Fluss ohne Ufer - Hans Henny Jahnn - E-Book

Fluss ohne Ufer E-Book

Hans Henny Jahnn

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Beschreibung

»Eines der prächtigsten Prosawerke deutscher Sprache.« Botho Strauß Hans Henny Jahnns Hauptwerk, die große Romantrilogie »Fluss ohne Ufer« , die er unter dem Einfluss von Franz Kafka, Marcel Proust und James Joyce schrieb und in der er eindringlich die Obsessionen und Existenzkrisen des modernen Menschen darstellt, nun endlich wieder in schöner Ausstattung lieferbar! »Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar«. - so beginnt die über 2000 Seiten lange Romantrilogie »Fluss ohne Ufer«. Auf dem Schiff befinden sich eine geheime, womöglich todbringende Fracht, und ein blinder Passagier: Gustav Horn. Seine Verlobte, die Tochter des Kapitäns, wird die Reise nicht überleben. Dann sinkt das Schiff. Doch für Horn ist die Reise noch lange nicht vorbei, sie wird ihn quer über Kontinente führen und hinab in menschliche Abgründe. Ein kolossaler Roman, der eine Erkundung der Welt, der Natur, des Daseins und der Sprache ist. Die erstmals als E-Book verfügbare Ausgabe von »Fluß ohne Ufer« umfasst über 2000 Druckseiten, die aufwendig neu erfasst und digitalisiert wurden. Das Vorwort verfasste Clemens Meyer.

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Seitenzahl: 3527

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Hans Henny Jahnn

Fluss ohne Ufer

Roman in drei Teilen

Herausgegeben von Ulrich Bitz und Uwe Schweikert

Hoffmann und Campe

Die Wörter brennen sich ein, diese Sprache brennt sich ein.

Clemens Meyer

Viel zu wenig trifft das, was seit Wochen in einem leeren Notizbuch steht. Das Einbrennen von etwas, ein seit Jahrhunderten beschriebener Prozess, eine dahingeschriebene Metapher, lass das Brenneisen aus dem Spiel, Reisender. Und wohin reist du? Zu einer Orgel des Hans Henny Jahnn? Schriftsteller, Orgelbauer. Zu seinem großen Orgelwerk, ein Wort, das dir nicht geläufig war? Im Netz, das du doch nicht nutzen willst für diese Reise, da das Un--- Un--- Unbekannte, Ungeheure dich erwartet, weil du ja wie vor jeder Reise erwartest, im Netz findest du Wörter aus dem Hamburger Fremdenblatt vom 19. September 1931: »Hamburg ist in diesen Tagen um ein höchst eigenartiges und wertvolles Orgelwerk bereichert worden …«

HH, Hansestadt Hades, Hans Henny, Hallo Hamburg, Hinein ins Holzschiff, Heiliger Hans, Hoffnungsvoller Händler, Hereinspaziert-Herausspaziert, Hinweggerissen, Hinabgestiegen, Hochebenen, Herrenloses Haupt, o heillose Haut. Horchen – dem Nachthorn horchen, dem mächtigen Orgelwerk, Mai 2014.

Und zu Beginn deiner Reise, im Bordrestaurant des Zuges (wie seltsam diese Worte hinauszufallen scheinen aus der Welt, wenn man inmitten dieses uferlosen Flusses sich befindet) erinnerst du dich. Du erwartest die Stimmen, da tauchen die Stimmen über Nacht auf, über die Nacht auf, geführt von Hans Henny Jahnn, die da rufen: »Es kam der Augenblick, wo die Wände des Logis sich verwandelten und zu spiegeln anfingen. Weite Glaslandschaft, in der das Bild jedes einzelnen gefangen wurde. Aber es waren nicht nur ebene glitzernde Spiegelscheiben, in denen man das eigene Antlitz, den ganzen Körper, anfangs bekleidet, dann nackt und schließlich durchscheinend sah. Der Raum hinter den Dingen zeigte sich.« Stimmen, die zu Bildern werden.

Der Mai 14 ist sonnig, und die Fahrt führt durch flaches grünes Land zur Flussmündung, zum Meer. Du musst dich mäßigen, um alles zu überblicken, ruhig bleiben, um zu erforschen, diese begeisterte, maßlose (uferlose? Hm, hm.) Angst (stimmt das so?), die dich durch die zweitausend Seiten und wie viele Jahre auch immer geführt hat – von Jahrhunderten wagst du nicht zu sprechen, zu schreiben –, diese Angst musst du mit Vernunft und Analyse bekämpfen. Nicht wahr? So gehst du doch ans Werk, ans Orgelwerk (nicht schon wieder, Reisender!), so und nur so musst und willst du doch lesen! Fluss ohne … Fluss mit … Vorwort, Vorweg, Erforschung.

Diese Sprache verändert alles. Eine weitere Notiz auf den leeren Seiten deines Notizbuches. Und dann findest du zwischen den anderen, den eigentlichen, den zweitausend Seiten, verteilt auf drei Bände, das schwere Gepäck, das du dir da auf die Schultern geschnallt hast, und das wird immer schwerer, das hockt dir auf dem Buckel und geht dort nicht mehr weg, wo war denn bitte schön! der Beipackzettel, der warnte vor den Nebenwirkungen, vor den Transportschwierigkeiten, vor den dunklen und hohen Klängen der Rauschpfeifen, des Nachthorns, des Glöckleintons … Pedalwerk, Hauptwerk, Oberwerk der Jahnn’schen Orgel, zu der du reist, die du, schwer wie eine Nacht aus Blei, zugleich auf deinem Rücken trägst. Du erinnerst dich an eine der Sindbad-Geschichten aus der Tausendundeinen Nacht, wie da ein alter Mann mit einem Gesicht wie aus der Urzeit, als wir noch Echsen waren, auf den Rücken des Seefahrers stieg und dort verharrte, ihm förmlich einwuchs, ihn über diese Insel trieb …

Nun hast du dich verirrt, Reisender. Zwischen den Seiten. Zwischen den Worten. Auf deiner Fahrt. Die du fast rasend nennen kannst, schon zu Beginn. Wo du Atem holen musst. Wo du schnell die Perspektive wechseln musst. Weil man (Mann, Frau, Morgentau … SHUTUP!) diese Umwälzungen des Sprachmeeres des Meisters HH vielleicht auch hier mal mit leisen, einfachen Sätzen beschreiben kann. Also ich. Weil diese seine Sprache auch klar ist, sich fein und sacht auf den Wellen bewegt, wie ein … »Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar. Mit dem breiten gelbbraunen, durch schwarze Pechfugen gegliederten Bug und der starren Ordnung der drei Masten, den ausladenden Rahen und dem Strichwerk der Wanten und Takelage. Die roten Segel waren eingerollt und an den Rundhölzern verschnürt. Zwei kleine Schleppdampfer, hinten und vorn dem Schiff vertäut, brachten es an die Kaimauer.«

Und so werden wir gleich zu lesen beginnen, diese Sätze, Ausfahrt, ERSTERAKT, ERSTERBAND, und so wird es sein. Und ich denke an den Maler William Turner. Und ich sehe die Bilder. Und das verwirrende Licht des Impressionismus, und denke an den Sturm des Expressionismus. Ach, Worte, Worte, und der Zug nähert sich der Hauptstadt, die du, Reisender, nur queren willst auf deiner Reise zur Orgel, zur Mündung, zum Meer.

Und ich finde zwischen den Tausenden Seiten einen herausgerissenen Zeitungsfetzen, den ich 2009, als ich mich Hans Henny Jahnn das erste Mal näherte, Die Nacht aus Blei, die für mich Vorbereitung und Ausfahrt für sein und in sein Riesenwerk und viel mehr noch war (alles veränderte sich plötzlich, die Literatur, die Sprachen, die Wahrnehmung der Welt), den ich also damals in des Meisters Fluß ohne Ufer steckte, zwischen die Seiten warf. Was auf dem jetzt fast gelben Papier zu lesen ist, will ich hier nicht zitieren, aber ich sehe in den Spiegeln dieses Zug-Logis, zwischen und in den nackten und durchscheinenden Leibern der anderen Passagiere kleine Planeten und Monde, dunkle Universen öffnen sich, tunnelähnlich, Wurmlöcher, die dann wieder von den Lichtern des Alls durchbrochen werden, Sonnen und Schweife. Und doch muss ich nun zitieren, was da unter der Überschrift FALSCHHERUM steht: »Die Bahnachsen von mehr als der Hälfte aller jupiterähnlichen Planeten auf engen Orbits stimmen nicht mit den Drehachsen ihrer Sterne überein – und in bisher sechs bekannten Fällen kreisen die Planeten genau verkehrt herum.« (Der Welt mitgeteilt auf einer Astronomen-Tagung in Glasgow.)

»Warum?«, fragte der Fremde, der schon seit einer Weile an meinem Tisch gesessen haben musste, den ich nicht wahrgenommen hatte, der in das Präsens meiner Reise eingedrungen war. Er meinte wohl die Bedeutung dieses plötzlichen Einfalls des Alls.

»Du bist zweihundertfünfzig Seiten zu früh«, sagte ich. Und bemerkte, aus dem plötzlich spiegelfreien, bilderfreien Fenster blickend, dass die Hauptstadt schon hinter uns lag. Was für ein Ärger! Denn ich hatte da schon etwas vorbereitet. Das heißt wir. »Wir hatten noch einen flüchtigen Blick auf die schöne Stadt … geworfen. In ein verrufenes Kino waren wir geraten; in die Heilands-Kirche, von der ich nichts weiter zu berichten wüßte, als daß schräg von ihrem Westeingang ein blechernes Pissoir errichtet ist, das wir benutzten, und daß sich der Turm bei einem Erdbeben leise schwankend verneigte.«

Oh, Erdbeben wollten wir erzeugen, oh, Erschütterungen wollten wir hervorrufen, oh, was wir wollten, dort in der Hauptstadt, wo die bleichen Dichter blutlos wandeln, unnahbar, wir hatten die größten und leistungsstärksten Lautsprecher angeschlossen, und Jahnns Worte mit allem Pathos und mit all ihrer Kraft dort … »blitzende Splitter, wie Julbaumschmuck, sanken abwärts und waren zerlöst, dem Schnee gleich, ehe sie die Boden erreichten«. Rote Transparente, ausgerollten Segeln gleich, wollten wir unters Fahnenmeer der Bedeutungslosigkeit mengen, gewaltige Fahnenstangen, »ein Wald von Säulen, das haben Millionen Gehirne gegen den wachsenden Wald gedacht. Durch die Jahrtausende. Stämme, wie sie auf keinem Boden gedeihen. Nur schwer verwitterbar. Und eine Krone darüber, dicht wie schwarze Nacht; Gewölbe, anzuschauen wie gebuchtete Segel, aber steinern, gleich erhöhltem Fels.«

Hello & Goodbye, Pathos. So wollen wir keine Angst haben, Jahnn und Kleist und Kafka und Büchner und Hilbig und Heiner Müller an der Spitze unserer … Ästhetik? PASSBLOSSAUF, DASSDUKEINENVERGISST, PASSBLOSSAUF, DASSDUDICHNICHTVERRENNST, PASSBLOSSAUF, DASSDIEANGSTDIRNICHTDIESPRACHENIMMT, an der Volksbühne ziehen wir vorbei, an den Baustellen der Flughäfen ziehen wir vorbei, durch die dunklen Tunnel der U-Bahn ziehen wir nach Neukölln. Fluss und Weg und »die schroffen Wendepunkte seiner Lebensbahn waren unauslöschlich in ihm eingebrannt. … Die Zeit zerschellte … Und keine Vernunft gliederte Fühlen und Denken und ordnete sie nach den Begriffen, die uns von Kindesbeinen an gelehrt wurden. Die letzten Stunden dieses Tages und die der Nacht wurden aus dem Strom der Zeit herausgeschöpft und in das ewige Nichtseiende entleert; sie leuchteten wie ein dünner Strahl aus Quecksilber.«

Ich schüttele mich und schaue aus den Fenstern des Bordrestaurants in den immer noch sonnigen Mai des Jahres 14, und immer noch sitzt der Fremde mir gegenüber und fragt: »Warum?«

»Weil ich damals glaubte, als ich den Zettel in das Riesenwerk hineinschob, nachdem ich begonnen hatte es zu lesen und dann wieder aufhören musste, weil ich spürte, dass ich es wie Gift nur in kleinen Dosen genießen kann, möglicherweise über die Jahre, weil ich damals dachte, dass er, also dieser Planet Jahnn«, das sprach ich englisch aus und schämte mich sogleich dafür, »dass dieser Planet«, hier sprach ich es deutsch aus, »sich entgegengesetzt dreht. Ästhetisch gesehen …«

Ich musste wohl stark sächsisch gesprochen haben, denn der Fremde fragte, und neigte verständnislos den Kopf dabei: »Ä Stehtisch?«, und wies auf die Stehtische im angrenzenden Bordbistro.

»Nee, nee«, rief ich und erinnerte mich an die immer wahnsinniger werdende Geschichte, die natürlich keine Geschichte ist, die sich andersrum und rückwärts dreht, Legende ist, Mythos ist, Traum und Alptraum, die endlose Niederschrift des Gustav Anias Horn (I und II), sah die Figuren im Halbdunkel einer Theaterbühne, mir war, als sei ich eine Bleikugel, die unwahrscheinlich schnell versinkt, Ausschweifungen, Rudelbumsen (What the fuck hat das denn hier zu suchen? Das passt schon, glaubt mir.), Ajax, Tutein, Oliva, Doktor Boström, Fleisch und Fleisch gesellt sich gern, Leiber, aus denen mit Messern andere Leiber förmlich herausgeschnitten, herausgeschält werden, ich schüttelte mich, um all das loszuwerden (GEHENSIEDIREKTINSGEFÄNGNIS, GEHENSIENICHTÜBERLOS), schüttele mich immer wieder, sodass mein Gegenüber, dieser Fremde sicher glaubt, dass ich unter Epilepsie leide, zumindest der temporären Litralepsie, einer Form des Stendhal-Syndroms (hier kollabiert der Betrachter von Kunst), die einen u.a. nach einem Zuviel der Droge Jahnn befallen kann, aber der Fremde war verschwunden. Nur sein kleines Taschenroulette steht noch auf dem Tisch. Ich weiß, dass ich es nicht drehen darf, dass ich die Kugel nicht im Kessel surren lassen darf, dass dieses Instrument den Fremden über Zeit und Raum gewisse Macht gab. Wer ist dieser Fremde? Wir werden ihm wiederbegegnen.

Und später, auf meinem Weg durch die Stadt H bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich nicht doch gedreht habe, die Kugel in den Kessel geworfen habe, ob sich nicht alles gedreht hat auf dieser Scheibe Welt.

Einmal hält der Zug. Zu Beginn oder am Ende oder irgendwo in der Mitte meiner Reise in die Stadt H, zur Orgel, die am Rand der Stadt H in einer Kirche auf mich wartet.

Wälder. Hügel. Dämmerung und Regen. Irgendwo muss das Meer sein. Der Speisewagen ist leer. Nein, hinter mir scheint jemand zu sitzen. Seine Hände legen sich auf meine Schultern.

»Das Schwerste ist der Anfang.«

»Welcher Anfang?«, frage ich.

»Du solltest die Augen wieder schließen.«

Ich tat es sogleich; aber ich gewahrte noch, wie er seine Hände aufhob. Sie schienen mir mit den Fingern wie Fledermäuse zu sein. Und während ich mich daran erinnere, meine Blicke in die Landschaft draußen vorm Fenster, Vier Männer, im Regen, so grau wie Schatten, schreiten den nächsten Hügel herab, wandere ich durch die Stadt H, der Orgel zu. Die Welt, durch die ich wandere, ist immer noch unsere Welt, ist 2014, ist Mai, ist Kiew, ist Berlin, ist Afrika, ist Dschungelcamp, ist ein sterbender Mann, Mörder, festgeschnallt auf einer Pritsche, Gift dringt in Adern und tötet langsam und tötet nicht, so viele Autos, HH, HAHA, »Das ist aber gar nicht lustig, das ist aber gar nicht unterhaltsam!«, »Nein, ist es nicht, nein, ist es doch«, unterhaltsam, unhaltsam, unterm Halt, Balsam, unterm Rad, letzter Halt Hamburg, Friedhöfe sehe ich keine, die sind versteckt an den Rändern, »… sah ich Tutein auf mich niederstürzen, ganz verwandelt. Er war etwas Weißes.« Das Weiß, denke ich, ist das Grauen und das Ende nicht dunkel, sondern weiß?, weiße Abgründe, wie die Eissphinx des Jules Verne, die weißen Riesen H.P. Lovecrafts, die schon bei Poe wanderten, der Schnee des Zauberbergs, leere Seiten, Zeitungen ohne Buchstaben, VERLIERDICHNICHT, REISENDER. DUSOLLSTDIESESTADT, DIEDUNICHTKENNST, ERFORSCHEN.

Sie kommen heran. Das Wasser rinnt von ihren Hüten – über die schwarzen Ölmäntel, die, viel zu weit – wie Bretter im Wind schaukeln. Bin ich nicht in der Stadt Hubert Fichtes, der dem alten Jahnn einst begegnete? Diese beiden, wie Vater und Sohn, gaben sie nicht der deutschen Literatur eigene, ganz anders rotierende Sprachen? Kann man die beiden vergleichen, gibt es ästhetisch Gemeinsamkeiten, Einsamkeiten? Öffneten sie nicht die Türen, die …

Türen. Die Türen des Hans Henny Jahnn. Gleich, gleich werden wir sie öffnen und in die Kathedrale eintreten (eindringen?). Hubert Fichte schrieb sehr jung das Theaterstück Ödipus auf Håknäss, Mythos und Sexus und das JETZT (und damit Vergangenheit, Zeit), ließ später in der Palette die Menschen, Männer, Frauen, verschmelzen, sich durchdringen, der Wiedergänger, die Doppelgänger, die ICHs. Detlevs Imitationen »Grünspan«. Die Falschmünzer des André Gide. Robinson, der Wiedergänger des ICHs in Célines Reise ans Ende der Nacht. Der Zwilling des in der Nacht aus Blei Gefangenen, in dessen blutende Wunde wir greifen und mit ihm im steinernen Grab versinken. Und sind wir nicht doch fern, all das zu durchdringen? Fragen, die wir wagen, Waagen, die wir fragen … ENDE. ENDE.

Oh nein, noch nicht. Beispiellos steht er da. Der schwarze Monolith. Aber nur ziegelrot, dunkelrot, braun schon fast, ist die Kirche, vor der ich nun stehe. Der Wind keucht ums Haus. Dies uralte Bild – uralter Kor der Töne – immer wiederkehrend.

Wozu zahle ich denn Kirchensteuer, denke ich, als ich die Türen, eine nach der anderen, ums Gebäude schreitend, abklinke, obwohl mein Glaube kaum noch existiert. Je nach Tagesform. Aber ich glaube an die Fremden, an die Zeitfugen im Roulette, an die Gallionsfiguren, die die Schiffe in die Tiefe reißen, glaube an die Türen, die uns in fremde Räume führen, in denen wir immer schon gewesen sind. VORSICHT, REISENDER, JETZTVERRENNDICHNICHTINSESOTERISCHE, denn das ist all das nicht. Jahnn ist Jahnn ist Wahn. Lohengrin auf seinem Schwan. (Das nun auch noch?) Fieberträume der Welt.

»Und mehr noch, viel mehr noch!«, rufe ich im Kirchenschiff. Aber wie bin ich dahin gekommen? Die Türen waren verschlossen. Natürlich. Im Speisewagen war die leere Sitzbank mir gegenüber ein langer Sarg. Ich weiß, dass ein Mann namens Tutein darin liegt. VORSICHTSPOILERALARM, ruft der Schaffner. WHATTHEFUCK?

Wie können wir unser langsames Verschwinden in einem so großen Raum beschreiben?

JETZTREICHTSABER, DIE3FRAGEZEICHENODERWAS???

Und immer wieder macht es mich fassungslos. Fluß ohne Ufer. Ich stehe und schaue auf das Orgelwerk. Im Halbdunkel des Kirchenschiffs. Die langen silbernen Läufe, spitz zulaufend, kleine Öffnungen. Auf einer schmalen Wiese, neben der Kirche, gesäumt von Bäumen wie eine kleine Allee, steht eine beschriftete Glocke. Im Gras. Zwischen den Bäumen. Vielleicht finde ich hier draußen das, was ich suche, denke ich. Und schlüpfe unter die Glocke, deren Beschriftung, Beschriftungen ich immer wieder, immer wieder las und lese, hin- und hergerissen zwischen dem Draußen und dem Drinnen, das Rauschen der Bäume, das Rauschen des Flusses … oder sind es Flugzeuge (denn der Flughafen der Stadt ist sehr nah), die Schneisen in den Himmel brechen und deren donnernder Lärm hier unter der Glocke, in dem Gebäude, vor der Orgel, nur noch leises Rauschen ist.

Ich blicke auf seinen Rücken. Ich denke ihn mir, den Rücken, den Rumpf, den Hinterkopf. Denn zuerst sind es nur Hände, die dort oben auf den … wie nennt man das … Tasten lagen. Ineinander verschränkt. (Wie) Bräunliche Bronze. (Wie) Abguss von Totenhänden. Soll ich euch jetzt verkaufen, dass diese Hände sich entschränken, anfangen zu spielen? Die Rauschpfeifen, das Nachthorn, der Glöckleinton. Register, Orgelwerke. Soll ich euch sagen, dass es Töne sind, die ich noch nie vernahm? Dass ich Angst habe?

I will show you fear in a handful of dust.

»Der Staub wird weggespült. (…) Es ist Vergangenheit. (…) Die Zellen meines Hirns lagern noch am Rand der Schmerzen. Aber gerade darum kann ich nicht glauben, daß sie die Wildnis des bisher Ungedachten aufsuchen, anstatt mechanisch die Schubfächer verbürgter Erinnerung auszukramen. (…) Ein Ablauf, den viele Hände und Hirne bestimmt haben. (…) Steinerne Räume, gewaltige Säulenhallen, überkuppelte Bogenvierungen. Angeblasene Metallpfeifen, deren satter und zugleich hohler Ton die Granitwände beschleicht. (…) Die riesenhafte Pansflöte der Orgel (…) Ich sah Bronzeampeln herabhängen. Zylindrische Mäntel, bunt durchbrochen, Ornamente, ehrwürdig durch ihr Alter und ihren vieltausendjährigen Sinn, den gekurvten Fluß der Jahre, Mondwege, rollende Sonnen, die Kreuze der Jahreswenden, die Brüste des Himmels und der Meere …«

»Und nun?«, rufe ich in diesem ungeheuren Raum. Aber die Hände und ihr durchscheinender Leib spielen einfach weiter. Und dann, obwohl ich mich dessen fast schäme, aber so viele Erinnerungen an so viele Seiten, und die Erinnerungen an das, was da noch kommt, denn mit jedem Mal scheint es anders zu sein: »Und die Liebe?«

 

Du sitzt auf den hölzernen Bänken, auf den steinernen Särgen, in denen dein eigener Töter liegt, sitzt auf den Polstern, sitzt in den Zügen, sitzt in den Masten der Holzschiffe, den Türmen der Steinschiffe, verkriechst dich unter der Glocke, wanderst durch die Wälder, siehst die Flugzeuge, die dunklen Stämme träumen, fester Grund, auf dem diese Hände die Orgel umklammern, ob sie sie halten oder hinabziehen, kannst du kaum sagen, nicht erkennen, dieser ewige Glaube des Menschen, damit er Tempel baut, wo ist der Fremde mit seinem Roulette, mit seinen Fledermausfingern, die Universitäten forschen im Nichts, und du hoffst, dass die Welt da draußen noch dieselbe ist, dass die Zeit langsam wie eine Schnecke ist. Hereinspaziert – Herausspaziert – Fluss ohne Ufer, Mai 2014.

Erster TeilDas Holzschiff

IVorbereitung und Ausfahrt

Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar. Mit dem breiten gelbbraunen, durch schwarze Pechfugen gegliederten Bug und der starren Ordnung der drei Masten, den ausladenden Rahen und dem Strichwerk der Wanten und Takelage. Die roten Segel waren eingerollt und an den Rundhölzern verschnürt. Zwei kleine Schleppdampfer, hinten und vorn dem Schiff vertäut, brachten es an die Kaimauer.

Sogleich waren drei sachverständige Herren zurstelle, die genau auszudrücken wußten, um was es sich handelte. Ein dreimastiges Vollschiff. Ein paar tausend Quadratmeter Segelfläche. Der alte Lionel Escott Macfie Esq. aus Hebburn on Tyne hatte es aus Teak- und Eichenholz gebaut. Ein Sonderling, ein Mann, der in einem anderen Jahrhundert wurzelte. Aber ein Genie der Kurven. Mithilfe von ein paar Tabellen und riesenhaften selbstgeschnitzten Kurvenlinealen ritzte er die Form der Spanten auf dickes weißes Papier. Und es war ein vollkommenes Bild, wie sich die eine Konstruktion aus der anderen entwickelte. Er streckte beim Arbeiten die Zunge heraus, zwinkerte prüfend mit den Augen, vermerkte sogleich mit schönen Stempeln, wo Kupferbolzen anzubringen waren, wo eine Planke zu schwänzen und mit einer anderen zu verzapfen sei. Die sachverständigen Herren konnten dergleichen erzählen. Man erkannte, und so beschrieben sie denn, hier war ein Kielgefüge von unvergleichlicher Zimmerarbeit angewendet worden. Die schweren Hölzer, noch wie Stämme anzuschauen, keilten sich ineinander, schmiegten sich aneinander, fast nahtlos miteinander verbolzt; mit ausladenden Knaggen, um die geschwungenen Bäume der Rippen aufzunehmen.

Zwei Zollbeamte gesellten sich den Herren bei. Sie wiegten die Köpfe und ließen erkennen, daß sie vollkommen unterrichtet wären. Sie hatten ja ihre Verbindung zu den oberen Stellen, und es konnte an diesem Kai nichts geschehen, was nicht ihre volle Billigung gefunden. Wenn es auch Dinge gab, für die sie nicht zuständig waren, und wenn sie von Zeit zu Zeit mit guten Gründen zu schweigen wußten, so waren sie doch Manns genug, sich nicht mit der Oberfläche ihrer Pflichten zu begnügen. So kannten sie denn die Hintergründe und die ferneren Absichten allen Verkehrs, der sich am Kai abspielte. Und nur das eiserne Gelübde ihrer Amtsverschwiegenheit und das unergründliche Gefüge ihrer Einordnung hinderte sie daran, all und jedem und bei jeder Gelegenheit ihr Wissen kundzutun. Dem Sachverstand der drei zufälligen Herren gegenüber konnten sie indessen ihre Zustimmung äußern und andeuten, daß sie wohl eine Meinung darüber hätten, welchen hervorragenden Zwecken das Schiff dienen sollte.

»Allerdings«, sagte der eine, »rote Segel, das gefällt mir nicht.«

»Ja, ja«, sagte der andere, »die Blöcke der Flaschenzüge sind aus grünbraunem Pockholz.«

Auf dem Kai würden noch ungewöhnliche Dinge sich abspielen, meinten sie.

Unterdessen war das Schiff vertäut. Ein Herr, den ein heller Überrock umflatterte, mit einem braunen runden Hut auf dem Kopfe, kam eilends auf der Kaimauer daher. Die Zollbeamten traten zurück, legten grüßend die Hand an die Mütze, sagten noch zu den zufälligen sachverständigen Herren, um ihre Allwissenheit zu beweisen: »Der Reeder.« Dann zogen sie sich zurück.

Der Mann im hellen Überrock schwang sich über die Reling des Schiffes. Ein paar Matrosen, die umherstanden, schauten unschlüssig auf ihn. Er fragte nach dem Kapitän. Danach verschwand er in einer Hüttentür.

*

Nach Ablauf zweier Wochen hatte sich manches zugetragen, was die Zollbeamten mit Sorge erfüllte. Das Schiff lag noch an seinem Platz. Die roten Segel waren herabgenommen und in die Segelkammer verstaut worden. Sobald die Beamten auf die leeren Masten schauten, legte sich ihre Stirn in Runzeln. Sie hätten zugeben müssen, daß ihre Meinung vom Schiff falsch gewesen war. Es war kein Verlaß auf die sachverständigen Herren. Und die höheren Stellen, man wußte es schon, schuldeten den unteren keine Rechenschaft. Es war unbehaglich, wenn die anerkannten und gültigen Regeln durchbrochen wurden und das Allgemeine dem Ungewöhnlichen weichen mußte. Hier war festzustellen, daß irgendwo in England ein schönes, aber unpraktisches Segelschiff gebaut worden war. Für Rechnung dessen, den es anging. Ohne Hilfsmotor, etwas Altmodisches, ohne vorbestimmten Zweck. Ein nutzloses Unternehmen. Planken, die ein Jahrhundert überdauern würden. Der Ausdruck eines Spleens. Geldvergeudung. Etwas Unvernünftiges, fast Verbrecherisches. Ein Angriff auf die Gesellschaft und ihre Ansichten. Es lag da, und der Reeder mußte die Kaigebühren bezahlen. Vielleicht auch liefen Prozesse. Die Kassen irgendwelcher Banken wollten keine Zahlungen leisten. Geschäfte hatten sich zerschlagen. Oder Verträge waren nicht erfüllt worden. Die Mannschaft des Holzschiffes war abgemustert worden. Der Kapitän hatte ein paar Habseligkeiten aus seiner Kajüte heraustragen lassen. Einen braunen neufundländer Hund zog er an einer Leine sich nach. Und war danach verschwunden. Davongejagt. Ehrlos behandelt. Schließlich hatte er einmal das Vertrauen des Reeders genossen und war gut genug gewesen, das neue Schiff, das unerprobte, in jungfräulicher Fahrt von England herüberzusteuern.

Der Reeder aber brachte zwei Matrosen anbord als Wachmannschaft. Nicht von der guten Sorte, wie die Beamten meinten. Viel zu jung und viel zu pfiffig. Sie kamen mit quecksilbrigen Schritten über die Pflastersteine des Kais, mit ihren Bündeln auf dem Rücken. Sie schwatzten und lachten, daß man ihre nassen Zähne sah. Ihre Blusen waren steif und neu, ihre Seesäcke waren gerade aus den Händen eines Segelmachers gekommen. Und man wußte nicht einmal genau, ob sie die Seefahrt jemals anderswo kennengelernt hatten als in Kneipen und Bordellen. Diese Burschen richteten sich auf dem Schiff ein, bezogen eine Kammer, nicht das große Matrosenlogis auf der Back. Rauchten, schliefen, kochten. Des Morgens kamen sie mit bleichen Gesichtern andeck. Manchmal weniger bleich. Aber sie lachten, flöteten, sangen. Wuschen, hängten die Kleidungsstücke in den Wind. Vertrieben sich die Zeit, indem sie ins Hafenwasser schauten, hineinspieen, eine Angelrute auslegten. Natürlich roch ihre Kabine sehr bald fade nach Rauch und ungelüfteten Betten, nach Menschenfleisch, wie man sich denken konnte. Mißtrauen war am Platze. Wiewohl diese Dinge nicht unter die pflegliche Aufsicht der Beamten fielen. Um das Ungewöhnliche zum Überfluß zu bringen, war der Reeder ein paarmal nach Anbruch der Dunkelheit anbord gekommen, war einige Stunden lang unter Deck geblieben. Das Schiff schien dann ausgestorben. Aus einem einzigen Bullauge fiel ein gelber Lichtschein auf die gekräuselte Oberfläche des Wassers.

Als sich diese abendlichen Besuche auch in der dritten Woche wiederholten, war das Gemüt der Beamten zerschlissen. Sie mißtrauten mit offenem Geständnis. Sie unterstellten. Argwöhnten. Sie sprachen schließlich nicht mehr miteinander. Jeder hatte seine Gedanken inbezug auf die übergeordneten Stellen. Sie mußten auf der Hut sein.

Als der Reeder bei später Stunde das Schiff verließ, trat einer der Zöllner an ihn heran, fragte mit warmem Tonfall, aber doch bestimmt:

»Haben Sie verzollbare Gegenstände bei sich, Herr –«

»Nein«, antwortete der Reeder.

»Hier handelt es sich nicht um einen Verdacht. Es ist nur eine Frage«, sagte der Zöllner, »von amtswegen.«

»Ich begreife«, gab der Reeder zurück; »noch sonst etwas im Wege?«

Dem Beamten ging die Kehle zu. Er fühlte sich überlistet, geradezu blamiert.

»Mein Kollege«, sagte er, »mein Kollege hat noch etwas auf dem Herzen.«

Damit war für ihn das ungemütliche Gespräch zuende. Er hatte seine Pflicht erfüllt. Man konnte ihn nicht beschuldigen, was auch immer in der Dunkelheit unbekannter Beschlüsse und Vorgänge verborgen sein mochte.

»Was gibt’s«, fragte der Reeder den zweiten, »suchen Sie Opium bei mir oder Kokain? Das Schiff tut Ihnen wohl in den Augen weh? So etwas sieht man nicht alle Tage. Hat sich meine Mannschaft übel aufgeführt? Haben Sie Grund, sich zu beklagen?«

»Durchaus nicht«, stammelte der mit so viel Fragen Überfallene.

»Na also«, sagte der Reeder, »ich werde doch wohl anbord meines eigenen Schiffes gehen können? Den Burschen einige Päckchen Tabak bringen? Man muß sich die Zeit vertreiben. Die Abende werden lang. Man kann seinen Punsch im Hause trinken. Oder sonstwo. Man kann sich auch freuen, ein Schiff zu besitzen. Habe ich recht?«

»Es ist nichts zu antworten«, sagte der zweite Zöllner.

»Ich bin ziemlich allein«, sagte der Reeder, »unverheiratet.«

Er wischte das Gespräch mit einer Handbewegung fort.

Er griff nach seiner Brieftasche, zog zwei Scheine heraus, winkte den ersten Beamten heran.

»Halten Sie ein Auge auf die beiden Matrosen«, sagte er, gab jedem der beiden einen Geldschein, eilte davon.

*

Die Zöllner fühlten sich ins Vertrauen gezogen. Sie durften ihr Herz entdecken und sehr menschlich denken. Nicht alle Unordnungen münden in Verbrechen aus. Die Stunden sind verschieden, und die Seelen der Menschen gleichen einander nicht. Das Absonderliche ist nur ein Schein, der nach außen dringt. Im Innern ist bei allem Geschöpf die gleiche warme Finsternis. Ein Spleen ist nicht schlimmer als die Vernunft. Und gute Reden sind so gangbar wie grobe. Wenn sich Wolken vor die Sonne ziehen, verändert sich das Wetter, der Wind verwandelt eine blanke See in ein graugrünes Ungetüm.

Es geschahen am Kai keinerlei Zwischenfälle. Der Reeder empfing ein paarmal hohen Besuch anbord des Schiffes. Er ließ den prächtigen Bau des alten Lionel Escott Macfie bewundern. Da wurde Kognak in Wassergläsern gereicht. Die Wachmannschaft trat in sauberen Blusen an, legte die Hände an die Hüften, bot den Gästen von Zeit zu Zeit Butterbrote.

Es war zu erkennen, daß der Reeder, wenn auch unauffällig, ein Ziel verfolgte. Vielleicht bereitete er eine große Sache, ein Geschäft vor, das dem Einfältigen entgeht. Auf solchen Wegen liefen die Gedanken der Zöllner. Jedenfalls war ihr Vertrauen zur Person des Reeders beträchtlich. Mit der Zeit konnte man geradezu vergessen, daß das Schiff für entlegene und tiefe Ozeane gebaut war.

Eines Tages geschah dann die Veränderung. So wird eine Straße ins Land hinausgebaut. Oder ein altes Haus niedergelegt. Ein junges Ehepaar zieht in die verlassene Wohnung eines Verstorbenen. Ein grüner Acker verwandelt sich in ein Gräberfeld. Etwas Schmerzliches, das vorgibt, die Freude und den Fortschritt als Ziel zu haben. Aber es werden die Gedanken bewegt, die das Vergängliche als das Unabänderliche umkreisen. Die Stille ist ein besserer Trost als die Bewegung. Und nur jugendliche Tatkraft findet Genüge am Gebrüll der lauten Tage. Sie denkt gering vom allmählichen Wachsen, und die Geheimnisse des Frühlings sind ihr verschlossen, weil es ihre Jahreszeit ist. Sie sieht nur das Aufbrechen, die Lust und ihre Oberflächen, nicht die sickernden Feuerströme eines von der Qual des Schaffens zerschrundenen Gottes. Und nicht das Ziel: den goldenen Herbst. Sie ertappt sich nicht, vor dem schweren Bauch eines Rindes stille zu stehen und hinter der Kruste peinlichen Schmutzes ein Geheimnis zu schlürfen, das traurig und süß zugleich das Fleisch von den Knochen fallen macht und die Blindheit einer unentrinnbaren Verwesung ankündet. Sie denkt in ihrer Leidenschaft nur an das Saubere. Der Sternenhimmel scheint ihr ein Gleichnis, rein genug für die Ewigkeiten.

Es geschah also eine Veränderung. Der Reeder kam an den Kai. An seiner Seite schritt ein Seeoffizier, ein Kapitän in Uniform. Seinem Arm hatte sich ein etwa achtzehnjähriges Mädchen eingehängt, seine Tochter. Die drei gingen anbord. Eine Stunde später fand sich die neugeheuerte Schiffsmannschaft ein. Die beiden Wachmatrosen wurden der Besatzung eingeordnet. Mochte es mit ihrer Kenntnis von der Seefahrt bestellt sein wie es wollte, sie würden den Ozean zu riechen bekommen wie die anderen, die aus den Heuerkontoren herbeigeeilt waren.

Der Kapitän hieß Waldemar Strunck. Er hatte ein gütiges, ziemlich flaches Gesicht.

*

So war denn das Schiff bevölkert. Es wurde darin gearbeitet, geordnet, gekocht. Die roten Segel wurden aufgebracht und angeschlagen. Man erfuhr, eine sehr wertvolle Ladung sollte über Land kommen. Man erfuhr, die Tochter des Kapitäns, das achtzehnjährige Mädchen, würde den Vater begleiten. Die Mutter war gestorben. Oder wie nun die Dinge liegen mochten. Ein junger Mann kam an den Kai. Er war der Verlobte des Mädchens. Jedenfalls vermutete man es. Die beiden lagen einander in den Armen. Den Beamten wurden von den höheren Stellen Schriftstücke ausgehändigt. Sie betrafen das Schiff und seine Ladung. Geheime Anweisungen. Die Gesichter der Beamten wurden ganz hart bei dem Gefühl des Vertrauens, das man ihnen schenkte. Sie würden beweisen, daß sie es verdienten. Hier war garnichts mehr zu sagen oder auszuschwätzen. Es handelte sich um eine höchst wichtige Angelegenheit. Der Staat mit seiner ganzen Machtvollkommenheit schien dahinterzustehen. Missionen in geheimem Auftrag. Man konnte begreifen, das Schicksal des Volkes hing davon ab. Ihre Ahnung hatte die Zöllner nicht betrogen. Eine große Sache, mochte es nun ein Geschäft sein oder eine Expedition auf höchsten Befehl, nahm von diesem Kai ihren Ausgang.

So war es nicht verwunderlich, daß ein Herr sich zeigte, den niemand kannte, der seinen Namen nicht angab, ein Herr, der einen sehr vornehmen grauen Anzug trug. Darüber einen grob gewirkten glockenförmigen Mantel. Glattrasiertes Gesicht, strenge Züge, fast unmenschlich, jedenfalls durchgraben von der Ehrfurcht vor der hohen Aufgabe. Ein Mensch mit letzter Beherrschung hinter der Stirn, jedem Zufall und Abenteuer gewachsen. Wenn man ihm plötzlich gegenüberstand, erschrak man. Er flößte Achtung ein. Dabei war es nicht die erhabene Seite dieses Gefühls, die einen anrührte. Es war ein Hauch des Unerlaubten dabei. Sklavenhändler, unerbittlicher Kaufmannsgeist oder Pflichterfüllung auf verlorenem Posten bis an den Rand nutzloser Grausamkeit. Etwas Unheimliches ging von dem Manne aus. Er war unveränderbaren Antlitzes, mochte es nun unerbittlich oder verbrecherisch genannt werden. Und dies unversöhnliche und beharrliche Schweigen seiner Lippen!

Es war der Superkargo, wie sich später erwies. Ein paar Tage lang zeigte er sich. Damit man sich an ihn gewöhne. Oder was sonst seine Absicht sein mochte. Er ging anbord, verschwand in den Luken, tauchte wieder auf.

Nur die Beamten schienen über die Bedeutung der Persönlichkeit vollkommen unterrichtet zu sein. Sie grüßten dienstlich, wagten sich nicht in die unmittelbare Nähe des Mannes.

*

Die Ankunft der Ladung verzögerte sich. Und als sie eintraf, war es unerwartet. Eine Lokomotive schob eine halbe Zuglänge Güterwagen auf die Geleise des Kais. In der gleichen Minute war der Reeder zurstelle. Der Superkargo. Der Kapitän. Seine Tochter. Und der Verlobte. Die Beamten liefen mit Dokumenten herzu. Sie waren sehr erregt. Es durfte nichts falsch gemacht werden. Eine hoheitsvolle Gestalt, ein Offizier des Landheeres, zeigte sich. Zwar, er griff nicht in die Geschehnisse ein. Er gab sich sehr unbeteiligt. Aber er war doch anwesend, um die Bedeutung des Augenblickes zu erhöhen.

Eine beschränkte Zahl von Kaiarbeitern rückte an, um die Verladung zu besorgen. Plötzlich wurde die Zufahrtstraße durch Polizeikräfte abgeriegelt. Es entstand ein Augenblick voll Unsicherheit. Keiner schien darauf vorbereitet gewesen zu sein. Man fand die Maßnahmen geradezu überflüssig. Schließlich war niemand zurstelle, den es nicht anging. Oder sollte hier angedeutet werden, die Kaiarbeiter wären nicht zuverlässig, die Matrosen windige Burschen? Bedurften die Zollbeamten des Schutzes? Oder waren Zwischenfälle zu befürchten? Die oberen Stellen mußten wohl wissen, was sie taten. Und Vorsicht ist besser als Nachsicht. Aber das Ungewöhnliche, mag es sich auch nur in kleiner Aufmachung vorstellen, belastet das Gemüt. Man erkannte, alle Beteiligten waren plötzlich von einer Spannung ergriffen, die sie nicht verbergen konnten. Sie liefen durcheinander. Sagten Worte, die sie nicht vorgedacht hatten. Die Lokomotive fuhr, scheinbar grundlos, ein paar Schritte weiter gegen das Kaiende. Die Beamten erbrachen die Bleisiegel der Güterwagen und schrieen mehr, als sie sprachen, feierlich, aber doch ungeordnet:

»Die Ladung wird ohne weitere Kontrolle zum Verfrachten freigegeben.«

Sie schauten noch einmal in ihre Dokumente. Sie zogen ein Tagebuch hervor und machten darin Eintragungen. Sie erklärten dann ihre Aufgabe für erledigt. Die Kaiarbeiter kletterten in die Wagen. Die Winden des Schiffes wurden inbetrieb gesetzt. Man zog an den Flaschenzügen. Gut vernagelte, starke weißneue Holzkisten, ein paar Zeichen darauf gemalt, wurden herausgeschoben, gehoben, in die Seilschlingen gelegt, aufgewunden und in den Schiffsrumpf gesenkt.

»Vorsicht!« schrie der Superkargo.

»Beschriftung beachten!« schrie er weiter.

»Wer ist im Laderaum?« schrie er aufs neue.

Man mußte die eben begonnene Arbeit einstellen, bis jedermann genaue Anweisungen erhalten hatte.

Allmählich verschwanden die Kisten im Schiffsinneren.

*

Die Arbeit war beendet. Die Zollbeamten schauten noch einmal in die jetzt leeren Güterwagen. Ein paar Protokolle oder Konossemente wurden ausgetauscht. Der Reeder schüttelte dem Liebespaar die Hände. Der Kapitän sagte lachend ein paar Worte zu einem Steuermann. Es war ein feierlicher Augenblick der Befreiung. Man zerstreute sich und war doch geeint in der Gewißheit, daß ein Abschnitt im Geschehen erreicht sei.

Da entstand ein Streit. Man wußte nicht, wo und wie er begann. Es gab einfach nur Rufe. Schreien. Zuerst kam es dumpf von einem unteren Deck herauf. Dann liefen Matrosen wild erregt nach oben. Man hörte die Stimme des Superkargos in maßloser Erregung. Dazwischen ein Brüllen. Jemand stürzte hervor, hielt sich den Bauch, pfiff durch die Zähne:

»Getreten, getreten.«

Ein anderer, blutüberströmt, ballte die Hände vors Gesicht. Ein dritter Mann, irgendeiner der Arbeitskolonne, so schien es, schwang einen Gummiknüppel und schlug auf Hände und Antlitz des Blutüberströmten. Einige Matrosen traten zusammen, fassungslos. Schon Partei für ihre mißhandelten Genossen. Ein paar Worte fielen. Irgendein Sachverhalt wurde, gewiß recht unvollkommen, aufgeklärt.

»Spitzel!« rief einer.

»Gemeines Pack.«

Man bemühte sich um die Verletzten. Der in den Bauch Getretene sank um. Der Superkargo kam andeck. Er hatte eine Pistole in der Hand. Oder war es ein anderer Metallgegenstand? Nicht genau zu erkennen.

»Eine Kiste sollte erbrochen werden«, erklärte er.

Es wurde im Kor geleugnet.

»Es wird sich alles finden«, sagte der Superkargo.

»Hund«, sagte jemand.

Der Reeder, der Kapitän waren ratlos. Der zweite Steuermann sagte:

»Das durfte auf diesem Schiff nicht geschehen.«

Er wiederholte den Satz fünf- oder sechsmal. Dem jungen Paar wurde es übel. Es zog sich in einen Winkel zurück. Der Winkel sog es auf. Die Zollbeamten schwangen sich über die Reling. Sie erboten sich, die Polizeimannschaft zu holen. Man verzichtete darauf. Man befahl statt dessen eine Kolonne Arbeiter anbord. Der Superkargo gab Anweisung, wie sie die unteren Decksluken zu verwahren hätten. Es sollten sogar Siegel daran angebracht werden. Kurz, er verzichtete auf den Dienst der Schiffsmannschaft. Die sammelte sich. Es wurde geredet, halbe Beschlüsse wurden gefaßt.

Die Beschuldigung des Superkargos schien falsch. Jedenfalls war sie nicht zu beweisen. Und die Betroffenen leugneten, behaupteten, garnicht im Laderaum gewesen zu sein. Sie waren einfach überfallen worden. Grundlos. Zeugnis gegen Zeugnis. Der Offizier des Landheeres mischte sich ein, herrschte die Besatzung an. Der Kapitän versuchte zu ermahnen. Der Schiffsreeder erklärte alles für weiter garnicht schlimm. Man war bald, zwar auf unterschiedlichen Ebenen und mit mancherlei Sprache, dabei, den Streitfall beizulegen, einen Vergleich zu schließen. Da erschien der Superkargo, der sich inzwischen davongemacht hatte, wieder und erklärte, es liege ein Fall von vollendeter Meuterei vor. Diese Behauptung war ausreichend, um bei der Schiffsmannschaft wilde Empörung hervorzurufen. Man schrie, und als man sich’s besser überlegte, man schien eine Gefahr zu wittern, murrte man, lief auseinander, rottete sich wieder zusammen.

Waldemar Strunck versuchte noch einmal zu vermitteln. Stellte die Mannschaft als prächtige Burschen hin. Leicht erregbar, aber milden Herzens. Und gemäßigten Erklärungen zugänglich. Eine Anklage gegen die Besatzung schien ihm undurchführbar. Er gestand, wenn auch für vernünftige Gegengründe empfänglich, von der Partei der Schiffsmannschaft zu sein. Die einzelnen Stufen des Zwischenfalles könne man hinterher nur schwer ermitteln. Mißverständnisse seien nicht ausgeschlossen. Das Vergehen sei ja nicht oder nicht voll zur Ausführung gekommen. Vielleicht der spielerische knabenhafte Versuch einer jungen Seele, hinter ein Geheimnis zu schauen. Keine böse Absicht im eigentlichen Sinne. Das energische Eingreifen des Superkargos habe den Gasten, falls sie es vergessen haben sollten, die Schwere und Grenzen ihrer Pflicht ins Bewußtsein zurückgerufen. Und sie würden nach diesem gewiß wie Raubtiere einander und die Ladung bewachen. Unterschied des Vorher und Nachher.

»Sie wird versiegelt werden«, sagte kurz der Superkargo.

Der Reeder begann mit den Achseln zu zucken. Er meinte, es sei wohl angebracht, sich in die Kapitänskajüte zurückzuziehen und dort zu beraten. Aufsehen solle man nicht erregen. Die Entscheidungen müßten schnell fallen. Das Schiff dürfe nicht noch weitere vierundzwanzig Stunden am Kai liegen.

Man folgte seinem Vorschlag. Drei Männer redeten aufeinander ein. Reeder, Kapitän, Superkargo. Nach Ablauf einer Stunde waren die Entscheidungen da. Jeder einzelne der Besatzung war vom Superkargo einer Begutachtung unterzogen worden. Ein paar Bemerkungen über die Gestalt des Betreffenden. Wie weit der Körper dem Normalbild entsprach. Ob fleischig, fett, hager. Ob und wie viele Tatauierungen auf der Haut zu finden waren. Ob es sich um harmlose Zeichen, Symbole oder erotische Darstellungen handelte, Weiber oder Kopulationsszenen. In London oder China in die Haut punktiert. Rot, blau oder schwarz. Er kannte die Brüste, Schenkel und Bäuche der Besatzung. Und dann die Gesichter. Wie der Kopf auf dem Halse saß, schlicht oder gewaltsam. Ob die Lippen wülstig vorstanden, nach unten hingen. Ob die Zähne beim Sprechen frei wurden oder hinterhältig im Dunkeln blieben. Was im Feuer oder in der Stumpfheit der Augen verborgen war. Tücke, verbrecherischer Hang oder gutmütige Weltbetrachtung. Blondes und braunes Haar, gelockt und schlicht. Ein Negermischling.

Und er entwarf aufgrund dieser Anatomie von außen die Karaktereigenschaften. Die Möglichkeiten von Taten. Die Verirrungen in der Zukunft. Waldemar Strunck konnte sein Erstaunen nicht zügeln. Hier wurde eine Gruppe von jungen und frischen Menschen zu einer Art Kadaver erniedrigt. Sie schienen nur aus Mängeln zu bestehen. Mißratene an Leib und Seele. Kaum, daß ein einziger Lichtstrahl in diese Verfinsterung des Fleisches fiel. Dumme Männer, das war das beste Prädikat, das der Superkargo verteilte, einfältige, unnachdenkliche, pflichtergebene. Schon Mutterwitz und Pfiffigkeit brachten dem Besitzer Tadel ein. Und ein freies Gemüt war dem verantwortungslosen Abenteurer gleichgesetzt. Dünne und brüchige Karaktere, eingewebt einem mangelhaften rohen und übelriechenden Fleisch. Mit keiner Zukunft als der, weiter abzunehmen und sich zu verstricken.

Waldemar Strunck wußte keine Entgegnung allgemeiner Art. Er begriff nicht, auf welche Weise der Superkargo in den Besitz seiner Kenntnisse gekommen war. Einzelheiten an Gebrechen waren vorgetragen worden, von Bilderchen gesprochen, die möglicherweise eine Dirne oder eine Geliebte entdeckt. Geheimagenten waren mit im Spiel, begreiflich. Der Kapitän hatte nicht Zeit, die Hintergründe für diese Abrechnung aufzusuchen. Er ging daran, jeden einzelnen zu verteidigen. Sehr schlicht. Er fand die Leidenschaften und Abgründe der Seele wärmer und häuslicher. Die Menschen waren gewachsen, und man konnte und durfte das Wachstum nicht ausrotten. Die Erwägungen des Superkargos seien ungewöhnlich, unzulässig. Und fehlerhaft. Das Unrecht gegen die Bescholtenen sei zu erkennen. Es seien ja nicht nur Satyrn, Deserteure und zukünftige Mörder anbord. Sondern durchschnittliche Menschen, die ihren Beruf gelernt, die avanzieren wollten, sich auszeichnen würden, vielleicht gute Ehemänner und Väter werden würden. Ein Urteil über ihre bürgerliche Existenz zu sprechen, sei unstatthaft. Waldemar Strunck richtete mit seinem Einsatz nicht viel aus. Der Koch und der Bursche, den er sich mitgebracht, mochten hingehen. Für die beiden Wachmatrosen verwendete sich der Reeder. Er gab zu erkennen, seine Bekanntschaft mit ihnen war so nahe, daß eine Bürgschaft ihm leicht fiel. Der erste Steuermann schlüpfte durch die Maschen der Anklage wie selbstverständlich. Ein Leichtmatrose, Alfred Tutein, der auf dem Rücken einen Adler tatauiert trug, auf dem Arm eine üppige Venus von hinten gesehen, und der Halbneger waren nicht schwer genug für einen Verdacht. Endlich der Segelmacher. Er war ein betagter Mann von fünfundsechzig Jahren. Engländer, der nur Englisch sprach. Er war vom Erbauer des Schiffes anempfohlen worden. Der Alte hatte die meisten der roten Segel angefertigt. Die grauen, harten Hände, die ihm gehörten, waren wunderbar geschickt, das brettharte neue Segeltuch mit Tauen und Lieken auszustatten. Er war vor Wochen mit der Mannschaft abgemustert worden. Und hatte sich beim Heuerbas wieder eingefunden. Gegen den Greis war nichts vorzubringen. Ein schweigsamer tüchtiger Handwerker. Den Zimmermann vergaß man. Waldemar Strunck gedachte seiner. Aber er hatte keinen Grund, einen Beitrag für die Liste der Davonzujagenden zu liefern.

Dem Rest würde man die Heuer für vier Wochen ausbezahlen und sie wieder an Land gehen heißen. Der Reeder nannte es einen teuren Spaß. Aber ein gerichtliches Nachspiel wollte er vermeiden. Manchmal, während der Verhandlung, hatte es geschienen, als ob er in Haß dem Superkargo Übles anzutun gedächte, in anderen Augenblicken war er weich gewesen, ganz hingegeben dem eisigen Vortrag des Anklägers; als ob reinste Vernunft und lauter Honigsüße von den Lippen des Redners geflossen wären.

Das Unbehagen, das der Kapitän empfand, wollte nicht weichen. Er hätte jetzt selbst gerne gewußt, welcher Art die Ladung des Schiffes war und welchen Kurs man wählen würde. Aber er schämte sich zu fragen, fürchtete den Augenblick zu verschlimmern. Wenn man es genau nahm, hatte es ihn nicht zu kümmern. Er war darauf eingegangen, das Schiff nach Weisung eines Superkargos in besonderer Mission zu führen.

So kam denn die Besatzung, einer nach dem anderen, in die Kapitänskajüte, hörte den Spruch an, den man gefällt hatte. Keiner wurde aufsässig. Der Kapitän gewann den Eindruck, die Entscheidung bedeutete den Betroffenen eine Erleichterung.

Die Abgemusterten mußten das Schiff mit ihrem Kram augenblicks verlassen. Man ließ ihnen nicht einmal Zeit, sich umzukleiden. Der Schiffsreeder ging anland, verschwand auf Minuten, war aber bald wieder zurstelle, um wieder zu verschwinden, wieder aufzutauchen. Man konnte vermuten, er suchte in der Nähe eine Kneipe auf, trank dort Punsch. Vertrieb sich mit diesem Hin und Her die Stunden. Im Laufe des Tages war die neue Mannschaft zusammengestellt. Der Kapitän besah sich die Leute genau. Wie der Kopf auf dem Rumpfe saß, ob sie fleischig oder knochig, offen oder verschlagen leidenschaftlich, fragte, ob sie reich oder unvollkommen tatauiert, ob sie Geliebte hätten, verheiratet wären, Kinder besäßen. Wie es mit ihrer Gesundheit gestanden von Kindesbeinen an. Ihre Laufbahn. Machte sie auf die Sonderheit der Fahrt aufmerksam, schärfte ihnen ein. Verwarf den einen oder anderen. Kurz, er wollte im gegebenen Augenblick dem Superkargo die Antwort nicht schuldig bleiben müssen.

*

Der Abend kam. Das Schiff war bereit zur Abfahrt. Für die beiden Liebenden bedeutete es die bittere Stunde des Abschiednehmens.

Es ist zu erwähnen, der schöne Segler war nicht ausschließlich als Frachtschiff gebaut worden. Eine Reihe von Kammern war vorhanden, so daß ein halbes Hundert Fahrgäste geräumige Unterkunft hätten haben können. Es gab mittschiffs eine Hütte, in der sich drei Salons befanden, ein Treppenhaus, Anrichte, ein Spielzimmer. In einer der Gastkajüten hatte die Tochter des Kapitäns sich eingerichtet. Sie zog sich dahin mit dem Verlobten zurück. Ihre Ruhe war sehr dünn geworden. Die Ereignisse des Tages hatten an ihr gezehrt. Der Vater hatte ihr zu dem, was sie selbst wahrgenommen, noch ein paar Bemerkungen gegeben. Sie versprach sich nichts mehr von der Fahrt ins Ungewisse. Der Superkargo stieß sie ab, mochte er auch klug und die Pflichterfüllung in Person sein. Sie war bedürftig nach Schutz, nach Versicherungen der Liebe. Die Trennung von dem geliebten Mann zerriß ihr Herz. Ahnungen überrannten sie. Es gab keinen Ausweg für sie, als in einem Meer von Küssen unterzutauchen, an den Schwurformeln der Liebe Kraft für das Zukünftige zu gewinnen.

Die zwei schlossen sich ein, um stürmische Umarmungen ganz auszukosten. Ein paar unvorsichtige Minuten. Berührungen, die in die Haut einwachsen. Beteuerungen, die die Träume leicht machen und das Ungemach weniger empfindlich. Sie schwankten vor Glück, lehnten sich gegen Bett, Kommode, Wandschrank, Tür. Da, ihnen gräßlich, sprang die Tür auf. Sie hatte dem leichten Druck nachgegeben. Sie flohen auseinander. Sie wußten, das Schloß war abgeriegelt gewesen. Sie hatten das Absperren umständlich vorgenommen, weil der Mechanismus ihnen neu gewesen war. Auf dem Gang stand der Superkargo. Er sah ihre Bestürzung. Er schritt langsam davon. Ihr Verdacht richtete sich gegen ihn. Zwar, sie begriffen nicht, mit welchem Mittel er den Mechanismus gelöst haben sollte. Aber es war doch zu mutmaßen, der Mensch hatte planvoll ihnen die Beschämung zugefügt. Oder in Unkenntnis ihrer Anwesenheit sich Zutritt in die Kajüte verschaffen wollen. Sie zogen die Tür heran, warfen sie geräuschvoll ins Schloß, drehten den Schlüssel herum, schoben den Riegel vor. Ganz sicher, eingesperrt zu sein.

Der einer Enttäuschung erlegene Mensch versucht auch die Gesetze der Physik. So prüft ein Kind, das sich an einer glühenden Kohle verbrannt hat, zaghaft, ob eine Stange roten Siegellackes etwa es ebenfalls verletzen könnte. Und wenn die Vorsehung ihm gründliche Kenntnis vermitteln will, gibt sie ihm ein, den Versuch in Zwischenräumen zu wiederholen. Und vielleicht wird es die Erfahrung gewinnen, daß der rote, scheinbar immer gleiche Stoff, zuweilen heiß, zuweilen erkaltet ist. Und ein Zipfel vom Schleier des Geschehens wird sich ihm lüften. Ein Blick in die Abgründe der Kausalität. Es wird in die Zeit hineinstarren als in einen Abglanz der Unendlichkeit. Das Gewisse wird ihm fragwürdig werden, das Rätsel mächtiger als die Wissenschaft. Es wird dem Zufall nicht trauen, der es verbrennen kann.

So versuchten die Liebenden das mechanische Schloß, lehnten sich, sicher in ihrer vorgefaßten Meinung, daß es nicht aufspringen werde, abermals gegen die Tür. Und sie öffnete sich, aufgestoßen wie von heimlichen Kräften.

Gewiß, jetzt machten sie sich über Klinke und Schloß her, aber sie konnten das Rätsel nicht lösen. Ein doppelter Riegelverschluß, der vollkommen unbeweglich schien, solange er bei offener Tür außerhalb des Türrahmens bedient wurde. Und fügsam jedem Eindringling, sobald alles am Platze war. Sie trauten ihren Sinnen nicht. Doch jedes neue Experiment verlief wie das voraufgegangene. Irgendeine Welle uralter Erinnerung durchspülte sie. Der Anfang des Denkens. Der magische Ablauf, der aus dem Dunkel des Raumes kam. Gesetze, die erst undeutlich waren und darum aufgehoben schienen. Metalle, wie Wachs knetbar, im Feuer geschmolzen und nicht erstarrt. Holz, biegsam wie Schilf. Körper, die keine Schwere haben und kein Gesicht. Schwimmende Steine. Magnetberge. Himmel, der über sich Erde wölbt. Die Umkehrungen der Sinne. Das große Reich des Unzuverlässigen.

Sie taumelten. Wrickten an der Tür, polterten. Das Mädchen begann zu weinen. Sie erklärte, nicht in der Kajüte bleiben zu wollen. Sie begann ihre Sachen auszuräumen. Er wollte noch ergründen, sich nicht preisgeben einer grundlosen Furcht. Er klammerte sich an die Grundregeln, das Verhalten der Materie betreffend. Aber am Ende stand er einem solchen gegenüber, mochte sein Hirn es fassen oder nicht. Sofern er seinen Augen, seinem Tasten traute. Zweifel an den sinnlichen Wahrnehmungen in diesem Augenblick Vorschub zu leisten, mußte an Selbstaufgabe grenzen. Also erklärte er, bis an eine bessere Erkenntnis, den alten Lionel Escott Macfie für verrückt. Oder wer es sein mochte. Suchte zur benachbarten Kajüte. Stellte die gleiche abwegige Konstruktion fest. Eine Narrenerfindung. Ein Betrug am Besteller des Schiffes. Eine Ungehörigkeit. Schäbige Irreführung. Angesichts des Tatbestandes die Kammer zu wechseln, töricht. Nichts Unwirksames tun. Man hatte sich bereits an die Umgebung gewöhnt. Es hieß jetzt, eine Einrichtung aus Kette oder Seil zu erfinden, mittels derer man die widerspenstige Tür sichern konnte.

Die Braut war jung genug, um entschuldigt zu sein, daß romantische Pläne Besitz von ihr ergriffen. Die Physik war ihr gleichgültig und der Wahnsinn des Lionel Escott Macfie auch. Aber die teuerste Stunde, die Süßigkeit vor dem Schmerz, war ihr entrissen worden. Sie fühlte schon den Strom von Tränen aufsteigen, den sie mit keiner guten Erinnerung würde verstopfen können. Sie hörte von außen her die letzten Vorbereitungen für die Abfahrt. Sie begriff plötzlich die Trostlosigkeit ihrer Lage. Möglicherweise ein Jahr lang von dem Geliebten getrennt zu sein. Sie lief hinaus, treppauf, treppab, suchte ihren Vater. Und fand ihn im Kartenhaus, an einem Tische sitzend. Sein Gesicht war sorgenvoll. Als er seine Tochter erblickte, lächelte er. Und er fragte sogleich:

»Wo ist Gustav?«

»Deshalb komme ich«, sagte sie einleitend.

»Habt ihr euch gezankt«, fragte er. Warum er diesen Satz, der die Parallele zu irgendeinem anderen Geschehen war, aussprach, begriff er nicht. Er fühlte indessen, es war ein kleiner Schutz gegen den unangenehmen Überfall, der bevorstand. Er wünschte, die Segel möchten gesetzt sein. Daß man den Fluß hinabtreibe. Auf offenem Meere vorm Winde liege.

»Nein«, sagte sie.

»Was hat es denn gegeben?« fragte er weiter. Sie brach in Tränen aus. Er wurde bestürzt, legte seine Arme um ihre Hüften.

»Erzähle«, sagte er.

Sie begann von der Tür zu sprechen. Er verstand nicht. Sie erklärte. Ihn überschlich es frostig.

»Was willst du?« fragte er. Seine Stimme zitterte. Der Überfall war schlimmer, als er gefürchtet hatte. Der Kapitän war ratlos. Es gab die Vereinfachung nicht, anzunehmen, die jungen Menschen müßten sich geirrt haben. Ungeschicklichkeit in technischen Dingen. Aufspringen, nachschauen und die natürliche Ordnung der Dinge wiederherstellen. Der Fall lag bösartiger. Also tat Waldemar Strunck nichts, wiederholte seine letzte Frage. Und die Tochter antwortete ihm: »Gustav soll mit auf die Reise kommen.«

Er sprang auf, sagte: »Unmöglich.«

»Warum?« fragte sie.

»Das ist nicht vorbereitet«, sagte er. Es war an der Zeit, sich an Ort und Stelle zu überzeugen. Er lief hinab. Sie eilte ihm nach. Der Verlobte war dabei, mit der Tür zu experimentieren.

Der Kapitän nahm die Klinke in die Hand und begann seinerseits die Untersuchung. Ein gräßliches Schweigen: Nach wenigen Minuten verkündete er, die beiden hätten recht. Es müsse ein Relais im Türrahmen eingebaut sein, das die Wirkung der Riegel aufhebe, sobald die Tür geschlossen. An den Wahnsinn des Schiffbauers konnte Waldemar Strunck nicht glauben. Er begriff indessen die Absicht der Anordnung nicht. Er war auf vielen Schiffen gefahren; etwas Ähnliches war ihm nirgendwo begegnet.

Er hantierte weiter. Da kam der Superkargo abermals heran. Waldemar Strunck schien es angebracht, mit ihm zu reden. Geheimnisse zwischen den Mitreisenden aufzuhäufen war unklug. Er beschrieb dem Hinzutretenden das ungesunde Wunder.

»Ach«, sagte der Superkargo, »gewiß nur eine Sicherheitsmaßnahme. Alle Türen sind bei drohender Gefahr von einer Zentrale aus zu öffnen. Und es ist vergessen worden, den Mechanismus abzuschalten.«

»Vor welcher Zentrale aus?« fragte der Kapitän.

»Ich werde mich mit dem Reeder besprechen«, sagte der Superkargo. Und entfernte sich.

Die drei blieben in ziemlich gedrückter Stimmung zurück. Waldemar Strunck machte sich klar, er ist Führer des Schiffes. Aber neben ihm gibt es etwas Verborgenes, das von Zeit zu Zeit das Kommando an sich nimmt. Um der lästigen Gedanken Herr zu werden, machte er sich wieder über die Tür.

Die Liebenden saßen auf dem Bettrand, eigentlich sehr unbeteiligt. Ihre Gefühle waren in die Wüste getrieben worden. Nachdem der Kapitän einige Zeit damit vertan hatte, das Erprobte immer wieder zu erproben, geschah es, daß die Riegel den von ihnen erwarteten Dienst taten und die Tür verschlossen.

Die drei begannen ein Gespräch, das abgebrochene Teile ihrer zitternden Gedanken wiedergab. Es pochte von außen gegen die Tür. Die Stimme des Superkargos ließ sich vernehmen: »Alles in Ordnung. Ein höchst sicheres Schiff.«

Als der Kapitän aufgeriegelt hatte und auf den Gang hinausschaute, war der Mann bereits verschwunden.

»Das ist alles sehr natürlich«, sagte Waldemar Strunck langsam, »ich werde mir die Zentrale zeigen lassen.« Er hatte etwas anderes gedacht, nämlich eine geheimnisvoll gekünstelte Anlage ist vorhanden, und ein schlauer Mensch wird sich bemühen, so wenig wie möglich von seinem Wissen preiszugeben. Ein schlimmer Tag.

»Vater«, sagte die Tochter, »es ist für jedermann zu erkennen, die Türen der Kammern sind durch eine vielleicht unverläßliche Person zu öffnen, ohne daß Nachschlüssel oder Brecheisen nötig wären. Möglicherweise bewirkt die Zentrale auch das Gegenteil, die Kabinenbewohner nach dem Willen jenes Unerkannten einzusperren.«

»Kind«, sagte Waldemar Strunck, »das ist abwegige Phantasie.«

»Mir scheint«, sagte der Verlobte, »man darf sich nicht mit den geringen Kenntnissen, die wir von dieser Sache haben, zufrieden geben.«

»Ich muß andeck«, sagte Waldemar Strunck, »das Schiff ist zum Ausfahren klar.«

»Ich werde nicht mitreisen, wenn Gustav das Schiff verläßt«, sagte die Tochter.

Waldemar Strunck, der sich der Bitte seiner Tochter schon halb entronnen gewähnt hatte, verfiel einer verzweifelten Stimmung. Er hatte keine Entgegnungen bereit. Selbst das Fundament der Moral war ihm abhanden gekommen, die eigene Überzeugung. So gab er hastige und oberflächliche Erwägungen zumbesten, die keinen anrührten. Man kann nicht mehr mit dem Reeder darüber verhandeln, nicht in der letzten Minute. Gustav hat sein Gepäck nicht vorbereitet, weder Hemden noch Anzüge. Er ist nur dahergelaufen. Unmöglich auf ihn zu warten. Vielleicht ist er nicht im Besitz eines Passes. Sich verstecken, als blinder Passagier sich bis an die Freiheit der Meere durchlügen, man kann es nicht einmal erwägen. Er, der Kapitän, kann solche Ratschläge nicht erteilen. Er müßte sich Vorwürfe machen, seine Pflichten verletzt zu haben. Auch Übereinkünfte allgemeiner Art muß er ins Feld führen. Man kennt den Begriff der Hochzeitsreise. Eine Verlobungsreise ist anrüchig. Er selbst will seine natürliche Meinung nicht klein machen am Urteil der anderen. Er will sich entgegenkommend zeigen. Aber das Gewebe aus Peinlichem, Gesetzwidrigem ist zu engmaschig; seine Großmut findet keinen Ausweg. Die schmerzliche Tatsache bleibt bestehen, die Liebenden müssen sich zum Abschied bequemen. Das Wiedersehen wird ihnen doppelt süß schmecken.

Statt einer Antwort zog Gustav seinen Paß hervor und hielt ihn vor die Augen Waldemar Struncks.

»Heimlich, als blinder Passagier«, sagte die Tochter, »ein großartiger Einfall.«

»Ich warne euch«, sagte der Kapitän.

»Was wird denn uns geschehen inmitten der Freiheit der Meere«, fragte die Tochter, »wirst du dem Superkargo nicht das eine oder andere erklären können? Trifft dich eine Schuld, wenn sich ein blinder Passagier anbord verbirgt?«

»Es gibt gesetzliche Bestimmungen«, sagte Waldemar Strunck.

»Wir werden ein Gerümpel ausfindig machen«, sagte die Tochter.

Sie hörten, die Schiffsglocke wurde geläutet.

»Ich kann nicht länger hier unten bleiben«, sagte der Kapitän, »tut, was ihr wollt. Ich darf es nicht wissen. Du mußt jetzt anland, Gustav!« Er eilte davon.

»Alles in Ordnung«, sagte die Braut, »wir müssen einen Unterschlupf suchen.«

Sie verließen die Kajüte, tasteten sich den Gang entlang, wo er ins Dunkle führte.

*

Als Waldemar Strunck andeck trat, läutete die Schiffsglocke zum zweitenmal. Der erste Steuermann sagte ihm ein paar Worte, die sich auf das Abfahrtsmanöver bezogen. Zwei kleine Schleppdampfer waren bereits hinten und vorne vertäut. Waldemar Strunck stieg auf die Kommandobrücke. Er versuchte, den Reeder zu Gesicht zu bekommen, um sich zu verabschieden. Man hatte ihm berichtet, jener war auf dem Kai gewesen, vor wenigen Augenblicken. Nun wußte man nicht, ob er sich über die Reling geschwungen hatte und anbord war, oder ob er in der nahen Kneipe verschwunden, um Punsch zu trinken. Es war ein Hin- und Herlaufen gewesen. Waldemar Strunck wartete, schaute auf die Uhr. Der Superkargo kam auf die Brücke.

»Haben Sie den Reeder gesehen«, fragte der Kapitän.

»Nein«, antwortete der Superkargo.

»Er wird doch das Schiff verlassen haben«, fragte Waldemar Strunck.

»Er besitzt eine Uhr und wird nicht den unfreiwilligen Passagier spielen wollen«, sagte der Superkargo.

»Vor wenigen Minuten ist er noch gesehen worden«, sagte Waldemar Strunck

»Er wird in seiner Kneipe sitzen und zwei Punschgläser zugleich leeren«, sagte der Superkargo, »er erträgt den Augenblick der Abfahrt nicht. Die erste große Reise seines schönen Schiffes. Männer werden weich und haltlos, wenn die Braut ein anderer entführt.«

»Das Schiff ist doch kein Weib«, sagte Waldemar Strunck, halb scherzend, halb gedrückt.

»Dies hier ist etwas Weibliches«, sagte der Superkargo, »etwas, an das man seine Liebe hängt.«

»Wir sind daran, auszufahren«, sagte Waldemar Strunck, »die Gedanken des Menschen pflegen erst nach Monaten Seefahrt mit solchen Bildern zu spielen, wenn er nach Land und Häusern lechzt.«

»Aber ich sehe auch ihren zukünftigen Schwiegersohn nicht, nicht die Tochter«, sagte der Superkargo.

»Meine Tochter«, stammelte Waldemar Strunck, »ich kann keine Auskunft geben. Sie haben sich voneinander verabschiedet. Das ist alles, was ich weiß.«

Im gleichen Augenblick erschien Ellena auf der Kommandobrücke. Ihrem Vater begann es leichter zu werden.

»Ist der Geliebte vonbord«, fragte der Superkargo.

»Ja«, antwortete das Mädchen, »wir haben uns ausgeweint. Jetzt trinkt er in der nahen Kneipe Punsch.«

»Er tut es dem Reeder gleich«, sagte der Superkargo. »Die Punsch trinkenden Geliebten. Sie werden einander wahrscheinlich um Mitternacht in den Armen liegen.«

»Möglich«, sagte das Mädchen.

»So ist alles klar«, sagte Waldemar Strunck. Sein Gesicht wurde hell. Er winkte, man solle zum drittenmal läuten. Die Taue nach dem Kai wurden losgeworfen. Die Schleppdampfer ließen ihre Maschinen an. Wenige Sekunden, und das Gleiten des Schiffskörpers begann. Die Zollbeamten machten Honneurs. Die Sonne senkte sich auf die Erde hinab, umgab sich mit dem Schmuck roter Wolken, verfärbte sich selbst zu goldenem Purpur. Grünlich der Schein der gewölbten Luft, hinter der bald die Sterne sich entzünden würden. Waldemar Strunck schlug sich gegen die Brust, atmete tief. Der Augenblick, den er seit Stunden brennend herbeigesehnt hatte, war da. Der Abstand zwischen Schiff und Gestade wuchs. Man würde in wenigen Stunden die Segel setzen, die Schleppdampfer hinter sich lassen. Er fragte sich: ›Was für ein Tag ist dieser gewesen?‹ Zum Leichtmatrosen am Steuer sagte er:

»Einen Strich mehr Backbord.«

»Einen Strich mehr Backbord«, wiederholte der Matrose.

IIGespräche der ersten vierundzwanzig Stunden

Die See stand mit gutem Geruch um das Schiff. Die Segel waren gesetzt. Man lag vorm Winde. Meer und Himmel waren schwarz. Die Lichter der großen Kuppel verbrannten flimmernd in den unendlichen Weiten. Ihr kalter Schein, der das Herz vernichtet oder erhebt, brachte das trügerische Wunder erbaulicher Gedanken. Millionen Menschen (und wer wüßte, ob es die Tiere nicht tun) blicken des Nachts auf mit den unbegreiflichen Augen und kehren in die vereinsamte oder bang hoffende Brust zurück, ihre eigene. Sie sehen sich auserwählt oder verworfen. Oder das Ferne ist so weit ab von ihnen, wie es vorgibt zu sein. Es bricht nicht durch den Qualm ihres gemarterten Blutes. Die Stürme überziehen mit Lärm den Dunst unserer Erde bei anderen Stunden. Jetzt war es der leuchtende Tau der Einsamkeiten, der hernieder rieselte.

Waldemar Strunck schaute auf die Uhr. Es war Mitternacht. Der erste Steuermann stand bereit, ihn auf der Brücke abzulösen.

»Gute Nacht«, sagte Waldemar Strunck und stieg die Treppe hinab.

An der Reling war eine dunkle Gestalt zu erkennen, der Superkargo.

»Sie schlafen noch nicht?« fragte Waldemar Strunck.

»Nein«, sagte der Superkargo, »ich höre, der Verlobte Ihrer Tochter ist auf dem Schiff.«

»Haben Sie ihn gesehen?« fragte Waldemar Strunck. Seine Stimme zitterte nicht. Und es war dunkel; so blieb das Flackern in seinem Gesicht geheim.

»Nein, gesehen habe ich ihn nicht«, sagte der Superkargo.

»Dann ist mir Ihre Mitteilung unverständlich«, sagte der Kapitän.

»Es ist, wie es ist«, sagte der Superkargo.

»Ich möchte mich schlafen legen«, sagte Waldemar Strunck, »wir können morgen weiter darüber reden.« Aber er ging nicht in seine Kammer. Er entfernte sich nur ein wenig, lehnte sich gegen die Wanten des Großmastes, schaute nach oben. Die Segel standen wie die Krone eines starken Baumes über ihm, blähten sich und sangen leise. Waldemar Strunck wollte den Menschen fragen, ihn anfallen, Rechenschaft zu geben, wie jener offenbar mit ihm vorhatte. Sie mußten außerhalb der Territorialgrenze sein, inmitten einer größeren Freiheit. Waldemar Strunck fühlte sich stark. Der leise zitternde Gesang der Segel begütigte ihn. Die Küste nahm ab. Gewiß war es ein Vorteil, nichts zu übereilen. So ließ er den Superkargo ungeschoren, ging unterdeck, pochte gegen die Kabinentür seiner Tochter. Die beiden jungen Leute standen da, erregt wie es schien.

»Der Superkargo hat dich bereits entdeckt«, sagte Waldemar Strunck.

»Man wird darüber kein Wort zu wechseln brauchen«, sagte Gustav, »er hat mich nicht gesehen. Er hat mich nicht entdecken können.«

»Er hat mir die Neuigkeit erzählt«, sagte Waldemar Strunck.

»Ich habe eine andere für dich. Es gibt noch einen zweiten blinden Passagier anbord.«

»An Überraschungen scheint kein Mangel zu sein«, sagte Waldemar Strunck. Er wurde plötzlich bleich. »Ich bin begierig, zu hören, wer es ist.«

»Der Reeder«, sagte Gustav.

Waldemar Strunck blieb eine unmittelbare Entgegnung schuldig.

Die drei schwiegen eine Weile. Dann hub der Kapitän an: »Du hast gesagt, der Reeder ist als blinder Passagier mitgefahren. Es gibt nur die eine Gewißheit, daß du dich irrst. Du hast ihn möglicherweise vor der Abfahrt gesehen. Vielleicht hast du in deinem Versteck geträumt.«