Flucht aus Frankreich 1940 - Marianne Loring - E-Book

Flucht aus Frankreich 1940 E-Book

Marianne Loring

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Beschreibung

Eine wichtige Quelle zur dramatischen Geschichte des Exils: die Aufzeichnungen der damals 16jährigen Tochter des SPD-Vorstandsmitgliedes Friedrich Stampfer. Im Juni 1940 mußte der 1938 aus Prag nach Paris entkommene Vorstand der Exil-SPD erneut vor den Nazis fliehen. Die Gruppe bestand aus dem Vorsitzenden Hans Vogel, aus Breitscheid und den Vorstandsmitgliedern Geyer, Hilferding, Ollenhauer, Rinner und Weichmann mit ihren Frauen und Kindern, darunter die Autorin. Sie erlebt und beschreibt die spannungsgeladene Flucht dieser Gruppe, stets in Angst vor den Spitzeln der Gestapo und ihren willfährigen Dienern in französischen Behörden. Unter dem psychischen Druck zerbricht schließlich die Gruppe. Die einen erreichen das rettende Exil, die anderen werden von ihren Verfolgern ergriffen, verschleppt, gepeinigt und ermordet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Marianne Loring

Flucht aus Frankreich 1940

Die Vertreibung deutscher Sozialdemokraten aus dem Exil

Herausgegeben von Wolfgang Benz

FISCHER Digital

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]To Roger and DebbieWolfgang Benz: Fliehen vor Hitler. Einleitende Bemerkungen zum sozialdemokratischen ExilZum TextFlucht aus FrankreichVorwortEinleitungEin Stück LebensgeschichteComplice MazelDer MietvertragAbenteuerDer ZirkusDer 13. Juni 1940ArmisticeAngstTatjanaDie GeburtstagstorteLe Passage à NiveauHindernisseIrrfahrten30 Kilometer vor CastresEine schicksalsschwere TrennungSètePanikDer Ring schließt sichArtikel 19Ein Telegramm und ein BriefRuhe im SturmMme. Lucienne CrosNous vaincrons parce que nous sommes les plus fortsMonsieur Jasmin-TerminusEin TelephongesprächLe petit trainSauf-conduitsDas letzte Mal roter Autobus»Des Tchécoslovaques«Marseille»Bobards«Der EntschlußEin fast verhängnisvolles ExperimentDie NachtDer Geburtstag meines VatersDas Mißgeschick der WeichmannsGerettetLissabonDie AbfahrtZwischen zwei WeltenAnhangAnmerkungenFriedrich Stampfer: Flucht aus FrankreichÜbersetzung der französischen Begriffe und Passagen

Die Zeit des Nationalsozialismus Eine Buchreihe

Herausgegeben von Walter H. Pehle

To Roger and Debbie

So they may know what it was like

Wolfgang Benz

Fliehen vor Hitler

Einleitende Bemerkungen zum sozialdemokratischen Exil

»Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht«, mit diesen Worten hatte Otto Wels die Haltung der SPD, ihre Verfassungstreue und die Verweigerung gegenüber Hitlers Begehren nach dem Ermächtigungsgesetz besiegelt. »Wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechts«, hatte er am 23. März 1933 unter dem Toben und brüllendem Gelächter der NSDAP-Abgeordneten vor dem Reichstag erklärt und den Anhängern Hitlers zugerufen: »Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.«[1]

Auf Jahre hinaus, bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes, das sich gerade in Deutschland etablierte, war die Rede des SPD-Vorsitzenden Wels das letzte öffentliche Bekenntnis zur Demokratie und das letzte offene Wort des Widerstands gegen die Barbarei in einem deutschen Parlament. Es gehörte bereits viel Mut dazu. Seit dem 28. Februar, an dem der Reichstag brannte, war die seit 30. Januar 1933 amtierende Hitler-Regierung im Besitz von Vollmachten, die die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger beschnitten, die Immunität der Abgeordneten war nicht mehr garantiert, unter dem Beifall ihrer konservativen Bündnispartner waren die Nationalsozialisten dabei, den Rechtsstaat zu demontieren und durch ihre Diktatur zu ersetzen.

Die SPD war bis 1932 die stärkste, dann, nach den sensationellen Erfolgen der NSDAP, die zweitstärkste und vor allem die am besten organisierte Partei in Deutschland. Auch angesichts der Exzesse nach Hitlers Machtübernahme war sie entschlossen, den Weg der Legalität keinen Fingerbreit zu verlassen. Der Parteivorstand ließ sich in dieser Haltung auch nach dem Reichstagsbrand mit seinen Folgen nicht beirren. Die Parteibasis hatte allerdings dafür nicht immer Verständnis. Die SPD verstand sich zur Zeit der Machtübernahme Hitlers als Opposition, die mit aller Schärfe, aber nur mit legalen Mitteln, gegen die Hitler-Regierung und die NSDAP kämpfen wollte. Dazu bestand freilich bald keine Möglichkeit mehr.[2]

Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 hatte die SPD noch 120 Mandate errungen. Am 23. März wurde über das von Hitler verlangte Ermächtigungsgesetz abgestimmt, mit dem sich das Parlament selbst entmachtete, weil es mit mehr als der notwendigen Zweidrittelmehrheit der Reichsregierung die Vollmacht zur Gesetzgebung nach Belieben erteilte. SA und SS hatten das Gebäude der Kroll-Oper abgeriegelt, in dem die Abgeordneten tagten, weil das Reichstagsgebäude ausgebrannt war. Die kommunistischen Abgeordneten konnten schon nicht mehr an der Sitzung teilnehmen. 94 Sozialdemokraten waren noch anwesend, 26 waren bereits verhaftet oder befanden sich auf der Flucht.

Am 10. Mai 1933 wurde auch das Parteivermögen der SPD beschlagnahmt, soweit es nicht ins Ausland gerettet worden war. Am 22. Juni erging das Verbot jeglicher politischer Tätigkeit, gleichzeitig erloschen alle Mandate der SPD im Reichstag und in den Länderparlamenten. Viele sozialdemokratische Funktionäre wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Das Umfeld der SPD, von den Arbeiterbildungsvereinen bis zur Arbeitersportbewegung und allen voran natürlich das »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« als Kampforganisation für Demokratie und Rechtsstaat, waren bereits dem Druck des nationalsozialistischen Terrors erlegen.[3]

Der SPD-Vorstand hatte zuletzt auf eine Doppelstrategie gesetzt. Gestützt auf die Parlamentsmandate wollte die Partei politisch aktiv und präsent bleiben; gleichzeitig baute sie ab Frühjahr 1933 in Prag eine Auslandszentrale auf, von der aus die illegale Weiterarbeit im Deutschen Reich geleitet werden sollte. Diese Strategie der SPD war nicht unumstritten. Abgesehen davon, daß ein Teil der Parteibasis für offenen Widerstand plädierte und nicht kampflos vor dem Nationalsozialismus kapitulieren wollte, kam es im Mai 1933 zum Konflikt zwischen der Vorstandsmehrheit im Exil und einer Gruppe um den früheren Reichstagspräsidenten Paul Löbe, die darauf setzte, durch legale Opposition dem nationalsozialistischen Terror begegnen zu können. Diese Illusion war freilich schnell verflogen. Nach dem Überfall der Nationalsozialisten auf die Gewerkschaftshäuser am 2. Mai 1933 beschloß der Parteivorstand in Erwartung eines Schlages gegen die SPD die Ausreise seiner drei Mitglieder Otto Wels, Siegmund Crummenerl und Friedrich Stampfer. Wenig später folgten ihnen Hans Vogel, Erich Ollenhauer und Paul Hertz. Andere Prominente – Otto Braun und Albert Grzesinski, Philipp Scheidemann, Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding – waren bereits emigriert.

Nach dem Verbot im Juni 1933 verblieb der SPD dann nur noch der Exilparteivorstand in Prag. Um den Einfluß in Deutschland nicht zu verlieren, wurde das Parteiorgan in Prag weiterpubliziert und hieß jetzt »Neuer Vorwärts«. Grenzsekretariate wurden rings um Deutschland eingerichtet. Kuriere brachten dorthin Nachrichten und Berichte aus Deutschland über die soziale Lage der Arbeiterschaft sowie über die Einstellung der Bevölkerung zum Regime. Sie transportierten von diesen Stellen aus Flugschriften und anderes Propagandamaterial ins Reich. Mit Erlebnisberichten und einer Dokumentation über die Konzentrationslager, in denen zu diesem Zeitpunkt schon 50000 Menschen gefangengehalten wurden, versuchte die Exil-SPD bereits 1934, die Nachbarstaaten auf den Terror der Nationalsozialisten aufmerksam zu machen.

Die SPD im Exil sah eine ihrer Aufgaben darin, »der Welt die Wahrheit zu sagen«[4] und vor der Expansion der nationalsozialistischen Diktatur zu warnen. Eine andere bestand in der Information der Genossen in Deutschland und der Stärkung ihres Widerstandswillens. Im Exil firmierte die Partei unter der Bezeichnung Sopade, die ebenso für Neuanfang stand wie für das Bewahren der Tradition der demokratischen Arbeiterbewegung Deutschlands.[5]

Die SPD-Führer im Prager Exil arbeiteten seit Herbst 1933 an einer Programmschrift, um ihrer Opposition gegen die nationalsozialistischen Machthaber ein Ziel zu geben und die theoretische Position der SPD zu klären. Ende Januar 1934 wurde das »Prager Manifest« veröffentlicht. Darin hieß es, die Wiedereroberung demokratischer Rechte sei eine »Notwendigkeit, um die Arbeiterbewegung als Massenbewegung wieder möglich zu machen«. Der »Kampf um die Demokratie« erweitere sich zum »Kampf um die völlige Niederringung der nationalsozialistischen Staatsmacht«.[6]

Die Verfasser des »Prager Manifests«, Rudolf Hilferding, Friedrich Stampfer, Curt Geyer, hatten über die Sofortmaßnahmen nach der Beseitigung des Nationalsozialismus hinaus die Vision eines erneuerten demokratischen Staates und einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft. Die im Januar 1934 verabschiedete Programmschrift schloß mit dem Aufruf an die deutsche Arbeiterschaft, die »Ketten der Knechtschaft« abzuschütteln. Im Deutschen Reich wurde das »Prager Manifest« unter dem Tarntitel »Die Kunst des Selbstrasierens« verbreitet.

Vor dem Einmarsch deutscher Truppen, mit dem im Frühjahr 1939 die Zerschlagung der Tschechoslowakei besiegelt wurde, floh der sozialdemokratische Parteivorstand nach Paris. Die Regierung in Prag war wegen ihrer Haltung gegenüber den deutschen Emigranten und deren politischen Aktivitäten von Berlin aus zunehmend unter Druck geraten.[7] Deshalb zogen die deutschen Sozialdemokraten Anfang des Jahres 1938 nach Paris. Ein Jahr später, kurz vor der Besetzung der französischen Hauptstadt durch deutsche Truppen am 14. Juli 1940 waren sie wieder auf der Flucht. Darüber wird in diesem Buch berichtet.

Die Personen des Dramas, in das die Flucht nach Südfrankreich und weiter durch Spanien und Portugal ausartete, bildeten die großen Namen des demokratischen Sozialismus der Weimarer Republik. Otto Wels war nicht mehr unter ihnen. Am 16. September 1939 war er, 66jährig, nach längerer Krankheit in Paris gestorben. Seine Witwe Toni gehörte zum Troß der Flüchtlinge, sie war damals 65 Jahre alt und auch nicht mehr bei guter Gesundheit.

Die bedeutendste und neben Breitscheid die andere tragische Figur dieser Geschichte ist Rudolf Hilferding, geboren 1877 in Wien, gestorben unter nicht geklärten Umständen im Pariser Gefängnis La Santé im Februar 1941. Ursprünglich Arzt, war er einer der bedeutendsten marxistischen Theoretiker; sein Buch »Das Finanzkapital«, erschienen 1910, machte ihn zur Autorität schlechthin, seine These vom »organisierten Kapitalismus« und das daraus resultierende Postulat der Wirtschaftsdemokratie war ab Mitte der 20er Jahre offizielle Doktrin der Sozialdemokratie und des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Hilferding war Herausgeber der Zeitschrift »Marx-Studien«, Redakteur des Vorwärts, Chef des USPD-Organs »Die Freiheit« (1918–1922) gewesen, hatte nach der Novemberrevolution der Sozialisierungskommission des Rats der Volksbeauftragten angehört. Im Herbst 1923 und 1928/29 war er Reichsfinanzminister gewesen, am Heidelberger Programm der SPD von 1925 hatte er als Autor maßgeblich mitgearbeitet, dem Reichstag gehörte er von 1924 bis 1933 an, im Parteivorstand saß er seit September 1922. Als »Erfüllungspolitiker«, »Novemberverbrecher« und prominenter Vertreter des demokratischen Sozialismus stand er auf den Proskriptionslisten der Nationalsozialisten und war deshalb im März 1933 über die Schweiz und die Tschechoslowakei nach Paris emigriert, wo er publizistisch Widerstand gegen den Nationalsozialismus leistete.[8]

Nicht weniger gefährdet war sein um drei Jahre älterer Freund Rudolf Breitscheid, der als Mitglied des Reichstags (1920–1933) und als außenpolitischer Sprecher der SPD zur Parteiprominenz gehörte. Der ursprünglich linksliberale promovierte Volkswirt war seit 1912SPD-Mitglied, 1917–1922 hatte er der USPD angehört, in der Revolutionszeit, von November 1918 bis Januar 1919, war er preußischer Innenminister gewesen.[9]

Der Vater der Autorin, Friedrich Stampfer, war nicht nur wegen seiner französischen Sprachkenntnisse einer der wichtigsten Teilnehmer der verzweifelten Reise in den Süden Frankreichs. 1874 in Brünn in der damaligen k.u.k. Donaumonarchie geboren, war er nach dem Studium der Volkswirtschaft und der Staatswissenschaften der Sozialdemokratie beigetreten, war ab 1900 zwei Jahre lang Redakteur der Leipziger Volkszeitung und dann Herausgeber einer Pressekorrespondenz gewesen. Im November 1916 (nachdem er Militärdienst in der österreichisch-ungarischen Armee geleistet hatte) wurde er Chefredakteur des SPD-Zentralorgans Vorwärts. Stampfer gehörte zum rechten Flügel der Partei, war antirevolutionär und streng antikommunistisch gesonnen und trat im Juli 1919 aus Protest gegen den Versailler Friedensvertrag zurück. Ab Februar 1920 wieder als Chefredakteur beim Vorwärts, gehörte er bis 1933 auch dem Reichstag an, seit 1925 war er Mitglied im Parteivorstand der SPD.

Trotz seiner Abneigung gegen eine Emigration (wegen seiner jüdischen Herkunft aber noch mehr gefährdet als andere prominente Sozialdemokraten) folgte er im Mai 1933 dem Parteibeschluß und ließ sich, zusammen mit Otto Wels und dem Parteikassierer Siegmund Crummenerl, ins Ausland entsenden, um in Prag die Zentrale der Exil-SPD zu konstituieren. Mit Curt Geyer und Erich Rinner saß er in der Programm-Kommission des »Prager Manifests«, er leitete mit Geyer zusammen in Prag den Neuen Vorwärts. Wenig später veröffentlichte er die erste Geschichte der Weimarer Republik.[10]

1935 hatte Stampfer an den gescheiterten Verhandlungen einer deutschen Volksfront, also dem Zusammenschluß aller antifaschistischen Kräfte im Exil,[11] in Paris teilgenommen, im Februar und März 1939 hielt er sich in New York auf, um mit amerikanischen Gewerkschaftern und Gesinnungsfreunden Wege zur weiteren Finanzierung der Sopade-Arbeit zu suchen (der Teil des Parteivermögens, den die Sozialdemokraten im Frühjahr 1933 ins Ausland gerettet hatten, war längst aufgebraucht).

Im Frühjahr 1940 war Stampfer aus dem gleichen Grunde abermals in New York; am 9. Mai war er wieder in Paris eingetroffen; nur wenig später befand er sich mit Frau und Tochter auf der Flucht vor Hitlers Schergen. Ein erheblicher Teil der organisatorischen, psychologischen und alltäglichen Mühen der Flucht, verursacht durch Umstände, Behörden, Gefahren und durch menschliche Unzulänglichkeiten der Reisenden, lasteten auf den Schultern Friedrich Stampfers.

Hans Vogel, 1881 geboren, gelernter Holzbildhauer und ab 1908 Parteifunktionär, verkörperte den Typ des sozialdemokratischen Berufspolitikers. Er war Bezirkssekretär in Franken, saß für die SPD von 1912 bis 1918 im bayerischen Landtag und von 1919 bis 1933 im Reichstag, war seit 1927 Mitglied des Parteivorstands und ab Juni 1931 zusammen mit Otto Wels und Arthur Crispien Vorsitzender der Partei. Auf der Parteikonferenz vom 26. April 1933 im Amt als zweiter Vorsitzender der SPD bestätigt, wurde er im Mai in die Emigration nach Prag geschickt, zog 1938 mit dem SPD-Vorstand nach Paris um und amtierte nach dem Tod von Otto Wels im September 1939 als alleiniger Vorsitzender der exilierten Sozialdemokratie.

Curt und Anna Geyer hatten in den ersten Jahren der Weimarer Republik als junge Leute (Anna war 1893 als Tochter eines Bildhauers in Frankfurt am Main, Curt 1891 in Leipzig als Sohn des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Friedrich Geyer zur Welt gekommen) politische Rollen gespielt. Curt hatte sich nach dem Studium der Geschichte und der Volkswirtschaft 1917 der USPD angeschlossen, war Mitglied des Zentralkomitees, hatte sie im Reichstag vertreten, er begleitete den linken Flügel auch zur KPD und ließ sich nach Moskau zur Komintern delegieren. Nach der Rückkehr zur SPD1922 war er bis 1933 innenpolitischer Redakteur des Vorwärts, seine politische Position war jetzt rechts von der sozialdemokratischen Mitte, eine Zusammenarbeit mit der KPD oder der linken Parteiopposition lehnte er ab. Seit Oktober 1933 in der Emigration, war er, zusammen mit Friedrich Stampfer, Chef des »Neuen Vorwärts« in Prag und dann in Paris. 1938 wurde er in den Parteivorstand berufen.[12] Anna Geyer war in der Revolutionszeit Abgeordnete der USPD im sächsischen Landtag gewesen, auch sie kehrte nach Stationen bei der KPD und dann der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft zur SPD zurück und war als Journalistin für den Vorwärts, in der Emigration auch für das Pariser Tageblatt, tätig. Ihre Tochter Lily war zur Zeit der Flucht aus Frankreich 13 Jahre alt.

Herbert und Elsbeth Weichmann sowie Erich Rinner und Erich Ollenhauer gehörten zu den jüngeren der Fluchtgesellschaft, sie waren um die 40 Jahre alt und bildeten 1933 das mittlere Establishment der sozialdemokratischen Funktionäre. Herbert Weichmann (1896–1983) stammte aus einer gebildeten jüdischen Familie aus Oberschlesien, er hatte Jura studiert, war Richter und Journalist gewesen, ehe ihn der legendäre preußische Ministerpräsident Otto Braun ins Staatsministerium holte, wo er als persönlicher Referent im Rang eines Ministerialrats tätig war, bis ihn die Nationalsozialisten 1933 aus dem Amt jagten. Über Brünn flohen Herbert und Elsbeth Weichmann (1902–1988) im Oktober 1933 nach Paris, beide arbeiteten dort als Journalisten (Frau Weichmann hatte Nationalökonomie studiert und sich dann publizistisch einen eigenen Namen gemacht), sie waren 1940 zunächst von der französischen Regierung interniert worden.

Erich Ollenhauer (1901–1961) hatte nach einer kaufmännischen Lehre die Laufbahn des sozialdemokratischen Jugendfunktionärs eingeschlagen, war ab 1923 Sekretär der sozialistischen Jugendinternationale und wurde am 26. April 1933 als Vertreter der jüngeren Generation in den Parteivorstand der SPD gewählt. Über Saarbrücken war er nach Prag und dann nach Paris emigriert, aus der Internierung im Mai 1940 wurde er wie andere wichtige Leute durch Intervention des prominenten französischen Sozialisten Léon Blum entlassen.[13]

Ganz ähnlich war die Karriere Erich Rinners (1902–1982) verlaufen. Nach manchen Funktionen in der SPD war der studierte Volkswirt 1933 in den Parteivorstand gewählt worden, in der Emigration war er von 1934 bis 1940 in Prag und schließlich in Paris Redakteur der monatlich erscheinenden »Deutschland-Berichte der Sopade« gewesen, dem wichtigsten Informationsorgan über Hitlers Staat, das aus Berichten von Genossen in Deutschland gespeist wurde.

Das nationalsozialistische Regime hatte viele Emigranten mit der Ausbürgerung[14] bestraft und verlangte von der französischen Regierung die Auslieferung zwecks weiterer Verfolgung. Das physische Entkommen, die Flucht vor Hitlers Schergen, wie in diesem Buch mit der Grazie und dem Charme der 16jährigen Autorin geschildert, bedeutete noch nicht Rettung. Dazu waren Pässe und Visa, Ausreisegenehmigungen und die Gewährung von Transit nötig. Die französischen Behörden waren zu Hilfen kaum willens und vor allem nicht in der Lage. Die Organisation der Reise über Spanien und Portugal nach den Vereinigten Staaten oder Großbritannien, in geringerem Maße auch noch in andere Länder, erforderte Beziehungen und Geldmittel, die nur außerhalb des bedrängten europäischen Kontinents aufgebracht werden konnten. Vor allem zwei Organisationen (wenn dieser Ausdruck für die Rettungsaktionen überhaupt zutrifft) teilen sich mit dem Jewish Labor Committee (New York) den Ruhm, Flüchtlingen vor Hitler im letzten Augenblick geholfen zu haben.[15]

Im Auftrag des von amerikanischen Bürgern im Sommer 1940 errichteten Emergency Rescue Committee besorgte Varian Fry von einem Hotelzimmer in Marseille aus Visa und Schiffspassagen, steckte den Hilfsbedürftigen Geld in die Tasche und sorgte für den Transit durch Spanien nach Portugal. Intellektuelle, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler wie Heinrich Mann, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Marc Chagall und andere Prominente verdankten dem Emergency Rescue Committee die Rettung.[16]

Im selben Hotel hatte sich ein amerikanischer Journalist schon vor Fry einquartiert. Frank Bohn (1878–1975) arbeitete im Auftrag der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung (American Joint Labor Committee) ebenso virtuos wie erfolgreich daran, europäische Sozialisten und Gewerkschaftsfunktionäre vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen. Für die Sopade-Leute war er zuständig, und bis auf Breitscheid und Hilferding, denen ihre Unfähigkeit zum Entschluß zum Verhängnis wurde,[17] konnte Frank Bohn allen helfen. Ihm zur Seite stand Fritz Heine, sozialdemokratischer Parteifunktionär und selbst auf der Flucht vor Hitler, seit 1925 Sekretär beim Parteivorstand, ab 1933 in Prag für Verlags- und Propagandafragen zuständig. 1938 in Paris in den Parteivorstand kooptiert, organisierte er von Juli 1940 bis Februar 1941 in Marseille als Sopade-Beauftragter die Flucht gefährdeter Sozialdemokraten, lebte dann bis Anfang 1946 in London.[18] Nach der Rückkehr wurde er in den SPD-Vorstand gewählt. Sein Name steht für den Behauptungswillen der Sozialdemokratie im Exil und für Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung von Weimar über Hitler hinaus zur Bundesrepublik.

Nach der Rettung trennten sich die Wege und Schicksale der Flüchtenden. Toni Wels starb 1942 in New York. Hans Vogel, der seit Januar 1941 in London die SPD repräsentierte und auf die Rückkehr in ein Deutschland nach Hitler hoffte, starb am 6. Oktober 1945, während in Wennigsen bei Hannover unter dem Vorsitz von Kurt Schumacher die »Reichskonferenz« der wiederentstehenden SPD tagte. Die Londoner Emigration war dort durch Erich Ollenhauer (und ebenso durch Fritz Heine und andere) vertreten. Er kehrte im Februar 1946 nach Deutschland zurück, wurde im Mai zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD in den westlichen Besatzungszonen gewählt und war nach dem Tod Kurt Schumachers von 1952 bis 1963 Vorsitzender der SPD, ein ebenso loyaler wie beständiger Politiker, der als Oppositionsführer und Kanzlerkandidat gegen Konrad Adenauer freilich glücklos blieb.

Erich Rinner lebte ab Herbst 1945 in New York, als Wirtschaftsexperte einer Bank trat er politisch nicht mehr hervor. Das Ehepaar Geyer trennte sich nach der Flucht aus Frankreich. Anna Geyer ging mit Lily nach Amerika, wo sie 1941 Mitglied im Executive Committee des »German-American Council for the Liberation of Germany from Nazism« wurde. Sie starb 1973 in Detroit. Curt Geyer lebte ab Juni 1941 in London. Nach Konflikten über Programm und Politik der SPD nach dem Untergang des NS-Staates verließ er im Januar 1942 den Parteivorstand der Sopade. Aus der Partei wurde Geyer, der vorübergehend mit den strikt antideutschen Überzeugungen Lord Vansittarts sympathisierte, nach einer Erklärung über den Nationalismus der SPD und die Mitschuld der Partei am Aufstieg des Nationalsozialismus ausgeschlossen. Er zog sich schließlich ganz aus der Politik zurück und arbeitete von 1947 bis 1963 als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in London. 1967 ist er gestorben.

Elsbeth Weichmann studierte in New York Statistik, wurde Mitarbeiterin der Rockefeller Foundation, schrieb auch für die deutsch-jüdische New Yorker Zeitung »Aufbau«. Herbert Weichmann arbeitete in der Kanzlei eines Wirtschaftsprüfers und war unter anderem Vorstandsmitglied im »German-American Council for the Liberation of Germany from Nazism«. Im Juni 1948 kehrte er auf Wunsch des Hamburger Bürgermeisters Max Brauer nach Deutschland zurück, seine Frau folgte wenig später nach. Er gehörte zu den wenigen Hitler-Flüchtlingen, die im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik eine Karriere machten. Herbert Weichmann baute den Rechnungshof wieder auf und war dessen Präsident, dann Präses der Finanzbehörde und von 1965 bis 1971 Erster Bürgermeister von Hamburg. Er ist 1983, inzwischen Ehrenbürger der Hansestadt, gestorben; seine Frau lebte bis 1988.[19]

Friedrich Stampfer, der neben Breitscheid älteste, aber auch der agilste in der unfreiwilligen Reisegesellschaft, die aus dem besetzten Frankreich zu entkommen suchte, stürzte sich nach der Überfahrt nach New York gleich wieder in die politische Arbeit. Er schrieb für das Exilblatt »Neue Volks-Zeitung« und war in Organisationen der politischen Emigration tätig, hielt sich von Oktober 1941 bis Februar 1942 wieder in London auf, um Kontakte mit der britischen Labour Party zu halten. Zu seinen politischen Anliegen gehörte es, die Kollektivschuld-These und die Vermutung eines faschistischen deutschen Nationalcharakters zu bekämpfen, er exponierte sich gegen die Ansichten Vansittarts und stritt gegen Territorialverluste des Deutschen Reiches und gegen die Massenvertreibungen der Deutschen aus Ostmitteleuropa. Im Sommer 1947 besuchte er die amerikanische und die britische Besatzungszone Deutschlands, ein Jahr später nahm er einen Ruf als Dozent an die Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main an. Daneben blieb er bis zu seinem Tod im Dezember 1957 als Journalist und Schriftsteller präsent. Charlotte Stampfer, geborene Trénel, die ihn auf allen Wegen begleitet hatte, starb 1969 im Alter von 79 Jahren in Bad Kreuznach.

Zu berichten bleibt, wohin die Geschicke die Hauptperson dieses Buches führten. Marianne Stampfer besuchte das Hunter College in New York City und schloß 1946 ihr Studium mit dem B.A. in englischer Literatur ab. 1950–1952 arbeitete sie in München für amerikanische Behörden, um in der Nähe der Eltern zu sein, die sich bei Frankfurt niedergelassen hatten. Dann heiratete sie und zog nach Kalifornien. Im Frühjahr 1995 schrieb sie über sich: »Nach meiner bewegten Kindheit kann ich mit Genugtuung berichten, daß ich sehr seßhaft geworden bin. Im vorigen Jahr wurde ich 70 und wohne seit 35 Jahren in demselben Haus. End of the story.«

Zum Text

Der Text, im Sommer 1941 von Marianne Stampfer zu Papier gebracht, wurde weder von der Autorin noch vom Herausgeber verändert. Lediglich einige wenige offensichtliche Tippfehler und etliche orthographische Irrtümer sind stillschweigend korrigiert worden, ebenso ist die Interpunktion vom Herausgeber nach den heutigen Regeln der Grammatik berichtigt worden.

Als Marianne Loring Anfang der 90er Jahre nach dem handgeschriebenen Original das Typoskript erstellte, hat sie an manchen Stellen dem Text Erläuterungen hinzugefügt, die in englischer Sprache abgefaßt sind. Diese Anmerkungen erscheinen im Druck in Übersetzung; sie sind, um sie von den Kommentaren des Herausgebers zu unterscheiden, kursiv gesetzt. Die zahlreichen französischen Begriffe, Redewendungen, Dialoge im Text sind, um den originalen Duktus und das Flair des Berichts nicht zu beeinträchtigen – das Denken der 16jährigen Autorin und ihr Stolz, die Sprache des Gastlands zu beherrschen, finden ja darin ihren Ausdruck –, nicht übersetzt oder annotiert worden. Der Leser findet jedoch im Anhang des Buches alle französischen Passagen in einer deutschen Übertragung, die von Isabelle Birambaux besorgt wurde.

Das Vorwort der Autorin vom Herbst 1992 wurde, ebenso wie ihre Erläuterungen zum Text, vom Herausgeber übersetzt. Eine »Dramatis Personae« überschriebene Zusammenstellung knapper biographischer Daten wurde zugunsten einer ausführlichen Charakterisierung der Personen und der historischen Zusammenhänge weggelassen. Das Kapitel »Flucht aus Frankreich« aus den Erinnerungen Friedrich Stampfers, auf das Marianne Loring in ihrem Vorwort Bezug nimmt, beschließt dieses Buch. Es ist mit freundlicher Erlaubnis der Rechtsnachfolger des Verlags für Politik und Wirtschaft dem 1957 erschienenen Buch »Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben« entnommen.

W.B.

Flucht aus Frankreich

Marianne Stampfer, 1942

Vorwort

Diese Geschichte lag, nahezu vergessen, fünfzig Jahre lang ganz hinten in einem Schrank. Gelesen haben sie meine Eltern, als ihre Niederschrift 1941 beendet war, mein Mann in den 50er Jahren und Ernie Vogel, der Sohn von Hans Vogel, in den 80er Jahren. Ich hielt den Text unter Verschluß, weil er ein so persönliches Dokument darstellt und weil ich diejenigen nicht verletzen wollte, über die ich so hart geurteilt habe. Ich möchte auch jetzt ihre Kinder nicht kränken. Das inzwischen vergangene halbe Jahrhundert hat wohl die Dinge entschärft. Ich dachte also, die Zeit sei gekommen, das Manuskript abzutippen, um es der Vergessenheit zu entreißen, damit mein Sohn und etliche andere, die es möglicherweise interessiert – einige von ihnen waren Teilnehmer der Odyssee –, es lesen könnten.

Mein Dank gilt vor allem Max Knight, dem Schriftsteller, Dichter und ehemaligen Editor der University of California Press, für seine Ermunterung und sein Drängen, das dem Dokument zum Tageslicht verholfen hat. Er machte viele hilfreiche Vorschläge und betonte die Notwendigkeit erläuternder Fußnoten. Ich möchte hervorheben, daß das Manuskript vollkommen unverändert wiedergegeben ist, genauso, wie es aus der Feder der 16jährigen Autorin geflossen ist.

Ich danke Ernie Vogel dafür, daß er biographische Daten zur Verfügung gestellt hat, und Jeffrey Masson, der nicht nur die Benutzung seines Computers gestattet hat, sondern mich aufrechthielt, wenn das Unternehmen schmerzhaft und lästig für mich wurde.

Der aufmerksame Leser wird etliche Unstimmigkeiten in der Schilderung meines Vaters, die am Ende abgedruckt ist, erkennen. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, daß mein Vater mein Manuskript sorgfältig gelesen und mit einigen Anmerkungen versehen, aber niemals dessen Stimmigkeit in Frage gestellt hat. Sein kurzer Überblick über diesen Zeitabschnitt ist etwa sechzehn Jahre später verfaßt worden. Er hatte damals keinen Zugang zu meinem Manuskript, und es ist verständlich, daß er sich nicht mehr an jede Einzelheit erinnern konnte.

Kensington, California

Oktober 1992

M.L.

Einleitung

Es liegt Güte und auch Ironie des Schicksals darin, daß ich den Schlußstrich unter die Erzählung der schwersten Zeit meines Lebens in einer so schönen Umgebung setzte.

Diese Zeilen, an denen ich sechs Monate gearbeitet habe, sind zu nichts anderem bestimmt, als ein persönliches Dokument zu sein.

Mit klopfendem Herzen habe ich das erste Wort geschrieben; mit klopfendem Herzen schreibe ich das letzte.

Es ist das erste Mal, daß ich etwas geschrieben habe, das ich andern zeigen werde. Mit 16 ½ habe ich diese Erzählung angefangen, mit 17 vollende ich sie. Dies ist die erste meiner Schriften, die in die Welt – so klein sie auch sein mag – hinaus soll. Mit bangem Herzen lasse ich sie gehen.

Möge dies der größte Unsinn sein, der jemals zu Papier gebracht worden ist, so habe ich doch glückliche Stunden über diesen Blättern verbracht.

Orange, New Jersey, den 13. Juli 1941

Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt

Bald wird es schnein, –

Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!

 

Nun stehst Du starr,

Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!

Was bist Du Narr

vor Winters in die Welt entflohn?

 

Die Welt – ein Tor

Zu tausend Wüsten stumm und kalt!

Wer das verlor,

Was Du verlorst, macht nirgends halt.

 

Nun stehst Du bleich,

Zur Winterwanderschaft verflucht,

Dem Rauche gleich,

Der stets nach kältern Himmeln sucht.

 

Flieg Vogel, schnarr

Dein Lied im Wüstenvogel-Ton!

Versteck, Du Narr,

Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

 

Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein, –

Weh dem, der keine Heimat hat!

Friedrich Nietzsche

Ein Stück Lebensgeschichte

Es ist zwecklos zu versuchen, seinem Schicksal zu entrinnen. Das Schicksal ist die Katze, die mit grünen funkelnden Augen jede Bewegung des gefangenen grauen Mäuschens verfolgt; sucht die Maus zu entkommen, schon ist sie von den spitzen Krallen des Raubtieres gepackt, und das grausame Spiel beginnt von neuem, bis endlich einmal ein scharfer Hieb dem Leben des Opfers ein Ende bereitet.

Der 10. Mai 1940 ist einer der Tage, an dem jene böse, unerklärliche Macht, die die Welt beherrscht, ein neues Unglück über die Menschheit hereinbrechen ließ.

Am frühen Morgen jenes verhängnisvollen Tages marschierte die deutsche Armee nach den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Die Alliierten beeilen sich, den Opfern der Barbarei eine schon zu spät kommende Hilfe zuteil kommen zu lassen. Drei Tage nach dem Ausbruch des Blitzkrieges besetzt die deutsche Armee Rotterdam und schneidet Holland in zwei Teile. Der Verzweiflungskampf im nördlichen Teil des Landes wird fortgesetzt, obwohl Holland schon verloren ist. Noch am selben Tag erreicht ein anderer Teil der mordenden Horden Sédan; die Schlacht um Frankreich beginnt.

Das französische Heer ist schlecht ausgerüstet; man kann nicht mit einfachen kleinen Kanonen eine Waffe wie den Tank [= Panzer] bekämpfen. Am 21. erreichen die Deutschen Abbeville und schneiden die in Belgien kämpfenden französischen, englischen und belgischen Truppen ab. Am 25. kapituliert die belgische Armee. Die in Dünkirchen eingekreisten französischen und englischen Soldaten vollziehen den größten Rückzug der Geschichte: Es gelingt, den größten Teil der Soldaten nach England zu retten. Noch kann man nicht glauben, daß der Krieg verloren ist. Man tröstet sich mit dem Gedanken, daß im Ersten Weltkrieg sich ähnliche Ereignisse abgespielt haben. Frankreich sollte den Krieg verloren haben? Nach einem zwanzigtägigen Kampf? Unmögliche Vorstellung! Der 28. Mai war ein strahlend schöner Tag. Der blaue Himmel, die brennende Sonne, das frische Grün, das Vogelgezwitscher; es schien wie ein Hohn, ein Hohn!

Wir saßen in unserm Wohnzimmer in der Butte Rouge und starrten auf drei rosarote Zettel, die auf dem Tisch lagen. Diese drei Papierfetzen konnten uns nach dem Süden Frankreichs bringen, nach dem sonnigen Süden, fern von dem Kriegsgetümmel und der drohenden Umklammerung der Deutschen. Aber konnten wir das tun? Rinner, Geyer, Ollenhauer, Leeb[1], Grötsch[2], Fuchs[3]