Flucht durch den Weltenriss - Veronika Bicker - E-Book

Flucht durch den Weltenriss E-Book

Veronika Bicker

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Beschreibung

Niano Colovar ist Gardist im Dienst des Weltenrats, dessen normaler Job es ist, sogenannte Wanderer, die zwischen den Welten hin- und herwechseln, unter Kontrolle zu halten. Doch dann wird er auf die Jagd nach Madrey geschickt, einer gesuchten Mörderin. Vor Jahren soll sie ihren Mentor Leone auf brutalste Weise umgebracht und sich in eine der vielen Parallelwelten abgesetzt haben. Niano folgt ihrer Spur und ist felsenfest entschlossen, sie vor Gericht zu bringen. Doch als Niano ihr Versteck endlich aufspürt, ist Madrey bereits ausgeflogen, und eine Verfolgungsjagd durch mehrere Welten beginnt. Dabei wird Niano schnell klar: Die junge Frau flieht nicht nur vor ihm, sie scheint selbst auf der Suche zu sein – auf der Suche nach einem Mörder … Nach und nach wird Niano bewusst, dass längst nicht alles so einfach ist, wie es der Weltenrat darstellt – und dass es Leone war, der vielleicht alle Welten in tödliche Gefahr gebracht hat.

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Veronika Bicker

Flucht durch den Weltenriss

Roman

(c) 2021 Wurdack Verlag, Nittendorf

www.wurdackverlag.de

Lektorat: Susanne Schnitzler

Covergestaltung: Ernst Wurdack

Gestrandet

Irgendetwas stimmte nicht. In dem Moment, als das Boot den Riss verließ, begann es zu schlingern. Vom Deck her klang ein ohrenbetäubendes Splittern und Krachen in die Kabine herab. Etwas stieß mit voller Wucht gegen die Bordwand, der Aufprall ließ Niano stolpern.

Er taumelte zwei Schritte zur Seite, suchte nach Halt, und prallte mit dem Ellenbogen gegen die Lampe, die vom Deckenhaken baumelte. Sie schwankte, wollte sich gerade wieder einpendeln, als ein weiterer Schlag das Boot traf und es seitlich kippen ließ. Die Lampe rutschte vom Haken, und zerschellte klirrend auf dem Boden. Kleine Flammen begannen sofort, das verschüttete Petroleum aufzulecken.

Niano fluchte, griff nach der dicken Wolldecke auf seiner Koje und schlug damit auf die Flammen ein, bis sie erstickten. Erst, als ihm dies gelungen war, wurde ihm bewusst, dass das Boot vollkommen ruhig stand. Kein Glucksen war zu hören, kein Schaukeln zu spüren. Sie mussten auf Land gelaufen sein.

»Staphron!«

Keine Antwort.

»Staphron, verdammt!« Niano warf die Decke beiseite und eilte zur Kabinentür. Als er sie aufriss, traf ihn die Kälte wie ein Schlag ins Gesicht. Die Welt, die sie verlassen hatten, war warm gewesen, tropisch. Der Fluss hatte sich dort durch einen Regenwald geschlängelt, voller bunter Vögel, Blüten, reifer Früchte und kreischender Affen. Hier erwartete ihn ein feuchter Nebel. In dem weißlichen Grau konnte Niano überhaupt nichts erkennen.

»Staphron?«, versuchte er es noch einmal, doch wieder gab der Wanderer keine Antwort. Das Boot lag immer noch ruhig. Niano hörte ein leises Glucksen. Wasser, das gegen die Bordwand plätscherte. Es klang anders als sonst. Zäh.

Niano warf seine kurze Jacke über und trat in den Nebel hinaus. Sein erster Gang führte ihn an die Bordwand. Ein Blick daran hinunter sagte ihm, dass er recht gehabt hatte: Sie waren auf Land gelaufen. Das Boot hatte sich tief in eine Bank aus Schlick eingegraben. Ein paar seltsame Bäume mit stelzenartigen Wurzeln standen darauf. Sie hatten lange, dünne Äste und wirkten in diesem Nebel wie traurige Gespenster.

Niano betrachtete das Schlamassel mit einem ärgerlichen Blick und machte sich dann auf die Suche nach Staphron. Wie hatte der denn diese Sandbank übersehen können? Immerhin war er es, der das verdammte Boot steuerte.

Besser gesagt: Er war es gewesen. Niano umrundete die Kabine und näherte sich dem äußeren Steuerrad. Normalerweise befand es sich auf einem hohen Aufbau am Heck und wurde nur genutzt, um zwischen zwei Welten zu navigieren. Einer der Wanderer hatte einmal versucht, Niano die Technik dahinter zu erklären, aber er hatte sie nicht richtig verstanden. Das war schließlich auch nicht seine Aufgabe.

Der Aufbau war nicht mehr da. Lediglich vier zersplitterte Holzbalken ragten in die Luft, dort, wo er sich vor zehn Minuten noch befunden hatte. Einer der Balken war auf der gesamten Seite rotverschmiert. Es glitzerte feucht und schien durch den Nebel hindurchzuleuchten.

Niano zögerte nicht. Mit einigen großen Schritten war er bei der Plattform. Er berührte die rote Flüssigkeit. Warm. Etwas klebrig. Niano zog ein Tuch aus der Tasche und wischte sich die Finger daran ab. Dann trat er an die Reling, und blickte hinab. Graugrünes Wasser schlug träge gegen die Planken. Es entstand beinahe kein Geräusch. Generell schien diese Welt vor allem still zu sein. War hier denn nichts am Leben?

Ein Stück hinter dem Boot war einer der seltsamen Bäume quer über den Fluss gestürzt. Wenn man hier überhaupt von einem Fluss reden konnte, Niano konnte keinen richtigen Lauf erkennen, mehr ein zusammenhängendes Sumpfgebiet.

Der gefallene Baum hatte Staphron erwischt. Das Boot musste den Riss mit einiger Geschwindigkeit verlassen haben – ohnehin etwas, das nicht passieren durfte. Dann war der hohe Steueraufbau mit dem Baumstamm kollidiert. Holzsplitter und Balken hingen zwischen den dicken Ästen. Mehr Holz trieb darunter auf der trüben Wasseroberfläche. Staphron selbst hing wie ein aufgespießter Schmetterling an einem zerbrochenen Ast. Er hatte sich durch seinen Körper gebohrt und ihn vom Steuer fortgerissen, vielleicht schon bevor die ganze Konstruktion zusammengebrochen war.

Niano konnte nur hoffen, dass es wenigstens schnell gegangen war.

Er wandte sich ab. Staphron war nicht mehr zu helfen. In allernächster Zukunft musste Niano ihn von diesem Baum herunterholen und an Bord bringen. Es war seine Pflicht, den Wanderer wieder zu seiner Familie zurückzubringen. Aber erst sollte er sich versichern, dass dem Boot nichts Schlimmeres passiert war. Er verstand nicht viel davon, lange nicht so viel wie ein Wanderer, aber alle Gardisten wussten zumindest, wie ein heiles Boot auszusehen hatte. Für den Notfall.

Bedächtig schritt Niano das Gefährt von hinten nach vorne ab. Die Planken schienen beim Auflaufen auf die Sandbank nicht beschädigt worden zu sein. Das war schon mal gut. Der Heckaufbau fehlte natürlich, aber Niano glaubte, dass man den reparieren konnte. Vielleicht nicht er alleine, aber hier musste es schließlich irgendwo eine Station geben. Der Feuerschaden in der Kabine war auch halb so wild: ein paar geschwärzte Planken, mehr nicht.

Aber nun kam das Wichtigste. Niano atmete tief durch und machte sich auf alles gefasst, bevor er die Luke öffnete und in den Bauch des Schiffes hinunterstieg.

Der Raum war so niedrig, dass Niano sich tief bücken musste, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Hier standen einige Kisten und Fässer und ein kleiner Generator, für den Fall, dass sie mal dringend Strom brauchten. Und ganz hinten, direkt unter dem Heckaufbau, befand sich das, was dieses Boot zu einem Weltenboot machte.

Es war ziemlich dunkel. Niano tastete sich voran, stieß trotz aller Vorsicht zweimal gegen den Deckenbalken, und erreichte schließlich das Heck.

Er tastete nach dem Handgriff am Boden und zog, bis er den hölzernen Deckel in der Hand hielt. Darunter befand sich eine flache Vertiefung, in die der Stein eingelassen war.

Er glühte gelblich durch die Dämmerung im Laderaum. Niano legte seine Hand darauf. Warm. Etwas zu warm, aber noch nicht beunruhigend. Er hoffte, es würde sich von alleine geben. Er wusste nicht, wie man die Weltensteine beruhigen konnte. Das war Aufgabe der Wanderer.

Als er seine Hand zurückzog, merkte er, dass etwas von dem Glühen auf seine Finger übergegangen war. Für einige Momente leuchteten sie selbst in der Dunkelheit, dann verblassten sie allmählich. Niano blinzelte – das Leuchten war verschwunden.

Das Boot war also in Ordnung. Sehr gut. Dann konnte er sich ja jetzt endlich seiner Aufgabe zuwenden. Er durfte nicht zu viel Zeit verlieren.

Station 81

Niano trat an Deck und blickte sich abermals um. Der Nebel hing so dicht über der sumpfigen Landschaft, dass er nicht besonders weit sehen konnte. Von seinem Standpunkt aus ließ sich jedenfalls kein Lebenszeichen ausmachen. Nur graue Bäume, grauer Nebel, graue Sandbänke und graues Wasser. Was für eine trübe Welt.

Wie dem auch sei: Es musste hier irgendwo eine Wandererstation geben. Die befanden sich schließlich selten weit von einem Riss entfernt. Dort würde er Hilfe für das Boot finden und eventuell auch Hinweise, wo sich seine Beute aufhielt. Er glaubte zwar nicht, dass sie dumm genug gewesen war, sich an der Station zu melden, aber vielleicht hatte man ja dennoch das Eine oder Andere gehört. Außerdem brauchte er natürlich einen neuen Wanderer, wenn er zurückkehren wollte. Er selbst konnte das Steuer nicht bedienen.

Niano ging in die Kabine zurück, um seinen warmen Mantel und einen Rucksack mit der nötigsten Ausrüstung zu holen.

Mit dem Rucksack auf dem Rücken schwang er sich über die Reling, an der Stelle, wo das Boot auf die Sandbank aufgelaufen war. Schlamm spritzte hoch, er hatte nicht geglaubt, dass sich noch so viel Wasser in diesem Sand befinden würde. Einige braune Spritzer waren auf seiner Hose gelandet. Verärgert verzog Niano das Gesicht. Noch etwas, das er in der Station dringend ändern musste.

Der Untergrund war tückisch. Schon nach wenigen Schritten sank Nianos Stiefel tief in den Schlamm, und er hatte Schwierigkeiten, ihn ohne weiteres wieder herauszuziehen. Beim nächsten Schritt sackte er fast bis zum Knie ein. Wasser drang durch den Hosenstoff und lief an seinem Bein herunter. Niano fluchte. Er packte den Ast eines nahestehenden Baumes und zog sich daran aus dem Schlick.

Er klammerte sich am Ast fest und überlegte. Dann brach er einen langen Zweig ab, und ging dazu über, mit diesem immer zuvor den Boden zu betasten, bevor er den nächsten Schritt wagte. Auf diese Weise kam er ganz gut voran, aber entgegen seiner Vorstellungen erreichte er keineswegs bald ein festes Ufer. Im Gegenteil, egal, wohin er sich wandte, überall schien diese Welt nur aus kaltem, grauen Sumpf zu bestehen.

Die Stille war kaum auszuhalten. Nirgendwo regte sich das leiseste Anzeichen von Leben. Selbst die Bäume wirkten merkwürdig tot. Niano konnte jedenfalls keine Blätter erkennen, aber vielleicht befanden die sich so weit über seinem Kopf, dass sie im Nebel verschwanden.

Er verlor jedes Zeitgefühl. Mithilfe eines Kompasses hatte er recht willkürlich bestimmt, dass er nach Süden gehen wollte, bis er auf irgendein Anzeichen von Zivilisation traf, aber wie lange er bereits in diese Richtung gegangen war, konnte er nicht sagen. Einmal fischte er seine Uhr aus der Tasche, nur um festzustellen, dass dies eine der Welten war, in denen sie nicht funktionierte.

Verdammtes Hinterland.

Der Rat sollte sich mal um all diese außenliegenden Welten kümmern, die ganz offensichtlich noch kein Anzeichen richtiger Zivilisation in sich trugen. Wenigstens vernünftige Wege hätte man hier ja wohl anlegen können. Oder Hinweisschilder zur nächsten Station. Wandererzeichen hätten es ja auch getan, die konnte Niano so gut lesen wie jeder Wanderer auch.

Im ersten Moment nahm Niano das Brummen gar nicht richtig wahr. Ein wenig seltsam, wenn er bedachte, wie still hier sonst alles war. Aber vermutlich hatte er geglaubt, sein ausgehungertes Gehirn hätte sich das Geräusch nur eingebildet.

Doch da war es, ein gleichmäßiges Brummen, das rasch lauter wurde. Es kam direkt auf ihn zu.

Mit einem weiteren Fluch auf den Lippen suchte Niano eine Stelle, an der er einen sicheren, halbwegs trockenen Stand hatte. Dann zog er seinen Degen. In seinem Gürtel befand sich auch eine Schusswaffe, doch Niano bevorzugte den Degen. Er war eleganter, und er hatte den entscheidenden Vorteil, dass jeder Eingeweihte ihn sofort als Gardisten erkennen würde. Außerdem waren auf manchen Welten Schusswaffen verboten. Niano wusste nicht, wie es bei dieser hier war. Staphron war derjenige, der sich mit Weltenkunde beschäftigte, nicht er.

Das Brummen näherte sich rasch. Ein Motor. Es klang wie ein zorniger Hornissenschwarm. Bald gesellte sich noch ein gleichmäßiges Rauschen dazu. Jemand lenkte ein Motorboot durch diesen vermaledeiten Sumpf.

Niano blieb stehen, unschlüssig, ob er nach dem Unbekannten rufen sollte. Doch die Frage erübrigte sich, als im nächsten Moment ein flacher Kahn zwischen zwei Bäumen hervorgeschossen kam, herumschwenkte und geradewegs Kurs auf Niano nahm.

Kurz bevor er ihn erreicht hatte, verstummte der zornige Hornissenschwarm, das Boot verlor an Schwung und trieb nun langsamer auf ihn zu. Jetzt, wo das Wasser nicht mehr in hohem Bogen hinter dem Fahrzeug hochspritzte, konnte Niano auch den Steuermann sehen. Ein kleingewachsener Kerl, faltig und so braungebrannt, wie er es unmöglich in diesem Sumpf hatte werden können. Er trug eine unförmige graue Jacke, doch darunter konnte Niano gerade noch die roten Uniformhosen erkennen.

Ein Stationstechniker.

Niano schob den Degen zurück in den Gürtel. Er richtete sich auf, und strich so gut es ging seine eigene Uniform glatt. Natürlich war er sich im Klaren darüber, was für ein Bild er abgeben musste, in seinen verschmutzten Hosen. Nicht gerade der beste Eindruck, den ein Gardist abliefern konnte. Aber das war kein Grund, sich gehen zu lassen.

»Sir!« Der Techniker ließ sein Boot neben Niano treiben. Er warf einen Blick auf die im Schlamm steckenden Stiefel und nickte, wie um sich selbst etwas zu bestätigen. »Sie brauchen Hilfe.«

»Niano Colovar. Gardist zweiten Ranges, Dienststelle Revan 8«, schnurrte Niano seinen Dienstgrad herunter. Es war ein Unding, dass der Techniker sich nicht in der gleichen Art vorgestellt hatte. Niano schenkte ihm einen so strengen Blick, dass der Alte endlich verstand, worum es ging. Seine Mundwinkel zuckten leicht.

»Jamie Warwell. Techniker ersten Ranges. Station 81.« Er tippte sich mit zwei Fingern an seine Wollmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte. »Sie brauchen trotzdem Hilfe.«

Niano presste für einen Moment die Lippen fest aufeinander. Er musste dem Rat melden, was hier für eine Disziplin herrschte. Es wurde Zeit, dass ein Inspektor vorbeigeschickt wurde. Diese Außenwelten.

»Bringen Sie mich zur Station«, wies er den Techniker an. »Mein Boot ist beschädigt, ich brauche Hilfe, es wieder instand zu setzen. Und ich bin auf der Suche nach Informationen. Ich benötige sofortigen Zugriff auf Ihr Archiv.«

Der Alte schob die Mütze mit dem Daumen nach oben und schenkte Niano einen skeptischen Blick aus seinen wässrigen blauen Augen.

»Na, ob unser Archiv Ihnen zusagt.« Er hob die Schultern. Dann streckte er eine Hand aus, um Niano über die Bordwand zu helfen. Der ignorierte das Hilfsangebot. Er zog es vor, sich selbst aus dem Schlamm zu befreien, und sich über die Reling zu ziehen. Das flache Boot schwankte beträchtlich, und seine Stiefel hinterließen eine Schlammspur, aber das schien Warwell überhaupt nicht zu stören. In dem Moment, als Niano auf der hinteren Sitzbank Platz genommen hatte, ließ er den Motor an, und das Boot machte einen Satz vorwärts. Niano klammerte sich an der Bank fest.

Während der Alte seinen Kahn in geradezu halsbrecherischem Tempo zwischen stelzwurzeligen Bäumen hindurchlenkte, legte sich Niano seine Worte zurecht. Er wusste nichts über diese hinterwäldlerische Welt, und man konnte schließlich nicht wissen, ob die lokalen Techniker eventuell Informationen an seine Beute gaben.

»Sie haben nicht viel ... Durchgangsverkehr hier, nehme ich an«, sagte er endlich. Er hatte wohl zu leise gesprochen, der Alte lenkte stur sein Boot weiter und ignorierte Niano.

Einen Augenblick lang war er versucht, wütend zu werden. Aber dann riss er sich zusammen. Vermutlich hatte es überhaupt keinen Sinn, sich hier im Boot zu unterhalten. Niano spürte, wie seine Fingerspitzen kribbelten. Das taten sie immer, wenn er zur Untätigkeit verdammt war. Wenn er die Jagd nicht aufnehmen konnte. Am liebsten würde er aufspringen, und sich selbst auf die Suche nach der Flüchtigen machen. Aber er musste sich zusammenreißen.

Niano krallte die Finger noch fester um die Bordwand, bis seine Knöchel weiß hervortraten, und starrte in den grauen Wald. Vielleicht konnte er ja eine Spur entdecken. Es war vorgekommen, dass ihm der Zufall direkt in die Hände spielte.

Der Wald veränderte sich langsam. Niano meinte, jetzt deutlicher einen definierten Flusslauf erkennen zu können. Die Bäume rückten etwas zurück und standen nicht mehr einfach so im Wasser herum. Noch immer gab es viel zu viele, viel zu flache Wasserläufe, die sich zwischen den Stämmen dahinschlängelten, aber jetzt sah das Ufer immerhin wie Ufer aus und nicht wie knietiefer Schlamm. Er meinte sogar, in der Ferne einige Holzhütten zu erkennen, aber das Boot hatte sie so rasch passiert, dass er sich nicht ganz sicher war.

Sie fuhren flussaufwärts, und nach einer weiteren Biegung kam tatsächlich ein großes, flaches Gebäude in Sicht. Ein Holzbau auf Stelzen, ein gutes Stück über der Wasseroberfläche. Eine Strickleiter hing von der Plattform herab und pendelte leicht in der Strömung.

Warwell drosselte den Motor und ließ das Boot auf die Leiter zutreiben. Kurz bevor sie sie endgültig passiert hatten, klammerte er sich an den Sprossen fest, so dass das Boot zum Stehen kann. Sanft schwankend lag es nun neben der Hütte. Warwell machte eine einladende Handbewegung.

»Nur herauf, Sir, ich muss das Boot noch vertäuen.«

Niano griff nach den Sprossen und schwang sich hinauf. Die Seile knarrten und das Holz unter seinen Füßen gab leicht nach. Gut in Schuss war die Konstruktion nicht gerade.

Das schien für das ganze Haus zu gelten. Als Niano auf der Plattform ankam, die einmal um das gesamte Gebäude lief, bemerkte er sofort die vielen fehlenden Planken und die dicke Schicht aus Moos, die sich an mehreren Stellen gebildet hatte. Sorgfältig umging er die Löcher im Boden und trat in den Innenraum der Station.

Er war niemand da.

Niano hatte erwartet, zumindest ein halbes Team anzutreffen. Ein Techniker war ja schön und gut, aber die normale Besetzung sah vier davon vor. Außerdem ein Kommunikator und vielleicht zwei Wanderer für Notfälle. Ein Boot hatte er auch nicht gesehen, mal abgesehen von dem Ding, mit dem sie hierher gefahren waren. Und das war ganz sicher kein Weltenboot. Die besseren Stationen besaßen zusätzlich Archive und bisweilen sorgte eine Handvoll Gardisten für Ordnung.

Nichts davon war hier zu sehen. Ein düsterer Innenraum, die Wände zugehängt mit diversen Landkarten. Ob diese lokal waren, vermochte Niano nicht zu sagen. In einer Ecke gab es ein Feldbett, in einer anderen stand ein mächtiger gusseiserner Ofen, dessen Rohr durch die Decke verschwand. Keinerlei elektronische Geräte, nicht mal ein einfacher Rechner. Dafür ein Regal mit Büchern, eine dreckige Werkbank, die mit allerlei Bootsteilen übersät war, und ein kleiner Esstisch, auf dem sich noch das Geschirr vom Frühstück stapelte. Ein Huhn hockte auf einem der beiden Hocker und sah überrascht auf, als Niano den Raum betrat. Es flatterte träge mit seinen Flügeln und gluckste einmal, dann wandte es sich wieder dem zu, was es auch immer gerade getan haben mochte. Vermutlich war es irgendein hochkomplizierter Plan, auch wenn es so aussah, als säße das Tier einfach nur da und starre Löcher in die Luft.

»Platz da, Henriette!« Der Alte hatte hinter Niano die Hütte betreten und scheuchte nun das Huhn mit einer etwas ärgerlichen Handbewegung vom Stuhl. Dann zog er diesen einladend in Richtung Tisch.

»Setzen Sie sich, Sir«, murmelte er. »Ich mache uns einen Kaffee, und dann reden wir über das, was Sie hierher gebracht hat.«

Die große Freiheit

Wir alle stehen in einer Reihe, die Köpfe demütig gesenkt. Die Haare sind frisch gewaschen und frisiert, die Tuniken sauber, die Haut geschrubbt. Diejenigen von uns, die wenigstens etwas Schmuck besitzen, haben ihn angelegt, hier eine goldene Kette, dort ein Ring oder ein Ohrstecker.

Lächerlich.

Wenn man bedenkt, dass wir hier sind, um nach unseren Fähigkeiten ausgewählt zu werden und nicht nach dem Aussehen. Was tut es zur Sache, ob wir sauber sind. Oder gutaussehend. Oder sogar gesund. So lange wir den Riss öffnen können, gehören wir hierher.

Trotzdem habe auch ich mir heute Morgen besondere Mühe gegeben. Das Haar so lange gebürstet, bis es glänzte, und einen Zopf geflochten, der mir auf den Rücken hinunterhängt. Ich besitze keinen Schmuck, aber aus der Wäscherei habe ich mir ein rotes Band geliehen, das ich in meine Haare gewunden habe. Ich weiß nicht, ob es wesentlich zu meinem Aussehen beiträgt, aber ich musste einfach irgendetwas tun, um Yvane auszustechen. Die perfekte Yvane mit ihrem goldenen Haar und ihren langen Wimpern.

Ich werfe einen kurzen Blick zu ihr hinüber und bin erstaunt, dass sie genauso nervös aussieht, wie ich mich fühle. Sie ist blass und kaut auf ihrer Unterlippe herum. Aus irgendwelchen Gründen bringt mich das dazu, meinen Kopf ein bisschen höher zu halten. Ich schiele zur Tür des Saales. Gerade, als ich das tue, schwingt sie auf, und drei Personen kommen herein. Zwei Männer, eine Frau. Sie tragen die langen, offiziellen Roben der Wanderer. Die, die nur zu Feiertagen aus dem Schrank geholt werden. Schwer, dunkelrot und unmöglich, wenn man sich schnell bewegen möchte. So hat es jedenfalls Theo, mein Sitznachbar, mir einmal zugeflüstert. Damals fand ich das witzig. Jetzt merke ich, wie sich beim Anblick der hochoffiziellen Klamotten mein Magen zusammenzieht. Rasch richte ich die Augen wieder auf den Boden.

Schneller, als es mir lieb ist, sind die drei Mentoren bei uns. Mit gemessenen Schritten gehen sie die Reihe entlang, mustern uns wie Viehhändler ihre Ware. Fehlt nur noch, dass wir ihnen unsere Zähne zeigen müssen.

»Wie ist dein Name?« Eine befehlsgewohnte Stimme, zwei Schüler neben mir. Die Frau ist vor Velain stehen geblieben und mustert ihn von oben bis unten. Velain antwortet etwas, aber er spricht so leise, dass ich seine Worte nicht verstehen kann.

»Und deine Fähigkeiten?«

Dieses Mal spricht er ein wenig lauter. Zählt die Sprachen auf, in denen er sich schon eine Grundlage angelesen hat. Erwähnt Geschichte und Geographie der nächsten beiden Welten. Mit nicht geringem Stolz erklärt er, dass er ebenfalls gelernt hat, sich zur Wehr zu setzen. Er besitzt ein Schwert. Darauf ist er mächtig stolz.

Ich besitze gar nichts.

Stumm stehe ich da, und beobachte, wie die Frau nickt und sich umdreht. Velain tritt vor und folgt ihr. Seine Beine sind ein bisschen wackelig, und ich weiß, was in seinem Kopf vor sich gehen muss. Er ist einer der schlechteren Schüler. Außer mit dem Kampftraining hat sich Velain eigentlich nirgendwo hervorgetan. Aber er ist groß und trainiert und er hat tiefe, braune, seelenvolle Augen.

Von wegen, es kommt nicht auf das Aussehen an.

»Wie ist dein Name?«

Ich zucke zusammen, weil die Stimme direkt vor mir erklingt. Dennoch brauche ich einen ganzen Moment, um zu verstehen, dass ich angesprochen worden bin.

»Madrey, Meister.« Wenigstes ist meine Stimme nicht so ein heiseres Flüstern wie Velains. Ich räuspere mich einmal, dann wage ich es sogar, meinen Blick zu heben. Der Mann vor mir ist schon etwas älter. Ein dichter Schopf aus grauweißen Haaren bedeckt seinen Kopf, um die Augen herum zeigen sich viele feine Fältchen. Es ist jemand, der gerne lacht, das sieht man. Er ist groß und hager und wirkt so fit wie ein noch viel jüngerer Mann. Ich stelle es mir gut vor, ihn als Mentor zu haben, also wage ich ein zaghaftes Lächeln.

»Und wie sieht es mit deiner Ausbildung aus, Madrey?« Er hat sogar eine freundliche Stimme. So, denke ich, müsste mein Großvater klingen. Wenn ich ihn denn je zu Gesicht bekommen sollte.

Ich räuspere mich und beginne, aufzuzählen. Sprachen. Geschichte, Geographie. Klimatologie. Berechnungen. Grundlagen allgemeiner Magie. Wahrsagen. Ich möchte die Liste noch weiter fortsetzen, aber bei »Wahrsagen« zieht er skeptisch seine Augenbraue hoch. Ich breche ab, bewusst, einen Fehler gemacht zu haben. Nicht alle Wanderer sind der Überzeugung, Wahrsagen sei ein nützlicher Teil der Ausbildung. Manche stehen ihm sogar ausgesprochen misstrauisch gegenüber. Offensichtlich bin ich hier an einen solchen geraten.

Wieder gleitet sein Blick an mir hinauf und herunter. Aber dieses Mal liegt keine Freundlichkeit in seiner Stimme, als er sich abwendet.

»Kein Interesse«, murmelt er und geht die Reihe weiter entlang, bis er vor Yvane stehen bleibt.

»Ich habe sehr wohl Interesse«, mischt sich da eine andere Stimme ein. Noch einmal sehe ich auf. Der dritte Mentor steht vor mir. Er ist jung. Viel jünger als die anderen beiden, vielleicht nur wenige Jahre älter als ich selbst. Und er sieht gut aus. Etwas blass. Schmales, aristokratisches Gesicht, eine scharfe Nase. Hellbraune Haare, so fein wie Löwenzahnsamen. Dunkle Augen, in denen ich versinken könnte.

Ich rufe mich zur Ordnung. Es geht hier um Mentoren, nicht um Heiratskandidaten.

»Ich finde, Wahrsagen kann eine wirklich hilfreiche Erweiterung auf unserem Stundenplan sein«, sagt der Mann. »Und ich habe richtig gehört, du sprichst bereits fünf Sprachen?«

»Flüssig, ja«, flüstere ich. Es ist ein Wunder, dass er meine Worte überhaupt verstehen kann. »Ich habe mir noch die Grundlagen der Welten 21 und 64 angeeignet, aber da bin ich noch nicht besonders weit.«

Er strahlt. Es lässt seine Augen leuchten und erweckt den Eindruck, dass seine ganze Gestalt glüht.

»Fantastisch. Wir werden gut miteinander auskommen.« Er streckt mir die Hand entgegen. »Mein Name ist Leone.«

»Leone«, flüstere ich und trete einen Schritt vor, als er mir ein Handzeichen gibt. Ich habe den Blick immer noch auf den Boden gerichtet, als ich hinter ihm her zum Saalausgang gehe. Ich kann mein Glück noch gar nicht recht fassen. Ich habe einen Mentor gefunden. Ich darf die Schule verlassen.

Ein Schritt hinaus in die große Freiheit.

Ein Name

Der Kaffee schmeckte furchtbar. Und entgegen Nianos Hoffnungen war tatsächlich kein anderer Arbeiter der Station 81 aufgetaucht. Der alte Techniker schien allein zu sein.

»Ich brauche einen Wanderer«, sagte Niano. Er stellte die Tasse lautstark auf dem Tisch ab.

»Wo ist denn ihrer geblieben, Sir?« Warwell nippte am Kaffee, als wäre es der reinste Nektar.

»Wir hatten einen Unfall.« Er war nicht bereit, weiter darauf einzugehen. »Gibt es hier Wanderer, deren Dienste ich in Anspruch nehmen kann?«

Warwell stellte nun ebenfalls seine Tasse auf den Tisch und kratzte sich am Kopf. »Ich kann Kontakt zu 82 aufnehmen. Oder 83, aber die sind ziemlich weit weg. Das kann eine Weile dauern.«

Niano biss die Zähne zusammen. Wenn er erst einmal zurück beim Weltenrat war, würde er die Vorsitzenden auf diese Welt aufmerksam machen. Die Zustände hier waren ja katastrophal.

»Außerdem muss mein Boot repariert werden«, forderte er. »Können wir es hierher schleppen?«

Wieder das Kopfkratzen. Warwell murmelte etwas vor sich hin, dann seufzte er. »Wird schon gehen. Dann sehe ich mal, was ich für die Schönheit tun kann.« Umständlich erhob er sich, streckte seine Glieder, und machte sich auf den Weg zum Ausgang.

»Jetzt?« Niano war doch ein wenig aus der Bahn geworfen. »Wissen Sie denn, wo das Boot ist?«

»Nein. Aber ich weiß, wo der Riss ist.« Warwell lächelte milde. »Und wenn Sie einen Unfall hatten, Sir, dann wird das Boot nicht weit davon entfernt liegen.« Und damit war er aus der Tür.

Respektlos. Einfach respektlos. Er musste sich wirklich darum kümmern, dass sich jemand diese Welt hier mal ansah.

Niano blickte sich abermals im Raum um. Das Huhn hatte inzwischen auf dem Bett Platz genommen und gluckste vor sich hin. Aber selbst wenn das Bett frei gewesen wäre – Niano konnte sich jetzt nicht hinlegen. Müde genug war er zwar, denn ein Weltenwechsel laugte ihn immer aus, aber er hatte schließlich eine Aufgabe.

Er erhob sich und ging zunächst zu den Landkarten hinüber. Eine von ihnen trug eine rote Stecknadel nahe des linken Randes, und als Niano genauer hinsah, konnte er die kleine »81« daneben lesen. Na, immerhin hatte er so geklärt, dass diese Karte die unmittelbare Umgebung zeigte. Er ließ seinen Blick darüber schweifen. Ein verzweigter Flusslauf, hellblau auf Grün. Dazu einige dunklere Tupfen, die wohl dichteren Wald darstellten. Von einer größeren Ortschaft, geschweige denn einer Stadt, war nichts zu sehen, aber hier und da gab es schwarze oder rote Punkte. Was die bezeichneten? Vielleicht die einzelnen Häuser, die Niano auf der Fahrt hierher gesehen hatte?

Er trat einen Schritt zurück und fluchte leise vor sich hin. Jetzt wäre Staphron nützlich gewesen. Er hätte ihm mehr über diese Welt berichten können. Einmal mehr bereute Niano es, in der Schule keine Weltenkunde belegt zu haben. Weltenkunde war etwas für Wanderer, und er würde doch jedes Mal einen Wanderer bei sich haben, wenn er wechselte. So hatte er gedacht.

Sein nächster Stopp war bei den Büchern. Die meisten von ihnen entpuppten sich als ziemliche Enttäuschung. Romane. Schundromane auch noch. Billige Thriller und Romanzen. Aber ein blaugebundenes Buch ganz am Ende der Reihe trug keine Aufschrift. Versuchsweise zog Niano es heraus. Der Einband fühlte sich an, als bestünde er aus Leder, glatt und abgewetzt. An mehreren Stellen war das Blau dunkler, die Spuren von Dutzenden Händen, durch die das Buch gegangen war.

Auch auf der Vorderseite befand sich kein Schriftzug, aber als Niano es aufschlug, las er »Register, Welt 743, Agrivanta.« Stimmte. Agrivanta war der Name, den auch Staphron genannt hatte. Ein Register. Und was sollte hier wohl registriert werden, wenn nicht die Angehörigen der Gilde, die sich auf dieser Welt befanden? Es war ungewöhnlich, dass es sich um ein reales Buch handelte, aber das konnte Niano schließlich egal sein. Hauptsache, er fand die Information, die er suchte.

Er schlug die erste Seite um, und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Daten in der Ratsnormalzeit eingetragen waren. Sehr gut. Das bot ihm wenigstens einen Orientierungspunkt.

Er blätterte zur letzten beschriebenen Seite. Das Datum lag einige Wochen zurück, der Eintrag dahinter war in einer krakeligen Schrift geschrieben, die Niano kaum entziffern konnte. »Kontrollbesuch«, glaubte er schließlich zu erkennen. Und dahinter eine Registriernummer, die ihm vage bekannt vorkam. Einer der Gardisten, die regelmäßig einen Rundgang durch alle Welten unternahmen. Warum hatte der eigentlich nicht die Missstände hier aufgezeigt? Nun ja, vielleicht hatte er das ja auch, aber die Mühlen des Rates mahlen nun einmal langsam. Der Bericht konnte in dem üblichen Papierkram untergegangen sein.

Niano blätterte zurück. Er hatte keine Ahnung, wann seine Beute eigentlich hierher gekommen war, aber natürlich hatte es keinen Sinn, weiter als bis zum Tag des Mordes zurückzugehen.

Immer weiter schlug er die Seiten um. Es kamen nicht viele Wanderer in diese Welt. Das wunderte Niano nicht. Wenn es überall so aussah wie hier, schien es sich um eine denkbar trübe Angelegenheit zu handeln. Dennoch waren es Dutzende von Einträgen, die er durchgehen musste. Und die meisten davon waren in Warwells krakeliger Handschrift. Niano tränten die Augen, je länger er auf die Seiten starrte.

Dann endlich – ein Eintrag, der seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Blick auf das Datum sagte ihm, dass es um die Zeit des Mordes herum geschehen war. Die Zeile in dem Buch war von jemand anderem geschrieben worden, eine wohlgeformte, rundliche Handschrift mit winzigen Buchstaben.

»Aleyo Manada«, stand da. »Naturforscherin.« Nichts weiter. Die Spalte, die den Zeitpunkt der Abreise enthalten sollte, war leer geblieben. Genauso die Koordinaten des Aufenthaltsortes. Nur diese drei Wörter.

Die Tür klappte. Niano fuhr hoch. Warwell war hereingekommen. Hose und hohe Stiefel waren durchnässt und mit braunem Schlamm verschmiert. Auf seiner Stirn zeigten sich sorgenvolle Runzeln.

»Ich möchte wissen, wohin diese Frau gegangen ist!« Niano erhob sich von seinem Stuhl und streckte Warwell das Buch entgegen. Doch der verschwendete nicht einmal einen Blick darauf.

»Ich möchte wissen, wo Ihr Boot hingekommen ist, Sir!«, meinte er. »Ich konnte es nicht in der Nähe des Risses entdecken.«

Die Hütte

Das Boot war nicht mehr da.

Warwells Kahn trieb genau neben der Stelle, an der Niano es zurückgelassen hatte. Er konnte sogar noch die Blutspuren erkennen, die Staphron an dem Baum hinterlassen hatte. Aber das Boot war fort.

Niano biss die Zähne aufeinander und starrte auf die Wasseroberfläche. Leider reichte sein Wille alleine nicht, das Schiff wieder auftauchen zu lassen. »Jemand muss es genommen haben.« Er atmete tief durch. »Jemand, der damit umgehen kann.«

»Tja...« Warwell kratzte sich am Ohr. »Da gibt es diese Verrückte, die wohnt gar nicht weit von hier. Also, ob die was damit anfangen kann, weiß ich auch nicht. Keine Ahnung, ob das eine Wanderin ist.«

»Verrückte?« Am liebsten hätte Niano den Alten gepackt und geschüttelt. Hätte der ihm das nicht schon früher sagen können?

»So eine Frau, die wohnt hier im Sumpf und untersucht ... ich weiß nicht was. Schon seit Jahren. Sie stört keinen, und keiner stört sie. Das meiste Essen besorgt sie sich selbst, und den Rest kauft sie im Dorf. Um ehrlich zu sein: Seit sie hier angekommen ist, habe ich sie nicht wieder gesehen. Bleibt für sich.« Warwells Blick wurde auf einmal scharf. »Sagen Sie, Sir, Sie wollten doch etwas über eine Frau wissen. Ist die das? Hat sie was verbrochen?« Seine Stimme zitterte ein wenig, vor freudiger Erregung, merkte Niano. Vermutlich war hier schon lange nichts mehr allzu Aufregendes passiert. »Aber warum sollten Sie was von der wollen, Sir? Das ist eine ganz harmlose Frau, die hat meines Wissens nach noch nie jemandem etwas getan.«

»Ihres Wissens nach!«, knurrte Niano. »Bringen Sie mich zu der Frau!«

Das Boot setzte sich wieder in Bewegung, so ruckartig, dass Niano sich an der Seite festhalten musste, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Während es über das brackige Wasser dahin hüpfte, schloss Niano die Augen und rief sich die Bilder vom Tatort ins Gedächtnis.

Er selbst war nicht vor Ort gewesen, aber sein Mentor, Carlo. Und er hatte alles getan, damit Niano verstand, worum es ging. Es war nicht einfach nur ein Mord. Nicht so einer, wie die meisten Morde, die Ehegatten oder Partner betrafen. Normalerweise – so sagte man – neigten Frauen dazu, zu Gift zu greifen. Oder ihren Partner zu ersticken oder so etwas.

Nicht so Madrey.

Als die Gardisten in der Villa eingetroffen waren, hatte das Arbeitszimmer des Opfers sich in einen Blutsee verwandelt. Der komplette Steinboden war bedeckt gewesen, nur hier und da hatte man noch Symbole durchschimmern sehen können. Der Mann lag ausgestreckt auf dem Boden, Arme und Beine weit zur Seite gestreckt. Blut hatte sich in einem großen See unter ihm gesammelt. Unzählige Messerstiche hatten seinen Körper durchbohrt. Jemand hatte ihn geradezu dahingeschlachtet.

Eine gruselige Vorstellung. Niano hatte schon einiges gesehen in seiner Karriere, aber eine solche Brutalität war auch ihm neu gewesen. Keiner hatte sich erklären können, was Madrey zu dieser Tat bewegt haben mochte. Niemand hatte sie befragen können, denn sie war unmittelbar nach dem Mord untergetaucht und hatte sogar ihre kleine Tochter zurückgelassen.

Was für eine Mutter war das?

Niano merkte, dass Warwell ihn immer noch ansah. Offensichtlich wartete der Alte auf eine Antwort. Niano wandte das Gesicht ab und starrte über die sumpfige Landschaft.

Nach einer knappen halben Stunde trieb das Boot um eine letzte Flussbiegung und eine Holzhütte kam in Sicht. Der Unterschied zu der stolzen Villa, die Madrey mit ihrem Mentor bewohnt hatte, könnte nicht größer sein. Dies hier war ein Stelzenhaus, ganz ähnlich der Station 81, aus dicken Baumstämmen und Bohlen zusammengesetzt, sehr klein, aber stabil und ordentlich gearbeitet. Warwell vertäute sein Boot an einer der Stelzen und sah sich um. Offensichtlich suchte er nach einer Leiter, die ins Innere der Hütte führte. Es war keine zu entdecken.

Niano hatte keine Zeit zu warten. Er warf einen Blick in das brackige Wasser, stellte fest, dass es nicht besonders tief war, und schwang sich über Bord. Sofort versank er bis über die Knie im Bachlauf, aber seine Uniform war ohnehin schon ruiniert. Ohne darauf zu achten, machte er sich daran, die Hütte zu umrunden. Kein Weg hinauf. Niano fluchte. Wenn es sein musste, konnte er natürlich an einer der Stelzen hinaufklettern, aber auch das würde wieder Zeit kosten. Und so lange er nicht einmal wusste, ob sich das wirklich lohnte ...

Wieder blickte er sich um. Die vorderen Stelzen standen im Wasser, die hinteren auf weichem Erdboden. Hier waren Spuren zu erkennen, dass jemand sich alle Mühe gegeben hatte, einen kleinen Garten anzulegen. Die grünen Schöpfe von irgendwelchen Wurzelpflanzen ragten noch aus der Erde, ein paar Köpfe Salat welkten vor sich hin. Es war nicht gerade der richtige Untergrund, um sich am Gärtnern zu versuchen, aber Niano vermutete, dass die Frau verzweifelt gewesen war.

Alles, um zu überleben.

Alles, um nicht zurückkehren zu müssen.

Aber wo war sie jetzt? Natürlich könnte sie sich in der Hütte versteckt halten, aber Niano hatte das starke Gefühl, dass dem nicht so war. Er konnte es sich nicht erklären, aber bisher hatte er mit seinen Eingebungen meistens richtig gelegen.

Wieder blickte er zur Hütte hinauf. Nein, dort war niemand. Je länger er hier unten stand, desto sicherer war er sich. Also ließ Niano seinen Blick einmal mehr durch die Umgebung schweifen. Irgendwohin musste Madrey verschwunden sein. Wenn es Madrey war. Aber auch da war sich Niano inzwischen einigermaßen sicher.

»Sir!« Warwells raue Stimme riss Niano aus seinen Überlegungen. »Sir, ich glaube, ich habe da etwas.«

Platschend umrundete Niano erneut die Hütte und kam neben dem Boot zu stehen. Warwell hatte sich aufgerichtet, und zeigte auf einen Baum in der Nähe. Niano folgte mit seinem Blick, konnte aber zunächst nichts Besonderes erkennen. Einer der großen Sumpfbäume, wie es hier so viele gab. Erst auf den zweiten Blick sah er, was Warwell meinte: Etwas rote Farbe, die sich an dem Stamm abgestreift hatte. Nur ein paar leichte Flecken, aber so leuchtend rot, wie es in diesem Sumpf nirgendwo sonst aussah.

So rot wie der Bug des Weltenschiffes.

»Sie ist hier langgefahren«, wisperte er. Im nächsten Moment ergriff er den Bootsrand, und zog sich an Bord. Das flache Gefährt geriet heftig ins Schwanken und ein großer Schwall braunen Wassers schwappte herein, doch Niano ließ sich davon nicht aufhalten.

»Was liegt in dieser Richtung?«, wollte er wissen, und zeigte den Flussarm hinauf.

Warwell zog die Augenbrauen hoch. »Der schräge Riss«, antwortete er in einem Tonfall, als sollte Niano das nun wirklich wissen.

Niano starrte Warwell an. Er konnte nicht recht glauben, was er da gehört hatte. »Ein schräger Riss? Hier?«

Warwell grinste. Er antwortete nicht.

»Und Sie meinen ... diese Naturforscherin ist zu diesem Riss gefahren?« Niano schauderte.

»Es sieht ganz so aus.«

»Warum?«

»Ich habe keine Ahnung, Sir, sagen Sie es mir?«

Niano überlegte. Er wusste nicht viel über die sogenannten schrägen Risse. Nicht viel mehr, als dass sie in den letzten Jahren in Erscheinung getreten waren, und dass sie nichts Gutes bedeuteten. Man konnte sie passieren, wie jeden anderen Riss auch, aber ihre Besonderheit war, dass sie in alle möglichen Welten führen konnten. Bisher war es noch niemandem gelungen, zu kontrollieren, wo man landete. Und es war auch nicht immer eine der gewohnten Welten, so hatte man es ihm gesagt. Eleni, eine Wanderin, mit der er einige Zeit zusammengearbeitet hatte, schwor sogar, dass man diese Risse ohne einen Weltenstein passieren konnte. Aber Niano war nicht sicher, ob das wirklich stimmte.

Warum sollte Madrey – wenn sie es tatsächlich war – sich gerade zu diesem Riss begeben? Warum nicht die verlässliche Passage, durch die Staphron und er gekommen waren?

Nun, diese Frage war natürlich einfach zu beantworten. Dieser Riss führte geradewegs zurück zur Ratswelt. Und das war ein Ort, an dem Madrey ganz sicher nicht auftauchen wollte.

»Bringen Sie mich zum Riss«, sagte Niano. »Ich möchte mir das ansehen. Haben wir ein Ersatzboot? Oder einen Wanderer zu unserer Verfügung?«

Warwell presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Wir haben schon lange keine solchen Mittel mehr hier erhalten. Um ehrlich zu sein – ich glaube, man möchte keine Wanderer in Versuchung führen. Ich habe gehört, dass sie von den schrägen Rissen geradezu angezogen werden. Vielleicht wollte der Rat nicht, dass ein Boot nach dem anderen dort verschwindet.«

Das klang logisch. Dennoch wollte sich Niano die Angelegenheit mal ansehen. Und dann blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als Verbindung zum Rat aufzunehmen und einen neuen Wanderer anzufordern. Ärgerlich.

Es würde schwierig werden, dem Rat zu erklären, was vorgefallen war. Und natürlich musste Niano sich für das verlorene Boot verantworten.

Der schräge Riss

So ein herrschaftliches Haus habe ich nicht erwartet. Ich bleibe an der Tür stehen, und wage nicht, einen Schritt über die Schwelle zu tun. Weiße Marmorfliesen. Eine breite, geschwungene Treppe, die zu einer Galerie führt. Blauer Teppich auf den Stufen. Eine fluffige weiße Katze sitzt genau in der Mitte der Halle und sieht mich aus gelben Augen an. Sie ist die Herrin dieses Hauses, so viel ist klar. Und sie weiß noch nicht, ob sie mich akzeptieren kann.

»Nun komm schon!« Leone hat die Halle betreten, als wäre nichts dabei. Jetzt hat er gemerkt, dass ich ihm nicht gefolgt bin, und ist stehen geblieben. Auf seinem Gesicht zeichnet sich Ungeduld ab. »Dein Zimmer wartet.«

Ich setze einen Fuß über die Schwelle. Ich weiß nicht, warum ich gezögert habe, vielleicht hatte ich Angst, dass sich der Boden unter meinen Füßen auftut und mich verschluckt. Aber natürlich passiert nichts dergleichen.

Es ist kühl in der Halle, anders als in der Sonnenglut vor dem Haus. Eine heiße Welt ist es, in der Leone lebt. Ich frage mich, ob ich mich daran gewöhnen kann. Ich kenne die saftigen grünen Hügel von Boutain, zwischen denen die Akademie eingebettet liegt. Ich kenne das raue, wilde Meer von Gjerdik, den Ort, an den wir immer zum Üben gereist sind. Ich weiß natürlich, dass es auch in meiner Heimatwelt andere Landschaften gibt. Den warmen Dschungel am Äquator. Die ewige Wüste ganz im Süden, doch ich habe sie nie gesehen. Ich bin ein Landmädchen. Ich glaube nicht, dass ich auf das Leben hier vorbereitet bin.

Leone ist ungeduldig. Er steht bereits am oberen Ende der Treppe und klopft mit dem Fuß auf den Steinboden. Sein Gesicht ist jetzt richtig finster. Ich beeile mich und renne beinahe die Treppe hinauf. Er nimmt mich in Empfang, führt mich zu meinem Zimmer. Eine einfache Kammer, aber viel größer als alles, was ich in der Akademie gehabt habe. Er bleibt in der Tür stehen, während ich mein Bündel verstaue. Er möchte gleich weiter, am besten anfangen mit der Ausbildung. Jetzt gleich. Die Vorfreude ist ihm ins Gesicht geschrieben, sie lässt seine Züge leuchten.

Noch immer wage ich kaum, etwas zu sagen. Ich habe Hunger, aber offensichtlich hat er nicht vor, mir etwas zu Essen zu geben. Stattdessen führt er mich in ein weiteres großes Zimmer. Der schwarze Steinboden ist mit silbernen Einlegearbeiten durchzogen. Ich erkenne einige davon, die, die sich mit Weltenwechseln beschäftigen. Ich folge mit den Augen den langen Reihen von Schriftzeichen und versuche, zu verstehen, was er hier angelegt hat. Es kann kein Riss sein, denn dafür bräuchte er ein Boot. Dennoch hat das hier etwas mit anderen Welten zu tun, das spüre ich.

Ich vergesse, dass ich Angst habe. Angst vor ihm und Angst vor diesem großen, fremden Haus. Ich folge den silbernen Spuren auf dem Boden, Schritt für Schritt, meine Augen huschen von hier nach da und meine Lippen formen die Worte, die ich verwenden muss, um sie zu aktivieren.

»Sehr gut!« In Leones Stimme liegt Anerkennung. Ich zucke zusammen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er mich weiterhin beobachtet. Ertappt blicke ich auf – in seine dunklen Augen.

»Was ist das?«, möchte ich wissen.

»Ein Forschungsprojekt, an dem ich arbeite.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn du etwas weiter bist, werde ich dir das erklären.«

Ich presse die Lippen aufeinander. Ich möchte jetzt schon verstehen, was er hier aufgezeichnet hat. Möchte wissen, was er vorhat. Es sieht spannend aus. Meine Neugier ist geweckt. Noch einmal folge ich den Linien, murmele die Worte, doch im nächsten Augenblick schließt sich eine harte Hand um meinen Arm. Finger bohren sich in meinen Muskel, so fest, dass mir Tränen in die Augen schießen.

»Ich habe gesagt: wenn du weiter bist!« Leones Gesicht ist voller Zorn. Rasch senke ich den Kopf. Ich möchte nicht, dass er wütend auf mich ist. Ich sollte ihm doch dankbar sein. Ohne ihn hätte ich ein weiteres Jahr auf der Akademie bleiben müssen. Und vielleicht noch länger. Ohne einen Mentor – was wäre mir da geblieben? Eine Karriere als Kontrolleurin, bestenfalls.