Flucht aus Buchenwald - Grigori Sintschenko - E-Book

Flucht aus Buchenwald E-Book

Grigori Sintschenko

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Beschreibung

Dramatische Schilderung eines jungen Mannes, der im Knabenalter der ländlichen Heimat entrissen, an den Hochöfen gestählt und in deutschen Lagern bestialisch gequält wurde! Dass er überlebte ist nahezu unglaublich.

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Inhaltsverzeichnis

Vom Autor

Teil 1

Der Anfang des rastlosen

Umherirrens

Das neue Arbeitsgesetz

Das große Geheimnis

Teil 2

Der zweite Weltkrieg

Deutschland

Flucht aus dem Lager

Das Dresdener Gefängnis

Buchenwald

Meine erste Etappe

Die zweite Etappe

Flucht aus Buchenwald

Leben im Wald

Befreiung

Der 9. Mai

Teil 3

Rückkehr in die Heimat

Das erste Verhör

Ich bin ein Christ

Das zweite Verhör

Endnoten

Grigori Sintschenko

FLUCHT AUS BUCHENWALD

Grigori Sintschenko

Flucht aus Buchenwald

© Original: ”Побег из Бухенвальда“

in russischer Sprache bei Lichtzeichen Verlag, Lage

© 2013 Lichtzeichen Verlag GmbH, Lage

Übersetzung: Helene Wiens, Bielefeld

Bearbeitung und Redaktion: Erna Friesen, Lage

Satz und Umschlag: Thorsten Plaß

ISBN: 9783869549989

Bestell Nr.: 548998

E-Book Erstellung: LICHTZEICHEN Medien www.lichtzeichen-medien.com

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Erlaubnis des Verlegers in irgendeiner Form reproduziert werden.

Gewidmet meinen Enkeln

Grigori Sintschenko

Leben – das ist ein Kampf mit dem Tod.

Wenn du verzweifelst,

hast du dich ohne Kampf dem Tod ausgeliefert.

Willst du leben? – dann verzweifle nicht.

Vom Autor

Das Buch „Flucht aus Buchenwald“ ist kein Roman oder Abenteuer, sondern eine Erzählung aus meinem Leben. In Buchenwald befand ich mich im Alter von 19 bis 20 Jahren. Ich war kein politischer Gefangener, hatte jedoch während der sechs MonatemeinesAufenthalts täglich die Möglichkeit, mit den Gefangenen aus Frankreich, Tschechoslowakei, Italien und Russland zu sprechen. Diese Menschen waren Intellektuelle, die gern über das Weltgeschehen diskutierten.

Besonders in Erinnerung blieben mir ihre Gespräche über die Ukraine, die erzwungene Kollektivierung und die künstliche Hungersnot im Jahre 1933. Für die Europäer war das keine Neuigkeit, für mich jedoch war es eine. Während meiner Militärzeit habe ich in meiner Naivität, ohne irgendwelche politischen Ziele zu verfolgen, mit den Soldaten über den Aufbau des Sozialismus gesprochen. Ich musste dafür teuer bezahlen. Wie durch ein Wunder blieb ich am Leben. Ich sagte mir: „Dreimal stand ich kurz vor dem Tod und bin noch einmal davongekommen.“ In einer besonderen politischen Abteilung gab ich zur Unterschrift: „In meinem ganzen Leben, zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort werde ich meine Meinung über den Hunger des Jahres 1933weitersagen“. Meine Unterschrift sagte aus: „Wenn du lebenwillst, dann schweige.“

Nach dem Zerfall der UdSSR wurde die Hungersnot von 1933 in der Presse veröffentlicht. Als die amerikanischen und kanadischen Städte an das sechzigjährige Jubiläum des Hungers in der Ukraine gedachten, stand in keiner Zeitung geschrieben, welchen Grund und welches Ziel dieser Hunger hatte.

Als ich bereits in Amerika lebte, erinnerte ich mich am 9. Mai 1994 daran, dass der „Siegestag“ ein wichtiger Feiertag in der Ukraine sei. An diesem Tag schrieb ich in der Schule während des Englischunterrichts meine Erzählung über Buchenwald auf. Mit Hilfe meiner Lehrerin schilderte ich meine Flucht aus Buchenwald. Meine Geschichte wurde in jeder Klasse vorgelesen.

Danach schlug man mir vor, meine Erfahrungen ausführlicher aufzuschreiben und meinen Enkeln als eine Erinnerung zu hinterlassen. So entstand dieses Buch. Aber ich wollte nicht, dass es eine Biographie des Großvaters bleibt, sondern auch für den einfachen Leser zugänglich wird. Aus dem Wunsch heraus, den Leser nicht mit einer langen Erzählung zu ermüden, beschloss ich, einige historische Begebenheiten kurz zu schildern.

Das Dorf „Panskaja“, das in diesem Buch beschrieben wird, steht für viele andere, die nach dem Hunger des Jahres 1933 nicht mehr existierten. Zur Zeit besitze ich nicht die finanziellen Mittel, um mein Manuskript ins Englische übersetzen zu lassen und als Buch herauszugeben. Aber ich glaube daran, dass es einmal geschieht, und bete: „Herr, segne es.“

Grigori Sintschenko

Teil 1

Der Anfang des rastlosen

Umherirrens

Normalerweise fängt ein Buch mit einer Beschreibung der Natur an, und das ist auch kein Wunder. Obwohl ich schon siebzig bin, sehe ich Bilder aus meiner längst vergangenen Kindheit wie einen Film vor meinen Augen ablaufen. Als ein barfüßiger Junge laufe ich auf den abgemähten Wiesen hinter den Kühen her. Meine schwarzen Locken sind während des Sommers ausgeblichen, meine Fußsohlen sind schwarz. Aber das kümmert mich wenig. Der Sommer neigt sich dem Ende zu, und im September gehe ich zur Schule. Ich wollte sehr gern lernen und machte mir keine Sorgen darum, dass ich keine Schuhe und keine Hosen ohne Löcher hatte. Auch wenn mir meine Mutter eine neue Hose genäht hätte, wäre sie am zweiten Tag schon wieder zerrissen gewesen.

Die Schulzeit ging vorüber, und mit fünfzehn Jahren beendigte ich die siebente Klasse. Nun war ich frei und konnte mir meinen Weg ins Leben wählen. Aber davon gab es so wenige. Die Kolchose zu verlassen war sehr schwer, man liess keinen gehen. Der Direktor unserer Schule, der ein sehr weiches Herz hatte, ermutigte mich, weiter zur Schule zu gehen. Als ich noch ein kleiner Junge war, kam es vor, dass er zu mir kam, mich an den Haaren raufte und sagte: „Na, du helles Köpfchen, eines Tages wirst du ein großer Mann sein.“

Für mich war es ganz klar, dass ich einmal groß sein würde, aber warum mein Köpfchen hell sein sollte, wenn ich doch schwarze Haare hatte, konnte ich nicht verstehen. Als ich älter wurde, hat er mich Mathematiker genannt. Und genau dieser Direktor bestand hartnäckig darauf, dass ich weiter zur Schule gehen sollte. In seinen siebzehn Jahren als Direktor dieser Schule, sagte er, hatte er viele fähige Schüler gesehen, aber so einem wie mir begegnete er zum ersten Mal. Viele gute Ratschläge hat er mir erteilt, nur das Wichtigste konnte er mir nicht sagen, und zwar, mit welchen finanziellen Mitteln ich lernen sollte. Meine Eltern waren arm, und in unserer Dorfschule gab es nur sieben Klassen, die ich bereits beendigt hatte. Eine weiterführende Schule befand sich in einer Entfernung von acht Kilometern.

Alle Kinder gingen zu Fuß zur Schule. Wir hatten es gut in unserem Dorf. Vom frühen Frühling bis zu dem ersten Frost im Herbst gingen wir barfuß zur Schule. Nein, ich schämte mich nicht dafür. Ich war ja nicht der einzige, die Hälfte der Schüler hatte keine Schuhe. Natürlich, wer etwas reicher war, der trug Schuhe. Aber wir waren sechs Kinder in unserer Familie. Mein Vater konnte nur meiner Schwester, die zwei Jahre älter war als ich, Schuhe kaufen. Aber sie besuchte nur drei Jahre die Schule. Im Alter von vierzehn Jahren ging sie in die Kolchose und arbeitete dort fast ohne Bezahlung.

Am Ende des Jahres gab es eine Abrechnung. Bezahlt wurde nicht mit Geld, sondern mit Getreide. Unsere Kolchose befand sich in einer führenden Stellung: Man sagte uns, die Menschen würden hier besser bezahlt als in den anderen Kolchosen, und wir bekamen eine Prämie ausgehändigt. Für jeden Arbeitstag gab es ein Kilo Getreide. Diejenigen, die auf einem Rübenfeld arbeiteten, erhielten anderthalb Kilo für einen Tag. Aber ist es wirklich möglich, dass man anderthalb Kilo Getreide bekommt, wenn man den ganzen Tag Rüben jätet und im Herbst diese mit dem Spaten ausgräbt?!

Im Herbst ging ich nicht zur Schule, weil ich meiner Schwester half, die Rüben auszugraben. Sie schaffte ihr Grundstück als erste und erhielt dafür eine Prämie: Winterschuhe und Stoff für ein Kleid und für ein Kopftuch. Mit siebzehn Jahren bekam sie sogar einen Wintermantel. Zu dieser Zeit wollten viele die Kolchose verlassen und in die Stadt fahren, um in einer Fabrik zu arbeiten. Aber in die Fabrik wurde man nur eingestellt, wenn man bescheinigen konnte, dass man die Erlaubnis hatte, die Kolchose zu verlassen. Jedoch diese Genehmigung erteilte der Vorsitzende der Kolchose nicht. Für einen Außenstehenden schienen wir frei zu sein, waren aber in Wirklichkeit zu fest an die Kolchose gebunden. Unter keinen Umständen wollte ich in der Kolchose bleiben. Ich träumte davon, die Schule als Klassenbester abzuschließen. Dann könnten sie mir die Bescheinigung ausstellen, in der Stadt eine weiterführende Schule zu besuchen. Aber es waren nur Träume!

An manchen Abenden, wenn die ganze Familie zusammen am Tisch saß, führten wir Gespräche über meine Zukunft. Mein Vater wünschte sich sehr, dass ich weiterlernen und einmal eine wichtige Persönlichkeit würde.

An einem späten Augustabend fand bei uns zu Hause wieder einmal eine sogenannte ‘Besprechung’ statt. Wir machten uns für das Abendessen fertig. Auf dem Tisch standen heiße Kartoffeln, die mit Schale gekocht waren. Keiner hatte sie geschält. Wann auch? Alle arbeiteten bis spät abends. Plötzlich tritt der Brigadier ins Haus und fragt nach meinem Vater.

„Wasilij, warum hast du deinen Sohn nicht mit nach Hause genommen?“

„Warum? Wo ist er?“ fragte er. Dann bemerkte der Vater die Aufregung des Brigadiers und wurde auch besorgt. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit ihm?“

„Ja... ja, wahrscheinlich ist ihm von der Hitze schlecht geworden. Er war auf dem Dreschboden. Ich habe seinem Mitarbeiter die Anweisung gegeben, ihn nach Hause zu bringen, aber dein Sohn hat sich geweigert.“

Man hörte, wie jemand mit den Pferden den Hof erreichte. Ljonja Pokulj, trotz seines jungen Alters ein großer, starker, fünfzehnjähriger Bursche, kam herein und nach ihm ich. Als ich merkte, dass die anderen dabei waren, mit dem Abendbrot anzufangen, wurde ich ärgerlich.

„So, die Kartoffeln habt ihr unter euch geteilt. Mich habt ihr wohl vergessen? Los, gebt mir jeder zwei Stück. „Aber jeder von uns hat doch nur fünf Kartoffeln“, entgegnete Olja.

Ich setzte mich auf einen Hocker und schaute meinen Vater an. Er schien besorgt zu sein und studierte mein Gesicht, als ob er mich schon lange nicht mehr gesehen hatte.

„Erkennst du nicht den Menschen aus dem eigenen Haushalt? Ich bin immer noch derselbe, der Sohn meiner eigenen Eltern.“

Der Vater war der Spaßvogel unseres Dorfes, und bei jedem Scherz hatte er eine Antwort bereit. Doch diesmal stand er auf und ging stillschweigend vom Tisch.

„Was ist passiert, Grischa? Du bist kreidebleich. Ljonja, erzähle, was vorgefallen ist.“

„Nun ja, uns wurde befohlen, die Pferdefuhrwerke abzuladen und die ungefähr hundert Kilo schweren Kisten mit Getreide bis zur Waage zu tragen. Fast zwei Karren hatten wir abgeladen, als Grischa anfing zu stöhnen und sich hinsetzte.“

Der Vater und der Brigadier untersuchten meinen Bauch.

„Ja“, der Brigadier machte ein schlaues Gesicht, „du hast dich verhoben. Macht nichts. Wenn du dich etwas erholt hast, finden wir für dich eine leichtere Arbeit.“

Der Brigadier ging, und zu Hause wurde über meine Zukunft beraten. Der Vater machte den Vorschlag, eine Wohnung in einem anderen Dorf zu mieten, damit ich die zehn Klassen beendigen konnte.

„Er ist doch erst fünfzehn Jahre alt,“ sagte mein Vater. „Zum Arbeiten hat er noch sein ganzes Leben vor sich.“

Die Mutter widersprach. „Es ist leicht gesagt, er solle lernen, aber von welchem Geld? Noch drei Jahre muss er in der Schule bleiben, dann noch in der Stadt irgendeinen Beruf erlernen. Und wieder muss man eine Wohnung mieten. Kleidung braucht er auch. Hast du darüber nachgedacht? Er soll arbeiten. Sieh doch, wieviel Mäuler gestopft werden müssen, und wer wird dafür sorgen, dass sie lernen können?“

Somit fing mein Arbeitsleben in der Kolchose an. Im späten Herbst kam aus der Bezirksverwaltung die Anordnung: „Alle kräftigen Jungen, die nicht mehr zur Schule gehen, werden zur Ausbildung in die Stadt geschickt.“ Zu dieser Zeit wurde die sogenannte „FSO“ (die betriebliche Ausbildung) ins Leben gerufen. Auch ich war unter den Jungen im Alter von fünfzehn bis siebzehn Jahren, die in die Stadt fahren sollten. Vertreter aus der Stadt Charkow und aus anderen Städten waren gekommen. Es wurde uns gleich klar gemacht, dass weder unsere Bildung noch unsere Meinung jemanden wirklich interessierte.

Zuerst wurden wir nach den Städten und nach unserem Äußeren in Gruppen eingeteilt. Die Ältesten und Kräftigsten wurden in die Kohlengruben nach Donbass geschickt. Die kleinsten Jungen wurden wieder in zwei Gruppen, die Schwächeren und die Stärkeren, geteilt. Hier kam ich in die Kategorie der drei sogenannten „Stärkeren“. Man sagte mir: „Du hast Glück gehabt, du kommst in die Fabrik nach Charkow.“ Wir erhielten irgendwelche Nummern und machten uns am nächsten Tag mit dem Zug auf den Weg nach Charkow. Alle waren begeistert und überglücklich. Schließlich fuhren wir in die Stadt und dazu noch, um zu lernen. Auch die Eltern waren zufrieden und dachten, wie sehr man sich doch um ihre Kinder kümmere.

Den ganzen Weg sangen wir Lieder und machten Witze. Warum auch nicht? Aus der Kolchose herausgekommen, begaben wir uns geradewegs in die Stadt. Die meisten von uns fuhren zum ersten Mal in ihrem Leben in die Stadt, die in einer Entfernung von nur sechzig Kilometern von unserem Dorf lag.

Kaum angekommen, gab unser Begleiter sofort die ersten Befehle:

„Kommt heraus und stellt euch auf dem Bahnsteig zu dritt in einer Reihe auf.“

In den anderen Waggons waren die gleichen „Glücklichen“. Wir wurden in einen großen Saal gebracht, wo schon ungefähr zweitausend Jugendliche warteten. An der Seite standen die Vertreter der Fabriken. Mein Freund flüsterte mir ins Ohr:„Sieh mal, da stehen unsere Käufer.“

Ich empörte mich: „Bin ich denn ein Sklave aus dem Buch ‚Onkel Tom`s Hütte‘? Für Tom wurde Geld gezahlt, und wer sind wir? Für uns würden sie keinen einzigen Pfennig geben.“

„Gleich kommen sie,“ sagte mein Freund weiter, „packen uns an den Ohren, stecken uns in einen Sack, und wir sind nicht mehr dieselben. Früher hatten wir unsere Eltern, jetzt gehören wir zum ,Onkel Partei‘.“

Das Gespräch wurde mit dem Befehl „Achtung!“ unterbrochen, und wir wurden ganz schnell auf verschiedene Fabriken verteilt. Abends brachte man uns in die Kantine, wir bekamen eine Mahlzeit und wurden in die Wohnheime gebracht, wo jeweils zwanzig Personen in einem großen, mit elektrischem Licht ausgestatteten Zimmer schliefen.

Ein junger Mann stellte sich als der „Kommandant“ vor und fing an, uns mit unserer Umgebung vertraut zu machen. Er zeigte uns die Toilette, einen kleinen Schuppen draußen zwischen vier Kasernen, und dann den Waschraum. Der Waschraum war sehr interessant. Wenn man einen Wasserhahn aufdrehte, lief kaltes Wasser, drehte man den anderen auf, lief heißes Wasser. Der Waschraum hatte außerdem kleine Waschbecken, die auf steinernen Tischchen standen. Wie das Bad funktioniere, haben wir schnell herausgefunden, da es so ähnlich war wie bei uns zu Hause. Nur das Wasser musste bei uns noch heiß gemacht werden. Hier war das etwas einfacher.

Aber im Schlafsaal war die Technik schwieriger; mit der Elektrizität wussten wir nicht viel anzufangen. Der Kommandant zögerte nicht, sein Wissen zur Schau zu stellen. Er hielt uns sowieso für Dummköpfe und dachte wohl: „Die Jungs kommen vom Land und sind ungebildet.“ Mit Enthusiasmus fing er an, uns zu belehren.

„Also Jungs, richtet eure Aufmerksamkeit einmal auf die Einrichtung neben der Tür. Man nennt es „Lichtschalter1“. Zieht man den Hebel nach oben, geht das Licht an, drückt man es nach unten, geht das Licht aus. Aus den Büchern kennt ihr die Glühbirne, die nach Iljitsch2benannt wurde, aber hier hängt an der Zimmerdecke, an zwei Kabeln befestigt, die elektrische Glühbirne.“

Nun, dachte ich, haben wir über die Glühbirne von Iljitsch gelernt, und hier ist die elektrische Glühbirne. Wir Dorfbewohner sind wahrscheinlich in der Technik zurückgeblieben, und sie entwickelt sich immer weiter. Eine Glühbirne sah ich wirklich zum ersten Mal mit meinen fast sechzehn Jahren. In unserem Dorf gab es noch keine Elekrizität. Aber in der Schule haben wir davon gelernt. Während ich darüber nachdachte, rief mich der Kommandant zu sich.

„Wie ist dein Name?“ fragte er.

„Grisch.“

„Nun, Grisch, zeige uns, dass du die Funktion des Lichtschalters verstanden hast.“

Ich ging zum Lichtschalter, hob den Hebel nach oben, und die Glühbirne ging an, drückte ihn nach unten, und die Glühbirne ging aus.

„Nun, hast du verstanden?“

Ich schnitt eine dumme Grimasse und sagte: „Nein, ich verstehe es nicht.“

„Was verstehst du nicht?“

„Warum nennt man es Lichtschalter, wenn man damit doch das Licht anmacht?“

Der Kommandant wurde wütend: „Tu nicht so schlau, sonst nimmt das kein gutes Ende mit dir.“ Dann führte er uns zu einer anderen Einrichtung und sagte: „Das ist eine Elektro-Steckdose, und das ist eine Steckdose für das Radio.“

Dann zeigte er auf ein kleines Körbchen und sagte: „Das ist ein Lautsprecher.“

Er fuhr fort, uns mit seinem „Wissen“ in Erstaunen zu versetzten, und führte uns zu einem großen Schrank an der Wand. „Hier sind elektrische Stöpsel. Dreht man sie aus, fällt die Elektrizität aus, dreht man sie an, ist sie wieder da. Vergesst ihr es nicht?“

Ich sagte: „Natürlich vergesse ich es nicht. Als ich die Kühe hüten musste, hat mich meine Mutter immer wegen des Flaschenkorkens3ausgeschimpft. Die Milch trank ich aus, und den Korken steckte ich in meine Tasche. Bis abends bin ich herumgelaufen und habe nicht nur den Korken, sondern auch die Flasche verloren. Manchmal konnte ich sogar die Kuh nicht wiederfinden. Ich suchte und suchte, aber die Kuh war schon längst zu Hause.“

Der Kommandant bemerkte nicht den Humor und äußerte sich nicht zu meiner Erzählung. Danach zeigte er uns die Betten. Auch hier folgte eine kurze Belehrung.

„Schaut, auf dem Bett liegt ein weißes Bettlaken. Ihr werdet schmutzige Arbeiten verrichten, einige werden Heizer, andere Kohlefrachter sein. Auch Wagen mit Kohle werdet ihr abladen müssen. Deshalb wird das Bettzeug zweimal im Monat neu bezogen werden, obwohl es nach dem Gesetz nur einmal im Monat vorgeschrieben ist.“

Ich entrüstete mich: „Aber meine Mutter hat mir jeden Tag das Bett gewechselt. Das alte Heu wurde morgens verbrannt, und abends legte sie mir frisches Heu hin...“

Unser Lehrer ging weg. Ich legte mich aufs Bett und dachte nach. Wieviel Neues hatte ich heute gesehen: Lichtschalter, Steckdose, Lautsprecher. Die Bezeichnungen waren nicht neu, nur die Gesetze, wie z. B. über das Bett. In der Schule haben wir nicht über ein Gesetz gelernt, das besagt, dass das Bettzeug einmal im Monat neubezogen werden muss. Es fiel mir schwer, alle Gesetze sofort zu verstehen. „Höchstwahrscheinlich ist das die „höhere Mathematik“, dachte ich. „Die ‚niedrige Mathematik‘ kenne ich: das Gesetz von Ohm, Volt, Watt und das Gesetz von Joule Lenz.“ Diese ganzen Gesetze und Formeln beherrschte ich und konnte ohne Schwierigkeiten alle Aufgaben ausrechnen. Aber all das nannte sich die „niedrige Mathematik“, und so wie ich das verstand, sollten wir jetzt in der „höheren Mathematik“ unterrichtet werden.

Am Morgen versammelten wir uns in einem großen Saal. Am Tisch saß der Direktor der Fabrik, an seiner Seite der Partorg4und verschiedene Abteilungsleiter. Hier bekamen wir unsere Aufgaben zugewiesen.

Der Direktor der Fabrik hielt eine äußerst kurze klare Rede. „Kameraden! Euer Heimatland Russland hat für eure Zukunft gesorgt. Ab dem heutigen Tag steigt ihr eine Stufe höher. Bis zu diesem Zeitpunkt seid ihr auf der niedrigen Stufe gewesen, das heißt in der Kolchose. Ihr wurdet gelehrt, Roggen, Weizen und andere Getreidesorten zu säen. Ihr wurdet gelehrt, Zuckerrüben und anderes Gemüse anzubauen. Im Herbst habt ihr alles eingesammelt und danach, sozusagen, zur Aufbewahrung dem Staat abgegeben. Dafür wird das Vaterland euch nicht vergessen. Und doch sage ich euch, dass alle Arbeiter der Kolchose Faulpelze sind. Warum nennen wir sie so? Im Sommer, wenn es warm ist, arbeiten alle vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Und im Winter? Was macht ihr im Winter? An den Sonntagen brachte man euch stumme Spielfilme aus der Stadt. Und jetzt bringt man in manche Dörfer sogar schon vertonte Filme. Das alles hat den Arbeiter in der Kolchose zu einem Nichtsnutz gemacht. Und nicht nur an den Sonntagen, die Dorfjugend besucht nun täglich das Klubhaus und veranstaltet Tanzabende. Aber für euch hat das Vaterland und die Partei Sorge getragen. Jetzt seid ihr keine Kolchosebauern mehr, sondern Arbeiter, die das ganze Jahr hindurch arbeiten. Es lebe das Land der Sowjets! Es lebe die Kommunistische Partei! Es lebe das Arbeitervolk!“

Einige antworteten mit einem „Hurra!“

Danach wurde das Wort dem Partorg der Fabrik erteilt. „Kameraden! Ich möchte die Ausführungen des Direktors der Fabrik fortsetzen. Die Kommunistische Partei ist unser Lenkrad. Sie führt das Volk. Überall ist die Partei in der Führungsposition und zeigt den Weg. Ihr seid jung. Den jungen Menschen stehen bei uns alle Wege offen, den Alten erweisen wir überall Respekt. Wer zeigte den Jungen einen Weg? Das war die Partei von Lenin, die Partei vom Iljitsch. Wir folgen dem Weg, den Lenin uns gezeigt hat, und leben nach seinen Geboten. Wir haben schon viel erreicht, aber wir haben noch großartige Pläne vor uns. Wir bauen eine schwere Industrie auf, und dafür ist harte Arbeit nötig.

Der Direktor sagte, dass ihr ab jetzt das volle Jahr arbeiten sollt. Ich möchte euch mit den Bedingungen eurer Arbeit vertraut machen. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, das übernimmt die geliebte Partei. Lenin sagte: ‚Wissen ist Macht‘. Das sind kluge Worte, Worte eines Genies. In unserem Land ist der Unterricht unentgeltlich. Man wird euch das Handwerk in der Fabrik sechs Monate lang kostenlos lehren. Und nach Ablauf der sechs Monate werdet ihr arbeiten. Für das Lernen wird keiner etwas von eurem Verdienst einbehalten. Arbeitskleidung und Kleidung für eure Freizeit bekommt ihr umsonst. Mahlzeiten gibt es dreimal am Tag, und die Unterkunft in den Wohnheimen ist auch unentgeltlich. Eure Beschäftigung besteht aus einem Praktikum.

Die meisten von euch werden Heizer sein, und natürlich wird man von euch am Anfang nicht erwarten, als Anfänger für einen Ofen verantwortlich zu sein. Sechs Monate lang werdet ihr während des Praktikums die Arbeit des Gehilfen eines Heizers kostenlos erlernen. Die Kommunistische Partei hat sich um euch gekümmert.“

Danach wurden uns die Stellen zugewiesen. Diese Aufgabe übernahm der Predzechkom.5„Kameraden! Wir müssen euch nach euren Fähigkeiten und Kräften einteilen. Wer von euch mit Pferden umgehen kann, wird ein Kohlefrachter werden. Diejenigen sollten jetzt bitte aufstehen.“ Wir standen alle auf, weil alle Jungen mit Pferden gearbeitet haben.

„Setzt euch, ihr habt mich nicht verstanden. Ich will wissen, wer ganz besonders die Pferde liebt. Diejenigen sollten bitte aufstehen.“

Drei von uns standen auf.

„Du da, wie ist dein Name?“

„Grisch.“

„Womit kannst du beweisen, dass du Pferde gern hast?“

Zuerst war ich etwas verunsichert, doch dann platzte ich heraus:

„Ich habe alle Füllen in der Kolchose abgeknutscht.“

In der Halle erhob sich ein Lärm und Gelächter, als ob ein Clown auf die Bühne getreten wäre. Die Vorgesetzten lachten auch mit. Ich stand da und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Plötzlich verstummte das Gelächter, und der Partorg setzte fort:

„Nun, Grisch, küssen hast du vielleicht auch gelernt, aber für die Stelle eines Kohlefrachters eignest du dich nicht. Die Kohle muss auf die Karren aufgeladen und abgeladen werden, und dafür bist du nicht kräftig genug. Wir brauchen starke Jungen.“ Danach suchten sie fünfzehn Personen aus.

„Die nächste Stelle: Heizer für die ‚Gofmanskije‘ und die ‚Perioditscheskije‘ Öfen.“

Ich meldete mich nicht mehr und dachte im stillen: „Warum machen sie uns zur Zielscheibe ihres Spottes. Die angesehenen Menschen sind die, die ein entsprechendes Amt bekleiden. Die Arbeiter sind auf einer unteren Stufe, und die sich noch weiter unten befinden, sind die Kolchosebauern. Aber von Gofmanskije und Perioditscheskije Heizer habe ich noch nie gehört. Die ‚Perioditscheskije‘ sind wahrscheinlich besser, weil dort periodisch gearbeitet wird. Hoffentlich komme ich dahin.“

Sie gingen durch den Saal und notierten sich etwas. Schließlich kamen sie zu mir.

„Dein Familienname?“

„Sintschenko, Grisch.“

„Nun bist du nicht mehr Grisch, sondern Heizer Sintschenko Grigori.“

Ich fragte nochmal nach:

„Perioditscheskij?“

„Heißt dein Vater Period“?

„Nein, Wasilij.“

„Also ist dein Vatersname Wasiljewitsch6. Du wirst Heizer Sintschenko Grigori Wasiljewitsch von den Perioditscheskije Öfen werden.“

So wurde ich Heizer der Perioditscheskije Öfen.

„Die nächste Aufgabe besteht im Beladen und Abladen,“ sagte der Mann weiter, „für diese Arbeit brauchen wir starke Personen.“

Ich hörte weiter zu. „Diejenigen, die einer Abladetätigkeit nachgehen werden, müssen bei einer Temperatur von zweihundert Grad Celsius arbeiten.“

„Wow, das ist ja ein Ding,“ dachte ich, „das Wasser kocht schon bei einhundert Grad, und hier sind es zweihundert.“

Der Predzechkom setzte fort:

„Dieses Handwerk wird man euch schnell beibringen. Keiner von euch wird sich dabei verbrennen. Ihr bekommt eine Arbeitskleidung, eine Jacke und Wattehosen. Diese Spezialkleidung wird euch vor Verbrennungen schützen. Ich möchte euch im voraus darauf hinweisen, dass ihr achtgeben müsst, dass die Kleidung trocken bleibt. Es ist zwar vorgekommen, dass die Watte Feuer fing und die Arbeiter Verbrennungen davontrugen, aber die Industrie entwickelt sich immer weiter. Jetzt wird bereits feuerfeste Arbeitskleidung hergestellt.“

Aus irgendwelchem Grund wurde mir bange zu Mute. Ich dachte: „Wo bin ich nur gelandet?“ Noch einige Aufgaben wurden verteilt, aber ich schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit mehr.

Danach wurde bekanntgegeben: „Heute ist Samstag, und morgen ist ein freier Tag. Am Montag bringt man euch zu den Arbeitsstellen, und damit beginnt eure Tätigkeit. Die Fabrik arbeitet in drei Schichten, jeweils acht Stunden an sechs Wochentagen. Nun könnt ihr zum Mittagessen in die Kantine gehen. Ihr bekommt heute einen zusätzlichen freien Tag.“

Alle standen auf und gingen. In meinem Inneren spürte ich eine große Traurigkeit und Unruhe. Seit diesem Zeitpunkt hat mich das Leben hart wie Stahl gemacht und lehrte mich widerstandsfähig und unerschrocken zu sein.

An unserem ersten Arbeitstag bekamen wir Arbeitskleidung ausgehändigt und wurden in die verschiedenen Abteilungen geführt. Meine Abteilung war sehr groß. Es gab vier „Perioditscheskije“ Öfen und einige Wagen zum Abladen der Kohle. Der Geruch in der Abteilung erinnerte mich an die Schmiede in der Kolchose. Nur war es dort sauber, hier dagegen war es wie in einer Kohlegrube, die ich zwar nicht gesehen habe, mir aber um so mehr vorstellen konnte.

Ich wurde zu einem Arbeiter gebracht.

„Hier, Timofej, das ist dein Schüler. Lehre und beobachte ihn.“

„Was für eine Aufforderung? ‚Lehre‘ ist verständlich,“ dachte ich, „aber ‚beobachte‘ hört sich eher nach Spionage an. Ich muss auf der Hut sein.“

Ich erinnerte mich daran, dass letztes Jahr bei uns jemand wegen irgendeiner politischen Anschauung verhaftet wurde. In der Kolchose hat er als Stallknecht gearbeitet, war noch jung und Vater von drei Kindern. Seine Frau Pascha weiß bis heute nicht, was ihm zugestoßen ist. Eines Tages setzten sie ihn einfach in ein Auto und brachten ihn weg. Zuerst sagte man, dass er in die Kreisverwaltung gebracht worden sei, um ihn mit einer neuen Jacke zu belohnen. Die Vorgesetzten hätten gesehen, dass seine Jacke ganz zerrissen sei und nun bekomme er eine neue.

Iwan war ein richtiger Spaßvogel. Keine Hochzeit wurde ohne ihn gefeiert. Wer sollte dann die Leute mit Witzen aufheitern? Wir haben keine Hochzeit mehr mit ihm gefeiert. Er ist nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Die Menschen sagten, dass er für seine Geschwätzigkeit ins Gefängnis eingesperrt wurde.

Und so ist es passiert: Eines Tages betrat er ein Geschäft. Es war voller Menschen, die auf Brot warteten, das jeden Augenblick geliefert werden sollte. Er wendete sich dem Verkäufer zu und sagte.

„Entschuldigung, könnte ich einige Wojji7(Pferdeleinen) haben?“

„Wozu benötigt er Wojdi (Führer)?“ dachte sich der Verkäufer.

„Einen Augenblick bitte, Iwanuschka,“ sagte der Verkäufer. „Hat dich der Vorsitzende der Kolchose Iwan Iwanowitsch höchstpersönlich geschickt? Bringst du sie ins Büro oder das Seljsowjet8?“

„Nein,“ antwortete Iwan, „direkt in den Pferdestall.“

Der Verkäufer sah ihn an und kam zu dem Entschluss, dass ein Erlass ergangen ist, Porträts von Führern sogar in Pferdeställen aufzuhängen.

„Wähl dir etwas aus, das ist Lenin Iljitsch, der Genie.“

„Nein, ich brauche ihn nicht.“

„Und das ist Stalin Josef Wissarionowitsch.“

„Nein danke, auch ihn brauche ich nicht.“

„Dann habe ich noch Kaganowitsch, Igel und Sergej Mironowitsch, der vor kurzem von den Trotzkisten umgebracht wurde.“

„Was bietest du mir hier an?“ fragte Iwan, „diese müssen an die Wand gehängt werden, und ich brauche etwas zum Aufzäumen.“

Nun verstand der Verkäufer, dass der Mann Pferdeleinen und nicht Führer brauchte.

Schließlich kaufte Iwan die Pferdeleinen und sagte, indem er in die Richtung der Porträts wies: „Und diese kannst du selber aufhängen.“ Dann ging er hinaus. Im Laden machte man sich einen Spaß daraus.

Irgendein unbekannter Mann, den bisher keiner beachtet hatte, erkundigte sich über Iwan, wer er sei, wo er arbeite und schrieb sich etwas auf. Und als der Stallknecht dann angeklagt wurde, war er als Zeuge anwesend. Im Dorf war er als ein Spitzel bekannt. Vor Gericht sagte er aus, dass der Stallknecht im Laden das Volk um sich versammelt hätte und dieses davon überzeugen wollte, alle Führer zu erhängen. Das Urteil wurde verkündet, in dem er als ein Verräter Russlands verurteilt wurde, der mit einer Gruppe von Leuten aus dem gleichen Dorf eine geheime Verschwörung gegen die Regierung plante und damit drohte, die Vorgesetzten des Bezirks zu hängen. Letztendlich hat aber niemand verstanden, ob er für zehn Jahre oder zum Tode durch Erschießung verurteilt wurde. Seit dieser Zeit hat keiner mehr etwas von ihm gehört.

Ich meinte, dass ich an einen solchen Mann zur Beobachtung zugewiesen wurde. Ich nannte ihn Spion Timofej.

„Mein Name ist Timofej“, stellte er sich vor.

„Und ich heiße Grisch. Darf ich sie Onkel Tim nennen?“

„Sicher. Und ich werde zu dir Grischa sagen. Einverstanden?“

Ich nickte mit dem Kopf als Zeichen meiner Zustimmung. Sein Gesicht drückte irgendeinen Schmerz aus, und er fügte leise hinzu:

„Ich hatte auch einen Sohn, der Grischa hieß.“

An diesem Tag war Onkel Tim traurig und ließ sich auf kein Gespräch ein. Der Ofen war im letzten Brennstadium. Die ganze Zeit machte Timofej seine Runden bei der Feuerung, von der es sechs Stück gab, säuberte die Schlacke und schüttete Kohle hinein. Sobald er die letzte Feuerung mit Kohle gefüllt hatte, kehrte er zu der ersten zurück. An diesem Tag habe ich gar nichts gemacht, sondern ihm einfach bei der Arbeit zugeschaut.

Sein Gesicht bedeckte ein Schutzschild mit einem roten Glas für die Augen. Über seine Brust hing bis zu den Knien eine Schürze, die ihn vor dem Feuer schützte. Beim Beobachten dachte ich daran, dass sogar ein Pferd in der Kolchose nicht so hart arbeiten müsse wie er.

Onkel Tim war etwas größer als das Mittelmaß und hatte breite Schultern. Man spürte die Kraft seiner Hände, und es kam einem vor, als ob er nur aus festen Knochen bestehen würde, die mit Haut überzogen wären. Er sah aus wie fünfzig. Hin und wieder, wenn er sein Schild auf die Stirn schob, sah er mich mit seinen blauen Augen an. In diesen Augen sah ich eine Wärme. Diese Augen schauten mich mit Liebe an, obwohl Onkel Tim nichts sagte.

Schließlich war unsere Schicht zu Ende und wir trennten uns. Nach dem Abendessen konnte ich lange nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisten um Onkel Tim, und ich konnte es immer noch nicht verstehen, warum er ein Auge auf mich werfen sollte. Wieviel würde man ihm dafür bezahlen?

Ich war noch nicht sechzehn, und bis zum achtzehnten Lebensjahr wurde man nicht fürs „Schwatzen“ eingesperrt. Aber die Menschen sagten, dass auch hinter den Jüngeren nachspioniert würde. Als Kirow umgebracht wurde, hat man seinen Tod gerächt. Wieviel Menschen hat man deshalb erschossen!

Ich erinnerte mich, wie neben unserem Laden ein Radio angebracht wurde. Das ganze Dorf versammelte sich abends, um zu hören, wie aus der Röhre eine menschliche Stimme zu sprechen anfing. Es war sehr interessant. Niemand aus dem Dorf besaß ein Radio, und so ging man hin, um zuzuhören. Im Radio wurden Nachrichten über die Trotzkisten verbreitet, die irgendwo gefangen und dann erschossen wurden. Am Anfang wurden nur einige Personen exekutiert, später wurden es täglich ein- bis zweihundert Verschwörer. Ich wusste ganz genau, dass die Trotzkisten Vaterlandsverräter waren. Das hat man uns in der Schule beigebracht.

In der Regierung war ein kluger Mann namens Igel tätig, der sehr viele Trotzkisten gefangen genommen hatte. Wenn im Radio durchgesagt wurde, dass Igel noch zweihundert von ihnen gefasst und erschossen hätte, machte ich Freudensprünge neben dem Radio. Etwas später tauchten Plakate auf, auf denen ein Mann abgebildet war, der Handschuhe mit Nadeln, die in alle Richtungen zeigten, trug. Darunter stand geschrieben: „Igel – mit seinen igelartigen Handschuhen fängt er die Feinde des Volkes.“ Kurz danach wurde nicht mehr über Igel gesendet, und man erzählte sich, dass Igel auch gefasst worden sei. Aber ich konnte nicht glauben, dass ein Mensch wie Igel verhaftet werden konnte. Es waren wahrscheinlich alles nur Gerüchte.

Und noch etwas konnte ich nicht verstehen: Über tausend Personen wurden erschossen, und der Rest saß in Gefängnissen. Aber wie konnten sie alle auf Kirow schießen! Es hätten auch zwei sein können.

Verwirrend war für mich auch, wie ich für Onkel Tim nützlich sein sollte. Er bekleidete kein wichtiges Amt, sondern war einfach nur ein Heizer. Er sah sehr müde aus, als er nach Hause ging. Mir tat er sehr leid. Während einer Schicht hatte er soviel Kohle verbrannt, wieviel ich niemals schaffen würde. Zum Abschied gab er mir die Hand und sagte: „Wir sehen uns morgen wieder“. Vielleicht würde er mir doch nicht nachspionieren. Und warum sagte er, dass er einen Sohn Grischa gehabt habe? Wo ist er jetzt? In meinem Kopf waren so viele Fragen. Schließlich schlief ich ein.

So begann mein neues Leben. Ich bekam einige neue Freunde. Abends spielten wir Karten und Domino, auch brachten sie mir bei, Otschko9zu spielen. Aber ich spielte lieber Schach. Um Geld wurde nicht gespielt, wir hatten auch keines. Mit einem Schnips auf die Stirn haben wir abgerechnet. Eines Tages kam ich zur Arbeit, und Onkel Tim fragte mich:

„Warum ist deine Stirn so rot und angeschwollen?“

„Wir haben Otschko gespielt, und ich habe verloren.“

Er schimpfte mich aus und erzählte mir die Geschichte von einem reichen Gutsbesitzer, den er sehr gut kannte. Der Gutsbesitzer besaß ein Grundstück und beschäftigte viele Arbeiter. Er hatte ein gutes Herz und bezahlte für die Arbeit sehr gut. Viele Arbeiter kamen aus verschiedenen Orten zu ihm. Im Winter war er ein ständiger Gast bei einem Pan10in der Nachbarschaft. Sie spielten um Punkte, und dieser Pan war ein richtiger Gauner. Am Anfang verlor er, um ihn anzulocken. Danach brachte er den ganzen Besitz des Gutsbesitzers in seine Hände und stellte ihn selber als seinen Arbeiter ein.

„Lass deine Finger von diesem Spiel, Grischa, es führt nicht zum Guten. Ich rate dir, lies lieber mehr Bücher.“

Ich hatte Onkel Tim gern und ließ seinetwegen das Kartenspielen für immer bleiben. Danach fing ich an, Domino zu spielen. Aus irgendeinem Grund wurde er hier „Ziegenbock“ genannt. Es war ein interessantes Spiel. Der Verlierer musste unter den Tisch kriechen und dort die Laute eines Ziegenbocks nachmachen. Wenn ein anderer unter dem Tisch saß, war es amüsant, aber dieses Schicksal hat mich auch oft genug getroffen. Du sitzt dort und machst einen Ziegenbock nach. Und so wirst du täglich fünf, sieben Mal anstelle eines Ziegenbocks unter den Tisch gejagt. Nach einiger Zeit war meine Stimme dermaßen ausgebildet, dass ich es mit jedem anderen Ziegenbock aufnehmen konnte. Später bekam ich den Spitznamen „Ziegenbock“. Ich wurde nicht mehr mit meinem Namen genannt, sondern nur noch Ziegenbock. „Es kommt noch soweit,“ dachte ich, „dass man mich Hammel11nennt. So kann man auch seinen eigenen Namen vergessen. In der Schule nannte man mich auch nicht mit meinem Namen, sondern ‚Mathematiker‘. Es klang wenigstens angenehm, aber das hier mit ‚Ziegenbock‘... Wie tief war ich doch gesunken.“ Auch dieses Spiel ließ ich sein.

Ich erinnerte mich an mein Interesse am Schach. Einmal organisierte ich einen Wettbewerb, und es meldeten sich dazu vier Interessenten an. Die Bedingungen sahen so aus, dass der Verlierer jeweils ausschied und der nächste Spieler seinen Platz einnahm. Bei drei Spielern gewann ich, und dann kam der vierte an die Reihe. Sein Name war Ljoscha, und er war ein Jahr älter als ich. Wir spielten die erste Partie – unentschieden. Die zweite Partie hatte das gleiche Ergebnis. Dann stand er auf und sagte:

„Grischa, du spielst sehr gut. Wenn man mit dir ein bisschen trainieren würde, könntest du ein guter Schachspieler werden. Jetzt habe ich keine Zeit, ich gehe zu einem Schach-Wettbewerb. Aber in Zukunft würde ich mich gern etwas mehr mit dir beschäftigen.“

So freundeten wir uns an. Unsere Freizeit verbrachten wir mit Schachspielen, außerdem erzählten wir uns gegenseitig aus unserem Leben. Wir waren beide Mitglieder im Komsomol12. Das erste, was ich von ihm erfuhr, war, dass sein wirklicher Name Lew und nicht Ljoscha sei. Später vertraute er mir noch ein Geheimnis an. Ich musste aber schwören, es niemandem weiterzusagen. Er war Jude. Vor langer Zeit war sein Großvater Besitzer einer Schuhfabrik gewesen. Das war während der Zeit der NÖP erlaubt. Aber als die NÖP abgesetzt wurde, verbrannte man die Fabrik und nahm die Großeltern mit, vielleicht wurden sie auch umgebracht. Während dieser Zeit waren überall Plakate mit der Aufschrift angebracht: „Rettet Russland... Tötet die Juden“. Die Juden wurden verfolgt, und es war erlaubt, ihre Häuser und Geschäfte zu verbrennen. Wenn eine Jude getötet wurde, war es nicht weiter schlimm. Man musste nur nachweisen, dass während des Pogroms der Jude einen als erster angegriffen hatte. Im Unterricht in der Schule hatten wir gelernt, was NÖP bedeutete. Der Lehrer erklärte, dass es die „Neue Ökonomische Politik“ sei. Der Ackerboden wurde an die Bauern verteilt, jeder bekam einen Anteil. Die Fabriken wurden den Arbeitern übergeben. Wenn man wollte, könnte man ein Geschäft eröffnen, eine Fabrik bauen usw. – es war vieles erlaubt nach dem Prinzip: Arbeite, nur klaue nicht. Und die Juden waren ein gewandtes und kluges Volk. Sie eröffneten ihre Fabriken und stellten Arbeiter ein. Das Leben blühte auf. Sogar im Ausland durfte man Geschäfte machen. Die Menschen waren froh über diese Entwicklung; nicht umsonst hatten sie also die Revolution durchgeführt. Aber die NÖP hielt sich nicht lange. Nach nur drei Jahren war diese Regierung schon veraltet und unerwünscht. In den gehobenen Kreisen wurde darüber diskutiert, dass man eine schwere Industrie benötige und alles vorherige verändert werden müsse. Es wurde erklärt, dass die Juden „Volksfeinde“ seien, und so begann die Verfolgung. Das war der Grund für das Verschwinden von Ljoscha‘s Großeltern.

Aber er hatte noch Eltern, die in einer großen Fabrik arbeiteten. Der Vater war Chefkonstrukteur und die Mutter Technologin. Der Betrieb produzierte kleine Traktoren. Sein Vater jedoch entwickelte ein Modell für einen großen Traktor. Dafür wurde er für einen Volksfeind erklärt, weil man von den kleinen Traktoren eine größere Anzahl fertigstellen konnte als von den größeren. Seine Eltern wurden nach Moskau bestellt, und seitdem sah er sie nicht mehr. Das war im Jahre 1937, als Ljoscha vierzehn Jahre alt war. Seinen richtigen Familiennamen hatte er noch nie jemandem gesagt.

In einer Komsomol-Versammlung wurde Ljoscha zum Komsorg13(Komsomol-Organisator) gewählt und ich zu seinem Vertreter. Dadurch vertiefte sich unsere Freundschaft. Zu meinen Pflichten zählte es, den Mitgliedsbeitrag einzutreiben. Ljoscha sollte Ausflüge ins Kino, zu den Versammlungen in den Fabriken oder zu Vorlesungen organisieren.

Ich erinnere mich an eine Versammlung. Der Direktor hatte einen Bericht vorbereitet, und deshalb war die Anwesenheit Pflicht. Im Gebäude hing entlang der ganzen Wand ein Plakat: „Wir bauen unsere – wir bauen eine neue Welt auf.“ Darunter stand die Unterschrift „Lenin“. Die Anwesenden besetzten die Plätze, und der Direktor erhielt das Wort.

„Kameraden, der zweite Fünf-Jahres-Plan neigt sich dem Ende zu. Die Norm des ersten Fünf-Jahres-Plans haben wir innerhalb von vier Jahren erfüllt. Deshalb hat unsere Fabrik größere Verpflichtungen auf sich genommen. Den zweiten Fünf-Jahres-Plan müssen wir auch innerhalb von vier Jahren ausführen.“

Er sprach ungefähr eine Stunde, aber ich behielt nicht viel davon. Danach hielt der Referent eine Rede. Dieser kam gleich zum Thema.

„Kameraden! Richtet eure Aufmerksamkeit auf diese großartigen Worte, die auf dem Plakat darauf stehen. Wir sind dabei, den Sozialismus zu bauen, und wir werden unser Vorhaben zu Ende führen. Aber unser Ziel liegt noch vor uns. Wir müssen den Kommunismus aufbauen, und wir werden es tun. Mit dem einen Bein stehen wir noch im Sozialismus und mit dem anderen bereits im Kommunismus. Zuerst aber müssen wir den Sozialismus zu Ende bauen, und danach werden wir mit beiden Beinen in den Kommunismus übergehen. Dafür müssen wir unser Tempo beschleunigen. Es lebe das bolschewistische Tempo!“

Weiter hörte ich nicht zu, weil in meinem Gedächtnis Bilder aus dem Leben unseres Dorfes aufstiegen....

Während der Kollektivierung kam eines Tages der Vorgesetzte des Bezirkes zu uns und erteilte den Befehl: „Alle Männer müssen sich beim Kutki versammeln.“ Das bedeutete, dass sich alle in dem Haus, das früher einem anderen Mann gehörte, versammeln mussten. Dieser Mann war ein Kulak14, dessen Besitz enteignet wurde, weil er nicht in die Kolchose gehen wollte. Die Männer versammelten sich, und der Vorgesetzte aus dem Bezirk erklärte, dass ein Vertreter des Dorfes für das Treffen der Kolchosebauern in Moskau gewählt werden sollte. Es sollte ein gebildeter Mann mit einem guten Gedächtnis sein, der das Volk führen könne. Lange berieten die Männer miteinander, wen man nach Moskau schicken könnte. Zum Schluss wurde Onisjko ausgesucht. Ich kann nicht sagen, ob er gebildet war oder nicht, aber er konnte das Geld zählen, und wenn er unterschreiben musste, machte er ein Kreuzchen. Sein Gedächtnis war hervorragend, an alles konnte er sich erinnern. Zu ihm kamen die Menschen, wenn sie Neuigkeiten erfahren wollten. Er konnte einem sagen, wessen Kuh wann ein Kalb bekommen hatte und warum der und der Mann seine Frau schlug und so weiter. Ohne große Bemühungen konnte er das Volk dazu bringen, dass es hinter ihm stand. Wenn dieser Mann mit seinen Schafen unterwegs war, ging er immer vor ihnen und die Schafe hinterher. Als er in die Kolchose ging, folgten ihm die Schafe auch dorthin. Die Männer waren zu dem Entschluss gekommen, dass, wenn die Schafe ihm schon folgten, es die Menschen auch tun würden.

Der Vorgesetzte brachte Onisjko zur Konferenz nach Moskau. Drei Tage lang wurden die Kolchosebauern in Moskau „gelehrt,“ dann flogen alle wieder nach Hause zurück. Auch unser Onisjko kam nach Hause. Nicht nur die Männer versammelten sich jetzt, sondern auch die Frauen und Kinder. Man versammelte sich in der Nähe des Friedhofs, wo früher die Kirche stand. Für Onisjko wurde eine Tribüne aufgebaut. Warum nannte man sie überhaupt „Tribüne“? Ich weiß es nicht. Zwei Fässer standen auf dem Boden, und obendrauf lag eine Stalltür. Onisjko kletterte auf die Tribüne, stand dort eine Weile, dann nahm er seine Mütze ab. Er stand noch eine Weile da... trat von einem Fuß auf den anderen, und plötzlich schrie er los.

„Kameraden! Auf den Treffen hat man uns gelehrt, dass ihr nicht mehr Männer und Frauen seid, somit auch keine Menschen mehr, sondern Kameraden. Drei Tage lang wurden wir über das bolschewistische Tempo unterrichtet. Sogar während wir aßen, erzählten sie uns über das bolschewistische Tempo. Ein Mann sprach darüber, dass wir jetzt dank des bolschewistischen Tempos alles Wünschenswerte auf dem Tisch hätten. Bei uns ist das auch manchmal der Fall, aber nur zu Ostern. Der Grund dafür ist, dass wir nicht das bolschewistische Tempo haben.“

Einige Männer schrien: „Onisjko, kannst du uns bitte erklären, was das bolschewistische Tempo ist. Gib uns wenigstens ein Beispiel.“

„Kameraden, ich werde euch an einem Beispiel erklären, was das bolschewistische Tempo ist. Ihr wisst, dass wir einen sehr alten Friedhof haben. Zweihundert Jahre haben wir gebraucht, um ihn zu füllen. Das bolschewistische Tempo bedeutet, etwas schnell zu errichten. Daneben seht ihr den neuen Friedhof; innerhalb des Jahres 1933 war er voll. Das ist das bolschewistische Tempo. Ich will euch noch ein zweites Beispiel bringen. Bei uns stirbt nur ein Pferd im Monat. Wenn jedoch ein Pferd jeden Tag sterben würde, hieße es das bolschewistische Tempo. Kameraden, es lebe unsere... Ach! Ich habe es vergessen. Kameraden, ich grüße euch alle ganz herzlich! Amen!“

Es war April 1940. In diesem Jahr hatten wir einen warmen Frühling. Das Gras spross früh aus der Erde, und die Sonne schien hell. Ich beeilte mich, um pünktlich um zwei Uhr zur Arbeit zu kommen. Wieder würde ich Onkel Tim antreffen, mit dem ich mich inzwischen gut angefreundet hatte. Wir arbeiteten zusammen; er erteilte mir gute Ratschläge. Ein Gespräch führte bei ihm immer zu einem Punkt: Um zu leben, musste man kämpfen, und nicht immer war das gut, was gut zu sein schien. Wir machen großartige Pläne und versetzen uns in eine unwirkliche Gedankenwelt; in unseren Träumen sind wir ganz oben, aber das wirkliche Leben befördert einen aus dieser Höhe in einen Abgrund. Manchmal schmerzt es so sehr, dass man sich fragt: „Wozu lebe ich überhaupt noch? Welchen Sinn hat mein Leben?“ Das Schicksal treibt einen in die weite Ferne, und man vergießt in der Stille Tränen. Und wenn man sich ausgeweint hat, so ist es einem gleich leichter ums Herz.

Die Arbeitsweise sah so aus, dass in den ersten drei Tagen der Woche die Arbeit ein Einzelner schaffte. Aber die folgenden drei Tage waren eine wirkliche Hölle. Die Heizer schafften es nicht, die Kohle rechtzeitig in den Ofen zu werfen, und am Ende der Schicht mussten sie die Schlacke aus dem Ofen holen und wegbringen. Ein ganzer Berg davon lag neben den Feuerungen. Zur Abkühlung wurde die Schlacke mit Wasser begossen. Dabei kamen Rauch, Dampf und Qualm aus der Feuerung. Den Ofen zu säubern bedeutete im Feuer zu baden; Schweiß und Schmutz lief einem über das ganze Gesicht. Onkel Tim belehrte mich, nicht mit einem nassen Gesicht zum Ofen zu gehen. Man könnte sich dabei verbrennen, weil das Wasser unerträglich heiß wurde und auf dem Gesicht kochte. Das hatte ich mir gut gemerkt. Ich wischte mir immer erst mit dem Ärmel das Gesicht ab und arbeitete weiter. Besser wäre natürlich ein Lappen gewesen, aber wo sollte ich einen Lappen hernehmen? Ein Stück Stoff war etwas sehr Wertvolles. Sogar wenn es alt war, konnte man es zum flicken benutzen. Zum Ende der Schicht war unsere Arbeitskleidung weiß vor Salz.

Eines Tages, als der Ofen sich am Anfang des Brennstadiums befand, hatten wir etwas Zeit für ein Gespräch.

„Sag mal, Grischa,“ fragte mich Onkel Tim, „warum ist einer von euren Burschen ins Feuer gesprungen? Was war der Grund?“

„Es gab nur einen wirklichen Grund, aber viele Vermutungen. Manchmal passieren Tragödien, z.B. wenn ein Freund dich verrät. Aber bei ihm kann ich das nicht bestätigen, denn er war erst sechzehn Jahre alt. Für Mädchen hat er sich noch nicht interessiert, nur für Sport.

Es war ein Monat, nachdem aus uns Lehrlingen Arbeiter wurden. Davor haben wir Essen und Kleidung bekommen. Zwar besaßen wir kein Geld, aber man konnte trotzdem damit auskommen. Und Pawlik war ein großer Bursche, der mehr Essen als die anderen brauchte, um satt zu werden. Er war immer hungrig. Alle anderen waren mit ihrem Mittagessen fertig und gingen nach Hause, aber Pawlik stellte sich vor die Küche, wartete, bis alle Vorarbeiter gegessen hatten, und bettelte um einen Zuschlag. Der Koch gewährte ihm den meistens. Wenn Pawlik aß, hatte man den Eindruck, dass er nicht nur seine Portion, sondern zusätzlich noch drei andere aufessen könnte. Eines Tages war der Partorg beim Mittagessen anwesend. Pawlik hatte ihn wahrscheinlich nicht bemerkt. Er kam zu der Ausgabestelle und fragte nach einem Zuschlag. Da bekam er große Schwierigkeiten.

‚Bist du etwa hergekommen, um deinen Bauch vollzustopfen?‘ schrie der Partorg ihn an, ‚du bist noch so jung und willst schon auf Kosten anderer leben?‘

Wissen Sie, Onkel Tim, unser Pawlik liess den Kopf hängen und ging. Sein Spitzname war Pawlik (kleiner Pawel), aber in Wirklichkeit sah er eher einem Bär ähnlich. Und was für eine Kraft er hatte! Er arbeitete als Kohlefrachter. Pawlik lud den Karren mit Kohle auf, und wenn das Pferd nur langsam vorwärts kam, schob er es hinten an, damit das Pferd es leichter hatte. Er war ein ruhiger Kerl, schien aber oft traurig zu sein. Nach der ersten Lohnauszahlung ging er mit einer düsteren Miene umher. Nach sechs Monaten erhielten wir unser erstes Gehalt und mussten jetzt für uns selber sorgen. Es schien, als ob Pawlik sich von einer Kette losgerissen hätte. Er gab sein ganzes Geld für Essen aus, und zwei Tage vor der nächsten Lohnzahlung musste er sich Geld borgen. Als wir unseren nächsten Lohn erhielten, sahen wir, dass ein großer Teil davon uns vorenthalten wurde: für das Wohnheim, die Arbeitskleidung, auch für die Fehlproduktion. Ich kann es noch verstehen, Onkel Tim, wenn den Heizern für fehlerhafte Produktion Geld vom Lohn abgezogen wird, aber er hat als Kohlefrachter gearbeitet. Welche defekten Produkte hat er gehabt? Pawlik konnte die ungerechte Behandlung nicht mehr verkraften und nahm sich das Leben, indem er sich in den Ofen stürzte. Vielleicht hatte es einen anderen Grund, wer weiß das schon? Er ist nicht mehr da, um ihn fragen zu können.“

„Ja, Grischa. In solchen Situationen sagen sie immer: ‚Du hast es nicht ausgehalten, deine Nerven waren zu schwach.‘ Ich sage dir jedoch: Nerven sind Nerven, aber man kann sie trotzdem beruhigen. In allen Fällen ist der Grund des Selbstmordes die Verzweiflung. Merk dir das und gib es an deine Kinder und Enkelkinder weiter, dass es aus jeder Lebenslage einen Ausweg gibt. Gib dein Leben nicht freiwillig ab, es sei denn, man nimmt es dir mit Gewalt. Auch in der schwierigsten Minute deines Lebens verzweifle nicht. Im Leben kann man Fehler korrigieren, aber wenn man verzweifelt ist, kann man einen nicht wieder gut zu machenden Fehler begehen. In vielen Liedern singt man über die Liebe, Tapferkeit und das Heldentum. Doch es gibt kein Lied, in dem die Verzweiflung verherrlicht wird. Die Verzweiflung wird oft verurteilt und verschwiegen. Ein Leben zu leben ist nicht so einfach wie ein Feld zu überqueren. Das Leben ist ein Kampf, ein Kampf, um zu leben.

Unsere Schicht war abgelaufen, und wir gingen nach Hause. An diesem Abend hatte ich den Wunsch, alleine zu sein. Zum Schachspielen ging ich nicht hin. Ich nahm ein Buch und las mit den Augen, aber mit meinen Gedanken war ich weit weg. Ich legte das Buch zur Seite und dachte über die Worte von Onkel Tim nach: „Verzweifle nicht.“ „Vielleicht hat die Verzweiflung einen Sinn,“ dachte ich, „alle Menschen haben Zeiten, in denen sie verzweifelt sind, aber aus jeder Situation gibt es einen Ausweg. Wie oft kommt im Leben die Verzweiflung? Die völlige Verzweiflung tritt nur einmal im Leben auf. Ich muss mich an des Motto ‚Verzweifle nicht‘ halten. Der gute Onkel Tim. Er sagte, dass er auch einen Sohn Grischa hatte. Wo dieser sich wohl im Augenblick befand? Warum spricht Onkel Tim nicht von ihm? Ich muss mal nachfragen.“

Am nächsten Tag traten Onkel Tim und ich unsere Schicht an. Wir notierten die Temperatur in den Öfen, säuberten sie und setzten uns hin, um etwas auszuruhen.

„Onkel Tim,“ sagte ich, „wir arbeiten nun ein halbes Jahr zusammen, aber Sie haben noch nie über sich persönlich erzählt. Erzählen Sie irgendetwas. Sie sagten, sie hätten einen Sohn Grischa gehabt. Wo ist er jetzt?“

„Ich arbeite in dieser Fabrik nun schon sieben Jahre, aber noch niemandem habe ich über mich und mein Leben erzählt. Ich habe aufgehört, den Menschen zu vertrauen, sogar denen, die mir nahe stehen. Aber vor dir werde ich nichts verbergen, ich erzähle es dir wie meinem eigenen Sohn.

Vor langer Zeit lebte ich im Dorf Panskaja. Von Charkow sind das fünfzig und von Solotschew fünfzehn Kilometer. Dieses Dorf gibt es nicht mehr, aber für mich existiert es immer noch. Ich lebte da noch vor der Revolution und arbeitete zuerst bei dem Pan Philipp als Handwerksbursche in der Schmiede. Wir fertigten Hufeisen für die Pferde und verschiedenes Werkzeug. Nach einiger Zeit beförderte mich mein Arbeitgeber zum Meister. Aber der Pan war kein wirklicher Pan. Eines Tages kam er in die Schmiede sagte: ‚Timka, ich habe deinem Gehilfen drei Tage freigegeben; er hat vor zu heiraten. Ich werde ihn vertreten und dein Gehilfe sein.‘

Ich traute meinen Augen nicht; der Pan war angezogen wie ein einfacher Arbeiter.

‚Welche Arbeit steht heute an?‘ fragte er.

‚Aus vielen Dörfern wurden Hufeisen bestellt.‘

‚Hufeisen? Dann machen wir halt Hufeisen.‘

Er suchte sich einen Hammer aus. Ich wunderte mich, wie er wohl wissen könnte, welcher der richtige sei. Der Pan sah sich in der Schmiede um, legte einen Hammer zur Seite und sagte: ,Das ist der richtige.‘

Während ich eine Zange und einen kleinen Hammer in der Hand hielt, klopfte ich auf den Amboss, und der Pan schlug auf das Metall. Nach dem Mittagessen tauschten wir: Ich war der Gehilfe und er der Meister. Es war leicht, mit ihm zu arbeiten. Am Ende des Tages sagte er zu mir: ‚Du arbeitest bei mir schon das vierte Jahr. Ich bin zufrieden mit dir. Du verdienst ganz gut, und ich mache auch Gewinne. Das Dorf wächst schnell. Einige haben genug Geld und bauen sich eigene Häuser, die anderen borgen sich das Geld dafür. Ein Haus, das in meinem Auftrag gebaut wurde, ist besonders schön. Ich verkaufe es dir für den halben Preis, heirate nur, und dann kannst du das Haus in Raten zurückzahlen.‘ Hier konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, fiel auf die Knie und dankte ihm ganz herzlich für seine Güte.

Nach einem Monat zog ich in das neue Haus. Ich war zu der Zeit fünfundzwanzig Jahre alt. In der ganzen Umgebung sprach man über mich: ‚Mit dem Pan hat er gearbeitet, und dieser hat ihm deshalb ein Haus geschenkt.‘

Aus allen Richtungen wurden Bestellungen aufgegeben. Die Schmiede erweiterten wir auf sechs Arbeitsplätze. Man musste nur arbeiten wollen, für alles andere war gesorgt.

Am Anfang kamen die Menschen mit ihren Aufträgen in die Schmiede, zu einem Gespräch blieb keine Zeit. Die Unterhaltung beschränkte sich darin, wer der Auftraggeber ist, was gemacht werden muss und wie hoch der Preis ist. Später trafen sie mit ihren Bestellungen abends bei mir zu Hause ein. Der eine war noch nicht weg, da kam schon ein anderer. So versammelten sich einige Männer im Haus und ließen sich Zeit. Es kam ziemlich schnell eine Unterhaltung zustande. Einmal erzählte ein Mann, wie er geheiratet hatte. Es war nicht so wie bei allen anderen, sondern ganz ungewöhnlich.“

„Wie denn ungewöhnlich? Erzählen Sie, Onkel Tim.“

„Der Anfang war wie bei allen anderen auch, und dann kam es ganz anders. Und zwar war es so. Er hat sich mit einem Burschen angefreundet, und dieser hatte zwei Schwestern. Auf die jüngere Schwester hatte er ein Auge geworfen. Sie war neunzehn Jahre alt und sehr schön. Heimlich traf er sich mit ihr, und sie beschlossen zu heiraten. Er teilte seinem Vater diesen Wunsch mit, und dann wurde in der Familie darüber beraten. Doch die Mutter weigerte sich hartnäckig, dieser Hochzeit zuzustimmen. Der Vater war dafür, die Mutter dagegen.

Der Vater brachte seine Argumente vor. ‚Hört mir einmal zu. Wer sind die reichsten Bauern im Dorf? – Das ist die Familie dieses Mädchens. Sie besitzen zwei Zweigespanne mit Pferden, zwei Gespanne mit Stieren, Hühner, Gänse, ein Haus und ein großes Grundstück, wodrauf man noch ein Haus bauen könnte. Und das Mädel selber? Keine könnte sich mit ihrer Schönheit vergleichen. Nicht umsonst hat unser Sohn sie ausgesucht.‘

Aber die Mutter beharrte auf ihrem Standpunkt:

‚Auf der einen Seite stimmt das, aber wir sollten trotzdem vorsichtiger sein. Das Mädchen hat einen guten Charakter, ist jung und sieht aus wie ein Engel. Jedoch sagt man nicht zu Unrecht, wenn man ein Haus kauft, dann kauft man auch die Nachbarn mit. Und wenn man heiratet, hat man nicht nur eine Ehefrau bekommen, sondern auch ihre Eltern. Und wer ist ihr Vater? Alle wissen, dass er ein Pferdedieb ist, nur traut sich keiner, das zu sagen. Und was für eine Mutter hat sie? Eine so streitsüchtige Frau wie sie gibt es in der ganzen Umgebung nicht. Das wird kein Leben für unseren Sohn. Nein, ich bin kategorisch dagegen.‘

‚Das reicht, wir verheiraten unseren Sohn nicht mit der Mutter, sondern mit der Tochter. Sie sind reich, wir sollten nur bei der Brautwerbung sicher gehen und eine so große Aussteuer wie nur möglich mitnehmen. Wir können das Haus entfernt von dem ihrer Eltern bauen, wenn du solche Angst hast, dass dein Sohn mit irgendeinem alten Weib nicht zurechtkommt. Dann kannst du sie besuchen und dich an deinen Enkelkindern erfreuen.‘