Liebe ist Quatsch - Hans Henny Jahnn - E-Book

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Hans Henny Jahnn

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Beschreibung

"Du bist einer meiner großen Schätze." Hans Henny Jahnn gehört zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und sicher auch zu den eigensinnigsten. 1926 heiratet er Ellinor Philips, eine Verbindung, die von tiefer Zuneigung getragen ist. Zeitweise treten andere Geliebte hinzu, doch die Nähe zueinander wird eine der wenigen Konstanten im turbulenten Leben der beiden. Durch die bislang unbekannten Briefe aus dem Nachlass kann diese ungewöhnliche Ehe erstmals in all ihren Facetten nachvollzogen werden. Für dieses Paar scheint fast alles möglich: symbiotische Nähe genauso wie extreme Distanz und Beziehung zu Dritten, tabulose Freizügigkeit genauso wie Treue und Fürsorge. In den vielen Jahren bis zu Jahnns Tod im November 1959 verkommt die Beziehung mit ihren Höhen und Tiefen niemals zum Zweckbündnis: Ellinor und Hans Henny Jahnn bleiben einander ungeheuer wichtig, in den wilden und krisengeschüttelten Spätzeit der Weimarer Republik, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, in der dänischen Emigration, den Wirren des Zweiten Weltkriegs und auch nach der gemeinsamen Rückkehr in die nordddeutsche Heimat.

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Hans Henny Jahnn

Liebe ist Quatsch

Briefe an Ellinor

Herausgegeben von Jan Bürger und Sandra Hiemer

Hoffmann und Campe

Liebesbeweis, Tagebuch, Beichte:

Hans Henny Jahnn und seine Briefe an Ellinor

Jupiter auf dem Bierfass

Korrespondenzen waren Hans Henny Jahnn wichtig. Tausende Briefe schickte er in die Welt, und von den meisten bewahrte er Kopien, Durchschläge oder Entwürfe über viele Jahre hinweg sorgfältig auf. Auch dies macht seinen Nachlass zu einem der bedeutendsten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Schriftlich tauschte sich Jahnn mit Berühmtheiten wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Gustaf Gründgens, Klaus Mann und Anna Seghers aus. Briefe waren das Hauptinstrument in seinem schier unermüdlichen Kampf um Anerkennung: Als Agent in eigener Sache lancierte er Orgelaufträge, Theateraufführungen und den Druck seiner Werke. Mit Briefen warb er für seine vielfältigen Ideen, er argumentierte, appellierte und predigte, und häufig erbettelte er sich mit ihnen das nötige Geld für die Umsetzung seiner nicht immer bescheidenen Pläne oder zur Bewältigung des Alltags. Schulden schreckten ihn selten. Zeitzeugen erinnerten sich an einen großen Nagel in der Wand von Jahnns Küche, auf den die unbezahlten Rechnungen einfach aufgespießt wurden. Besonders aufschlussreich allerdings sind Jahnns private Briefe – wobei es ihm auch gegenüber Kollegen und Geschäftspartnern so gut wie unmöglich war, seine öffentliche Rolle als Schriftsteller, Orgelbauer, Musikverleger und Akademiepräsident von persönlichen Angelegenheiten zu trennen. Denn im Grunde gehörten für ihn das Private, das Künstlerische, seine mitunter dilettantisch betriebenen Forschungen und das Politische zusammen: die Ausschweifungen seiner literarischen Figuren und die Suche nach dem vollkommenen Klang, die Harmonik und die Hormone, der Tierschutz und der Kampf gegen den »Atomtod« ebenso wie der Protest gegen eine verlogene Sexualmoral.

Stets wollte Jahnn alles gleichzeitig denken und alles zusammenbringen. Dieser universelle Ansatz und seine vehemente Kritik an der modernen »Auswahlgelehrsamkeit« haben sicher einiges dazu beigetragen, dass sich um seine Person in Hamburg wenig schmeichelhafte Legenden rankten. Am stärksten provozierten Jahnns vergleichsweise offenes Bekenntnis zur Homosexualität, seine fundamentale Ablehnung des Christentums, seine eigentümlichen und überaus fragwürdigen Hormonexperimente und sein Pazifismus. Zeitweise waren die Anekdoten über Jahnns vermeintlich so exzentrische Lebensweise, seine unkonventionellen Ansichten und öffentlichen Auftritte wesentlich bekannter als seine Werke. Die übelsten Unterstellungen wurden bezeichnenderweise Anfang 1933 in Umlauf gebracht. Damals wurde seine Wohnung zum ersten Mal von »Hilfspolizisten« durchsucht, woraufhin er Deutschland vorsichtshalber verließ.

Hubert Fichte hat Jahnn in dem Schlüsselroman Versuch über die Pubertät mit der Figur des Dichters und Sektengründers Werner Maria Pozzi ein abstoßendes und zugleich faszinierendes Abbild geschaffen, indem er die vielen Gerüchte, die in den fünfziger Jahren kursierten, zu einer Art Monstrum zusammensetzte. Charakteristisch ist die Schilderung einer Begegnung des jugendlichen Ich-Erzählers mit jenem Enfant terrible im Deutschen Schauspielhaus, die, wie Jahnns Briefe aus dem April 1949 belegen, bis in Details hinein einem realen Erlebnis folgt:

In der Pause winkt Pozzi mich mit einer weißen Hand an die Brüstung seiner Loge.

– Ist er nicht widerlich? zischle ich meiner Mutter zu, ehe ich in diesen Ablauf »Heranwinken«, »Musterung«, »Bescheidenes Abwarten« eintrete.

Ich hatte den fuchtelnden Mann in der Musischen Oberschule nicht widerlich gefunden. Aber als dann sein Name und seine Gerüchte im Sitzen neben ihm her zu laufen beginnen, glaube ich es meiner Mutter schuldig zu sein, zu zischeln:

– Ist er nicht widerlich?

Er fragt nach meinem Namen. Er stellt sich noch immer nicht vor. Er sagt:

– Ich habe dich gesucht. Dich. Dich habe ich gesucht. Denn du hast das Hormon, das ich brauche. Das heilt und bekräftigt. Das Omegahormon. Das Nebennierenrindenhormon. Ist das deine Mutter?

Beim Mäntelholen und beim Hinübergehen in den Hauptbahnhof äußern sich meine Mutter und Pozzi kontrovers zur modernen Dramatik.[1]

Bei aller Ambivalenz, bei allem Schwanken in der Beurteilung Pozzis bleibt Fichtes Roman letztlich doch vor allem eine Abrechnung mit seinem wichtigsten Lehrer, mit dem letzten großen »Beeinflusser« seiner Jugend.[2]1974, anderthalb Jahrzehnte nach Jahnns Tod, war das für ihn offenbar eine überfällige Form von literarischem Exorzismus, die in ihrer Schärfe auch einen gemeinsamen Freund wie den Juristen Herbert Jäger erschreckte. »Da ärgerte mich am Rande«, sagte Jäger viele Jahre später in einem Interview, »dass Hubert Fichte Dinge aus meiner Lebensgeschichte eingebaut hatte, aber mich ärgerte noch viel mehr seine Abrechnung mit Hans Henny Jahnn, die ich als vollkommen unfair empfand und als eine unangenehme Form der Auseinandersetzung mit einem Menschen, der schließlich eine große Rolle in seinem Leben spielte. Ohne Hans Henny Jahnn wäre Hubert Fichte vermutlich nicht Schriftsteller geworden. Das ist eine Hypothese, die ich nicht beweisen kann. Das hatte ich ihm ziemlich deutlich geschrieben und da gab es wieder eine gewisse Funkstille zwischen uns.«[3]

Fichtes Aggressivität lässt vermuten, dass die Nähe zu dem gut vierzig Jahre älteren Jahnn für ihn geradezu traumatische Folgen hatte. Das ist nicht unbedingt überraschend: Fast alle Berichte über Jahnn zeugen davon, wie sehr der persönliche Umgang mit ihm verunsichern und überfordern konnte, vor allem, weil für ihn die meisten gesellschaftlichen Übereinkünfte kaum eine Rolle zu spielen schienen und er seine eigenen Maßstäbe auf fast beispiellose Weise absolut setzte. Auch Peter Rühmkorf hat mehrfach über die Irritation berichtet, die der erste Kontakt mit seinem späteren »Idol« bei ihm hinterließ, und hierzu habe nicht allein der »während des Gespräches kredenzte Stutenurin« beigetragen. Rühmkorfs Verunsicherung habe sich erst aufgelöst, als der Kontakt zu Jahnn ein paar Jahre später kollegial und sachlicher wurde. »So war er gelegentlich Gast in unserem Jazz- und Literaturkeller ›Anarche‹ und schaute sich das jugendliche Treiben jupiterhaft von einem Bierfaß aus an«, erinnerte sich Rühmkorf 1995.[4]

Jahnns spezifisches Amalgam aus genialem Eigensinn, übertriebenem Geltungsbedürfnis und ansteckendem Enthusiasmus wurde manchmal sogar für diejenigen zum Problem, die fast alles mit ihm teilten, so wie sein früh verstorbener Jugendfreund und Partner Gottlieb Friedrich Harms. Nicht anders erging es Ellinor Jahnn, die den beiden Freunden Ende 1919 erstmals begegnete, kurze Zeit später zu ihnen in die Lüneburger Heide zog und Jahnn am 16. November 1926 offiziell heiratete. Ihr Mann könne überhaupt nicht für sich selbst sprechen, schrieb sie dem Verleger Willi Weismann 1949, der die erste Ausgabe von Fluß ohne Ufer herausbrachte, über eine der Hauptschwierigkeiten im Umgang mit Jahnn. Wo er erscheine, wirke »er viel zu pompös«, und das sogar dann noch, wenn er am Hungertuch nage und von »Schulden oder Almosen« existiere.[5]

Quer und queer

»Jahnn berührt uns – und er berührt uns peinlich«, hat Adolf Muschg 1994 in seiner Rede auf Jahnns 100. Geburtstag festgestellt.[6] Grundsätzlich ging das Zeitgenossen offenbar nicht anders als nachgeborenen Lesern. Besonders peinlich kann Jahnn ohne Frage in seinen intimsten und schutzlosesten Botschaften wirken: in den Briefen an jene Frau, die ihm vier Jahrzehnte lang verbunden blieb, an die Mutter seines einzigen Kindes. Was aber macht diese Peinlichkeit aus?

»Unerschrocken war er nur im Beschreiben dessen, was er sich wünschte, ohne es zu erreichen«, konstatierte der lange mit Jahnn befreundete Schriftsteller Werner Helwig nicht ohne Verbitterung.[7] Entsprechend wenig hat Jahnns Peinlichkeit mit Schamlosigkeit oder bewussten Tabubrüchen zu tun. Vielmehr scheint sie darauf zu beruhen, dass er in seinen Werken und Briefen »Kugelblasen des Unterbewußten« aufsteigen lässt, wie er es selbst 1929 angesichts der Romane von James Joyce und Alfred Döblin formuliert hat.[8] Hartnäckig bringt er Verschüttetes und Verdrängtes zur Sprache, dem wir ansonsten allenfalls in Träumen oder bei Grenzerfahrungen begegnen. Damit verbunden ist sein Versuch, sich von den meisten Vorstellungen loszusagen, auf die sich die westlichen Gesellschaften stützen, allen voran vom Fetisch der Zweckrationalität. Stattdessen macht er mit seiner Forderung nach »Freiheit des Denkens und Fühlens« radikal ernst, zumindest in seinen Werken.

Jahnn fasziniert, berührt und verstört, indem er den eigenen Gefühlen und Intuitionen stärker vertraut als den Erkenntnissen und Gewohnheiten vorangegangener Generationen. Dabei nimmt er bewusst in Kauf, sich durch seine »Querstellung zur Umwelt« gelegentlich lächerlich zu machen.[9] In seinen Augen hat er ja auch gar keine andere Wahl gehabt: Die ihm eigene Radikalität und Kompromisslosigkeit begründet sich schließlich dadurch, dass ihm sehr früh bewusst wurde, nicht anders als queer leben zu können, im positiven Sinne verstanden. Bereits als Zwanzigjährige verteidigten er und Gottlieb Harms ihren homosexuellen Lebensbund erfolgreich gegen die Angriffe der Eltern, Geschwister und Schulkameraden. Gleichsam im Windschatten des Ersten Weltkriegs wurde das Paar wenig später ernsthaft auf die Probe gestellt: Zu zweit widersetzten sich Jahnn und Harms dem deutschen Hurra-Patriotismus, um 1915 nach Norwegen zu entkommen und dort als Autodidakten die entscheidende Phase ihrer intellektuellen Entwicklung zu erleben.

So wie viele andere Künstler und Intellektuelle nutzten sie die allgemeine Verunsicherung nach dem Krieg zur Erprobung neuer Lebensformen. Ihre Reaktion auf die erodierte kaiserliche Ordnung war die Gründung der weltlichen Glaubensgemeinde Ugrino, einer im Kern homo- oder genauer gesagt omnierotischen Sekte, die der Vision folgte, das Diesseits in weltlichen Tempeln und durch Kunstwerke zu feiern, allen voran mit der Musik barocker Meister wie Vincent Lübeck, Samuel Scheidt und Dieterich Buxtehude, deren Werke in der hierfür eigens gegründeten Verlagsabteilung neu herausgegeben wurden.

Weihnachten 1919 in Eckel bei Harburg. V.l. Heiner Hoppen, Franz Buse, Hans Henny Jahnn, Senta Arlt, unbekannt, Gottlieb Harms, Ellinor Philips

© Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlass Hans Henny Jahnn

In Eckel in der Lüneburger Heide bildeten Jahnn und Harms zusammen mit dem jungen Bildhauer Franz Buse für kurze Zeit den Mittelpunkt eines esoterischen Kreises, bis der intime Dreierbund auf unvorhergesehene Weise auseinanderfiel. Der Auslöser war Buses Liebesverhältnis zu Senta Arlt, das die Eckeler Künstlergemeinschaft in ihren Grundsätzen erschütterte. Ende 1919, als die Konflikte überhand zu nehmen drohten, beschloss Jahnn, eine Freundin Senta Arlts um Hilfe zu bitten. Daher begab er sich eines Tages nach Hamburg und besuchte die ihm unbekannte Eleonore Helene – »Ellinor« – Philips. Nun passierte das Überraschende: Sentas Freundin machte auf Jahnn, wie er sich später erinnerte, »sofort einen außerordentlichen Eindruck, wie noch nie eine Frau«. Es sei »Liebe auf den ersten Blick« gewesen.[10] Wer war diese Frau?

Ellinor Philips wurde am 16. Juni 1893 geboren. Als sie dem anderthalb Jahre jüngeren Jahnn erstmals begegnete, war sie 26 Jahre alt, arbeitete als Gymnastiklehrerin und lebte zusammen mit ihrer Schwester Marie-Luise (»Mieze«) bei ihrer Mutter, der Lehrerin Maria Anna Philips, in der Hamburger Rothenbaumchaussee. Nach außen hin bemühte sich Ellinors Mutter, einen bürgerlichen Schein zu wahren, denn in der Tat war ihre Lebensführung seit Jahrzehnten alles andere als gewöhnlich. Von ihrem Mann, dem Altphilologen, Übersetzer und Schriftsteller Carlo Philips hatte sie sich getrennt, als Ellinor, ihre Schwester und deren unehelicher Halbbruder Hans noch Kinder waren. Nach der Scheidung begann sie ein Philologiestudium, und von 1909 bis 1932 arbeitete sie als Studienrätin am Hamburger Paulsenstift.

Carlo Philips stammte aus einer wohlhabenden niederländisch-jüdischen Kaufmannsfamilie, wodurch ihm zeitweise ein finanziell unabhängiges Leben an verschiedenen Wohnorten möglich war. Zur Zeit von Ellinors Geburt pflegte er Kontakte zu den Zirkeln um die Dichter Alexander von Bernus und Karl Wolfskehl, unter seinen Freunden galt er als »eigentümliche Mischung zwischen Lehrer und Faun«.[11]

Für die kleine Ellinor begannen mit der Scheidung ihrer Eltern unstete Jahre, deren Folge eine lückenhafte Schulbildung war, worunter sie ihr Leben lang litt. Mal war sie bei der berufstätigen Mutter, mal beim Vater, der 1906 zum zweiten Mal heiratete. Noch vor dem Ersten Weltkrieg absolvierte sie in Hamburg zunächst eine Ausbildung als Kindergärtnerin und dann als Turnlehrerin. Anschließend unterrichtete sie aushilfsweise an einer Volksschule, nebenher nahm sie Gymnastikunterricht und beschäftigte sich intensiv mit Tanz.

Eigenen Aussagen zufolge hatte sie von ihrem Vater nicht nur die in jeder Hinsicht freizügige Lebensweise übernommen, sondern auch ein ausgeprägtes künstlerisches Interesse. Dies scheint sie gewissermaßen auf ihre Verbindung mit Jahnn und Harms vorbereitet zu haben, zu denen sie Weihnachten 1920 zog. Aus den wenigen überlieferten Briefen, die sie bis 1926 mit den Freunden wechselte, spricht eine tiefe Zuneigung, die alle drei füreinander empfanden. Gelegentliche Seitensprünge scheinen diese geradezu idealtypische Ménage-à-trois kaum belastet zu haben.

Ellinor war die erste Frau, die für die Freunde eine ernsthafte Rolle spielte. Noch 1954 betonte Jahnn Herbert Jäger gegenüber, es werde viel zu oft vergessen, dass er »Ellinor nicht nur abgöttisch geliebt habe«, sondern dass er sie auch unverändert liebe, »freilich mit Übersetzungen, die mit der Länge der Zeit gekommen« seien.[12]

In die zweite Frau, die auf die Gemeinschaft der Freunde einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübte, verliebte sich Harms kurz nach Jahnns Hochzeit. Es war Ellinors jüngere Halbschwester Sibylle – »Monna« – Philips. Die beiden heirateten im Juli 1928 und zogen mit dem Ehepaar Jahnn zusammen in eine Dreizimmerwohnung nach Hamburg-Winterhude. 1929 kamen die Kinder Signe Jahnn und Eduard Harms zur Welt.

Ellinor Philips, um 1925

© Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlass Hans Henny Jahnn

Hans Henny Jahnn, um 1925 (Foto: Franz Rompel)

© Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlass Hans Henny Jahnn

Über alle Grenzen

Aus der Ehe zu dritt war eine avantgardistische Großfamilie geworden, deren Existenz durch Harms’ frühen Tod am 24. Februar 1931 jedoch schon bald schwer belastet wurde. Wenigstens gelang es Jahnn zur gleichen Zeit, sich beruflich als Schriftsteller und Amtlicher Orgelsachberater der Stadt Hamburg einigermaßen zu etablieren. Doch auch dies galt nur bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Bereits zu Beginn des Schicksalsjahres 1933 zweifelten alle Beteiligten kaum noch daran, dass das gemeinsame Leben aus politischen Gründen außerhalb Deutschlands auf eine neue Grundlage gestellt werden müsste. Die Schweiz, in der sich Hans Henny und Ellinor Jahnn vorübergehend als Gäste des Literaturwissenschaftlers Walter Muschg und seiner wohlhabenden Frau Elli aufhielten, schien ihnen keine Alternative. Diese fanden sie hingegen auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm mit dem Hof Bondegaard, zu dem später das Häuschen Granly hinzugekauft wurde. Hier, fernab der politischen Schauplätze, verbrachte die Familie die unruhigen Zeiten von 1934 bis 1950.

Die junge Witwe Monna Harms scherte allerdings schon 1939 aus der ländlichen Gemeinschaft aus und zog zusammen mit ihrem Sohn Eduard in die Schweiz, um dort ein zweites Mal zu heiraten. Jahnn hatte unterdessen eine Liaison mit der ungarischen Fotografin Judit Kárász begonnen, die er über den Ugrino-Lektor Hilmar Trede und die mit diesem befreundete Familie Weissenfels in Göttingen kennengelernt hatte. Im Juli 1935 brachte Jahnn seine Geliebte mit nach Bondegaard, nicht zuletzt, weil sie in Deutschland als Jüdin und Kommunistin zunehmend gefährdet war, und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg lebte auch sie überwiegend auf Bornholm.

Trotz massiver Auseinandersetzungen änderte die Beziehung zu Judit Kárász letztlich ebenso wenig daran, dass Ellinor und Signe die wesentlichen Konstanten in Jahnns Privatleben blieben, wie die erschütternde, von Jahnn absolut gesetzte und bei vielen Anstoß erregende Liebe zu seinem 1933 geborenen Patenkind und postumen Schwiegersohn Yngve Jan Trede. Dies wird vor allem dadurch deutlich, dass er niemandem so viele und so intime Briefe geschrieben hat wie seiner Frau. Nur Ellinor habe ihm über die Jahrzehnte hinweg »inneren Halt gegeben«, gestand er Signe 1952 nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch.[13] Mit ihr zusammen durchlebte er alle Höhen und Tiefen – wobei die Tiefen wohl überwogen.

Insbesondere ökonomisch war die Situation der Familie fast immer prekär. Dabei begann alles in den zwanziger Jahren mit dem scheinbar unerschütterlichen Vertrauen auf ihren als schicksalhaft empfundenen Liebesbund, den Jahnn in seinem Brief vom 7. Januar 1927 mit Hilfe von drei ineinander liegenden Kreisen veranschaulicht. Er betont dabei, dass jeder dieser Kreise gleich viel bedeute und gleich viel Einfluss auf die anderen beiden ausübe. Dass diese Gleichberechtigung zwischen den drei Partnern jemals mehr war als ein hehrer Wunsch, kann allerdings bezweifelt werden. Während sich Harms und Ellinor vor allem in erotischer Hinsicht selbst verwirklichten, bis hin zu Affären mit Jugendfreunden wie Ernst Eggers, stellten sie sich im Beruflichen weitgehend in den Dienst von Jahnns künstlerischen Arbeiten. Bei Ellinor führte Jahnns Dominanz langfristig zu jenen Minderwertigkeitskomplexen, die sie in ihren wenigen Selbstauskünften fast immer erwähnte, und Harms könnte das in den letzten Jahren vor seinem Tod ähnlich gegangen sein.

Doch so deutliche Schattenseiten Jahnns Patriarchat auf die Dauer auch gehabt haben mag, wirklich in Frage stellten alle drei ihre Verbindung offenbar nie, ja, sie hatten sich sogar fest vorgenommen, sie über die Grenze des Todes hinaus zu verlängern. Unter ihrer äußerlich schlichten gemeinsamen Grabstelle auf dem Friedhof in Hamburg-Nienstedten findet sich eine aufwendig nach den Grundsätzen der Glaubensgemeinde Ugrino gemauerte Gruft. Gottlieb Harms liegt dort seit 1931. 1959 kam Hans Henny Jahnn hinzu. 1970 wurde Ellinor Jahnn an ihre Seite gebettet. Der vierte Platz war für Sibylle Harms vorgesehen, die dann aber 1994 in der Schweiz beigesetzt wurde. Eine längere Inschrift trägt nur die Grabplatte von Harms. Sie wurde von Ellinor ausgesucht. Es handelt sich um das Motto von Jahnns Drama Armut, Reichtum, Mensch und Tier: »Allmählich ist die Liebe unser Eigentum geworden«.

Wollten Sibylle Harms, Ellinor und Hans Henny Jahnn durch diese Inschrift, mit diesem Rätselwort eine Zusammengehörigkeit beschwören, an der sie viel häufiger zweifelten, als sie sich selbst eingestehen konnten? Nicht zuletzt zeigen die Briefe aller drei deutlich, dass sie keinesfalls blindlings in das hineingeraten waren, was Jahnn gern als Abtrünnigkeit umschrieb: Sie hatten sich bewusst für dieses andere Dasein, diese anderen Grundsätze entschieden.

Aus finanziellen Gründen konnte Harms’ letzte Ruhestätte erst im Juni 1934 mit der gewünschten Grabplatte versehen werden, in einer Zeit größter politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit. Nie zuvor war die Zukunft der Familie so ungewiss wie damals. In dieser Situation veränderten auch Jahnns Briefe an Ellinor ihre Funktion. Aus den einstigen Liebesbeteuerungen waren Reiseberichte geworden. Fast immer gab Jahnn in ihnen Auskunft über seine fortwährend als bedroht empfundene Lage. Hinzu kam der dringend erforderliche Austausch über alltägliche, zum Teil aber auch existentiell bedeutende Erledigungen.

Dies sollte sich in den folgenden zehn Jahren kaum ändern. Erst mit Jahnns erster Deutschlandreise nach dem Zweiten Weltkrieg im November 1946 gewannen die Briefe an seine Frau eine neue Bedeutung: Von nun an dienten sie ihm, wie er selbst einmal zugab, als Ersatz für ein Tagebuch. Nicht selten wirken sie nun wie die Fortschreibung des literarischen Werkes mit anderen Mitteln. Unübersehbar sind sie auch das Symptom einer lang anhaltenden inneren Blockade, die Hubert Fichtes Pozzi mit seinem realen Vorbild teilt: »Er leitet nicht mehr aus der Wirklichkeit Romane ab, sondern er versucht seine Romanideen in Wirklichkeit umzusetzen.«[14]

So kann man es auch umschreiben, dass Jahnn in den Wirren der Nachkriegszeit, in den Trümmer- und Hungerjahren offensichtlich die Konzentrationsfähigkeit fehlte, um seine gewaltige Trilogie Fluß ohne Ufer abzuschließen oder sich mit umfangreichen Abhandlungen zu Wort zu melden. Sozusagen als Ersatzhandlung wurden wenigstens seine Briefe immer essayistischer und erzählender. Unter der Hand entwickelten sie sich zum schriftstellerischen Hauptwerk der späten Jahre. Ihre Flüchtigkeit erlaubte es Jahnn, scheinbar weit voneinander entfernte Themen gedanklich und assoziativ miteinander zu verknüpfen. Zuweilen schlug er auch einen Ton der Verkündigung an, der an seine Zeit als Haupt der Glaubensgemeinde Ugrino erinnerte.

Meist aber begegnet uns in ihnen ein Autor, der sich kaum in Einklang bringen lässt mit jenen Gerüchten, die allzu lange über ihn verbreitet wurden. In seiner Verletzlichkeit, Melancholie und Empfindsamkeit wirkt er oft geradezu bloßgestellt. In solchen Momenten erweisen sich Jahnns Hinwendungen an Ellinor als eine ganz und gar weltliche Form der Beichte. Im Schutz dieser Ehe wurden sie zum befreienden Geständnis und zum Beweis, dass er seiner Frau und nur ihr ohne Wenn und Aber vertrauen konnte. Dass sich ihre Wege im Laufe der Jahre nicht selten trennten und es Zeiten gab, in denen sich Ellinor Zimmer mietete, weil sie die Nähe zueinander nicht mehr aushalten konnten, änderte daran letztlich wenig. Eher das Gegenteil scheint der Fall: Vielleicht festigten all jene Krisen die Gemeinschaft der beiden sogar.

Jan Bürger, im Juli 2014

Briefe

Gottlieb Harms. Selbstporträt. 1925. Bleistift auf Papier. 28,4 × 22 cm

Während des Aufenthaltes von Ellinor Philips und Gottlieb Harms in Italien von Juni bis September 1925 entstand eine umfangreiche Serie von Akt- und Porträtskizzen.

© Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlass Hans Henny Jahnn

Gottlieb Harms. Ellinor. 1925. Bleistift auf Papier. 24 × 15 cm

© Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlass Hans Henny Jahnn

1.Aus Köln nach St. Peter an der Nordsee

7. Januar 1927.[15]

Liebe Ellinor –

Dies sind drei Kreise, die in einer Ebene ineinander liegen. Das flüchtige Auge würde meinen, daß der äußere größte Kreis das Schicksal am tiefsten beeinflußt. Aber es ist ein Irrtum, die inneren haben genau den gleichen Teil an jeder Bewegung im Raum. Beharren sie oder nehmen eine Richtung, so muß der größte folgen. Ihr größter Abstand ist der, wenn sie harmonisch ineinander lagern, ihre größte Nähe, wenn sie sich berühren. Du kannst Dir denken, welcher Kreis der Deine ist, wenn zweie Dich berühren können.

Ich habe es sehr gut mit Friedel zusammen gehabt.[16] Er hat mir erzählt, daß Du bei seiner Abreise geweint, daß Du aber das Weinen überwunden.[17] Wir haben gestern Nacht über Dich gesprochen. Wenn es auch verschwiegen sein soll, manchmal dürfen wir es sagen, daß wir Dich so über alles Maß lieben, und daß Du so wunderbar wie eine echte Prinzessin, daß Du uns immer wieder beschämst durch Deinen Adel, und daß wir nur vor Dir bestehen mit unnennbarer Liebe. Plötzlich bin ich in Köln. Ich freue mich, einiges hier sehen zu können. Der Zweck meiner Reise ist das Verhandeln über den Bau der Orgel in der Karthäuserkirche.[18]

Also Rothenbaumchaussée 137 werde ich nicht wohnen können.[19] Es ist wohl sehr gut, daß Deine Mutter so entschieden hat – für mich und Dich. Die Hauptgründe, weshalb sie den Einzug nicht gestatten wollte – meine erste Tat der Schicklichkeit – waren – mein litherarischer Tee der Zukunft und Deine Sucht, die scheußliche Lampe aus dem großen Zimmer zu entfernen. Wie gut, daß es soweit, daß auch an mir Anstoß zu nehmen ist! – Übrigens ist Deine Mutter im höchsten Grade nervös. Also schweig! Sie würde an uns zugrunde gehen.

Friedel wird in eine Pension ziehen. Ich werde eine Wohnung mieten für Dich oder mich; es ist ja gleichgültig, bei wem der Tee stattfindet.

Du bitte, bleib noch einige Wochen in St. Peter. Deine Gesundheit brauchen wir, da nun doch manches zwischen uns dreien klar geworden ist.

Morgen wird der eigentliche Kölner Brief folgen.[20]

Dein

Henny

Handschrift, ein Blatt, beidseitig beschriftet

2.Aus Hamburg nach St. Peter an der Nordsee

Hamburg D. 12./I 27.

Liebe Ellinor –

100.– Mark wirst Du inzwischen erhalten haben. Morgen sende ich Schokolade, Likör, Zigaretten, Cutex[21], allerdings nur in bescheidenem Maße. Trinke den Likör mit Maßen, aber trinke, wenn Deine Gedanken trübe sind.

Wir zwei lieben Dich so sehr. Das ist alles, was wir Dir schenken können; aber wir mühen uns, es Dir besser zu schaffen als es bisher gewesen ist. Heute habe ich mir eine sehr schöne Wohnung angesehen, die ich mieten werde, wenn nicht jemand anders sie mir wegschnappt.

Friedels Rechnung bei Dr. Felten ist bezahlt.[22] Hoffentlich greift das Klima dort nicht Deine Nerven zu sehr an; hoffentlich auch hilft es Deiner Krankheit soweit, daß Du fühlst, ihrer Herr zu werden.[23]

Du mußt Dich nicht bedrückt fühlen, wenn Du uns schreibst, wie schwankend Deine Empfindungen zuweilen! – Wir wissen doch, daß Du zehntausend Proben bestanden hast und nichts in Dir gefunden wird, um dessentwillen Du fortlaufen müßtest. Behutsam mit Dir sein müssen wir. Das ist wenig genug für das Glück, das darin liegt, daß Du uns zugetan.

Nimm diese Zeilen nicht mit Beschämung. Ich meine sie ganz kühl und leidenschaftslos als eine schöne Tatsache. Vielleicht magst Du mir schreiben?

Immerhin wissen wir nicht, wie es Dir im Geistigen ergeht. Wir möchten nicht beruhigt sein, nur bereit, Dir zu helfen.

Herzlich

Henny

Handschrift, ein Blatt, beidseitig beschriftet

3.Aus Lübeck nach Blankenese

28. Juli [19]32[24]

Liebe Ellinor,

Du sagtest mir am Bahnsteig, daß ich keine Würde besitze. Während der Fahrt nach Lübeck hat mich der Ausspruch bewegt. Und auch das, was ihm zugrunde liegt. Du hast vollkommen recht. Ich besitze keine natürliche Würde mehr, nur noch eine gesellschaftliche. Du kannst mich deswegen tadeln. Aber sie wird mir damit nicht zuteil. Wäre unser Telefon nicht gesperrt, ich würde ein Gespräch nach Hause anmelden. So schreibe ich denn, mit der Gewißheit, daß ich Dir nichts erklären kann. Es ist mir vollkommen unfaßbar, warum ich bei Abfahrt aus Blankenese in den Wartesaal hineinschauen mußte. Ich hatte dort nichts zu suchen. Ich wollte nich[ts] G[e]nießen. Nichts trinken. Ich hatte nicht einmal Zeit, denn mein Zug fuhr in 2 Minuten. Dennoch irrte ich hinein und fand Ernst.[25] Ich weiß, daß das ein Zufall ist. Ich weiß, daß er Monna und die Kinder[26] sehen wollte, und daß es nur natürlich war, daß er einmal kam. Aber mich faßte im gleichen Augenblick ein solch abgrundtiefes Gefühl des Unglücks, das ich mit Eifersucht nicht mehr erklären kann: Denn ich fange an, nicht mehr eifersüchtig zu sein. Ich beginne mich mit meinen Trieben einzurichten. Und die Kinder sind für mich so etwas wie ein objektiver Glücksbestand. Ich weiß, wie auch immer die Umstände gewesen sein mögen, daß Signe ein Kind von Dir und mir ist, und daß sie etwas Herausgehobenes ist. Ein Wesen zu größerem Glück oder Erleiden bestimmt als wir es sind. Zudem sah Ernst schlecht aus. Bestimmt schlechter als ich. Ich empfand nichts von Nebenbuhlerschaft. Ich empfand nur den Mangel an Harmonie, der zwischen uns ist. Diese Schluchten. Dies Schweigen. Diese Triebe, die nicht zusammengehen. Es bedurfte einer gewissen Zeit, ehe mein Gemüt sich wieder glättete. Diese Zeit war noch nicht verstrichen, als ich Dich traf. Ich reagierte noch. Das ist alles. Das hätte nicht sein brauchen. Aber es war. Ich bin nur noch ein arbeitsunfähiges Nervenbündel. Also ich fahre heute abend nicht nach Hamburg. Ich trinke ein paar Gläser Wein. Ich denke an Dich im Guten. Ich wollte nur klar stellen, daß nichts vorliegt, garnichts. Außer dieser etwas peinliche Morgen auf diesem Hintergrund. Und daß Wolken über meinem Hirn sind, wenn ich nachhause denke. Ich finde den Kontakt nicht. Dies in einem Brief wiegt schwerer als es gemeint ist. So lasse ich’s denn genug sein. Wegen des Orgelvor[trags br]auchst[27] Du nichts mehr zu unternehmen. Ich habe mit Herrn Pichert gesprochen.[28] Er ist bereit, den Teil zu übernehmen. Das ist in mehr als in einer Beziehung gut. Teile dies auch bitte sofort Wenzel mit, damit er es weiter an das Stadtarchiv berichtet.[29]

Sei bitte nicht böse. Grüße Monna + die Kinder.

Dein Henny

Handschrift, ein Blatt, beidseitig beschriftet

4.Aus Basel nach Blankenese

Basel

19./ XI. 32

Liebe Ellinor,

im Ganzen läßt sich diese Reise erträglicher an als die nach dem Norden.[30] Ich meine das persönliche. Die Narben am Kopf schließen sich, sind weniger lästig. Nur der [Fuß][31] ist unentwegt schlimm.

Dr. Walcker war aufgeräumt. Wenzelskirche in Naumburg wird bereits in Arbeit genommen.[32] Die notwendigen Zeichnungen kommen bald in unsere Hände.

Herr Orgelbaumeister Haerpffer hat sich für meine Pläne entschieden.[33] Leider ist das Projekt nicht so arg groß. Die alte Orgel von Cavaillée-Coll soll ganz wiederverwendet werden. Nur erhalten seine Laden pneum. Balanziers Jahnn. Übrigen[s] klingen seine Pfeifen mild, sehr leise. Die Rohrwerke mittelmäßig. Unsere sind besser. Übrigens ist die Schalmei über alles Lob erhaben. Ein neues Rohrwerk mit vielen Tugenden. Milder als die Trompete, blasender als Regal. Im akkordischen Spiel von fast mystischer Verschränkung. Ich bin also in Metz gewesen. In Boulay habe ich übernachtet. So weit man blickt, Festungen im Bau, 60 m tief in die Erde hinein. Meine französische Aussprache erweckt Bewunderung. Die Kathedrale in Metz ein fast ungeheuerlicher Bau. Ganz Gotisch (ich hatte ihn aus der Entfernung mit dem Dom zu Trier verwechselt). Kaum noch Masse, nur buntes Glas und dieser merkwürdige pierre de chaumont, der nicht verwittert. Das Dach des Chores ist flach aus Stei[np]latten. Es regnet seit 600 Jahren nicht durch! In der Triforiumsetage bin ich um die Kirche herumgegangen, 20 m über dem Fußboden. Ich bin noch immer nicht schwindelfrei und hatte Mühe, die Schwalbennestorgel zu untersuchen. Mich in solcher Höhe freischwebend noch ein paar Meter hinaufzuwuchten.

Ich soll für meine Arbeit 6000. fr., dazu Reiseunkosten erhalten. Dies gilt allerdings erst, wenn die Denkmalskommission die Pläne gebilligt hat.[34]

Gestern abend bin ich noch nach Basel gefahren. In [einer] ½ Stunde geht mein Zug nach Luzern. Bitte, schreibt mir nach Verscio.

Viele Grüße an Monna und die Kinder.

Grüße auch an Wenzel.

Dein

Henny

Handschrift, ein Faltblatt, beidseitig beschriftet

5.Aus Verscio nach Blankenese

Verscio, den 27. XI. 32

Liebe Ellinor,

es war gewiß nicht richtig, den letzten Brief an Euch abzusenden, weil Ihr unter den Eindruck geraten konntet, es wäre in gleicher Anspannung für mich hier weitergegangen.[35] Aber das ist nicht der Fall. Carlo öffnete mir sehr bald seine herzlichsten Seiten und zeigte unverhohlen seine Bewunderung.[36]Elsa, die vielleicht gewünscht hätte, an mir etwas auszusetzen zu finden, fand nichts und geriet deshalb in ihren besten Zustand. Ich habe neben den für mich schweren Gesprächen mit Carlo auch sehr gute gehabt, an denen ich gelernt habe. Und etwas zu lernen, ist für mich das Bekömmlichste. Vielleicht erklärbar wird seine mit-der-Tür-ins-Haus-fallmethode aus dem Umstand, daß er eine entsetzliche Angst vor mir gehabt hat. Und nun aus allen Wolken gefallen scheint, daß ich der umgänglichste Mensch von der Welt. Dabei klug. Sogar schlagfertig[37]. Erfinder genauer Formulierungen. Offenbar tut ihm mein Besuch gut. Er lebt auf. Und seine Töchter erscheinen ihm in einem anderen Licht, daß sie einen solchen Menschen zu binden vermögen. Genug davon. Ich erhole mich hier, meinem eigenen Gefühl nach. Ich tue nichts mehr. Meine Sendung, betreffs A.[us]- L.[ands]-St.[euer] ist hoffentlich angekommen. Ich bitte um sorgfältige und selbstständige Erledigung. Nach Wien möchte ich nicht fahren. Es ist unmöglich, daß ich dabei ein Geschäft mache. Die Umwegreise ist sehr groß, noch dazu auf der teuersten Bahn Europas. Und nur, um zu lesen. Um im Pen-Club herumgereicht zu werden? Lieber bleibe ich hier ein paar Tage länger. Das kostet zwar auch etwas, da, wegen der geringen Mittel hier, ich Elsa ein Kostgeld bezahle. Aber Erholung war für mich im Augenblick notwendiger als die erfolgreichste Arbeit. Wenn ich zurück bin, beginnt sowieso für mich ein schweres Tempo.

Herzlich Dein Henny.

Laßt doch einmal die Bilder im Filmpack entwickeln. Und knipst die Kinder. Und sendet ein paar Abzüge.

H.

Handschrift, ein Blatt, beidseitig beschriftet

Carlo Philips in Verscio, um 1932

© Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlass Hans Henny Jahnn

Carlo Philips in Verscio, Mitte der dreißiger Jahre

© Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlass Hans Henny Jahnn

6.Aus Verscio nach Blankenese

Verscio 28.XI.32

Liebe Ellinor, soeben kam Dein Brief vom Sonntag.[38] Obgleich ich vor wenigen Stunden ein paar Zeilen für Dich auf die Post gegeben habe, möchte ich Dir gleich antworten. Ich bin Carlo gegenüber zurückhaltend. Und aus meinem voraufgehenden Bericht kannst Du erkennen, daß eine wohltuende Luft um mich ist. Ein kleiner Anflug von Traurigkeit kam mit Deinem Brief. Weil Du meinst, noch mit grobem Geschütz gegen mich handeln zu müssen. Ich will Deinem dritten Leben nichts anhaben. Ich möchte mit einfachen Worten sagen können, was mich beunruhigt und manchmal quält. Ich habe diesen Brief angefangen, weil ich einen Augenblick glaubte, die einfache Darstellung würde mir leicht fallen. Auf die Entfernung. Ich fürchte zu oft, nicht immer, und, wenn man gerecht urteilt, seltener und seltener, daß Du aus dem 3. Leben nicht zurückkehren könntest. Der Übergang, so scheint mir, ist oft schwer. Ich bin nie beunruhigt, weil ich Dich nicht verstehe oder Dir mißtraue oder etwas an Dir nicht billige; nur, weil ich anders bin. Und es ist falsch, wenn Du meinst, Du wärest unzulänglich für mein Leben. Und Dein Wille nach Freiheit würde meine Existenz zernagen. Du bist einer meiner großen Schätze. Und ich bin nur geizig. Ich bin einfach auch ein Mensch und werde durch Gespenster geplagt. Wie Du weißt. Und es gibt Krisen, in denen ich schwächer bin als meine Vorsätze. Vielleicht weiß ich längst, daß ich dich verlieren muß. Aber ich kann Dich nicht verlieren. Ich weiß nicht, was geschehen soll, wenn auch Du stirbst. Es handelt sich, sozusagen um ein Äußerstes, das für mich anders liegt als für Dich. Und es scheint immer so zwischen uns, als ob wir uns auf tieferen Stufen schlügen. Ich weiß jetzt nicht, wie Du die Zeilen nimmst, und ob Du einen Angriff auf Dein Sein darin siehst. Ich weiß jedenfalls, daß Du anders bist als Carlo meint. Und ich weiß, daß Du mich trösten kannst. Ich grüble nur, was an Trost ich für Dich erfinden soll. Denn es ist so, Du gibst mir mehr als ich Dir geben kann. Was jetzt an Zerrissenheit ist, Du meinst, es könnte die Schuld Deiner Veranlagung sein. Und dabei bist Du ein Ganzes, um das man vielleicht fürchten muß, das man aber nicht zerteilen kann.

Dein Brief von heute früh hat mich gestreichelt. Dein zweiter Brief[39] war ein kleiner Schmerz. Du sollst allen Spielraum haben. Aber Du wirst mir bald einen neuen Brief schreiben. Denn es ist hier nach allen Reden sehr einsam.

Es küßt Dich Dein

Henny

Ich stehe so oft vor einer Mauer und weiß nicht, was hinter der Mauer sich befindet. Grüße Monna. Und die Kinder. Und ruhe Dich aus. Und denke an mich als einen einfachen Menschen, der ungenau sieht. Dies ist kein böser Brief. H.

Handschrift, ein Blatt, einseitig beschriftet

7.Aus Kopenhagen nach Blankenese

Köbenhavn

Manögade 9III

20. April 1933

Liebe Ellinor,

bis jetzt bin ich auf meine Briefe, die ich umhergesendet habe, ohne Antwort.[40] Gretor[41] werde ich erst heute sehen. Zu wesentlichen Arbeiten bin ich nicht gekommen, weil ich nicht ungestört in einem eigenen Zimmer sein kann.

Gestern waren wir in Hörsholm, um die neue Orgel in Augenschein zu nehmen. Ich war fast erschrocken, wie schön die Kirche liegt. Inmitten eines Waldes auf einer sehr kleinen Insel. Kein weiteres Haus darauf. Das Werk ist herrlich ausgefallen.

Für das H[am]b[ur]g.[er] Fremdenblatt schreibe ich einen Reisebrief.[42]

Der Stoff für das neue Drama ist mir viel klarer geworden.[43] Manches hat sich schon herauskristallisiert. Aber es geht nicht schnell. In der Pinakothek habe ich mir die Werke von Kai Nielsen angesehen.[44] Herrliche Sachen!

Die Luft ist kalt. Gestern hat es den ganzen Tag über leicht geschneeit. Ich habe im Augenblick gar keine Bedürfnisse und Wünsche. Auch keinen Drang, mich zu betätigen.

Die politische Lage ist offenbar sehr gespannt geworden. Nun ist auch Amerika vom Goldstandart abgerückt. Und das wirft Schatten. Ich glaube, Einschränkungen, Verkleinerung des Lebensstandards, das wird das Los der nächsten Jahrzehnte für alle sein.

Je länger ich hier bin, desto unsicherer werde ich in dem was ich soll. Wenn ich so dahin lebe, vergesse ich die Forderungen, die in mir schlummern. Ich finde, daß ich nichts mehr zu hoffen habe. Und ich weiß auch eigentlich nicht, mit welchem Recht. Es ist in den letzten Jahren soviel Böses geschehen, daß die äußeren Schwierigkeiten nur eine Entsprechung für die innere Verwüstung sind. Ich weiß auch, daß wir einander, wahrscheinlich unnötig, gepeinigt haben. Und dadurch in immer größere Unfreiheit gekommen sind. Ich spüre den Leerlauf der letzten Jahre. Und weiß, daß ausruhen weitere Ernüchterung bringt.

Soeben kommt Deine Karte. Rein äußerlich, schreibe bitte nicht mit Bleistift.[45] Ich ersehe, es geht trübe. Ohne äußere Katastrophen ins Hoffnungslose. Zur Aufklärung: Ich habe die RM. 10 von Frau Eber[46] Monna gegeben. Von G.[eorg] + R.[isa] habe ich nichts erhalten.[47] Du kannst dort also anrufen. Walcker scheint sich ja nicht von der besten Seite zu zeigen. Warum auch? Jedenfalls arbeitet Frobenius bedeutend besser.[48] Die Kammerorgel muß hierher.[49] Raasted will darauf ein Konzert geben.[50] Frobenius glaubt, daß das hier ein sehr gutes Geschäft werden kann. Notfalls müßte man einzelne Teile hier herstellen, um den Zoll niedrig zu halten.

Daß Biehle fällt, kann ich noch nicht glauben. Wenn ja, wozu brauchte es dann erst die Aufregung bei den »Deutschen Christen«?[51] Also abwarten. Was wollen denn die Leute nur? Genügt es nicht, daß ich der Landeskirche angehöre? Soeben rief Gretor an. Ich sehe ihn erst morgen Nachmittag. Wir wollen vieles besprechen. Er hofft, einiges für mich tun zu können.

Ich bin nicht mutlos, aber sehr verbraucht. Ich fühle mich sehr allein. Nicht etwa so zu verstehen, Ihr seid nur weit fort. Es wäre kaum anders, wenn die Entfernung aufgehoben wäre. Ich denke ohne jede Bitterkeit an Dich. Nur mit leiser Wehmut und mit einer Unterschwingung von Furcht. Weiß aber wohl, daß ich nichts ändern und nichts zum Vorbestimmten tun kann. Schließlich ist alles gekommen wie es kam. Es hätte anders kommen können, wenn die Menschen aus anderem Stoff. Aber sie sind aus diesem Stoff. Und was sie an Schmerzen und Unglück bereitet haben. In anderen Erdteilen. Und noch bereiten. Und bereiten werden. – Da werde ich irre. Zu denken, daß alles Große bei seinem Erscheinen beschimpft wurde. Und keine Größe erhaben genug war, daß sie vor späterem Schimpf bew[a]hrt wurde –.

Ich will aufhören. Dieser Brief ist schlecht geraten. Er hilft Dir nicht, er hilft nicht mir.

Grüße und Küsse die Kinder.

Auch Monna.

Dein Henny.

P.S. Sobald ich von irgendwo Antwort habe, schreibe ich Dir ausführlich.

Handschrift, ein Blatt, beidseitig beschriftet

8.Aus Blankenese nach Zürich

17. August 33

Liebe Ellinor,

der postlagernde Brief nach Paris ist leider nicht hierher zurückgekommen, sodaß Du wahrscheinlich nur eine unvollkommene Anschauung von meiner Krankheit hast. Es war eine Furunkulose im Gesicht, die außerordentlich schmerzhaft war und mich[52], wie sich jetzt hinterher zeigt, ziemlich viel Kräfte gekostet hat. Ich fühle mich jedenfalls jenem Zustand einverleibt, den man landläufig als klapperig bezeichnet. Das Schlimmere ist, ich fühle mich nicht zum arbeiten angeregt und habe auch keine rechte Lust, bestimmten Plänen nachzugehen. Die Zeichnungen für Uppsala sind fertig geworden.[53] Ich hoffe, sie werden eine wirkungsvolle Unterstützung unseres Angebotes sein. Der Auftrag Strasbourg ist 99 % gescheitert.[54] Der Auftrag ist an eine drittklassige Firma gegangen, angeblich mit der Begründung, weil diese im Besitze »Silbermannscher Maße« wäre. Also eine leichte Fälschung der Geschichte im Voraus. Da nun die Orgel in ihrer Totalität garnicht von Silbermann stammt, sondern viel höhere ältere Werte enthält, wäre die Mitarbeit eines wirklichen Fachmannes mehr als geraten gewesen. Denn daß weder Schweitzer noch Prof. Mathias diese Einzelkenntnisse besitzen, ist ausgemacht.[55] Aber Mathias hat wohl mit der ganzen Eindringlichkeit seiner deutsch-französischen Seele den Herren der Denkmalspflege in Paris klarmachen können, daß ein Deutscher keineswegs zur Mitarbeit bei der Wiederherstellung der Orgel eines Deutschen herangezogen werden dürfe. Man hat dann eben eine drittklassige Firma mit inkauf genommen.

Aber so liegen die Verhältnisse eigentlich bei allen neueren Geschäften. Auch in Stavanger bin ich ausgebootet worden. Ich kann nicht übersehen, ob da sachliche oder auch politische Gründe mitspielen.[56]

Ich weiß nicht, ob ich Dir schon schrieb, daß auch die Angelegenheit Göteborg auf die miserabelste Weise in die Brüche gegangen ist.[57] Direktor Mannheimer ist der Warburg von Schweden, nebenbei gesagt, mit Melchior verwandt, er fand es selbstverständlich sofort unpassend, daß ein blonder Mann aus Deutschland noch länger mit der Sache befasst würde.[58]

Andererseits haben die Deutschen Christen noch nichts getan, um mich zu rehabilitieren, und der Erfolg andersherum ist ebenso deutlich, daß man unmöglich mit einem Mann zu schaffen haben könne, dem mit Grund solche Dinge nachgesagt würden, wie die deutschen Christen behaupten.

Das Auftreten des altonaer Senates war höchst korrekt und höchst erfreulich. Aber ich weiß einfach nicht, wie man finanziell durchkommen soll. Uppsala ist wieder einmal unsere einzige Hoffnung, und gegen einzige Hoffnungen habe ich schon im Grundsatz etwas. Man sollte sie sofort über Bord werfen, denn sie erfüllen sich nicht, weil ein Strohhalm im Wege liegt.

In meinen Gedanken habe ich mich ziemlich genau mit dem Schluß des neuen Stückes beschäftigt, und ich finde eigentlich, daß die Sache gewachsen ist.[59] Auch mit dem Perrudja habe ich mich innerlich ziemlich beschäftigt und ich kann wohl sagen, daß breite Teile wie auf einer Landkarte eingezeichnet festliegen.[60]

Dass ich Dir nichts von Personen und Ereignissen des täglichen Lebens schreibe, liegt daran, ich war bettlägerig, außerdem sind die Menschen unserer Bekanntschaft verreist. Bei uns im Hause geht alles, wenn ich so sagen soll, seinen ruhigen, um einige Grade abgeklärteren Gang, was nicht etwa heißt, daß nicht die Sorgen täglich in irgendeiner Form sich bemerkbar machen.

Ich hatte mich sehr gewundert, daß ich seit Deiner Karte vom 9. August nichts mehr hörte. Es ist das wirklich Deine letzte Nachricht an uns. Durch den persönlichen Besuch einer gemeinsamen Bekannten habe ich mündlich einiges über Dich und Dein Leben erfahren. Es war gewiß nicht sehr viel. Ich nehme indessen an, daß ein Brief uns nicht erreicht hat.

In den nächsten Tagen hoffe ich den Aufsatz über germanische Rundbauten zu vollenden.[61] Die Aufnahmen dazu sind teils sehr schön, und der Text dürfte überzeugend und schlagkräftig sein. Es war in vieler Beziehung gut, daß ich den Schluß der Arbeit hier schreibe. Ich kann den Ebert noch sehr gut für manche Zweifelsfäll[e] heranziehen.[62]

Dr. Walcker hat mir aufs Neue geschrieben, eigentlich recht hoffnungslos. Ich werde ihn auf alle Fälle in Ludwigsburg sehen. Wir werden auch gemeinsam nach Metz fahren, um die Arbeiten in der dortigen Cathédrale aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Nach Paris werde ich also nicht fahren, eher nach Strasbourg.

Den Kindern geht es sehr gut. Es ist sozusagen über sie nichts zu berichten, außer daß Signe täglich an Einfalt und Eduard an Geistesstärke zunimmt. Monna ist ziemlich abgewirtschaftet und wird Anfang September auf 2–3 Wochen zu den adligen Tanten nach Berlin fahren.[63] Die Familie des märkischen Uradels hat so garkein Verständnis für ihre Stellung in unserem Wirkensgebiet. Auch meine Familie tut große Stücke, um mich öffentlich und geheim so schlecht zu machen wie möglich.

Ich hoffe, daß es wenigstens Dir einigermaßen gut geht, und daß Du ein paar Kräfte ansammelst, denn Du wirst mich in mehr als einer Beziehung magerer geworden finden. Alle Mitbewohner des Hauses lassen Dich grüßen

Dein Henny

Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen, ein Blatt, beidseitig beschriftet

Faksimile des Briefes vom 20. Januar 1934

Anlage zum Brief vom 20. Januar 1934. Kai Nielsen: Stående nøgen kvinde von 1924

© Statens Museum for Kunst Kopenhagen

9.Aus Kopenhagen nach Männedorf

20.1.34

Liebe Ellinor,

in zwei Stunden fährt das Schiff nach Bornholm. Letzten Gruß aus Kopenhagen! Eine schöne Ölskizze von Kai Ni[e]lsen.[64] Die Farben sind wunderbar.

Viele Küsse

Dein

Henny.

Handschrift auf Karton und ein Foto der Ölskizze von Kai Nielsen

10.Aus Berlin nach Männedorf

Berlin 9.2.34.

Liebe Ellinor, Dein Brief vom 7.2. erreichte mich hier in Berlin. Ich habe Dir heute schon 2 x geschrieben.[65] Da meine Gedanken viel bei Dir sind, schadet das dritte Mal gewiß nicht. Ich habe mich über die Klarheit Deines Telegrammes gefreut. Aus Briefen von Walter und Dir ist mir der Tatbestand auch einigermaßen klar geworden.[66] Der erste Brief Walters war so andeutungsvoll, von nicht »moralisch« nehmen, »ausnutzung« vieler Beziehungen etc., daß es, bei aller [Scho]nung, und gerade deswegen, höchst beunruhigend wirkte. Da ich von Dir keine Aufklärung erhielt, telegraphierte ich an Walter. Ich schrieb ihm auch sofort. Erhielt Antwort und antwortete wieder. Sein zweiter Brief war im Ton innerlich stark erregt. Er warf mir vor, daß es keine Lösung sei, Dich bis zu meiner Rückkehr dort zu lassen. Aber man habe sich dennoch entschlossen etc. Diesen Ernst habe ich nicht begriffen. 100 %ige Standpunkte rufen bei mir Lächeln oder Empörung hervor. Ich [ges]tehe, aus der Entfernung habe ich den Mut nicht gehabt, ihm zu sagen, daß es in dieser Tonart nicht geht. Nur angedeutet, mir sei nichts bekannt geworden, was Deinen Auffenthalt für 10 Tage unmöglich machen könnte. Zugegeben, er ist wütend, weil er glaubt, oder weil’s auch so ist, daß wir, Du und ich, jeder auf seine Weise, ihn enttäuscht haben, daß er vermeint, Ansprüche zu haben etc.; aber das gibt das Recht zur Unerbittlichkeit nicht. Mögen wir nicht ernst genug sein, in Bezug auf Geld und schweizer Übereinkünfte, er pocht zu sehr auf die Biederkeit. Und, eines scheint dort ganz außer Acht gelassen zu sein, dass ja jedes Verhältnis, jede Tatsache zwei und mehr Seiten hat. Ich erinnere nur an die Zusammenstöße mit Frau B[ösch].[67] Ich möchte, aus Gründen, Dich noch in der Schweiz sehen. Ich sende Dir morgen Rm. 50.–, weil ich nicht weiß, ob Du es nicht brauchst, um nach Winterthur oder Verscio auszubrechen. Hinterlasse jeweils rechtzeitig, wo Du Dich befindest. Ich muß, ganz gegen meinen Willen, noch einmal nach Hamburg zurück. Ich kann ja nicht wegen des dummen Zwischenfalles den Hofkauf in Gefahr bringen. Ich rechne nicht mehr damit, daß ich aus der Schweiz Hilfe dafür erhalte. Walter hat mir indessen für 1 Jahr noch m. 200.– zugesagt. Und, so schaffen wir es auch. Ich weiß, daß ich das Vernünftige tue. Ich löse das Unfruchtbare auf und beginne mit dem äußerlich Sinnvollen. Gewiß kann man von Außen nicht alles richtig erkennen. Und das sehe ich gewiß jedermann nach. Nur die Behörden hier könnten den Plan zufall bringen.