Flutgeschichten - Julian Dela - E-Book

Flutgeschichten E-Book

Julian Dela

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Beschreibung

Als die Flutwelle das Ahrtal am 14. Juli 2021 völlig unvorbereitet und erbarmungslos überrannte, stürzte sie ihre Bewohnerinnen und Bewohner binnen Stunden in ein absolutes Chaos von nie dagewesenem Ausmaß. Dieses Ereignis traf die malerische und idyllische Region tief ins Mark und veränderte das Leben Tausender mit einem Schlag für immer. Dieses Buch ist ein Zeitzeugnis gegen das Vergessen. Es enthält packende und emotionale Augenzeugenberichte von Betroffenen als auch Helferinnen und Helfern aus vielen Ortschaften an der Ahr. Diese Menschen erzählen hautnah von den sorglosen Stunden vor der Flut, dem Moment in dem die Tragödie ihren furchtbaren Lauf nahm, und den Stunden, Wochen und Monaten danach. Sie alle berichten von erschütternden Bildern, dramatischen Ereignissen und traurigen Verlusten - aber auch von der Hoffnung auf ein neues Ahrtal, davon niemals aufzugeben, den Mut zum Wiederaufbau und dem unermüdlichen Einsatz von unzähligen, helfenden Händen aus allen Himmelsrichtungen. Der gesamte Autorengewinn aus dem Buchverkauf wird an gemeinnützige Projekte für den Wiederaufbau im Ahrtal gespendet.

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Seitenzahl: 206

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ich widme dieses Buch meiner wundervollen Heimat, dem Ahrtal, seinen Menschen und allen Helferinnen und Helfern, die uns aufgefangen haben.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Bevor es losgeht …

Dorsel

Frauke Kraatz

Kreuzberg

Manuela W.

Altenahr

Rüdiger Krauß

Mayschoß

Carola Kempen

Dernau

Rebecca Arnoldy-Heimansfeld

Dennis Marner

Michael Schulze aus Georgsmarienhütte

Marienthal

Daniel Jürgens aus Bremerhaven

Walporzheim

Markus Wipperfürth aus Pulheim

Ahrweiler

Christoph Kirsch

Maren Schmitz

Erika Steding

Nadine Werle

Bad Neuenahr

Michaela Knips

Sascha Wienert

Veronika Münch

Celina Degen

Marc Ulrich

Patrick Huslig aus Herbrechtingen

Heppingen

Mariana Dela

Simon und Nadine Templeton

Heimersheim

Jessy Hennes

Lohrsdorf

Karl-Josef Caspary

Ehlingen

Christina Bliss

Bad Bodendorf

Anonym

Christina Bliss, Schwanenteich

Yvonne Küpper

Margarete Gebauer

Sinzig

Sinan Ataoglu

Adrian Gutzelnig aus Berlin

Danksagungen

Nachwort

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

dieses Buch ist ein Versuch, über die verheerende Katastrophe zu berichten, die dem Ahrtal Tod, Zerstörung und Trauer brachte. Menschen mussten mit ansehen, wie die Flut ihre Heimat zerstörte, die Strömung ganze Häuser mitriss, Vertrautes erbarmungslos verschluckte und sie in nur einer Nacht die Schönheit des Ahrtals hinfort spülte.

Die folgenden Geschichten sind allesamt persönliche Erlebnisse, Berichte und Erfahrungen von Flutbetroffenen des Ahrtals und von Helfenden aus der ganzen Bundesrepublik. Dieses Buch soll ein Zeitzeugnis sein und stets daran erinnern, dass es im Jahr 2022 immer noch Menschen gibt, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen und Angst haben, vergessen zu werden. Es soll in Erinnung rufen, dass ein einst wunderschönes und idyllisches Tal mit einem Mal in ein Kriegsgebiet verwandelt wurde. Ein Kriegsgebiet, das nicht von Granaten und Bomben erschüttert wurde, sondern von einer noch nie dagewesenen Flut. Dieses Buch soll ein Mahnmal für all die Verstorbenen sein, die durch die Katastrophe auf tragische Art und Weise ihr Leben lassen mussten. Es soll uns vor Augen führen und stets daran erinnern, wie kostbar jeder einzelne Tag ist. Dieses Buch soll eine Liebeserklärung an das Ahrtal sein, das trotz dieser Katastrophe seine Schönheit und seinen Charme nicht vollends verloren hat. Es soll uns vergegenwärtigen, dass dieses Ereignis nicht nur ein schlimmes Unglück war, sondern auch eine große Chance für etwas Neues sein kann. Eine Chance für eine neues Miteinander.

Dieses Buch soll ein Mutmacher sein. Es soll denen Mut zusprechen, die in der Flut nicht nur ihre Existenz verloren haben, sondern auch jedwede Perspektive auf eine lebenswerte Zukunft. Es soll jene stärken, die weitermachen wollen, aber nicht können, weil der Schmerz und die Trauer über das Erlebte noch zu tief sitzen. Es soll denen ein Licht sein, die auch nach den vielen Monaten immer noch nicht wissen, wie sie aus ihrem emotionalen Tief wieder herauskommen. Es soll den Menschen zeigen, dass sie nicht alleine sind. Entgegen der glamourösen Scheinwelt von sozialen Medien und der gesellschaftlichen Normen, sollen diese persönlichen Geschichten verdeutlichen, dass es menschlich ist, nicht weiterzuwissen. Es soll bewusst machen, dass es normal ist, wenn man die Kraft verliert. Es soll versichern, dass es in Ordnung ist, Schwäche zu zeigen und nicht mehr funktionieren zu können. Es soll jedem einzelnen Menschen etwas ganz Entscheidendes und Wichtiges klarmachen:

Es ist okay, nicht okay zu sein!

Dieses Buch soll darauf aufmerksam machen, dass die Flut dem Ahrtal vieles genommen hat, aber niemals seine Zuversicht und niemals seine Hoffnung. Das Ahrtal war nie alleine. Es wurde aufgefangen von unzähligen helfenden Händen. Denn nach der Welle der Zerstörung, erreichte das Ahrtal eine noch nie dagewesene Welle der Solidarität und der Empathie. Diese Solidarität zeigt, dass es nur ein Ereignis braucht, um Menschen auf eine Art und Weise zu vereinen, die sie selbst nicht für möglich gehalten haben. Lasst uns in diese Welle eintauchen, uns von ihr mitreißen und uns treiben lassen. Lasst uns auf ihr reiten und sehen, an welche neuen Ufer sie das Ahrtal bringt. Denn eines steht vom ersten Tag an nach der Flutkatastrophe fest:

„Wenn du das Vertrauen in die Menschlichkeit verloren hast, dann komm zu uns ins Ahrtal und du wirst augenblicklich eines Besseren belehrt werden.“

Bevor es losgeht …

Dieses Buch enthält detaillierte Berichte und Erfahrungen von Betroffenen oder Helfenden mit teilweise schweren Schicksalen und dramatischen Ereignissen, die für psychisch labile Lesende sehr belastend sein können. Sollten Sie feststellen, dass Sie beim Lesen der Geschichten zu emotional werden, Sie persönlich dadurch getriggert werden oder suizidale Gedanken haben, suchen Sie sich bitte professionelle Hilfe. Denn:

Es ist okay, nicht okay zu sein!

Die

Telefonseelsorge

ist ein bundesweites Seelsorge- und Beratungsangebot der evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche und steht jedem Menschen anonym und kostenfrei an 365 Tagen im Jahr und 24 Stunden am Tag zur Verfügung.

Per Telefon erreichbar unter den Nummern 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 oder 116 123 und per E-Mail und Chat unter online.telefonseelsorge.de

Die Flut-Hilfe-Hotline der Psychologen der

Dr. von Ehrenwall‘schen Klinik

in Ahrweiler und deren Kolleginnen und Kollegen hilft speziell Flutbetroffenen, deren Angehörigen oder belasteten Helfenden.

Per Telefon erreichbar unter der Nummer 0800 / 7 29 57 29

Die Sprechzeiten: Mo.–Fr. von 8:00–17:00 Uhr

Weitere Infos unter: https://test.eichenberg-institut.de/krisenhotline/

Info-Telefon Depression

Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet ein kostenloses Info-Telefon rund um das Thema Depression und informiert auch über zahlreiche Adressen von Kliniken und Bereitschaftsdiensten, an die sich Menschen in akuten Notsituationen wenden können.

Per Telefon erreichbar unter der Nummer 0800 / 33 44 5 33

Die Sprechzeiten: Mo., Di., Do. 13.00–17.00 Uhr, Mi. und Fr. 8.30–12.30 Uhr

Weitere Infos unter: www.deutsche-depressionshilfe.de

Das

Elterntelefon

hilft bei Problemen und informiert kostenlos unter 0800 / 111 0 550

Die Sprechzeiten: Mo.–Fr. 9.00–17.00 Uhr, Di. und Do. 17.00– 19.00 Uhr

Weitere Infos unter: www.nummergegenkummer.de

Das

Kinder- und Jugendtelefon

hilft bei Problemen kostenlos unter 0800 / 116 111

Die Sprechzeiten: Mo.–Sa. 14:00–20:00 Uhr

Weitere Infos unter: www.nummergegenkummer.de

Dorsel

Diese Geschichte beinhaltet den Verlust und den Tod eines Familienmitglieds. Wenn Sie ein ähnliches Schicksal erlitten haben oder Sie solche Themen emotional zu sehr belasten, sollten Sie diese Geschichte überspringen. Infos über Hilfe bei seelischer Not finden Sie auf Seite 11–12.

Frauke Kraatz

„Katharina hat das Leben geliebt und ich möchte ihre positive, lebensbejahende Energie weiterleben lassen.“

Ich bin am 14. Juli nach Kaisersesch gefahren, um meine 19-jährige Tochter Katharina zu einer Jugendfeuerwehrübung am Abend abzuholen. Sowohl Udo als auch Katharina waren ehrenamtlich bei der Freiwilligen Feuerwehr Barweiler tätig. Gerade für Katharina gab es als Kind nichts Aufregenderes, als in Papas Fußstapfen zu treten und ebenfalls der Feuerwehr beizutreten. Schon als kleines Mädchen ist sie gerne in Papas großen Feuerwehrstiefeln durch die Wohnung gelaufen und hat immer davon geredet, selbst einmal dieses Ehrenamt bekleiden zu wollen. Ihr Traum wurde wahr, als sie damals endlich offiziell der Jugendfeuerwehr beitreten durfte, die von Udo geleitet wurde.

Kein Wunder, dass ihre Augen am Tag des 14. Juli diesen Jahres leuchteten, als mein Mann ihr sagte, dass es brannte und sie jeden Menschen gebrauchen können. Katharina hat sich auf den Einsatz gefreut und war Feuer und Flamme. Sie konnte es kaum erwarten, dass es endlich losgeht. Die Feuerwehr war ihre große Leidenschaft und die Kameradinnen und Kameraden ihre zweite Familie. Sie liebte die Arbeit im Team und dass alle perfekt Hand in Hand arbeiteten und sich ergänzten. Und sie war mit Leib und Seele ein Teil dieser Gemeinschaft.

An dem Fluttag durfte Katharina den BMW ihres Vetters fahren und war sehr stolz, dass er so viel Vertrauen in sie und ihre Fahrkünste hatte. Per SMS hat sie ihrem Verlobten geschrieben, dass sie von Einsatz zu Einsatz fahren – Katharina war in ihrem Element. Mein Mann, der bei dem Einsatz dabei war, sagte mir, dass die Stimmung gut und ausgelassen war. Sie pumpten vollgelaufene Keller aus oder befreiten Straßen von umgestürzten Bäumen.

Der nächste Einsatz war die Evakuierung des Campingplatzes „Stahlhütte“, der in Dorsel direkt an der Ahr lag. Das Wasser hatte den Platz bereits überflutet, aber sie schafften es noch mit allen Einsatzkräften viele der Dauercamper dort zu retten. Die Feuerwehr hatte keine Information darüber, wie viele Menschen sich genau auf dem Gelände aufhielten. Zusammen mit zwei Kameraden betrat Katharina ein Mobilheim, in dem sie eine bettlägerige Frau entdeckten. Sie wollten die Dame so schnell es geht in Sicherheit bringen, bevor das Wasser noch weiter stieg. Während die beiden Kameraden losliefen, um eine Trage zu holen, blieb Katharina bei der Frau, um sie zu beruhigen und damit sie nicht allein war. Doch das Wasser stieg plötzlich so schnell, dass die beiden Kameraden nicht mehr bis zu den beiden durchkamen. Entsetzt mussten sie mitansehen, wie die Flut das Mobilhaus anhob und mit sich riss – mit der bettlägerigen Frau und mit Katharina darin. Mein Mann, der ebenfalls vor Ort war, koordinierte und half an einer anderen Stelle des Campingplatzes und erfuhr über Funk von der Tragödie, kam aber durch das Wasser nicht mehr näher an die Unglücksstelle heran. Da der Pegel weiter stieg, gab es zu dem Zeitpunkt keine Chance nach den beiden zu suchen.

Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag. In unserer Verzweiflung stellten wir ein Bild von Katharina mit einer Such- und Vermisstenanzeige auf Facebook und hofften, dass irgendjemand sie weiter flussabwärts gefunden und gerettet hatte. Wir überarbeiteten die Suchanzeige später nochmal hinsichtlich Katharinas Aussehen. Sonntags wurde eine Person tot in einem Baum gefunden. Ich wurde von einem guten Freund von Katharina angerufen, der mir sagte, dass ein Pfarrer ihn aufgefordert habe die geteilte Suchanzeige auf Facebook zu entfernen, da Katharina bereits gefunden worden war und sie tot sei. Das dürfe er uns aber noch nicht sagen. Sofort riefen wir bei der Kripo an, um weitere Informationen zu bekommen. Die Ungewissheit, in der wir uns befanden, war schrecklich. Ich wollte Antworten. Ich wollte wissen, was mit unserer Katharina war. Doch die Kripo hatte keine Informationen und wollte Katharinas Tod nicht bestätigen. Trotzdem wusste ich in diesem Moment, dass Katharinas Freund die Wahrheit gesagt hatte, weil ich am ganzen Körper zitterte.

Nachts meldete sich die Polizei, dass es sich bei der toten Person um eine Frau mit einer Feuerwehrjacke handelte, die die Initialen meiner Tochter hatte: „K. Kraatz“. Sie waren sich zu 90 Prozent sicher, dass es Katharina war, wollten das aber noch nicht hundertprozentig bestätigen, da die Möglichkeit bestand, dass Katharina ihre Feuerwehrjacke während ihres Einsatzes einer frierenden und durchnässten Person überlassen haben könnte. Wir erfuhren aber von einem Bekannten, der vor Ort war, dass er während der Bergungsaktion der toten Frau gehört hatte, dass jemand Katharina erkannt habe.

Am Montag, den 19. Juli bestätigte die Polizei schließlich das düstere Gefühl tief in mir drin und unsere schlimmsten Befürchtungen wurden traurige Gewissheit: Die Tote war unsere Tochter Katharina. Die Polizei sagte uns später, dass der Pfarrer mit seiner Aktion seine Kompetenzen gewaltig überschritten hatte. Die Polizeibeamten wären eigentlich erst nach der Obduktion am Folgetag mit einer eindeutigen Information zu uns gekommen.

Nach dieser Botschaft war ich mit meinen Gedanken bei unserer Tochter. Ich war Katharinas Freund sehr dankbar, dass er uns vorab die Info über ihren möglichen Tod gegeben hatte. So war ich auf die endgültige Bestätigung der Polizei und das Schlimmste gefasst und konnte mich auf die Schreckensnachricht einrichten. In der Zeit danach wurden wir von einer Seelsorgerin die ganze Zeit über begleitet. Teilweise saß sie ganze Nächte bei uns, sprach mit uns und schenkte uns Trost. Einen Tag vor Katharinas Beisetzung hat uns die Seelsorgerin einen würdigen Rahmen gegeben, in dem wir uns die Zeit nahmen, in Ruhe Abschied von Katharina zu nehmen und zusammen zu beten. Die eigentliche Beerdigung fand unter Polizeischutz statt, um uns eine ruhige Zeremonie ohne Presserummel zu ermöglichen. Wir waren zu einer Trauerfeier im Aachener Dom eingeladen und hatten im Anschluss die Gelegenheit uns mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zu unterhalten. Das alles erschien mir so surreal und ich war so hin- und hergerissen zwischen tiefer Trauer einerseits, und das mir das andererseits alles verrückt und unwirklich vorkam, plötzlich Kontakt zur Bundeskanzlerin zu haben und so im Mittelpunkt zu stehen. Katharina sagte mal, dass sie nicht wollen würden, dass an ihrem Grab geweint und getrauert wird. Sie wollte, dass wir und ihre Freunde vor ihrem Grab stehen und mit einem Lächeln im Gesicht von ihr erzählen.

Wäre Katharina jetzt bei uns, würde sie uns mit ihrem Lebensmotto aufmuntern und sagen, dass man erstens: sein Leben genießen soll, und zweitens: sich in einem Ehrenamt engagieren soll. Jeder kann helfen, jeder kann etwas Gutes tun. Egal, ob mit einer Blutspende, mit dem Eintritt in die Freiwillige Feuerwehr oder eine Hilfsorganisation. Die Feuerwehr war ihre Leidenschaft und sie hätte sich gewünscht, dass weitere Menschen den Weg in ein Ehrenamt finden. Die Erinnerungen an Katharina, ihre positive Art und ihre unfassbare Kraft helfen mir jeden Tag weiterzumachen. Katharina hat das Leben geliebt und ich möchte ihre positive, lebensbejahende Energie weiterleben lassen. Wir haben ganz tolle Menschen um uns, die uns unterstützen und die für uns da sind. Katharina wird immer in unseren Herzen sein. Und wäre sie jetzt hier, würde sie sagen, dass wir im Hier und Jetzt leben sollen. Und das tun wir.

Kreuzberg

(Ortsgemeinde Altenahr)

Manuela W.

„Mein achtjähriger Sohn sah mich an und sagte‚ Mama es war schön mit dir, aber heute sterben wir hier.‘“

Mein Partner Marco und ich haben uns vor zehn Jahren in Kreuzberg das ehemalige Hotel Kreuzburg zum Wohn- und Geschäftshaus umgebaut. Marco hat sich dort im Anbau ein Vermögensberaterbüro eingerichtet und von dort aus gearbeitet – bis zum Tage der Flut am 14. Juli 2021.

An dem besagten Nachmittag hatten wir sicherheitshalber schon mal unsere Autos am Berg in der Nähe der Kreuzburg geparkt. Gegen 18:00 Uhr sprachen wir zwei Feuerwehrleute aus unserem Badezimmer-Fenster an, die sich gegenüber auf dem Kreisel im Ortskern befanden. Dort erkundigten wir uns, ob es noch eine Möglichkeit gab, den Ort zu verlassen, da wir die Autos schon fortgebracht hatten und nun mit unserem achtjährigen Sohn und unseren zwei Hunden nicht mehr mobil waren. Das Wasser kam schon die Bahnhofstraße herauf. Sie rieten uns dazu, uns in den ersten Stock unseres Hauses in Sicherheit zu bringen, die Ruhe zu bewahren und dort abzuwarten. Wir folgten den Anweisungen der Feuerwehr und trafen unsere Vorkehrungen. Wir luden unsere Powerbanks auf, machten die Nachtlichter parat, ich lud das Kindle für meinen Sohn und füllte sämtliche Eimer mit Wasser für die Toilettenspülung.

Gegen 19:30 Uhr fiel der Strom aus. Irgendwann knallte es, was uns alle erschreckte. Ich sah vom Fenster aus, wie schnell das Wasser vor dem Haus stieg. Wohnwagen knallten gegen die Brücke, Bäume fielen krachend um und wurden entwurzelt. Mein 25-jähriger Sohn Marvin war kaum aus dem Anbau und berichtete, dass das Wasser bis ins erste Obergeschoss stand. Auf einmal gab es einen furchtbaren Knall. Mir war sofort klar, dass es nur unser Flüssiggastank gewesen sein konnte. Und tatsächlich: Der Tank war weggerissen worden und Marco äußerte direkt die Sorge, dass der Tank explodieren könnte. Außerdem stellte sich die Frage: Was machen wir jetzt? Was machen wir, wenn das Wasser weiter steigt? Wir hatten keine andere Möglichkeit mehr, als das erste Obergeschoss. Danach kam nur noch der Speicher und aus dem gab es kein Entkommen. Wenn wir dorthin flüchten würden und das Wasser auch bis dahin käme, würden wir ertrinken. Fest stand, dass wir aus dem Haus raus mussten, ehe es zu spät war. Dann ging alles ganz schnell.

Wir stellten unseren Esstisch über das Fenster nach draußen auf das Vordach. Ich hatte eine Tasche mit unseren Ausweisen und einer Notration Essen und Trinken gepackt. Dann holten wir unseren jüngeren Sohn, stopften unseren kleinen Mops in eine Jacke, banden unseren zweiten Hund fest um uns rum und stiegen gegen 21:30 Uhr alle nach draußen. Es regnete und wir hatten Angst, dass das Vordach unter unserer Last zusammenbricht. In dem Moment funktioniert man nur noch und versucht nicht daran zu denken, was passiert, wenn man wirklich in den reißenden Fluten landet. Marco schlug das Fenster unserer Nachbarn ein, in der Hoffnung dort weiter nach oben in Sicherheit zu kommen. Jedoch stand auch dort bereits das Wasser so hoch, dass uns nur noch das Dach übrig blieb. Bis heute weiß ich nicht, wie wir es alle da hoch geschafft haben …

Über uns flog ein Hubschrauber, der uns ganz kurz die Hoffnung auf Rettung machte. Aber im Dunkeln konnte er uns nicht ausmachen und reagierte auch nicht. Ich sah mich um und sah überall auf den Dächern Menschen im Regen sitzen. Wir waren alle durchnässt und uns war kalt. Mein achtjähriger Sohn sah mich an und sagte: „Mama, es war schön mit euch – aber heute sterben wir ...“. Das hat mich erschüttert und ich habe ihn genommen und gesagt, dass wir irgendwann sterben werden, aber nicht hier und nicht heute. Ich habe ihm versprochen, dass wir das schaffen. In dem Moment lässt man den Gedanken nicht zu, dass man ums Leben kommen könnte. Insgeheim wusste ich tatsächlich nicht, ob wir es wirklich schaffen, aber als Mutter will man sich diese Angst nicht anmerken lassen. Ich wollte Zuversicht ausstrahlen, ich wollte meinem Kleinen ein Fels in der Brandung sein. Ob es ihn überzeugte, wusste ich nicht, aber es beruhigte ihn zumindest.

Wir saßen bis ungefähr 23:00 Uhr auf dem Vordach fest, bis auf einmal ein Stück über uns ein Dachfenster aufging und unser Nachbar herüberrief, ob wir es bis zu ihm nach oben schaffen würden. Er hatte uns irgendwann bei einem Blick nach draußen von seiner obersten Etage aus entdeckt. Ich wollte erst nicht, weil ich nicht wusste, wie wir das mit den beiden Hunden und unserem jüngeren Sohn schaffen sollten. Die Gefahr, dass wir abstürzen und in der Strömung landen war groß. Dann sagte Marco entschlossen, dass wir das jetzt wagen. Irgendwie habe ich nicht mehr lange darüber nachgedacht, sondern einfach gehandelt. Wir haben ein paar Dachziegel kaputtgemacht, damit wir über die Dachlatten Halt hatten. Wir Großen bildeten für unseren Achtjährigen und die Hunde eine Kette, hielten uns alle fest und schafften es so zu unserem Nachbar. Dort waren wir insgesamt mit sechs Erwachsenen, drei Kindern und drei Hunden auf seinem Balkon erstmal im Trockenen. Als klar war, dass das Wasser irgendwann zu sinken begann, konnten wir etwas zur Ruhe kommen. Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle und wir versuchten alle etwas Schlaf zu finden.

Morgens konnte man erahnen, welche Zerstörung die Flut angerichtet hatte. Wir verständigten uns mit den Nachbarn um uns er herum, ob es allen gutging. Eine Nachbarin hatte ein neun Monate altes Baby und brauchte dringend heißes Wasser, um die Milch zuzubereiten. Da der Strom aber noch immer weg war, ging das nicht. Also wurde ein paar Häuser weiter auf einem Gaskocher Wasser gekocht, in eine Thermoskanne gefüllt und von Haus zu Haus weitergereicht, bis zur Mutter des Babys. So versorgten wir uns untereinander. Um 10:30 Uhr fiel meinem großen Sohn ein, dass wir noch Steaks und Würstchen im Kühlschrank hatten. Unsere Notrationen waren fast aufgebraucht und wir hatten Hunger. Dann stand er auf und kletterte denselben Weg zurück, den wir zum Nachbarhaus geklettert waren. Kurz darauf kam er mit dem Grillgut, Gemüse und Obst zurück. Da wir wussten, dass wir noch nicht aus den Häusern rauskamen, schmiss unser Nachbar kurzerhand den Grill auf seinem Balkon an und dann haben wir gegrillt – inmitten dieser Flut. Es hatte etwas total Komisches, aber wir machten das Beste aus der Situation.

Gegen 15:30 Uhr war das Wasser so weit weg, dass Marco, mein großer Sohn Marvin und unser Nachbar versuchten rauszukommen. Zum Glück hatte das Wasser die Haustür kaputt gemacht, sonst wären wir nicht rausgekommen. Allein den ansässigen Landwirten hatten wir es zu verdanken, dass sie bereits mit ihren schweren Traktoren unterwegs waren und die Brücke von unserer Seite der Ahr freimachten, sonst wären wir niemals auf die andere Flussseite gekommen. Ohne ihren Einsatz wären wir noch lange eingeschlossen und abgeschnitten geblieben. Als die Brücke frei war, stellte sich die nächste Frage: Wohin? Wir trafen auf der anderen Seite auf Rettungskräfte, die uns zu Fuß aus dem Chaos rausgeführt haben. Wir gingen zum Tunnel raus und konnten von dort aus erst das ganze Ausmaß der Katastrophe sehen. Es war wirklich alles kaputt und zerstört. Für mich war das alles zu viel, mein Kreislauf versagte und ich kippte um. Erst nach einer Weile hatte sich mein Körper wieder so weit gefangen, dass ich weitergehen konnte. Wir ließen uns von Freunden abholen und fuhren erstmal zu Verwandten nach Bonn.

Mein großer Sohn Marvin hat direkt entschieden, dass er nicht mehr zurück möchte. Er ist im Kreis Mayen-Koblenz untergekommen und dort ganz zufrieden. Wir sind nach Bonn gezogen, wo auch unser jüngerer Sohn nun zur Schule geht. Ich hoffe, dass er die Erlebnisse gut verkraftet und verarbeiten kann. Ich habe kürzlich für meine Arbeit in einer Kita an einer Fortbildung für Notfallpädagogik teilgenommen, aber es ist schwer das bei seinem eigenen Kind anzuwenden, weil man natürlich emotional selbst viel stärker involviert ist.

In den Tagen danach standen plötzlich so viele Helfer mit Schaufeln und Gummistiefeln vor unserer Tür, dass wir recht schnell mit dem Entschlammen und Entkernen vorankamen. Andere kamen mit allerlei Spenden vorbei, die Hilfsbereitschaft war sehr überwältigend. Ich habe in der Zeit diverse Fußball-Ultras angetroffen, die sich selbst organsiert haben, um im Ahrtal mit anzupacken. Meine Nichte ist bei der Bundeswehr und organisierte unter anderem eine Hilfskolonne von fünf Mädels, die sich extra Urlaub genommen haben, um aus der Nähe von Osnabrück anzureisen und uns zu helfen. Das war unfassbar toll. Aber die größte Überraschung kam in Form einer Videobotschaft, die meine Nichte aufgenommen hatte: Die fünf Osnabrücker Mädels hatten in ihrem Ort über 4000 Euro an Spenden für uns gesammelt. Davon waren und sind wir wirklich überwältigt.

Natürlich überlegt man anfangs, ob man überhaupt wieder ins Ahrtal zurückkommen kann, nach allem, was dort passiert ist. In das Haus, so wie wir es kannten, werden wir nicht wieder einziehen können. Nichtsdestotrotz ist das unsere Heimat und wir wollen auf jeden Fall wieder zurück. Ich arbeite seit fünf Jahren in einer Kita in Ahrweiler und fühle mich dort absolut wohl. In Kreuzberg fühlen wir uns angekommen, das ist unser Zuhause. Das ist mein und unser Ansporn, und die vielen Helferinnen und Helfern geben uns die nötige Hoffnung, aus unserer Hölle wieder ein Paradies zu machen!

Altenahr

Diese Geschichte beinhaltet den Verlust und den Tod eines Familienmitglieds. Wenn Sie ein ähnliches Schicksal erlitten haben oder Sie solche Themen emotional zu sehr belasten, sollten Sie diese Geschichte überspringen. Infos über Hilfe bei seelischer Not finden Sie auf Seite 11–12.

Rüdiger Krauß

„Ich werde niemals den leeren Blick meiner Frau vergessen, als wir von den Wassermassen verschlungen wurden.“

Ich war am 14. Juli bei einem Bekannten in Bad Neuenahr-Ahrwei-ler und half ihm dort bei einigen Arbeiten, als mich meine Frau Ruth anrief und mir mitteilte, dass unsere Tochter Silke angerufen und vor einem Ahr-Hochwasser gewarnt hatte. Daraufhin begab ich mich lieber auf den Heimweg nach Altenahr, wo wir in der Seilbahnstraße in einem Haus an der Ahr gewohnt haben. Gegen 14:00 Uhr rief Silke erneut an, um uns zu warnen und klang sehr beunruhigt. Also entschloss ich mich dazu, unser Haus mit Sandsäcken und Brettern so gut es ging hochwassersicher zu machen. Die sechs Häschen unserer Enkeltochter brachte ich vom Garten hoch auf den Speicher. Gerade noch rechtzeitig, denn nur etwa eine Stunde später stieg der Pegel der Ahr merklich an.

Mein Bruder kam abends um 18:00 Uhr noch mit seiner Frau vorbei, als Silke erneut anrief. Dieses Mal war sie sehr in Sorge und sagte, dass wir bitte unsere Sachen packen und mit meinem Bruder nach Dernau in die Ferienwohnung mitfahren sollten. Doch Ruth verneinte und wollte lieber bleiben. Nur etwa zehn Minuten später hielt ich in einem Handyvideo fest, wie hoch das Wasser schon war. Das Wasser stieg unaufhörlich und ich wollte unbedingt noch unser Auto in Sicherheit bringen. Auf dem Rückweg musste ich teilweise schon durch 1,20 Meter hohes Wasser waten und konnte nur noch durch ein Seitenfenster ins Haus klettern. Wir verschanzten uns im Haus und hofften, dass es vom Hochwasser verschont blieb, während draußen das Wasser immer höher stieg.