Gegend. Du merkst also, du suchst dir besser eine neue Wohnung.«
»Nein.«
»Was ›nein‹?«
»Adam, hör auf!« Wütend schiebt Luke ihn aus dem Weg und will mich wieder in den Flur geleiten, doch ich schüttele den Kopf, ducke mich unter seinem Arm durch und baue mich vor Adam auf.
Wäre er nicht so unausstehlich, würden diese dunklen Augen und das freche Grinsen mich mehr ablenken. Vermutlich würde ich ihn ganz objektiv sogar als attraktiv bezeichnen. Doch jetzt sehe ich bloß die arrogant erhobene Augenbraue und den abschätzigen Blick, den er mir schenkt. Als wüsste er längst, wer als Sieger aus diesem Gespräch hervorgeht.
Shit, wie groß ist der Kerl? Ich lege den Kopf in den Nacken und gebe mir größte Mühe, ihn dennoch in den Boden zu starren.
»Keine Ahnung, was hier los ist. Aber ich habe mich auf das Zimmer beworben und eine Zusage bekommen. Die Miete für diesen Monat ist überwiesen und ganz zufällig habe ich keine Lust zu gehen. Mir gefällt es hier!«
»Dir gefällt es hier? Hast du unseren Nachbarn kennengelernt? Er kocht Drogen.«
»Er ist Chemiedozent an der Uni«, meldet sich Ryan kauend zu Wort, die Reste seiner Pizza beschützend auf dem Schoß.
»Sage ich doch! Evie, netter Name übrigens, du tust dir mit dieser WG keinen Gefallen. Abgesehen davon ist das ›mein‹ Zimmer.«
Misstrauisch beäuge ich die pinken Wände und den dazu passenden rosa Fellteppich, der angenehm weich unter den Sohlen meiner Schuhe nachgibt.
»Du stehst auf Pink?«
»Nein, ich stehe nicht auf Pink!«, faucht er und holt Luft für eine neue Tirade.
Ich unterbreche ihn, bevor er weitere Geschichten über meine Mitbewohner oder die Nachbarn erfindet.
»Adam, netter Name übrigens. Ich rate einfach mal, dass bei dir etwas schiefgelaufen ist und es dein Zimmer ›war‹. Das Problem ist nur, ich kann mir kein anderes leisten. Die Uni beginnt in einer Woche, ich habe vorher zwei Vorstellungsgespräche für Jobs, mit denen ich gerade so die Miete zusammenbekomme. Ich habe kein Auto, bin auf die Nähe zur Uni angewiesen, außerdem seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und wirklich, wirklich müde, und ich hatte heute noch keinen Kaffee.«
Adam schweigt, mustert mich nachdenklich. Er wird mir mein Zimmer nicht mies reden. Egal, was bei ihm los ist, ich habe keine Alternative. Die Stunden auf unterschiedlichen Immobilien- und WG-gesucht-Seiten haben das eindrucksvoll bewiesen.
Meine Lider werden schwer und ich könnte im Stehen einschlafen, würde Adam sich nicht just in diesem Moment zu mir herunterbeugen und grinsend seinen letzten Trumpf ausspielen.
»Die Uni ist vier Kilometer entfernt. Viel Spaß beim Laufen.«
Vier Kilometer?
Mein Kopf ruckt zu Ryan und anschließend zu Luke, die beide schuldbewusst den Boden betrachten. Ich hätte den Jungs nicht vertrauen dürfen, als sie meinten, es sei um die Ecke.
Frustriert reibe ich mir über die Stirn. Vier verfluchte Kilometer, die an guten Tagen irgendwie machbar sind, aber an allen anderen? An den schlechten? Niemals.
»Das zählt nicht«, nimmt Ryan ihm den triumphalen Ausdruck. »Wir nehmen Evie mit. Ist längst abgesprochen.«
Eine glatte Lüge, die zu meinen Gunsten laut ausgesprochen wird und mich sprachlos macht.
»Mich habt ihr nie mitgenommen«, protestiert Adam und weicht einen Schritt zurück.
»Weil du lediglich studiert hast, damit Mom und Dad nicht nachfragen, und dementsprechend erst zu den späten Vorlesungen aufgestanden bist.«
Mit einem Ohr höre ich dem Schlagabtausch der Brüder zu und beobachte Ryan, der sich im Hintergrund dem letzten Stück Pizza widmet.
4. Kapiteladam
Evie sollte größer sein. Schließlich zieht sie mit zwei fremden Kerlen in eine WG. Aber im Vergleich zu Ryan und meinem Bruder ist sie nahezu winzig, und wären sie schlechte Menschen, hätte sie keine realistische Chance.
Aber sie besitzt Temperament, das muss ich ihr lassen. Während ihr dämmerte, dass sie belogen wurde, was die Lage der WG angeht, und sie außerdem meinen Bullshit ertragen musste, hatte sie ihr Kinn durchweg erhoben und nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
Verdammt. Trotzdem ist das kein valider Grund, von meinem Plan abzuweichen und mich auf das rückentötende Sofa ausquartieren zu lassen. Wer sich ein Studium in Kanada leisten kann, wird noch ein paar Scheine für eine neue Miete übrighaben. Egal, ob sie das Gegenteil behauptet.
Nein, ich werde ihr beweisen, dass ich der schlimmste Zimmer-Mitbewohner bin, den sie sich vorstellen kann. Die Jungs werden ihr Übriges tun und müssen sich nicht mal anstrengen, immerhin wollen sie Evie in der WG behalten.
Aber ehrlich … Ich erinnere mich an die Nächte, die Sina in der WG verbracht hat. Sie war kein Fan von meinen Mitbewohnern. Oder meiner Familie. Letzten Endes auch nicht von mir.
Evie zieht irgendwann aus. Ihr Temperament wird nur dazu führen, dass der Mittelteil vielversprechend amüsant wird.
Mein Bruder rückt ihr den Stuhl zurecht und schenkt ihr ein freundliches Lächeln, das sie ebenso aufrichtig erwidert. Vorsichtig sinkt sie auf den einzigen Holzstuhl, der nicht mit mindestens einem Bein in der Mülltonne steht.
»Verzieh dich, Adam«, fährt Luke mich an und stellt Evie eine Packung Cookies und eine Cola vor die Nase. »Kaffee kommt sofort.«
Er rührt ihr Zucker und Haselnusssirup in den Becher und am Ende gibt er geschäumte Milch hinzu. Irre ich mich oder versucht er tatsächlich, ein Blatt in den Schaum zu malen?
Evie knetet währenddessen unruhig ihre Finger und sieht sich in der Wohnung um. Zuletzt bleibt ihr Blick an mir hängen und ihre Miene wandelt sich zu einer Fratze.
Ich schenke ihr ein schiefes Grinsen, was sie seufzend zur Kenntnis nimmt.
»Ich dachte, wir lernen uns in Ruhe kennen. Da wir demnächst sehr«, einmal tief Luft holen, »sehr viel Zeit miteinander verbringen werden.«
Wie eben ist ihr Kinn leicht trotzig erhoben, obwohl die grünen Augen das genaue Gegenteil übermitteln. Ängstlich, getrieben und scheu suchen sie sich ein Objekt, das ihnen einen Anker bietet.
Was mich einmal mehr zu der Frage bringt, warum sie nicht rennt. Ihre Hand ruht direkt neben dem Edding-Penis, der bei Ryans letzter Geburtstagsparty auf den Tisch gekritzelt und in verschiedenen Schritten vergrößert wurde. Das Zimmer ist ein Albtraum und der Drogengeruch vom Chemiedozenten zieht durch die kaputte Tür der Wohnung.
»Alsooo …« Ich rücke mir den Stuhl ihr gegenüber zurecht und setze mich falsch herum darauf. Er knackt gefährlich unter meinem Gewicht und ich versuche gar nicht erst, zu überspielen, in welchem Zustand sich die WG befindet. Die Arme lässig auf der Rückenlehne abgelegt, warte ich, bis sie mich erneut ansieht.
»Was treibt dich nach Nightwood?«
»Die Uni«, antwortet Evie knapp. Sie schließt ihre Finger um die dampfende Tasse, die Luke ihr entgegenhält. Ein dankbares Lächeln für meinen Bruder erhellt ihr Gesicht.
»Für ein Studium muss man sicherlich ausreichend und gut schlafen.«
Die einzige Reaktion ist das leichte Zucken ihrer Augenbraue. Harter Brocken.
»Was studierst du?«
»Musik.«
Mist. Das macht sie ein klein wenig sympathisch. Ich lege den Kopf schief. Andererseits hat Sina auch Musik studiert und sie war … nicht sympathisch. Im Nachhinein betrachtet, war sie das genaue Gegenteil.
»Sind deine Eltern Musiker? Meistens ist ein Elternteil Musiker, wenn die Kinder sich für dieses Studium entscheiden und nicht ein Ziel wie Lehramt haben.«
»Bei mir nicht«, antwortet sie kühl, ihre Lippen zu einem schmalen Strich gepresst.
»Unsere sind auch keine Musiker«, geht Luke dazwischen und malt deutliche Gesten in die Luft, die übersetzt heißen, ich soll die Klappe halten.
»Dad hat einen kleinen Buchladen und Mom arbeitet in einer Wohngruppe«, erklärt er Evie. »Sie treffen keinen einzigen Ton. Hör gar nicht erst auf meinen Bruder. Er hat schlechte Laune, weil sein Hofstaat sich nicht vor ihm beugt.«
Er zwinkert ihr zu, woraufhin ich ein genervtes Schnauben unterdrücke. Mein Bruder flirtet doch wohl nicht mit seiner neuen Mitbewohnerin? Mit unserer neuen Mitbewohnerin.
»Ryan meinte, du spielst Gitarre«, sagt sie an Luke gewandt und nippt an dem Kaffee.
Einen Moment zu lange starre ich ihren Mund an, mit dem sie die braune Plörre trinkt, als wäre es das Beste, was ihre Geschmacksknospen in den letzten Wochen konsumiert haben.
Ich kann mit Sicherheit sagen, der Kaffee ist unterdurchschnittlich schlecht. Sina hat ihn als ›Kaffee für Arme‹ betitelt, was in jeder Hinsicht daneben war. Trotzdem nimmt Evie einen tiefen Schluck und ihre Lippen verziehen sich genüsslich. Die Mundwinkel heben sich und betonen die leichten Grübchen direkt unterhalb der sanft geröteten Wangen.
»Ja«, erklärt Luke mit einem zurückhaltenden Grinsen. »Gitarre, Klavier und schlechte Interpretationen auf der Geige. Vivaldi würde die nächste Klippe suchen.«
»Wow.« Sie stößt einen leisen Pfiff aus und nickt, wobei die dunklen Haare bei jeder Bewegung wippen. »Ich hab’s nie über die Gitarre geschafft.«
Toll. Noch ein Pluspunkt, der meinem Arschlochplan einen ordentlichen Dämpfer verpasst.
»Du musst mir unbedingt irische Lieder beibringen.« Begeistert gesellt Luke sich zu uns an den Tisch. Seine Hände landen unmittelbar neben Evies. »Ich habe letztes Jahr einen Kurs bei Mr. Fayden belegt, einem Dozenten aus Irland, aber er hat nichts für Irish Folk übrig.«
»Banause«, bemerkt Evie. »Ich bring dir welche bei, wenn ich mir ab und an eine Gitarre ausleihen darf. Bis ich mir eine neue gekauft habe. Ryan hat erwähnt, du hättest mehrere.«
Luke grinst einseitig. Das … das ist eindeutig sein Flirtgrinsen!
»Klar. Such dir einfach eine aus, die dir gefällt.«
»Danke«, flüstert Evie und wendet, auf einmal wieder scheu, das Gesicht ab.
»Kein Problem. Sollen wir dir noch bei deinen Sachen helfen?«
Ihr Gesicht ist plötzlich fast so rot wie ihre Haarspitzen.
»Ryan hat die Tasche getragen.«
»Da ist alles drin?« Luke und ich sehen ungläubig den Seesack an, der neben dem Sofa abgestellt wurde und nicht einmal bis zur Lehne reicht.
»Ja.« Ein leises Räuspern entkommt ihrer Kehle, ehe sie ein unschuldiges Lächeln aufsetzt. »Mein ganzes Leben. Ihr seht, ich bin ziemlich langweilig.«
Sie ist mit nur einer Tasche ausgewandert? Hat ihr gesamtes Leben in einen Stofffetzen gepackt, der von zwei Metallschnallen zusammengehalten wird, und behauptet, sie wäre langweilig?
»Wirkt beinahe so, als hätten wir beide kaum was«, werfe ich ein, um die Stimmung aufzulockern. Dem maßregelnden Blick meines Bruders nach zu urteilen, geht das nach hinten los.
»Adam, musst du nicht aufbrechen?« Demonstrativ lehnt er sich zurück und kreuzt die Arme vor der Brust.
Ich spiegele seinen strengen Gesichtsausdruck. »Nein, muss ich nicht. Netter Versuch.«
Er schnaubt. »Kein Versuch. Du hast Mom versprochen, mit ihr einkaufen zu gehen.«
Shit.
Das hatte ich vergessen. Was genau genommen ziemlich gut beschreibt, welche Art Sohn ich in den letzten Jahren für meine Eltern war. Zwischen Bandproben und Nächten im Studio blieb nicht viel Raum für die Menschen, die bei jedem Auftritt in der ersten Reihe standen und vor über zehn Jahren die Garage für die Idee einer Band freiräumten.
Ein schmerzhafter Stich Scham durchfährt mich und begleitet das Bild von Moms fröhlichem Ausdruck, als ich ihr zum Einkaufen zusagte. Ein Nachmittag im Supermarkt und sie freut sich, weil ihr missratener Sohn eine Stunde seiner Zeit opfert.
Die Scham verwandelt sich in ein Pochen. Am liebsten würde ich ihr erst wieder unter die Augen treten, wenn ich das Ebenbild meines Bruders bin.
»Kannst du nicht –«
»Nein«, unterbricht Luke mich hart. »Du hast zugesagt, du gehst.« In seiner Stimme schwingt der Vorwurf, den er nicht in Worte fassen kann und der doch ganz laut zwischen uns steht und in meinen Ohren klingelt. Schlechter Sohn, schlechter Bruder, noch schlechterer Freund.
»Aber sie wird mich löchern, weil ich –« weil ich jämmerlich bin, meine Zukunft, meine Freundin und meinen besten Freund verloren habe. »Okay. Ich bin heute Abend wieder da.«
»Ist das eine Drohung?« Evie schaut mich über den Tassenrand hinweg an. Für den Bruchteil einer Sekunde bringt sie mich damit aus dem Konzept.
Grün war für mich bisher nie eine Farbe, die Wärme ausgedrückt hat. Grün ist ein blauer Fleck, über den ein Künstler ein wenig giftiges Gelb gegeben und geschaut hat, was passiert. Grüne Pigmente sind nicht warm. Bis sie in ›ihren‹ Augen leuchten.
Gefühle und Gedanken wieder beisammen, bringe ich mein Gesicht auf ihre Höhe.
»Du kannst unser Bett schon mal warm halten.«
So warm, wie meine Wangen sich anfühlen. Kaum ist mir die obszöne Andeutung über die Lippen entflohen, muss all mein Blut in die Wangen geschossen sein.
Lukes entsetztes Schnappen nach Luft ignoriere ich ebenso wie Evies Schnauben, als ich aus der Wohnung fliehe.
Mom ist unerbittlich.