Flügel aus Sternenlicht - Allison Saft - E-Book

Flügel aus Sternenlicht E-Book

Allison Saft

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Beschreibung

Der neue Roman von Allison Saft: DEIN SPIEGEL-BESTSELLER im Dezember 2025! In diesem Fantasy-Abenteuer der New York Times-Bestsellerautorin Allison Saft muss eine junge Feenkönigin voller Magie und Romantik verbotene Verbindung eingehen oder riskieren, dass eine unaussprechliche Gefahr alles zerstört, was ihr lieb und teuer ist. Es ist Jahrhunderte her, dass eine Fee aus dem Tal der Feen den Winterwald betreten hat, und während die meisten die Legenden die Monster fürchten, die in den eisigen Landen lauern, kann Clarion nicht anders, als von der stoischen Schönheit des Winters fasziniert zu sein. Doch unter den wachsamen Augen des amtierenden Monarchen und der saisonalen Minister des Hofes hat Clarion wenig Zeit für Tagträume, während die Tage bis zu ihrer Krönung immer kürzer werden. Dann treffen Berichte über ein Monster ein, das vom Winter in den Frühling übergeht, um den Weg zum Palast finden. Clarion sieht den Sieg über diese Bedrohung als Gelegenheit, zu beweisen, dass sie ihrer neuen Rolle würdig ist. Doch anstatt ein Monster am Rande des Winters zu finden, trifft sie auf Milori, einen jungen Wächter des Winterwaldes. Gemeinsam gehen sie eine ganz besondere Verbindung ein, während sie um die Rettung ihres Landes kämpfen. Doch schon bald entdecken sie, dass es einen Grund gibt, warum eine Warmzeitfee und eine Winterfee nicht zusammen sein dürfen. Und der Preis dafür könnte genauso tödlich sein wie die Monster, die durch die Winterwälder streifen. Entdecken Sie den Ursprung der mitreißenden Romanze zwischen der Königin des Tals der Feen "Pixie Hollow" und dem Herrn des Winterwaldes. "Bezaubernd und ergreifend romantisch. Die Leser werden sich fühlen, als wären sie direkt in Pixie Hollow gelandet!" (Sasha Peyton Smith, New York Times-Bestsellerautorin von The Witch Haven) BookPage-Auswahl der am meisten erwarteten YA-Bücher des Jahres 2025 Goodreads-Auswahl der am meisten erwarteten Neuerscheinungen des Jahres 2025

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Über dieses Buch

Allison Saft

Flügel aus Sternenlicht

Es ist Jahrhunderte her, dass eine Fee den Winterwald betreten hat, und während die meisten die Monster aus den Legenden fürchten, die in den eisigen Landen lauern, kann Clarion nicht anders, als von der stoischen Schönheit des Winters fasziniert zu sein. Doch unter den wachsamen Augen des amtierenden Monarchen hat die Fee wenig Zeit für Tagträume, während die Tage bis zu ihrer Krönung immer kürzer werden. Dann treffen Berichte über ein Monster ein, das den Weg vom Winter in den Frühling sucht, um zum Palast zu kommen. Clarion sieht den Sieg über diese Bedrohung als Gelegenheit, zu beweisen, dass sie ihrer neuen Rolle würdig ist. Aber anstatt eines Monsters trifft sie auf Milori, einen jungen Wächter des Winterwaldes …

Wohin soll es gehen?

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Viten

Widmung

Für all diejenigen, die die Welt so sehen, wie sie sein könnte:

von Licht und Magie erfüllt.

A. S.

PROLOG

Es gibt Dinge, die verborgen bleiben und sich nur denjenigen zeigen, die genau wissen, wo sie hinschauen müssen. Wer in der frühen Morgendämmerung, wenn die Welt noch schläft, aus dem Fenster schaut, bemerkt vielleicht eine Lichtkugel, die durch die Blätter des Spätsommers huscht und jedes einzelne Blatt auf ihrem Weg rot färbt. Vielleicht sieht sie oder er auch schwache goldene Bänder in der Luft direkt über den Hyazinthen, die sich durch die frisch aufgetaute Erde dem Licht entgegenstrecken. Und wer wirklich aufmerksam ist, erkennt eventuell auch noch die Meißelspuren, die das kristallklare Spitzenmuster jeder Schneeflocke zieren. Leider sind nur wenige Menschen so aufmerksam. Und daher erleben auch nur wenige jemals wahre Wunder. Nur wenige erfahren, dass selbst die alltäglichsten Dinge magisch sind – der abnehmende Mond, der Gezeitenstrom, das zufällige Wiederauftauchen eines verlorenen Schmuckstücks unter dem Küchentisch.

Das alles ist natürlich das Werk der Nimmerfeen.

Sie inszenieren den Wechsel der Jahreszeiten in einer einzigen Nacht und kehren anschließend nach Hause zurück. Es heißt, wer über den zweiten Stern rechts hinausfliegt und bis zum Morgen geradeaus weiter, der kann es ebenfalls erreichen: das Tal der Feen. Von oben betrachtet sieht es aus wie ein Kuchen, der in vier gleich große Stücke geschnitten wurde. In seinem Herzen steht der Feenstaubbaum, der leuchtend und golden wie eine Kerze in der Dunkelheit strahlt. Im Osten liegt das Tal des Frühlings, in dem die Blumen immer in voller Blüte stehen. Im Süden befindet sich die Sommerlichtung, wo die Tage lang und so träge wie eine schlummernde Katze sind. Im Westen ist der Herbstwald zu Hause, kühl und frisch und in leuchtenden Farben.

Und im Norden liegt der Winterwald.

Die Bewohner der warmen Jahreszeiten tun ihr Bestes, um den Winterwald aus ihren Gedanken zu verbannen. Wenn sie ihn doch einmal im Schatten des Berges erblicken, können sie nicht anders, als an seine skelettartigen Bäume zu denken, an die Eiszapfen, die im Mondlicht wie entblößte Reißzähne glitzern, oder an diejenigen, die an einem so grauen und leblosen Ort leben müssen. Die Winterfeen – so sagen die Warmfeen – sollten am besten in ihrer schneebedeckten Einsamkeit bleiben. Sie haben ihre Angelegenheiten jahrhundertelang selbst geregelt. Außerdem ist die Kälte dort so bitter und grausam, dass sie einer Warmfee im Handumdrehen die Flügel brechen würde. Es würde nie etwas Gutes für eine Fee dabei herauskommen, wenn sie die Grenze überschritt.

Nun basieren die meisten dieser Ängste auf unbegründetem Aberglauben. Doch unbemerkt von den warmen Jahreszeiten lauern tatsächlich dunkle Mächte im Winterwald. Dort gibt es einen Ort, an dem sich alle Bäume nach hinten biegen und vor dem gefrorenen See unter ihnen zurückweichen. Dort ist die Luft so schwer und unwillkommen wie fiebriger Schweiß. Niemand besucht diesen Ort – zumindest niemand, der vernünftig ist – außer dem jungen Wächter des Winterwaldes.

Doch wer mutig oder töricht genug wäre, könnte auf das Eis hinausgehen. Darunter sähe sie oder er kein Wasser, sondern eine tiefe, sich windende Dunkelheit. Und selbst wer die Angst, die sie hervorruft, länger als einen Moment ertrüge, wäre doch nicht in der Lage, sie zu verstehen. Die Schatten ordnen sich nur gelegentlich zu einer erkennbaren Form. Hier zu einem Zahn. Dort zu einem Auge oder einer Klaue.

Nein, nur wenige würden sich jemals so etwas Schrecklichem aussetzen. Doch wer trotz allem in einer dieser kalten, mondlosen Nacht zum See hinuntergewandert wäre – so wie es der Wächter des Winterwaldes tat –, hätte vielleicht erlebt, was er erlebt hat: den Moment, in dem ein großer Riss die Eisoberfläche zerschnitt. Und hätte vielleicht das Splittern gehört, das den Schnee von den Ästen schüttelte. Hätte vielleicht gespürt, wie der Wald voller Erwartung erzitterte.

Und dann … erhob sich etwas – kaum mehr als ein Schatten – wie Rauch aus dem zerbrochenen Eis. Es brodelte und nahm eine Form aus dem Albtraum an, aus dem es geboren wurde. In der Dunkelheit war es fast unmöglich, es zu erkennen, doch seine Fußspuren hallten schwer auf der Erde wider. Dann stapfte es – getrieben von einem schrecklichen, uralten Instinkt – auf die warmen Jahreszeiten zu.

1

Es war ein Nachmittag, wie geschaffen für Tagträume: Die Luft glitzerte golden von Sonnenlicht und Feenstaub. Die Wiese war erfüllt vom leisen Summen der Bienen. Clarion saß auf dem Ast einer Eiche, umgeben vom Seufzen und Rascheln der Blätter. Wie schön, allein zu sein und – zumindest für fünfzehn herrliche Minuten – nichts zu tun zu haben.

Diesen Gedanken bedauerte sie fast sofort wieder, so schön er auch war. Denn Clarion konnte sich Königin Elvinas Antwort darauf nur allzu leicht vorstellen: Die Königin vom Tal der Feen sitzt nicht einfach untätig herum, solange es noch Arbeit zu erledigen gibt.

Doch Clarion war nicht die Königin vom Tal der Feen – jedenfalls noch nicht – und ihr wöchentlicher Termin mit dem Sommerminister war unerwartet kurz gewesen. Sie hatte nicht vor, diesen seltenen Anflug von Freiheit ungenutzt verstreichen zu lassen.

Da ihre Krönung kurz bevorstand, war jeder Moment mit Unterricht, Proben, Anproben und mehr Besprechungen verplant, als sie es je für möglich gehalten hätte. Alles war wichtig, nahm sie an, da sie nur noch einen Monat Zeit hatte, um so viel wie möglich von Elvinas jahrhundertealter Weisheit zu studieren. Das Tal der Feen war riesig und wundersam und Clarion befiel manchmal der Verdacht, dass sie eigentlich überhaupt nichts darüber wusste. Wie konnte sie das auch, wo sie doch fast ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, es nur aus der Ferne zu beobachten?

Sehnsüchtig blickte sie auf die Sonnenblumenwiese. Als die goldene Stunde näher rückte, tauchten die Lichterfeen auf, die vor Aufregung strahlten und begierig darauf waren, sich dem kontrollierten Chaos ihrer geschäftigsten Tageszeit zu stellen. Durch das Blätterdach beobachtete Clarion, wie sie sich durch die pollenreiche Luft schlängelten und dabei kleine Wölkchen aus Feenstaub hinterließen. Einige arbeiteten in Teams, um die Sonnenstrahlen immer näher an den Horizont zu bringen, und riefen dabei Dinge wie „Ein bisschen mehr nach links!“ und: „Nein, das andere Links!“ Andere tauchten ihre Hände in die Sonnenstrahlen und schöpften sie in ihre Körbe. Es sah so einfach aus wie das Schöpfen von Wasser aus einem Brunnen. Clarion war immer wieder erstaunt, wie viele winzige Details in die alltägliche Magie eines Sonnenuntergangs einflossen. Es schien ihr unmöglich, dass sie bald – in der Nacht der Sommersonnenwende – für all diese Details verantwortlich sein würde.

Diese Aussicht machte ihr mehr Angst, als sie sich einzugestehen wagte.

Ein hohes Summen durchschnitt ihre Gedanken. Dann raste etwas an ihr vorbei: ein schwarzer Streifen vor dem heller werdenden Himmel. Clarion fiel nach hinten und verlor fast das Gleichgewicht, bis sie sich gerade noch an einem Ast festhalten konnte.

Was in aller Welt war das?

Mit einer Hand auf ihrem pochenden Herzen spähte sie durch den Blättervorhang nach unten. Eine Biene, die in ihrem Flug ins Stocken geraten war, landete schwer auf dem Boden und rührte sich danach nicht mehr. Einen Moment später flatterte sie zumindest wieder mit ihren Flügeln und Clarion stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Nicht verletzt, dachte sie. Das arme Ding musste erschöpft sein. Bienen waren fleißig und neigten dazu, ihre Grenzen zu überschätzen, besonders in der ewigen Hitze des Hochsommers. Zum Glück ließ sich das mit einem Löffel Zucker beheben – und Zucker gab es im Feenwald im Überfluss. Die Küchen, die zu dieser Stunde zweifellos mit allerlei Süßigkeiten gefüllt waren, befanden sich wieder im Palast. Und besser noch, der Bienenstock – und damit der gesamte Honig – stand direkt auf der anderen Seite der Wiese.

Ein einfaches Problem und eine einfache Lösung.

Und doch zögerte Clarion.

Es juckte sie in den Fingern, jedes Problem im Feenreich selbst zu lösen. Einst hatte sie geglaubt, dass diese Neigung ein Funke ihrer latenten Führungsqualitäten war – ein kleiner Teil des Ganzen, der für sie endlich Sinn ergab. Doch jetzt verstand sie, dass sie ihren Instinkten – ihrem Mitgefühl – nicht vertrauen durfte.

Es gehört sich nicht, dass die Königin vom Tal der Feen sich in die Gesellschaft ihrer Untertanen begibt.

Seit ihrer Ankunft in der Nacht, als sie aus einem gefallenen Stern aufgetaucht war – so wie es alle Königinnen vom Tal der Feen vor ihr getan hatten –, hatte Elvina ihr immer eingeschärft, dass sie anders war. Dass sie beide anders waren – immerwährend mit Sternenstaub gezeichnet. Außer Elvina war Clarion die einzige mögliche Regentin im ganzen Tal der Feen.

Clarion warf einen Blick auf die Wiese, wo Teams aus Tier- und Gartentalenten ihre Bienenschar hüteten. Würden sie bemerken, dass eine fehlte? Und selbst wenn, würde eine Suche die ganze Nacht dauern. Vielleicht war die Rettung einer Biene unter ihrer Würde, aber was für eine Königin wäre sie, wenn sie sich vom Leid selbst der kleinsten ihrer Untertanen abwendete?

Sie musste nur von diesem Baum herunterkommen.

Ein schwerer Umhang hing um ihre Schultern und hielt ihre Flügel unter seinem Gewicht fest. Alle Feen strahlten eine schwache Aura aus – eine, die je nach Stimmung aufflackerte und wieder erlosch. Doch dank ihrer Flügel war ihr Leuchten fast nie zu unterdrücken. Obwohl die Lichterfeen hier im Sommer ihre Vorliebe für Gold teilten, war die Ähnlichkeit nicht auffällig genug, um sich in der Öffentlichkeit zu verstecken. Wenn jemand ihre Flügel sah, kam das einem lauten Ruf nah, der verkündete: Hier kommt die zukünftige Königin vom Tal der Feen.

Wenn jemand Elvina erzählte, dass sie hier war – ohne Aufsicht … Nein, daran wollte Clarion nicht denken. Also würde sie hinunterklettern müssen. Das war unbequem und mit ziemlicher Sicherheit gefährlich. Doch sie zog das Risiko eines Sturzes dem Risiko vor, sich einen weiteren von Elvinas Vorträgen anhören zu müssen.

Clarion nahm all ihre Kräfte zusammen und ließ sich Ast für Ast hinab. Ihre Muskeln brannten und die Rinde schürfte ihre Hände wund. Doch wie durch ein Wunder gelang es ihr, sich bei der Landung in einem Meer aus Sonnenblumen nicht den Knöchel zu verrenken. Die Blumen ragten über sie hinaus, wiegten sich sanft im Wind und warfen gesprenkelte Schatten über das Gras. Und dort, nur wenige Meter von ihr entfernt, lag die Biene im gelben Sonnenlicht.

Vorsichtig näherte Clarion sich der Biene und kniete sich neben sie.

„Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.

Die Fühler der Biene drehten sich träge in ihre Richtung, was Clarion als ein Ja interpretierte.

Ihr fiel auf, dass sie noch nie mit einer Biene zu tun gehabt hatte. Viele Feen hielten sie als Haustiere – soweit man sie überhaupt halten konnte, da Bienen kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. Die Feen lockten sie mit Schüsseln voller Nektar auf den Fensterbänken und Gärten voller Lieblingsblumen der Bienen: Katzenminze, Verbene, Lavendel und die Schwarzäugige Susanne. Elvina hatte solche Dinge natürlich nie verboten, doch dazu ermutigt hatte sie auch nicht. Die Leichtigkeit, mit der andere den Tieren aus dem Tal der Feen begegneten, war eine weitere Sache, die Clarion nie gelernt hatte.

„Lass uns dich wieder in die Lüfte bringen“, sagte sie und kam sich etwas albern vor, weil sie mit einer Biene sprach, als ob diese sie verstehen könnte. Nur Tierfeen konnten wirklich mit ihren Schützlingen kommunizieren. Dennoch fügte sie vorsichtshalber noch hinzu: „Bitte stich mich nicht.“

Vorsichtig nahm sie das Tier in ihre Arme. Die Biene leistete keinen Widerstand und Clarion hätte schwören können, Dankbarkeit in den müden Augen zu sehen. Ihr Fell war überraschend weich und verströmte einen leichten Duft von Zitrone und der erdigen Note von Pollen. Aus nächster Nähe fiel Clarion zum ersten Mal auf, wie sehr die Flügel einer Biene denen ihrer Untertanen ähnelten. Sie waren zerbrechlich, kostbar wie Glas und mit einem filigranen, aderähnlichen Muster versehen. Das weckte ihren Beschützerinstinkt.

Mit der Biene an ihre Brust gedrückt, ging Clarion durch das Sonnenblumenfeld. Durch das Blätterdach über ihr erhaschte sie flüchtige Blicke auf vorbeihuschende Feen. Feenstaub schwebte träge durch die Luft, begleitet vom glitzernden Klang glockenhellen Lachens. Es erfüllte sie mit Glück und Sehnsucht – und zugleich mit einer schrecklichen Einsamkeit. Alle Feen, die die gleiche Gabe teilten, lebten zusammen, arbeiteten zusammen und spielten zusammen. Natürlich mischten sie sich auch unter andere Feen, aber es gab ein angeborenes Verständnis unter denjenigen, die für denselben Zweck geschaffen waren. Manchmal fragte sich Clarion, wie es wohl wäre, sich zugehörig zu fühlen, so viele andere zu haben, an die man sich wenden konnte und die einen vollkommen verstanden.

Sie erreichten den Feldrand, wo ein hoher Ahornbaum seinen langen Schatten über sie warf. Das Astloch in seinem Stamm ein paar Meter über dem Boden, gefüllt mit geordneten Reihen goldener Waben, zog Clarions Aufmerksamkeit auf sich: der Bienenstock.

Vorsichtig setzte sie die Biene im Gras ab. „Ich bin gleich zurück.“

Daraufhin flatterte diese mit ihren Flügeln. Auf irgendeiner Ebene verstand die Biene sie vielleicht doch.

Clarion wandte sich dem Baum zu und holte tief Luft. Sie war heute schon auf einen Baum geklettert. Was machte da schon ein weiterer aus? Beherzt zog sie sich hoch und fand Halt in den Rillen der Rinde und den Kappen der Honigpilze, die aus dem Stamm herauswuchsen. Dann kletterte sie auf den Rand des Astlochs. Das beruhigende Summen der Bienen hallte in ihrer Brust wider und der wohlige, blumige Geruch von Wachs und Nektar umgab sie. Vorsichtig löste Clarion eine Wachsschicht, die die Wabe versiegelte. Sofort quoll Honig an die Oberfläche. Im Sonnenlicht des späten Nachmittags schien er fast zu glühen. Clarion pflückte ein Blatt von einem Zweig und sammelte darauf den Honig, der träge aus der Wabe tropfte.

Der Weg zurück nach unten mit einer Hand war gefährlich, aber Clarion schaffte es, ohne zu fallen. Sie eilte zu ihrer Biene zurück und legte das Blatt neben sie. „Bitte schön.“

Clarion beobachtete sie ängstlich beim Trinken. Langsam begann die Biene sich zu regen. Zuerst stand sie auf – vorsichtig, als würde sie testen, ob ihre zarten Beine sie trugen. Dann, sichtlich ermutigt, erhob sie sich in die Lüfte. Sie drehte Pirouetten, hüpfte und wirbelte im Kreis um Clarion herum, als wollte sie sagen: „Schließe dich mir an.“

„Ich wünschte, ich könnte.“

Clarion konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Selbst wenn ihr eine bestimmte Gabe fehlte, konnte sie vielleicht etwas Gutes tun.

„Mel?“, rief jemand mit panischer Stimme. „Mel?“

Beim Klang ihres Namens wurde die Biene munter.

Clarion blickte auf und sah eine Tierfee, die sich durch die Sonnenblumen kämpfte. „Suchst du diese hier?“

Das gelbbraune Gesicht der Fee erschien zwischen den Blütenblättern und Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie blinzelte angestrengt auf die leere Stelle vor sich. „Ist da jemand?“

„Hier unten.“

Die Fee erschrak und wäre beinahe vom Ast gestürzt. Auch Clarion zuckte zusammen. Zugegeben, es war selten, eine Fee auf den Beinen zu sehen. Verlegen rückte Clarion ihren Umhang zurecht. Glücklicherweise dämpfte das Licht der Sommersonne das Licht, das ihre Flügel verströmten. Nur wenig davon tauchte unter ihrem Kragen auf. Es färbte ihre Haut nur schwach, nicht deutlicher als die Reflexion einer Butterblume, die sie unter ihr Kinn hielt. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter und glitt zwischen ihren verkrampften Flügel entlang. Sie konnte es kaum erwarten, diesen Umhang abzulegen – und der Hitze zu entkommen.

Als die Tierfee ihre Verwirrung abgeschüttelt hatte, fiel ihr Blick auf die Biene. „Mel!“

Mel raste mit voller Geschwindigkeit auf die Fee zu und wich erst im letzten Moment aus. Die Tierfee zuckte nicht einmal zusammen, ganz so, als wäre sie an solche Auftritte gewöhnt. Sie schien ein Lächeln zu unterdrücken, als Mel in eine Sonnenblume eintauchte.

„Du solltest heute eigentlich Ringelblumen bestäuben“, schimpfte die Fee. Doch ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie eher erleichtert war, die Biene wiedergefunden zu haben.

Über und über mit Pollen bedeckt tauchte Mel wieder auf. Sie schüttelte die überschüssigen Pollen ab wie ein nasser Hund und flog dann davon, um sich dem Rest ihres Bienenstocks anzuschließen. Selbst Clarion konnte erkennen, dass sie sich putzte.

„Sie scheint etwas Besonderes zu sein“, bemerkte sie.

„Oh, das ist sie.“ Die Tierfee schüttelte in liebevoller Verzweiflung den Kopf und wandte sich dann Clarion zu. „Das war eine nette Geste von dir.“

Das Lob überrumpelte Clarion und verunsicherte sie etwas. Nur wenige Feen sprachen sie an, ohne auf Erlaubnis zu warten. Elvina strahlte eine gebieterische Aura aus, die Clarion beschützend einhüllte. Sie hielt sie darin fest – und alle anderen draußen. Daher war Clarion in jeder Art von Small Talk völlig aus der Übung.

Sie bemühte sich, ihre Stimme von jeder Form von Etikette frei zu halten, und erwiderte: „Es war überhaupt kein Problem.“

„Trotzdem danke.“ Das Lächeln der Tierfee war so warm wie der Sommer. „Ich bin sicher, du hast schon genug zu tun, auch ohne eigensinnige Bienen retten zu müssen.“

Clarion erwiderte das Lächeln zaghaft. „Gern geschehen.“

„Sind wir uns schon einmal begegnet?“ Die Fee runzelte die Stirn und musterte sie. „Du siehst fast aus wie …“

„Prinzessin Clarion?“

Clarion zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte – und die vertraute Stimme der Sommerministerin. Entlarvt. Ängstlich wandte Clarion sich der Ministerin zu. Aurelia stand direkt hinter ihr und blickte sie leicht überrascht an. Ihre Haut war tiefschwarz und ihre Augen glänzten golden wie Feenstaub. Das Haar fiel ihr in Locken bis auf die Schultern. Heute trug sie ein Gewand aus Schafgarbe. Der gestufte Rock war mit Blüten übersät, die in rosa, orangefarbenen und weißen Büscheln angeordnet waren.

„Was macht Ihr noch hier?“, fragte sie. „Ich dachte, Ihr wärt längst in den Palast zurückgekehrt.“

„Ich habe einen kleinen Umweg gemacht“, antwortete Clarion matt. „Um mich auszuruhen.“

Aurelias Gesichtszüge hellten sich auf. Ihr Alltag war von der Ewigkeit träger Sommernachmittage geprägt und sie schätzte Frieden und Ruhe über alles. Hier in der Sommerlichtung war immer Zeit für ein Nickerchen oder ein Glas Limonade. Doch auch wenn sie während der größten Mittagshitze dösten, erwachten sie nachts wieder zum Leben. Der Sommer war die einzige Jahreszeit, die nie wirklich schlief. Wenn Clarion lange genug hier verweilte, würden diejenigen aus ihrem Schlummer erwachen, die im Licht des Mondes lebten – die Glühwürmchen- und Sternenzählerfeen.

„Mein brillanter Schützling“, säuselte Aurelia. „Seht Ihr? Ihr lernt etwas über den Sommer.“

Das Lob klang hohl, doch Clarion zwang sich zu einem fröhlichen Ton. „Danke, Ministerin.“

Aurelia lächelte nachsichtig. „Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Ich muss nach meinen Lichtfeen sehen.“ Mit diesen Worten entfernte sie sich.

Besorgt warf Clarion der Tierfee, die ganz blass geworden war, einen Blick zu. Sie öffnete den Mund, um etwas zu ihrer Beruhigung zu sagen – irgendetwas. Aber es war zu spät. Sie sah den Moment genau, in dem es der anderen Fee dämmerte. Den Moment, in dem ihr Schock in Demut überging – und in so etwas wie Ehrfurcht – und sie ertrug es kaum.

„Prinzessin Clarion“, brachte die Tierfee hervor. „Es tut mir so leid.“

Clarion hob beschwichtigend die Hände. „Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen.“

„Doch, den gibt es.“ Die Tierfee senkte den Kopf tief herab. „Eure Hoheit, bitte verzeiht mir meine Unverschämtheit. Wenn ich gewusst hätte …“

Dann hätte sie Clarion gar nicht erst angesprochen.

Was gab es noch zu sagen? Leise sagte sie: „Dir sei vergeben.“

Die Tierfee senkte erneut den Kopf. Murmelnd und atemlos dankend eilte sie davon. Zweifellos zurück zu ihrer Arbeit – und zurück zu ihren Freunden.

Der vertraute Schmerz der Einsamkeit breitete sich wieder in Clarion aus wie ein verglühender Stern. Für ein paar kostbare Minuten hatte sie fast vergessen, wer sie war. Hier verfolgten sie keine Wachen. Niemand, der stramm stehen blieb, wenn sie vorbeiging. Hier verstummten keine Gespräche, wenn sie sich näherte. Kein Flüstern ertönte hinter ihrem Rücken. Aber am Ende spielte das alles keine Rolle. Selbst hier konnte sie ihrem Schicksal nicht entkommen.

Eigentlich sollte sie all das genießen: den Respekt und die Ehrerbietung. Doch das tat sie nicht. Mehr als alles andere wollte sie das Einzige, was sich wirklich unmöglich anfühlte: bekannt sein. Elvina würde niemals …

Elvina.

Oh nein! Sterne! Wenn sie jetzt nicht losflog, würde sie zu spät kommen.

Sie öffnete die Brosche an ihrem Hals und ließ den Reisemantel von ihren Schultern gleiten. Hastig legte sie ihn sich über den Arm und flog los, wobei sie in einem Wirbel aus goldenem Licht und goldenen Blütenblättern durch die Sonnenblumen brach. Einige träge vorbeischwirrende Bienen änderten ihren Kurs, um ihr auszuweichen.

Als Clarion weiter in den Himmel aufstieg, zog sie eine Spur aus Pollen hinter sich her. Dann erlaubte sie sich einen einzigen Blick zurück – und bereute es sofort. Die Lichtfeen hatten ihre Arbeit für diesen Tag offenbar beendet. Sie hatten sich in Teams aufgeteilt und warfen einen Lichtball über ein Netz hin und her. Selbst aus dieser Entfernung konnte Clarion ihr schallendes Gelächter hören – und die Rufe des Triumphs und der Frustration, wenn ein Team einen Punkt erzielte.

Der Anblick ihrer Untertanen, die so vollkommen und einfach nur glücklich waren, hätte sie eigentlich erfreuen sollen. Aber in diesem Moment waren sie nur eine schmerzhafte Erinnerung an ihre eigene königliche Einsamkeit. Sosehr sie es auch wollte, sie würde nie wirklich zu ihnen gehören.

2

Der Feenstaubbaum ragte in der Ferne stattlich und üppig mit seinem wolkenartigen Blätterdach auf. Kaskaden aus Feenstaub – so golden und hell wie Sternenlicht – ergossen sich aus dem Herz seiner höchsten Äste und sammelten sich am Scheitelpunkt seines Stamms. Seine Äste schlangen sich schützend um den Feenstaubbrunnen, bevor sie sich in eleganten Bögen und verspielten Schnörkeln in alle Richtungen wanden. Clarion hatte schon immer gedacht, dass einer wie ein umgedrehtes Herz aussah und ein anderer wie der Schwanz einer neugierigen Katze. Direkt unter dem Brunnen, in einer Mulde im uralten Stamm des Baums, lag der Palast. Die Rinde war mit beleuchteten Fenstern übersät.

Selbst von hier aus konnte Clarion das helle Licht erkennen, das sie in ihrem Schlafzimmer angelassen hatte und das sanft durch die Glastüren ihres Balkons leuchtete. Sie hatte geahnt, dass das heimliche Zurückschleichen der schwierigste Teil ihres kleinen Abenteuers sein würde, jedoch nicht mit der zusätzlichen Herausforderung gerechnet, die ihre eigene Verspätung darstellte. Dabei war sie bisher doch immer so pünktlich gewesen. Elvina wäre äußerst enttäuscht, wenn sich das jetzt änderte.

Wenn Clarion nur schon die Teleportation beherrschen würde, eine der nützlichsten Fähigkeiten der Regierungsmagier. Elvina ließ es immer so einfach aussehen: Sie löste sich in einem Wirbel aus glitzerndem Goldstaub auf und tauchte gleich darauf auf der anderen Seite des Raums wieder auf. Clarion hatte es einmal geschafft, ihre linke Hand verschwinden zu lassen, bevor sie mit aller Macht wieder zum Vorschein gekommen war. Angesichts ihrer Erfolgsbilanz in Sachen Magie befürchtete sie, dass sie für immer verschwinden oder nur in Teilen auf der anderen Seite des Raums ankommen würde.

Sie landete in dem Gewirr aus Ästen direkt vor ihrem Balkon und dämpfte ihren Schein. Mit etwas Glück suchte niemand nach einem goldenen Schimmer im Laub … Obwohl sie sich insgeheim vorstellte, wie ihre Untertanen reagieren würden, wenn sie sähen, wie die stets würdevolle Prinzessin vom Tal der Feen in ihr eigenes Quartier einbrach. Die Vorstellung von Elvinas Reaktion darauf war jedoch entschieden weniger amüsant. Zum Glück hatte sie die Balkontüren unverschlossen gelassen. Vorsichtig öffnete sie sie einen Spaltbreit und schlüpfte zurück in ihr Zimmer. Sobald sie die Türen hinter sich verriegelt hatte, drangen gedämpfte Stimmen aus dem Flur zu ihr. Clarion erkannte sofort sowohl Petra als auch Artemis.

„… fühlte sich nicht ganz auf der Höhe …“

Petra, dachte Clarion angenehm überrascht, und ihre Stimme trieft vor Lügen.

Ihre älteste – na ja, ehrlich gesagt ihre einzige – Freundin war in solchen Dingen schon immer furchtbar schlecht gewesen. Und dass Artemis – Clarions Wache – es auch nach all den Jahren immer wieder schaffte, sie aus der Fassung zu bringen, machte die Sache nicht besser. Clarion wusste die Mühe ihrer Freundin zu schätzen – umso mehr, da sie Petra nicht um Hilfe gebeten hatte. Sie hatte heute nicht einmal mit ihr gerechnet.

Was für ein glücklicher Zufall.

Clarion durchquerte den Raum und blieb vor ihrem Schminktisch stehen, der mit Parfümflakons und Kosmetikartikeln übersät war. Ein kurzer Blick in den Spiegel bestätigte, dass sie keine Pollenkörner auf der Nase oder verirrte Blütenblätter in den Haaren hatte. Sie sah ein wenig gerötet vom Flug aus, aber das ließ sich erklären. Petra hatte Artemis schließlich gesagt, dass sie sich krank fühlte. Clarion war versucht, sich mit dieser Ausrede vor dem Unterricht zu drücken, doch es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Seit Elvina begonnen hatte, sie zu unterrichten, hatte sie kaum Fortschritte in ihrer Magie gemacht und sie rechnete leider auch in nächster Zeit mit keinem Durchbruch.

Ein Flackern in ihrem Augenwinkel erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Wolken hatten sich verschoben und ließen Sonnenlicht in den Raum fallen. Hinter dem Glas ihrer Balkontüren begrüßte sie der vertraute Anblick der Berge, die ihre düstere Wache über den Winterwald hielten. In der Wärme der goldenen Stunde schimmerte der Schnee, der die Berge bedeckte, in einem strahlenden Weiß. Diese kalte, strenge Schönheit versetzte sie immer wieder in Erstaunen, egal, wie oft sie sie sah. So töricht es auch war, Clarion sehnte sich danach, die Berge aus der Nähe zu sehen. Sie träumte davon, auf ihrem Gipfel zu stehen – mit dem Wind in den Haaren und den tanzenden Schneeflocken um sich herum könnte sie die Schönheit des Tals der Feen aus so großer Höhe genießen. Wie wunderschön wäre das!

Elvina hatte bisher natürlich jede Frage über den Winterwald abgewiesen. Trotzdem machte Clarion der Winter nicht so viel Angst, wie er sollte. Von der warmen, abgeschiedenen Sicherheit ihres Schlafzimmers aus hatte er etwas Friedliches an sich – und etwas schrecklich Einsames.

Genau wie ich.

Seit Hunderten von Jahren hatte niemand aus den warmen Jahreszeiten den Winterwald besucht – jedenfalls nicht, seit Elvina geboren wurde. Und wer wusste schon genau, wie lange das her war? Die Feenköniginnen lebten lange. Clarion hatte Elvinas mangelnde Neugier nie verstanden. Da existierte ein Reich, von dem sie nichts wussten und das von Feen bewohnt war, mit denen noch nie jemand gesprochen hatte. Nur die Frühlings- und Herbstfeen hatten überhaupt je Winterfeen gesehen – und das auch nur aus der Ferne, wenn sie zum Jahreszeitenwechsel das Nimmermeer überquerten.

Sie sind so kalt wie ihre Jahreszeit, hatte es in ihren Berichten geheißen, und sehen uns kaum an.

Clarion versuchte, sie sich vorzustellen – trostlos und einfarbig vor einem schieferfarbenen Himmel. Doch diese spärlichen Details hatten sie nie zufriedengestellt. Sie brannte auf Antworten, die sie wohl nie erhalten würde. Wie musste es sein, an einem so rauen Ort zu leben? Welche Probleme hatten die Winterfeen? Und wie war der Wächter des Winterwaldes so?

Artemis’ Stimme ertönte vom Flur her: „Aus dem Weg, Tinkerfee.“ Es folgte ein ersticktes Protestgeräusch – dann wackelte der Türknauf bedrohlich am Schloss.

„Prinzessin Clarion!“, rief Artemis. „Ich bin gekommen, um Euch zu den Gemächern Ihrer Majestät zu geleiten.“

Es gab also kein Entkommen mehr. Wenn sie sich wirklich dazu entschloss – oder glaubte, Clarion sei in echter Gefahr –, war Artemis mehr als fähig, ihre Tür aus den Angeln zu heben.

Clarion riss die Tür auf und sah sich Artemis’ Faust gegenüber, die sie zum Klopfen erhoben hatte. Petra, die dabei war, Artemis aufzuhalten, versuchte noch, deren Unterarm zu greifen.

Artemis und Petra hätten nicht unterschiedlicher aussehen können. Artemis war groß und hatte breite Schultern. Petras Knochen wirkten so zart wie die eines Kolibris. Doch keine von beiden hatte sich je die Mühe gemacht, zu lernen, wie sie sich die Haare frisierten. Artemis reichten ihre Haare bis zum Kinn. Sie umrahmten ihr olivfarbenes Gesicht mit gezackten schwarzen Strähnen, als hätte sie aus Langeweile oder Notwendigkeit ein stumpfes Messer benutzt, um sie zu schneiden. Petra hatte einen Schopf leuchtend roter Locken. Meistens trug sie sie hochgesteckt – mit irgendetwas, das sie gerade in ihrer Werkstatt herumliegen hatte. Heute hatte sie dafür einen Nagel gewählt. Das Metall schimmerte sanft im Licht. In Clarions Augen war er ein Sicherheitsrisiko.

„Eure Hoheit“, sagte Artemis, als sie sich von dem Schreck erholt hatte, „geht es Euch gut?“

Eure Hoheit. So oft Clarion auch darum gebeten hatte, Artemis ließ nie von ihrer Förmlichkeit ab. Die Fee war Clarions Schatten, solange sie sich erinnern konnte. Artemis folgte ihr auf Schritt und Tritt oder stand pflichtbewusst an ihrer Seite, wenn Clarion einen Auftritt in der Öffentlichkeit hatte. In Wahrheit wusste Clarion erschreckend wenig über sie, abgesehen von ihrer beängstigenden Kompetenz und ihrem Beharren auf Pünktlichkeit. Das lag daran, dass keine von beiden die Angewohnheit hatte, ihre Gefühle mit der anderen zu teilen.

„Jetzt geht es mir viel besser, danke.“ Über Artemis’ Schulter hinweg erhaschte Clarion einen Blick auf Petras panischen Gesichtsausdruck. Sie würde mit ziemlicher Sicherheit zu spät zu ihrer Unterrichtsstunde kommen, konnte Petra aber unmöglich allein dem befürchteten Worst-Case-Szenario überlassen. Mit ihrer königlichsten Stimme fügte sie hinzu: „Würdest du mir noch einen kleinen Moment Zeit gewähren? Ich muss mit Petra sprechen. Allein.“

Artemis – die offensichtlich an den unaussprechlichen Schrecken dachte, der mit einer einzigen Minute Verspätung zu einem Termin einherging – sah gequält aus. Dennoch sagte sie: „Natürlich, Eure Hoheit.“

Sie zog sich zurück und verschränkte die Arme in Paradehaltung hinter dem Rücken. Zweifellos würde sie trotz ihres betont gleichgültigen Gesichtsausdrucks mithören. Alle Späherfeen waren unglaublich neugierig. Clarion nahm an, dass sie deshalb gut in ihrem Job waren.

Clarion führte Petra in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Sofort klammerte sich Petra an Clarions Arm. Mit schriller Stimme flüsterte sie: „Wo warst du? Ich wollte nur kurz Hallo sagen, aber du hast die Tür nicht geöffnet. Dann hat Artemis mich da draußen in die Enge getrieben und gefragt, ob ich dich gesehen hätte. Ich musste mir etwas ausdenken!“

„Es tut mir leid. Und danke. Ich habe …“

Bevor sie ein weiteres Wort herausbekam, sackte Petra zu Boden. Ihr aus grünen Ahornblättern zusammengenähtes Kleid legte sich in einem Durcheinander um sie. Sie stöhnte und wiegte den Kopf in den Händen. Clarion dachte kurz daran, sie an den spitzen Gegenstand in ihrem Haar zu erinnern, besann sich aber eines Besseren. Im Moment hatte Petra eindeutig größere Sorgen.

„Ich weiß nicht, wie du es jeden Tag mit ihr aushalten kannst“, wunderte Petra sich. „Sie ist so heftig. Hast du jemals versucht, dich ihr in den Weg zu stellen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat?“

„Tatsächlich …“

„Ich habe immer versucht, dich zu decken“, fuhr Petra fort, „aber sollte sie Elvina davon berichten, werden meine Tage hier gezählt sein.“

„Danke, dass du mich gedeckt hast“, konnte Clarion gerade noch einwerfen. „Aber ich bin sicher, dass das nicht …“

„Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um zu fliehen.“ Sobald Petra in Fahrt kam, hielt sie nichts mehr auf. Jedes Wort sprudelte mit zunehmender Dringlichkeit aus ihr heraus. „Ich habe gehört, dass einige Feen ihren Lebensunterhalt anderswo verdienen, indem sie sich auf Piratenschiffen als blinde Passagiere einschiffen oder …“

Clarion wusste nicht, wo sie anfangen sollte, das alles zu entwirren. Stattdessen tat sie so, als würde sie darüber nachdenken. „Das ist ja mal eine Idee. Ich kann mir vorstellen, dass es für Tinkerfeen auf einem Schiff viel zu tun gibt.“

Petra starrte sie an. „Du willst mich loswerden!“

Clarion konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Netze flicken, den Rumpf reparieren, Töpfe und Pfannen ausbessern …“

„Na gut“, murrte Petra, jedoch ohne Groll in ihrer Stimme. „Ich verstehe schon.“

Clarion musste lachen, wurde angesichts des seltsam bittersüßen Blicks in Petras Augen aber schnell wieder ernst. Sie verstand ihre Freundin vollkommen. Es war schon ein paar Wochen her, seitdem sie sich zuletzt gesehen hatten, und doch fühlte es sich an, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Obwohl sie nicht aus demselben Lachen geboren worden waren, fühlte es sich für Clarion manchmal an, als wären sie Schwestern. Sie hatten schon immer ein angeborenes Verständnis füreinander gehabt. Keine von beiden war das, was sie auf den ersten Blick zu sein schien.

Nur wenige Feen nahmen Petra ernst, da sie nur die nörgelnden Dinge aus ihrem Mund zu hören bekamen. Clarion jedoch hatte es immer geliebt zuzusehen, wie ihr Geist wie eine fantastische Maschine surrte. Tatsächlich betrachtete sie das „Katastrophisieren“ als einen von Petras vielen Reizen, jetzt, da sie wusste, wie sie sie von da wieder herausholen konnte. Tief im Inneren war sie brillant, witzig und treu – eine Fee, die sich von ihren Ängsten nie wirklich aufhalten ließ, wie mächtig sie auch sein mochten.

Wie sehr sie sie vermisste, selbst wenn sie direkt neben ihr stand.

Vor Jahren – bevor Elvina Clarion davon abgehalten hatte, überall herumzustreifen, und bevor ihre Pflichten ihre gesamte Freizeit in Anspruch nahmen – waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie hatten sich fortgeschlichen – oder vielleicht sollte man besser sagen, Clarion hatte Petra unter lautem Protest aus ihrer Werkstatt gezerrt –, um die Gegend zu erkunden. Und Artemis war als Clarions geduldige Begleiterin immer dabei gewesen. Jetzt bestimmte Clarions Ausbildung ihr Leben und Petras die Arbeit.

Sie hatte sich auf komplizierte Metallarbeiten spezialisiert und es gab kaum etwas, das sie nicht reparieren oder herstellen konnte. Im Lauf der Jahre war ihr alles Mögliche gelungen: die Herstellung von Schmuck und allen möglichen Utensilien bis hin zu Skulpturen. Und sie träumte von noch Größerem. Einmal hatte sie einen ganzen Abend damit verbracht, ihre Pläne für eine Beinprothese zu erklären. Elvina hatte Gefallen an ihrer Kunst und ihrem Einfallsreichtum gefunden und sie zur persönlichen Tinkerfee der Krone ernannt.

Clarion erinnerte sich noch daran, wie stolz Petra gewesen war – wie ihre Begeisterung sie förmlich zum Leuchten gebracht hatte. Das hatte Clarion mit der reinsten Freude erfüllt, die sie je empfunden hatte. Petra hatte ihren Erfolg mehr als verdient. Sie hatte Glück und Zufriedenheit verdient.

Clarion reichte der Freundin die Hände. Petra ergriff sie und Clarion zog die Tinkerfee vom Boden hoch und zurück in die Luft. „Ich sehe dich wieder, sobald ich kann.“ Nach einem Moment fügte sie hinzu: „Und ich lasse es dich wissen, wenn du fliehen und auf einem Schiff anheuern musst.“

Petra stöhnte kläglich.

Clarion öffnete ihre Schlafzimmertür. Mit einem letzten verzweifelten Seufzer huschte Petra den Flur entlang. Sie hielt nur einen Moment inne, um Artemis einen langen Blick zuzuwerfen. Artemis ihrerseits blieb vollkommen ungerührt stehen. Nur Clarion bemerkte die Anspannung in ihren Schultern.

Jetzt mal ehrlich. Eines Tages würde Clarion aufbegehren. Zehn Jahre Verfolgung waren lang genug.

„Ich bin bereit“, sagte sie.

Ihre Schlafzimmertür öffnete sich zu einer riesigen Kammer hin: eine Höhlung, die sich im Stamm gebildet hatte. Holzstege und Treppen führten spiralförmig nach unten auf eine Ebene aus massivem Kernholz. Darunter lag das lebendige Herz des Baums, in dem Magie wie Saft durch die engsten Adern seiner Blätter und bis zu seinen am weitesten entfernten Wurzeln floss.

Gemeinsam bahnten sie sich ihren Weg die gewundenen Treppen hinauf zu Elvinas Räumen. Die Wände waren von der Zeit glatt geschliffen und von den Händen unzähliger Tischlerfeen bearbeitet worden. Clarion fand immer etwas Neues zu bewundern, wenn sie daran vorbeiging. Hier und da fiel ihr ein Bild auf: eine kunstvolle Iris, die runden Augen einer Eule, die Biegung des Flusses, der durch das Tal der Feen floss. An manchen Stellen war das Kunstwerk von Moos und blühenden Ranken verdeckt, doch Clarion konnte immer noch die mit Feenstaub durchzogene Farbe darunter glitzern sehen. Niemand hatte jemals das Laub entfernt. Schließlich sollte der Feenstaubbaum selbst an seinem Aussehen mitwirken dürfen.

Sie blieben vor den massiven Türen stehen, die zu Elvinas Gemächern führten. In jede war mit atemberaubender Detailtreue eine gespiegelte Hälfte des Feenstaubbaums eingraviert. Artemis stieß die Tür für sie auf und ließ dadurch einen Sonnenstrahl des späten Nachmittags in den Gang fallen. Mit einem beruhigenden Atemzug betrat Clarion den Raum und wurde von einer Wand aus Porträts empfangen.

Gemälde aller Königinnen, die vor ihr regiert hatten, starrten sie selbstsicher und mächtig an. Da Jahrhunderte zwischen ihnen lagen, war jedes in einem völlig anderen Stil gemalt worden – doch sie alle waren von einer ehrfürchtigen Hand erschaffen worden. Die Bilder erfüllten Clarion mit stillem Staunen. Es schien unmöglich, dass ihr eigenes Porträt jemals neben diesen hängen würde. Als sie jünger war, hatte sie die Bilder nach Ähnlichkeiten mit ihr abgesucht. Einige frühere Königinnen hatten ihre helle Haut oder ihre blauen Augen, andere ihr honigbraunes Haar. Aber alle trugen die gleichen Flügel: leuchtend und golden und geformt wie die eines Monarchfalters. Inzwischen hatte sie nur noch Angst davor, dass sie Enttäuschung in ihren Gesichtern finden würde, wenn sie genauer hinsah.

Clarion riss ihren Blick von den Porträts. Am Ende der Reihe stand Elvina, deren Silhouette vor dem sonnendurchfluteten Fenster herausstach. Sie trug ein goldenes Kleid mit weiten, gerüschten Röcken. Der Stoff schimmerte durch den darin eingewebten Feenstaub. Goldene Partikel rieselten von der Schleppe ihres Kleids und blieben entweder funkelnd auf dem Boden liegen oder wirbelten träge durch die Luft. Eine Krone – von Petra angefertigt, wie Clarion bemerkte – thronte auf Elvinas Kopf. Sie ragte hoch über ihr auf und kräuselte sich in Form von Ziegenhörnern nach hinten. Darin sah sie imposant aus, genau wie eine königliche Fee es tun sollte.

„Du bist spät dran“, sagte sie müde. Es war weniger eine Anschuldigung als vielmehr eine Feststellung. Es war schon einmal passiert und beide wussten, dass es auch wieder passieren würde.

Clarion tat ihr Bestes, um nicht an Elvinas Unzufriedenheit zu verzweifeln. „Es tut mir leid.“

Elvina drehte sich zu ihr um. Clarion bemerkte, wie müde die Königin heute aussah. Dennoch duldete ihr Gesichtsausdruck weder Widerworte noch Unterwürfigkeit. In ihren grünen Augen lag etwas Unergründliches – der distanzierte und kompromisslose Blick einer Fee, die bereits hundert Leben gelebt hat. Manchmal erschreckte Clarion dieser Blick in ihre eigene Zukunft.

„Aus gutem Grund, wie ich annehme“, sagte Elvina.

„Ja, ein sehr guter Grund.“ Was dieser Grund war, wusste sie noch nicht. Aber sie würde sich eine vernünftige Erklärung einfallen lassen, wenn Elvina sie dazu auffordern sollte.

Die Königin gab ein abweisendes Geräusch von sich, als ob die Einzelheiten sie nichts angingen. Clarion konnte ihr Glück kaum fassen. „Hast du die Techniken geübt, die wir besprochen haben?“

Clarion nickte. Das hatte sie. Natürlich hatte sie das. Sie konnte jedoch nicht behaupten, dass sie in den letzten Monaten große Fortschritte gemacht hätte – eine Tatsache, die sie unendlich betrübte. Von dem Moment an, in dem eine Fee zum ersten Mal ihre Augen öffnet, weiß sie genau, was ihre Gabe ist: ihre magische Neigung, ihre Berufung im Leben, die Sache, die ihr so leichtfiel wie das Atmen. Gaben schenkten nach Ansicht der meisten Feen jedem im Tal der Feen Sinn und Freude. Clarion bezweifelte sehr, dass ihre eigene Gabe so leicht zu finden sein würde.

Elvina hatte ihr gesagt, dass die Magie der Gabe, ein Feenreich zu leiten, in Emotionen wurzele – oder vielmehr in deren Abwesenheit. Nur mit vollkommen klarem Verstand und absoluter Konzentration konnte sie die Freiheit finden, das strahlende Sternenlicht in sich zu beeinflussen. Doch sosehr Clarion es auch versuchte – sei es durch Atemübungen, Training oder reine Willenskraft –, sie konnte sich nicht von ihren Gefühlen befreien. Sie konnte diesen verzweifelten Hunger nach Verbindung nicht abschütteln.

„Gut“, sagte Elvina. „Dann lass es mich sehen.“

Im Nu wurden Clarions Hände vor Nervosität kalt und feucht. Nein, sie durfte jetzt noch nicht verzweifeln. Vielleicht würde es dieses Mal anders sein. Sie streckte ihre Hand aus. Tief in ihrer Brust spürte sie die unendliche Quelle der Magie. Wenn sie genug Druck auf sie ausübte und diesen mit aller Kraft festhielt, konnte sie sie ihrem Willen unterwerfen.

Konzentriere dich, dachte sie. Beherrsche sie.

Einen Moment lang erstrahlte ein goldenes Licht in der Mitte ihrer Handfläche. Es flackerte zwar wie eine Kerze im Wind, doch in Clarion keimte eine zaghafte Hoffnung auf. Sie fühlte sich benommen von der Anstrengung. Nur noch etwas mehr …

Das Licht flackerte – und erlosch. Clarion stieß einen Atemzug aus und schloss die Finger um die sterbende Glut, als könnte sie sie bewahren. Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Am anderen Ende des Raums flammte ein helles Licht auf. Als Clarion aufblickte, wurde Elvina von ihrer Kraft erleuchtet. Das Licht balancierte in ihrer Handfläche wie ein Miniaturstern und warf ein starkes Relief auf die Ebenen ihres Gesichts und den gesamten Raum. Es strahlte eine solche Brillanz und Wärme aus, dass Clarion dem Drang widerstehen musste, den Arm zu heben, um ihre Augen zu schützen.

Im Gegensatz zu Lichtfeen mussten Feenköniginnen keine Lichtquelle manipulieren. Sie wurden aus gefallenen Sternen geboren und trugen in sich einen unerschöpflichen Quell aus Sternenlicht. Ihre Magie konnte die absolute Dunkelheit durchdringen – und fast alles andere auf ihrem Weg. Sie konnte zu einem Schild geformt werden, um das Königreich zu schützen. Vor allem aber war sie ein Symbol, etwas, woran die Bürger aus dem Tal der Feen glauben konnten.

Elvina ballte die Faust und das Licht erlosch.

„Clarion.“

Jetzt kommt es. Clarion bemühte sich, eine neutrale Miene aufzusetzen, während sie sich auf ihre Lektion vorbereitete.

„Deine Krönung ist in einem Monat.“

Clarion senkte den Kopf und nickte.

„Und du beherrschst immer noch nicht die grundlegendste Fähigkeit unserer Magie.“

„Das stimmt“, erwiderte Clarion mit leichter Anspannung in der Stimme.

Die Königin vom Tal der Feen musste Politik, Organisation und Führung meistern – aber auch Magie, die nur Feenköniginnen ausüben können. Eine Magie, die Clarion seit Beginn ihrer Ausbildung nur schwer zu perfektionieren vermochte. Sie konnte sich nicht teleportieren. Sie konnte nicht mehr als ein flackerndes Licht erzeugen. Sie konnte nicht einmal einer einzelnen Biene helfen, ohne ihre Untertanen dabei zu verschrecken.

Nach einem angespannten Moment fragte Elvina: „Wo warst du?“

Welchen Sinn hatte es, das zu verheimlichen? Sie seufzte geschlagen. „Auf der Sommerlichtung.“

Elvinas Lippen wurden schmal. Sie musste nicht sprechen, damit Clarion die volle Wucht ihrer Missbilligung spürte. Der Ausdruck in ihren Augen sagte schon alles. Es ist höchste Zeit, kindische Dinge zu lassen. „Warum bist du nach deinem Treffen nicht hierher zurückgekehrt?“

„Ich hatte wirklich vor, rechtzeitig zurückzukommen. Aber gerade als ich gehen wollte, gab es …“ Sie unterbrach sich, bevor sie sich in Details verlor, die Elvina weder hören wollte noch musste. „Ich dachte, ich könnte einer Tierfee meine Hilfe anbieten.“

„Das geht dich nichts an. Ich bin sicher, dass die Fee ihre Angelegenheiten sehr gut im Griff hatte.“

„Aber sie hat mir gedankt“, protestierte Clarion. „Vielleicht brauchte sie …“

„Ich verstehe, dass du dich durch unsere Rolle eingeschränkt fühlst. Aber du kannst nicht jeder Fee in Not helfen und du kannst dich vor allem nicht mit allen anfreunden. Eine gute Königin muss sich auf die anstehende Aufgabe konzentrieren – und in großem Maßstab helfen. Dies ist ein riesiges Königreich.“ Elvina schwebte zum Fenster. Hier in den höchsten Ästen des Feenstaubbaums konnten sie die Hälfte des Tals der Feen vor sich sehen. „Das alles liegt ab nächstem Monat in deiner Verantwortung. Ist dir klar, was das bedeutet?“

„Natürlich.“

„Du bist noch jung. Du hast noch keine Konflikte kennengelernt – keine echten Konflikte, die alle Menschen unter deinem Schutz bedrohen. Du musst vorbereitet sein. Bevor du die Grundlagen nicht beherrschst, kannst du nicht versuchen, Probleme zu lösen, die weitaus komplizierter sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Ich vertraue dir alles an, was ich habe.“

Ihr Ton ließ Raum für etwas Unausgesprochenes. Es gab so viele Dinge, die sie ergänzen konnte. Ich werde nicht zusehen, wie du es verschwendest. Ich glaube nicht, dass du damit umgehen kannst.

„Eine gute Königin zu sein …“

„… bedeutet, so kalt und distanziert zu sein wie der Stern, aus dem du geboren wurdest“, beendete Clarion den Satz für sie. Es war der Grundsatz, der Elvinas Regierungsphilosophie zugrunde lag – ein Grundsatz, der Clarion seit ihrer Ankunft eingeprägt worden war.

„Ich weiß, dass es dir nicht leichtfällt. Aber nur so kannst du unparteiisch bleiben. Nur so kannst du die Entscheidungen treffen, die du für eine gerechte Herrschaft benötigst.“

Aber wenn das wirklich der einzige Weg war, warum war sie dann so hier angekommen? Als Clarion zum ersten Mal aus ihrem Stern hervorgetreten war, hatte sie ein Gefühl der Bestimmung in sich gespürt. Diese Gewissheit fühlte sich nun sehr weit weg an. Manchmal hatte sie den Verdacht, dass sie immer schlechter in Magie wurde, je näher ihre Krönung rückte. Tief in ihrem Inneren befürchtete sie manchmal, dass jeden Tag ein neuer Stern auf die Erde stürzen und ein neuer Thronfolger auftauchen könnte, der so perfekt war wie Elvina selbst. So perfekt, wie Clarion es nie werden würde.

„Ich verstehe“, murmelte sie.

Elvinas strenge Miene wurde weicher. „Du stehst unter großem Druck. Aber es wird dir irgendwann von selbst leichter fallen, Clarion.“

Aber wann? Der Gedanke schmerzte mehr, als sie erwartet hatte. „Danke.“

„Geh nun und ruh dich aus“, schlug Elvina vor. „Du leitest morgen die Ratsversammlung.“

Das hatte sie fast vergessen. Wöchentlich trafen sich die unterschiedlichen Jahreszeitenminister, um den Stand der Dinge in jedem ihrer Reiche zu besprechen. Alles wurde Elvina vorgelegt – von Streitigkeiten bis zu Anfragen nach Ressourcen.

Also dann, ab morgen. Ab morgen würde Clarion versuchen, sich so zu verhalten, wie es die Königin vom Tal der Feen tun musste.

3

Mit Elvinas Ermahnung in den Ohren bereitete sich Clarion am nächsten Morgen auf die Ratsversammlung vor, die erste, die sie allein leiten würde. Zur Sicherheit blätterte sie ein letztes Mal durch die Papiere auf ihrem Schreibtisch, eine Sammlung von Schriftsätzen ihrer Minister. Die heutige Tagesordnung war gnädigerweise – und zu ihrer Überraschung – kurz. In den Wochen vor jedem Jahreszeitenwechsel herrschte im Tal der Feen Hochbetrieb. Da die Sonnenwende schon in einem Monat war, fanden die Feen im späten Frühling nie Ruhe.

Ganz zu schweigen von ihrer Krönung.

Meine Krönung. Allein der Gedanke machte sie in hohem Maße nervös. Bald würde sie die Entscheidungen treffen, die dafür sorgten, dass das Königinnenreich so funktionierte, wie es sollte, und dass die Jahreszeiten reibungslos wechselten. Nicht nur das Tal der Feen hing von ihr ab, sondern auch das Festland und alle Menschen dort.

Der Druck würde sie zerbrechen, wenn sie zu viel darüber nachdachte. Stattdessen würde sie Elvinas Rat befolgen und sich auf die anstehende Aufgabe konzentrieren. Wenn sie schon keine Magie erzeugen konnte, würde sie zumindest ein Meeting mit unmissverständlicher Gelassenheit leiten. Heute würde Elvina nichts an ihr auszusetzen haben.

Sie erhob sich und sofort durchlief sie ein Schauer. Clarion drehte sich um, halb in der Erwartung, jemanden – oder etwas – zu sehen, das sie durch die Glastüren ihres Balkons beobachtete. Doch es war nur ihr eigenes erschöpftes Spiegelbild, das sie anstarrte, eingerahmt wie ein Porträt von ineinander verschlungenen Zweigen – und dahinter die Berge des Winterwaldes. Der höchste von ihnen erhob sich zu geschwungenen Gipfeln, die sich einander in Form einer Mondsichel zuneigten. Im frühen Morgenlicht wirkte der Schnee rosa wie eine Muschel. Manchmal kam es ihr vor, als ob die Berge sie anstarrten.

Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr eingebläut, dass man Winterfeen nicht trauen dürfe. Es gab nur noch wenige Geschichten, die die Ursache des alten Konflikts erklärten. Clarion hatte ein oder zwei Theateraufführungen gesehen, die die Auseinandersetzung thematisierten, die ihre Welten auseinandergetrieben hatte. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie atemlos neben Elvina saß – die Finger um das Geländer ihrer Opernloge gekrallt –, als Saga, die begabteste Geschichtenerzählerin, die Geschichte von Titania, der ersten Königin aus dem Tal der Feen, erzählte.

Während sie die Geschichte vortrug, schimmerten Bilder in einer Wolke aus goldenem Staub hinter ihr. Speere aus Eiszapfen und Pfeile aus Federkielen waren zu sehen. Und der Feenstaubbaum, nicht mehr als ein kleines Bäumchen, das sich im Wind neigte. Sowie der Wächter des Winterwaldes und seine grausame gezackte Krone, umrahmt von einer alles überragenden Dunkelheit.

Insgeheim hatte Clarion das Drama als schrecklich romantisch empfunden. Elvina unterdessen hatte nichts als Spott übrig, als einer von Titanias engsten Beratern einen tragischen Tod starb. Doch trotz all der Theatralik enthüllte die Legende nie die Details, nach denen Clarion sich sehnte. Sie erzählte nur von einer vagen Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Herrschern – und einer dunklen Macht, die den Wächter des Winterwaldes verschlungen hatte. Für die meisten Bürger der warmen Jahreszeiten war das jedoch Grund genug, um jegliche Neugier auf ihre Nachbarn zu unterdrücken.

Clarion sammelte ihre Notizen ein und öffnete die Balkontüren. Kühle Luft strömte an ihr vorbei und von oben drangen die Geräusche des erwachenden Tals zu ihr hinab. Mit einem Flügelschlag sprang sie auf die Brüstung ihres Balkons und dann in die Luft.

Sie stieg auf und schob Blätter und Zweige beiseite, bis sie die Quelle des Feenstaubbrunnens sah. Eine Kaskade aus goldenem Staub ergoss sich aus einem Astloch auf die rosa Blütenblätter einer Lilie. Der Überfluss tropfte auf Schichten von Perlpilzen herab, bis er sich schließlich in den Brunnen entleerte, der in der spiralförmigen Verflechtung der Äste des Baumes lag.

Feenstaub – das Lebenselixier ihrer Gesellschaft – wurde tief im Herzen des Baums produziert. Niemand wusste genau, wie oder warum, obwohl Staubforscher seit Jahrhunderten dicke akademische Wälzer verfasst und über Theorien gestritten hatten. Alles, was Clarion mit Sicherheit wusste, war, dass Magie durch den Baum hindurchfloss und das gesamte Tal der Feen durch dessen riesiges Wurzelgeflecht durchdrang. Wenn sie innehielt, konnte sie sie überall um sich herum spüren, warm und tröstlich. Die Luft roch dadurch süß – wie Honigtee und Zimtschnecken, die im Ofen aufgingen. Ihre dezente Präsenz erfüllte sie immer wieder mit Staunen.

Schon so früh am Morgen hatten sich alle für ihre tägliche Ration Staub am Baum angestellt. Eine Teetasse voll bekam jeder – nicht mehr. Die Staubfeen standen knöcheltief im seichten Wasser des Feenstaubbrunnens und tauchten ihre Tassen in den Pool. Mit einer Effizienz, die Clarion bewunderte, gossen sie den Staub über jede Fee. Ohne ihn wäre das Fliegen unmöglich. Die Flügel einer Fee könnten ihr Gewicht nicht ohne die Hilfe des Feenstaubs tragen. Die Feen standen Schlange und tratschten und lachten. Einige trugen Tassen voller Löwenzahntee und waren begierig auf einen Energieschub. Andere waren noch voller Energie von ihrer Nachtschicht. Einer der Spatzenmänner bemerkte Clarion, die sich halb hinter einem Vorhang aus Blättern versteckte. Sie hob verlegen die Hand zum Gruß. Er wurde blass, schaute weg und hantierte mit dem Grashalm in seinen Händen, um beschäftigt und fleißig zu wirken.

Clarion versuchte, vor Enttäuschung nicht zu verzweifeln. Petra hatte immer gesagt, dass ihr Gesichtsausdruck eine gewisse Königlichkeit ausstrahle, ebenso wie ihre Stimme. Es war ja nicht so, dass sie an diesen Dingen irgendetwas ändern konnte.

„Eure Hoheit.“

Clarion stieß einen überraschten Laut aus. Sie reckte den Hals und entdeckte Artemis auf einem der Äste direkt über sich. Diese schaffte es immer wieder, sich in aller Öffentlichkeit zu verstecken – eine beeindruckende, wenn auch gelegentlich erschreckende Gabe.

„Guten Morgen“, sagte Clarion ein wenig atemlos.

Ihre Wache hatte einen mitfühlend wirkenden Gesichtsausdruck. Bei Artemis, die die subtile Kunst des Gleichmuts beherrschte, war es immer schwer zu sagen, was sie fühlte. Doch manchmal ertappte Clarion Artemis dabei, wie sie die anderen Späherfeen beobachtete, wenn diese auf Patrouille gingen. Dabei lag so etwas wie Sehnsucht in Artemis’ Augen. Als Clarion sie einmal danach fragte, hatte ihre Beschützerin sich völlig verschlossen. Manche Wunden, dachte Clarion, sollte man nicht aufreißen.

„Sie sind keine Königin gewohnt, die Vertrautheit begrüßt“, erklärte Artemis schroff. „Alles, was sie Euch bieten, ist Respekt.“

Respekt – war es das? Selbst wenn sie ihn wollte, fühlte sie sich seiner kaum würdig. Dennoch schafften es Artemis’ stockende Versuche, sie zu trösten, immer, sie ein wenig aufzuheitern. Artemis würde das natürlich nie zugeben, aber Clarion vermutete, dass sich irgendwo unter dieser kühlen, professionellen Fassade eine sensible Seele verbarg. Eines Tages würde sie sie vielleicht offenbaren.

„Natürlich.“ Mit erzwungener Heiterkeit fragte Clarion: „Sollen wir gehen?“

Artemis nickte.

Clarion versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten, und führte sie zu den Ratskammern, die direkt unter dem Feenstaubbrunnen lagen. Dort gab es keine nennenswerte Tür – vielmehr waren die Seiten der gewölbten Decke so geschnitzt, dass sie wie mit Fenstern aus offenen Himmelsstreifen verglast zu sein schienen. Aufwendig geschwungene Muster, die mit glitzernder Feenstaubfarbe aufgetragen worden waren, füllten die dünnen Rindenstreifen zwischen den einzelnen Scheiben. In die Muster waren, kaum erkennbar, die Symbole der einzelnen Jahreszeiten eingebettet: die immergrüne Blume für den Frühling, der Vollmond für den Herbst, ein Regenbogen für den Sommer und eine Schneeflocke für den Winter. Die vier Symbole hatten Clarion schon immer fasziniert. Wenn ihre Reiche immer voneinander getrennt gewesen waren, warum hatten die Kunsttalente dann den Winter in ihre Entwürfe einbezogen?