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Lillemor Full

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Beschreibung

Ein verrückter Roadtrip. Eine Urne im Gepäck. Ein charmanter Musiker, der sich als perfekte Mitfahrgelegenheit entpuppt ... Nach dem Tod ihres geliebten Opas glaubt Belle, es könnte nicht schlimmer kommen. Doch sie hat nicht mit seinem letzten Wunsch gerechnet, der ihren strukturierten Alltag durcheinanderwirbelt wie nichts zuvor. Belle stellt sich der Herausforderung und begibt sich auf eine ungewöhnliche Reise, auf der sie Phil kennenlernt. Abenteuerlustig, spontan, ein Lebemensch – alles, was Belle nicht ist. Er überlässt ihr nicht nur den Beifahrersitz seines VW-Käfers, sondern zeigt ihr auch, wie viel das Leben zu bieten hat ...

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Seitenzahl: 351

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Flyhighwith Me

Lillemor Full

© 2021 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8700 Leoben, Austria

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildung: © Brandi Lea Designs/ creativemarket.com

Lektorat & Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-90-5

ISBN-EPUB: 978-3-903278-91-2

www.romance-edition.com

Für Elle.

Lass uns die Liebe und

die Freundschaft feiern.

28.08.2021

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Weg in den letzten Jahren gegangen bin. Unzählige Male. Ich kenne jede Bordsteinkante, jedes Pflänzchen in der Gosse und jeden Aufkleber an den Laternen. Vermutlich würde ich sogar mit verbundenen Augen zu Jule finden. Normalerweise bin ich mit großer Vorfreude auf einen lustigen Mädelsabend unterwegs, sodass ich zusehe, möglichst schnell bei ihr zu sein. Doch diesmal ist alles anders. Ich bin nämlich nicht allein. Mein Opa ist bei mir. Ich trage ihn herum. In einem Jutebeutel.

Die Henkel habe ich mir über die Schulter geworfen und mit der Hand halte ich mich an dem Beutel fest. Zum einen, damit die Urne nicht zu sehr hin- und herschaukelt, das würde auf eine unpassende Art und Weise fröhlich wirken. Zum anderen, um mich selbst zu beruhigen. Es ist ein komisches Gefühl, zu wissen, dass ein Mensch nach seinem Tod in so ein winziges Behältnis passt. Selbst die großartigsten Menschen schrumpfen dann zu einem kleinen Haufen Asche zusammen.

Nachdem ich das Büro des Bestatters verlassen hatte, war mir sofort klar, wohin ich gehen muss. Bei Jule treffe ich immer auf objektive, verständnisvolle und unvoreingenommene Ohren. Wir haben uns vor fast drei Jahren zu Beginn unseres Studiums in der Orientierungswoche kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ihr lautes Lachen drang über den ganzen Campus und war so ansteckend, dass ich am Ende des Tages bereits Muskelkater in meinen Wagen verspürte.

Sie ist eine Person, die sich immer über einen spontanen Besuch freut. Generell mag es Jule gern, von Menschen umgeben zu sein. Daher studiert sie auch Kommunikationswissenschaften. Sie kann nicht nur zuhören, sondern auch kommunizieren. Ich hingegen bin eher ein Eremit, ringe meist um Worte und hasse unangekündigte Personen vor meiner Tür. Deswegen habe ich sie auch angerufen und mich angemeldet.

Dass ich nicht allein auftauche, wird sie wahrscheinlich ebenso wundern wie mich. Nie hätte ich gedacht, dass ich mal mit einer Urne herumlaufe.

Bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal, dass es in Bremen erlaubt ist, die Asche eines Verstorbenen im eigenen Garten zu verstreuen. Erst nach dem Tod meines Opas habe ich davon erfahren. Der Bestatter hat mir mitgeteilt, dass ich als Person zur Totenfürsorge bestimmt bin und mein Großvater meinen Garten als Verstreuungsort festgelegt und die Zustimmungserklärung des Grundstückeigentümers eingereicht hat. Formal war seitens des Bestatters nichts zu beanstanden gewesen, und nun befinde ich mich in dieser ungewöhnlichen Situation, die mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert.

Je näher ich Jules Wohnung komme, desto langsamer werde ich. Ein Passant wirft mir von der gegenüberliegenden Straßenseite einen besorgten Blick zu. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich sehe garantiert aus, als würde ich entweder gleich in Ohnmacht fallen oder mich absichtlich im Zeitlupentempo fortbewegen. Doch ich möchte den Moment, vor dem ich mich schon seit zwei Wochen erfolgreich drücke, hinauszögern. Denn nicht nur die Urne befindet sich in meinem Beutel, sondern auch ein Brief. Er ist von meinem Opa. Kurz nach seinem Tod habe ich ihn als Einschreiben erhalten, mit dem Hinweis, ihn erst zu öffnen, wenn alles geregelt ist. Ich dachte, mein Opa meinte damit, dass ich seine Zeilen nach der Beerdigung lesen darf. Doch eine klassische Beisetzung gibt es offensichtlich nicht, sonst hätte ich keine Urne bei mir. Was bedeutet alles geregelt also? Ich hoffe, dass der Brief meine Fragen beantworten wird. Ich habe meinem Großvater mein Leben lang vertraut. Er wusste immer, was zu tun war. In wirklich jeder Situation. Und bestimmt weiß er das auch jetzt. Sodass all die Geschehnisse seit seinem Tod einen Sinn ergeben werden.

Vor der Haustür bleibe ich stehen, schiebe meine blonden Locken zurück über meine Schultern und atme tief ein. Ich beobachte ein Eichhörnchen, das an einem Baumstamm hinaufklettert. Gerne würde ich mit ihm tauschen, anstatt hier zu stehen und nicht zu wissen, was mich erwartet, wenn ich bei Jule bin und diesen Brief öffne. Die Konfrontation mit den letzten geschriebenen Worten meines Opas ist allerdings unvermeidbar. Zumindest möchte ich diese Sache nicht noch länger hinausschieben. Mit einem Seufzen drehe ich mich wieder zur Tür und drücke auf die Klingel. Eine Sekunde später ertönt das vertraute Summen des Türöffners und ich trete ein.

»Hey.« Mit ausgebreiteten Armen empfängt mich Jule im vierten Stock. Ihre braunen Haare sind zu einem unordentlichen Knoten auf dem Kopf gebunden und ein Träger ihrer kurzen Latzhose ist über ihre Schulter gerutscht. Ihr knallgrünes Bikinioberteil bildet einen lustigen Kontrast zu ihren leicht geröteten Wangen. Als ich sie umarme, steigt mir der Geruch von Sonnencreme in die Nase. Unwillkürlich muss ich an Strand und Meer denken. Die Gedanken in Kombination mit der Umarmung beruhigen mich ein bisschen und ich bin froh, dass ich hergekommen bin.

»Du riechst nach Urlaub«, sage ich, während ich mich von ihr löse.

»Ich brutzle schon den ganzen Tag auf der Dachterrasse. Würde deinem blassen Teint auch guttun. Los, lass uns die letzten Sonnenstrahlen genießen.« Jule nimmt meine Hand und zieht mich durch die WG, als würde nie wieder die Sonne scheinen und wir unsere letzte Chance sonst verpassen. Ich stolpere beinah über die Schwelle der Terrassentür und mein Griff um den Jutebeutel verstärkt sich automatisch. Nicht auszudenken, wenn ich aus Versehen meinen Opa über den Dächern von Bremen verteilte. Ich setze mich auf das Palettensofa, das wir vor zwei Jahren gemeinsam mit einer YouTube-Anleitung aufgebaut haben, und stelle den Beutel neben mir ab.

Jule lässt sich auf die bunten Kissen mir gegenüber fallen und verknotet ihre Beine zu einem Schneidersitz. Aufgeregt klatscht sie in die Hände. »Also? Hast du den ominösen Brief dabei?« Sie wirkt sehr viel neugieriger als ich. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir den Brief sofort geöffnet, als ich ihn vor zwei Wochen erhalten habe. Mal abgesehen davon, dass ich es noch nicht durfte, wäre ich auch nicht bereit gewesen. Das bin ich allerdings immer noch nicht. Doch jetzt muss ich mich Ottos Zeilen stellen, obwohl ich Angst habe, dass sie etwas Endgültiges an sich haben könnten und ich Otto unwiederbringlich gehen lassen muss.

»Nicht nur den Brief habe ich dabei«, antworte ich und greife in den Beutel.

»Was ist das?« Jule betrachtet die Urne, die ich soeben auf den Tisch gestellt habe.

»Opa Otto.«

Sie schlägt eine Hand vor den Mund. »Ach, du scheiße! Seit wann darf man Urnen mit nach Hause nehmen? Du hast sie doch nicht mitgehen lassen, oder?« Meine Freundin sieht mich an, und ich bin mir nicht sicher, ob sie es schlimm oder cool fände, würde ich ihr sagen, dass ich die Urne geklaut habe.

»Es ist legal, dass sie hier steht. Die beim Bestattungsinstitut denken, dass ich die Asche im Garten verstreue.«

»Äh, aber du hast doch gar keinen Garten.«

»Exakt.« Ich betrachte das Behältnis. Was hat sich mein Opa nur wieder Verrücktes einfallen lassen?

»Falls du denkst, dass du die Asche hier oben in unserem Beet verstreuen kannst, muss ich dich enttäuschen, Annabelle. Das bekommt den Tomaten bestimmt nicht so gut.« Besorgt schaut Jule zu dem Hochbeet hinüber, aus dem pralle Tomaten hervorlugen.

Unverzüglich muss ich lachen.

»Nein, das hatte Otto wahrscheinlich nicht im Sinn. Ich denke, es wird Zeit, dass wir den Brief öffnen.« Ich atme tief durch und ziehe den weißen Umschlag aus dem Beutel, auf dem in der unverkennbaren Schrift meines Opas mein Name steht. Das ist das Einzige, was er bislang verrät. Ich schaue mich um. »Sind Ole und Samu zuhause?« Auch wenn ich Jules Mitbewohner sehr mag und wir schon die eine oder andere Nacht durchgefeiert haben, möchte ich diesen besonderen Moment mit Jule allein teilen.

»Die haben mittwochs immer Fußballtraining«, antwortet sie und nickt mir zu, was ich als Aufforderung verstehe, fortzufahren.

Ich schiebe meinen kleinen Finger unter die zugeklebte Lasche und öffne sie Stück für Stück.

»Warte«, unterbricht mich Jule und springt von der knarrenden Palettenbank auf. »Bevor du weitermachst, hole ich uns erst mal ein Glas Vino. Ich habe das Gefühl, dass das ein längerer Abend wird.« Und schon verschwindet sie mit ihrem hüpfenden Knoten in der Wohnung. Jepp, es war definitiv die richtige Entscheidung, hierherzukommen.

»Hier«, sagt Jule und drückt mir ein überdimensionales Weinglas in die Hand. »Die Jungs haben diese Woche unser Weinregal aufgefüllt, es ist also genug da.« Auch wenn ich es praktisch finde, dass jemand da ist, der den Alkoholvorrat aufstockt, kann ich mir nicht vorstellen, mit wildfremden Menschen zusammenzuwohnen. Jule kannte zu Beginn ihres Studiums weder Ole noch Samu und ist ohne zu zögern bei ihnen eingezogen.

Sie setzt sich mir wieder gegenüber und hebt ihr Glas. »Auf dich, Otto!«

»Auf dich, Opa!«, sage ich und bin unendlich dankbar, dass es Jule gibt. Ich nehme nur einen kleinen Schluck. Was immer in diesem Brief steht, ich möchte nüchtern sein, wenn ich die Worte lese.

»Los, öffne den Umschlag.«

Ich stelle das Glas ab und merke, dass meine Hand leicht zittert. »Also gut«, murmle ich und mache mich wieder an dem Brief zu schaffen. Ich ziehe ein Blatt Papier heraus und falte es auseinander. Mein Blick folgt der geschwungenen Schrift und ich lese die Buchstaben, deren Sinn ich nicht richtig verstehe. Das kann mein Opa doch nicht ernst meinen! Ich lese den Text ein zweites Mal und würde es noch ein weiteres Mal tun, wenn mich Jule nicht unterbrechen würde.

»Was steht drin? Nun sag schon.« Jule beugt sich über den Tisch, um einen besseren Blick auf die Nachricht zu erhaschen.

»Ich bin mir nicht sicher«, bringe ich hervor und fahre mir durch die Haare. Ich sehe die Urne an und für einen Moment glaube ich, dass mir mein Opa von der schwarzen Oberfläche entgegenlächelt. Ich vermisse ihn und wäre ich nicht bei Jule, würde ich mich schlagartig einsam fühlen. Ich hatte schon immer eine starke Bindung zu ihm, die sich nach dem Tod meiner Eltern sogar noch intensiviert hat, als ich mit sechzehn Jahren bei ihm eingezogen bin. Wir waren die beste generationsübergreifende WG, die man sich vorstellen kann. Wir unternahmen zwar viel zusammen, beispielsweise hatten wir unseren festen Samstag im Monat, an dem wir einen Ausflug machten und am Abend gemeinsam kochten. Aber jeder hatte auch seinen Freiraum und wir ergänzten uns. Umso schwerer fiel es mir, als ich zwei Jahre später mit Lennart zusammenzog. Lennart ... Ich habe heute noch gar nicht an ihn gedacht.

Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf den Brief in meiner Hand.

»Ich glaube, ich soll seine Asche in Nizza verstreuen.« Meine Stimmte hört sich so an, wie ich mich fühle. Vollkommen ungläubig.

Jule nimmt mir den Zettel ab. »Zeig mal.« Sie überfliegt ihn, wobei sich ihre Lippen bewegen und sie die Zeilen stumm mitspricht. Als sie fertig ist, guckt sie mich mit hochgezogener Augenbraue kurz an, dann liest sie den Brief noch mal laut vor.

Liebe Annabelle,

dass ich tot bin, wenn du diese Worte liest, muss ich dir wohl nicht mehr sagen. Mittlerweile wirst du meine Urne abgeholt haben und auch schon dahintergekommen sein, dass ich dir die Totenfürsorge übertragen und die Genehmigung des Grundstückseigentümers gefälscht habe. Ich möchte dich bitten, meine Asche in der kleinen Bucht in Nizza zu verstreuen, in der ich damals Omas Asche verstreut habe. Vor ihrem Tod haben wir abgemacht, dass ich ihr dahin folge, wenn es so weit ist. Nun ist dieser Zeitpunkt gekommen und ich weiß, dass du mir diesen Wunsch erfüllen wirst.

Sehr freuen würde mich, wenn du nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Nizza reist. Ich möchte, dass du mal ausbrichst, etwas erlebst und vor allem lebst. Du bist so jung, genieß dein Leben! Brich aus der Monotonie, den klaren Strukturen und dem Alltag aus und öffne deine Augen. Sieh, was die Welt dir bietet, sei spontan und neugierig.

Auf den ersten Blick denkst du möglicherweise, dass ich viel von dir verlange. Aber es ist nicht nur mein Wunsch, sondern auch mein Geschenk an dich. Ich bin davon überzeugt, dass du das irgendwann verstehen wirst.

Ich werde von dort oben ein Auge auf dich haben und immer an deiner Seite sein.

In Liebe, Opa

PS: Vergiss nicht, dass du damals lieber Ritter als Prinzessin gespielt hast.

Seine Worte laut vorgelesen zu bekommen, ändert nichts an ihrer Absurdität.

»Du verstehst das auch so, oder?« Natürlich wird es Jule genauso verstehen. An Ottos Wunsch gibt es nichts Missverständliches.

»Ja, klar. Ist doch total cool«, antwortet sie und scheint noch aufgeregter zu sein als zuvor. Himmel, ich wünschte wir hätten den Umschlag nie geöffnet.

»Jule!« Ich tippe mir mit dem Finger an die Stirn. »Das kann nicht sein Ernst sein! Und deiner auch nicht. Warum sollte ich das tun?«

Dann wende ich mich abermals der Urne zu. »Wieso, Opa?«

Erwartungsvoll schaue ich sie an. Kurz darauf muss ich über die Vorstellung lachen, wie mein Opa im Himmel die Augen verdreht, weil ich von seiner Asche eine Antwort herbeisehne.

Jule zuckt mit den Schultern. »Ich wünschte, mein Opa hätte mich nach seinem Tod auf ein Abenteuer oder eine Schnitzeljagd geschickt.« Andächtig führt sie ihr Glas an die Lippen. »Otto war echt eine coole Socke. Ich mochte ihn immer sehr.« Sie macht eine kleine Pause, um zu trinken, und ich erinnere mich an das Grillfest vor drei Jahren, als sie mit Otto einen Linedance anlässlich seines achtzigsten Geburtstags hingelegt hat. »Und? Wann startest du?« In ihrer Frage schwingt so viel Ernsthaftigkeit mit, dass ich beinahe sprachlos bin.

Ich schnaube laut. »Äh, gar nicht. Wie soll ich denn nach Nizza kommen? Ich habe keinen Führerschein und öffentliche Verkehrsmittel soll ich nicht nutzen.« Ich verstehe nicht, warum ich nicht in ein Flugzeug oder einen Zug steigen soll. Wobei ich mir ohnehin vorstellen kann, dass es ohne Genehmigung schwierig sein könnte, sterbliche Überreste an Bord eines Passagierflugzeugs zu schmuggeln. Somit fiele die erste Variante ohnehin weg.

»Du musst aber! Es ist Ottos letzter Wunsch«, erwidert Jule empört. Und sie hat recht. Ich würde mich unheimlich schlecht fühlen, wenn ich diesen ignorierte. Er hat mir immer jeden Wunsch erfüllt und alles dafür getan, dass es mir gutgeht und an nichts fehlt. Jetzt bin ich an der Reihe, ihm etwas zurückzugeben.

»Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Und ich verstehe auch nicht, was er mit der ganzen Aktion bezwecken möchte«, sage ich und merke, wie mein Herz schneller schlägt.

»Steht doch da.« Jule zeigt auf eine Stelle im Text. »Du sollst etwas erleben und dein Leben genießen.«

Soweit war ich auch schon. Allerdings habe ich keine Ahnung, was er damit meint oder bezwecken will. Stimmt etwas mit meinem Leben nicht? Momentan bin ich mit allem zufrieden. Mag sein, dass es nicht an das abwechslungsreiche Leben meines Opas heranreicht, das er bis zum Schluss geführt hat. So war er beispielsweise sein Leben lang auf Reisen. Keine Pauschalurlaube, wie Lennart und ich sie gemacht haben, sondern er hat sich treiben lassen. Wie damals, als er einen Sommer in sein Auto gestiegen ist, nach Frankreich gefahren und in Nizza die Liebe seines Lebens getroffen hat. Oder als er mit seinem Kumpel, der Naturfotograf war, Anfang der Siebziger Jahre auf die Philippinen geflogen ist, ohne zu wissen, was sie dort erwartet.

Zwar haben meine Großeltern jedes Jahr Urlaub in Nizza gemacht, dennoch hielt sie das nicht davon ab, viele andere Länder und Kontinente zu erkunden. Nach dem Tod meiner Oma ist mein Großvater nur noch ein einziges Mal in Nizza gewesen.

Auch sonst hat er viel unternommen. Pokerabende mit seinen Freunden verbracht, Konzerte besucht und er ist im hohen Alter noch einen Marathon gelaufen. Generell hat er viele neue Dinge ausprobiert, hat sich nichts und niemandem gegenüber verschlossen und war ausgesprochen spontan. Manchmal habe ich ihn für seine Lebensfreude insgeheim bewundert. Aber mein Leben ist keinesfalls langweilig.

»Okay, sagen wir mal, ich würde mich rein hypothetisch mit dem Gedanken tragen, seinem Willen nachzukommen: Wie komme ich nach Nizza?« Ich kaue an meinem Daumennagel und überlege, ob ich die Tatsache mit den öffentlichen Verkehrsmitteln übergehen kann. Nein, das wäre gemogelt.

Jule, hinter deren Rücken sich die Sonne langsam als großer Feuerball dem Horizont nähert, spielt mit einer losen Haarsträhne. Auch sie scheint angestrengt nachzudenken.

Plötzlich setzt sie sich aufrechter hin. »Ich hab’s! Du trampst!«

Bei diesen Worten verschlucke ich mich am Wein und muss husten. Trampen? Niemals! Ich zeige Jule einen Vogel. »Das ist doch der Inbegriff von Leichtsinn. Das ist viel zu gefährlich.«

»Sei doch nicht immer so spießig. Ich lebe doch auch noch. Du musst nur innerhalb von ein paar Sekunden entscheiden, ob dein Gegenüber vertrauenswürdig ist. Wenn nicht, steigst du nicht ein.« Mit einem Achselzucken beendet Jule ihre Ansage.

Schon bei der Vorstellung, dass ich an irgendeiner Raststätte stehe und zu fremden Leuten ins Auto steige, wird mir ganz schlecht. Ich bin noch nie allein verreist oder habe irgendetwas auf eigene Faust in einem fremden Land unternommen. Ich bevorzuge geplante Ausflüge mit einem Reiseführer. Da weiß ich, was passiert und muss nicht mit unerwarteten Situationen rechnen. Jules Reisegeschichten hingegen jagen mir regelmäßig nach ihrer Rückkehr einen Schauder über den Rücken. Sie wurde schon nachts in einem üblen Viertel in Shanghai aus dem Hostel geworfen und hatte in Vietnam mitten im Nirgendwo einen platten Reifen. Wie um Gottes Willen konnte sie in Vietnam überhaupt mit dem Roller herumfahren?

»Nein, auf gar keinen Fall! Ich lasse mir etwas Anderes einfallen.« Es muss eine andere Lösung geben. »Du fährst mit mir. Klar, wir nehmen dein Auto.«

Meine Freundin schüttelt den Kopf. »Zwar hat Otto das in seinem Brief nicht explizit verboten, aber bestimmt hat er es sich so nicht vorgestellt. Willst du ihn enttäuschen? Du weißt schon, dass er alles mithört.« Jule zieht eine Schnute und deutet mit ihrem Finger auf die Urne.

»Jule, ich bin nicht du. Trampen ist nicht mein Ding. Außerdem schaffe ich das zeitlich gar nicht. Spätestens Sonntag muss ich wieder hier sein. Am Montag beginnt mein Praktikum im Architekturbüro. Wer weiß, wie lange ich brauche, wenn ich per Anhalter fahre.« Dieses Praktikum ist Gold wert und wird mir nach dem Studium einige Türen öffnen. Ich möchte es unter keinen Umständen verpassen.

»Vergiss doch mal das blöde Praktikum. Es ist nicht mal ein Pflichtpraktikum, verdammt, wir haben Semesterferien! Dann verschieb es um eine Woche oder sag es ab. Und die Strecke Bremen-Nizza wird nicht länger, wenn man trampt. Außerdem wirst du keine Probleme haben, mitgenommen zu werden.«

Zögernd sehe ich sie an. Mein Praktikum bei Sawitzki & Schaber verschieben? Das steht schon seit Monaten fest. Um Zeit zu schinden, schenke ich uns erst einmal nach und stelle die Flasche quälend langsam zurück auf den Tisch. »Ich glaube nicht, dass ...«

»Glaub mir, trampen macht total viel Spaß. Du lernst so viele Leute kennen. Und es ist doch nur bis Frankreich.«

Ich weiß nicht, ob es am Wein oder an Jules ermutigendem Gesichtsausdruck liegt, den ich im Sonnenuntergang so deute, aber ich denke einen Moment darüber nach. Natürlich wäre es unprofessionell, so kurzfristig ein Praktikum zu verschieben, aber nicht unmöglich. Ich könnte sagen, dass es sich um einen Todesfall in der Familie handelt, was grob betrachtet nicht einmal gelogen wäre. Außerdem hat Jule recht, Frankreich ist gar nicht so weit entfernt. Und zurück könnte ich auch fliegen oder mit dem Zug fahren. Ich müsste nur trampend hinkommen.

»Mal angenommen, ich würde das durchziehen. Was mache ich, wenn ich plötzlich bei einem Psychopathen im Auto sitze? Serienkiller sehen ja meist durchschnittlich aus.«

»Also«, sagt Jule und setzt sich kerzengerade hin, »zuerst schickst du mir von dem jeweiligen Fahrzeug das Kennzeichen. Das machst du auffällig und setzt den Fahrer darüber in Kenntnis. Falls er geplant hat, dich zu ermorden, wird er es spätestens dann noch einmal überdenken. Wenn er dir während der Fahrt blöd kommt, bittest du ihn, dich an der nächsten Tankstelle abzusetzen. Zur Not kannst du ihm auch damit drohen, die Handbremse zu ziehen. Was du aber niemals tun solltest, weil es echt gefährlich werden kann. Du kannst auch jederzeit die Polizei anrufen oder es zumindest ankündigen. Und nimm unbedingt Pfefferspray mit.«

Ich muss schlucken. »Ist dir schon mal etwas Unangenehmes passiert?«

Jule winkt ab. »Ein einziges Mal. Wobei es eigentlich eher lustig war. Ich bin mal bei einem gestriegelten Kerl im Anzug mitgefahren. Er war total zuvorkommend und höflich. Im Laufe des Gesprächs hat er mir immer wieder Komplimente zu meinen Füßen gemacht. Das fand ich schon etwas seltsam. Als er mich dann fragte, ob er mir Schuhe kaufen kann, wusste ich, dass ich es mit einem Fußfetischisten zu tun habe. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich sein Angebot nicht angenommen habe. Ich hätte ihn richtig ausnehmen können.« Ihr Lachen dröhnt durch die Dämmerung. Ich versuche, ein Lächeln zustande zu bringen. Ich bezweifle, dass ich so gelassen reagieren würde. Mir fällt es schwer, auf unvorhersehbare Geschehnisse zu reagieren und würde vermutlich sofort in Panik ausbrechen. »Das sind ja grandiose Aussichten.«

»Heißt das, du machst es?« Jules aufgeregtes Quietschen durchbricht die Stille auf der Terrasse.

»Ja.« Ich bin selbst überrascht über meine schnelle Antwort. »Aber«, werfe ich ein, ehe Jule in Begeisterungsstürme ausbrechen kann, »kannst du bitte, bitte mitkommen?«

»Süße, total gern. Aber Ben und Mia heiraten doch am Samstag in Berlin«, antwortet sie und sieht nicht mal traurig aus, dass sie mich nicht begleiten kann. Ich gewinne den Eindruck, dass sie ganz genau versteht, was mein Opa mit seinem Brief bewirken möchte. Nur ich tappe im Dunkeln.

»Schade, das hatte ich vergessen. Dann muss ich doch allein fahren. Oder wir fahren nach meinem Praktikum.« Ich glaube allerdings, wenn ich nicht morgen nach Nizza fahre, fahre ich nie dorthin. Ich würde alles überdenken und das ganze Vorhaben verwerfen. Aber allein per Anhalter nach Frankreich?

Jule merkt wohl, dass sich schon wieder Unbehagen in mir ausbreitet. Sanft schiebt sie die Urne in meine Richtung. »Du bist nicht allein. Otto ist dabei. Das wird euer gemeinsamer Roadtrip.«

Zögerlich nicke ich.

Plötzlich springt Jule auf und läuft in die Wohnung. Wäre jetzt ein guter Augenblick, um mich davonzustehlen und so zu tun, als hätte es den Brief nie gegeben? Außer Jule weiß niemand davon. Ich müsste nur vor ihr ein schlechtes Gewissen haben. Und vor meinem Opa natürlich.

Zu spät. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht und einem großen Rucksack in der Hand taucht meine Freundin wieder auf.

»Hier«, sagt sie und wirft den Rucksack neben mich, »mit dem Backpack habe ich schon halb Südostasien bereist. Bisher hat er mir immer Glück gebracht und bei dir wird er sich auch Mühe geben. Da bin ich mir ganz sicher. Außerdem bin ich dann doch irgendwie dabei.«

Ich streiche über die schwarze Nylonoberfläche und bilde mir ein, dass ein Stück von Jules Verwegenheit auf mich überspringt. »Danke«, flüstere ich. Ob sie weiß, wie viel mir diese Leihgabe bedeutet?

»Nachdem wir nun deinen Talisman gekürt haben, können wir gleich noch deine erste Mitfahrgelegenheit aussuchen, findest du nicht?« Wenn es überhaupt möglich ist, wird ihr Grinsen noch breiter. Verwundert blicke ich sie an. Ist der Sinn des Trampens nicht, dass man am Straßenrand seinen Daumen nach oben streckt? Oder ein gammeliges Pappschild mit der ungefähren Richtung hochhält?

»Wie soll das funktionieren?«, frage ich und Jule sieht mich an, als käme ich von einem anderen Planeten. Vermutlich dem Hinterwäldlerplaneten.

»Es gibt Apps dafür. Dort bieten Leute ihre freien Plätze an.«

Erleichterung durchströmt mich. Zu wissen, bei wem ich morgen ins Auto steige, nimmt mir eine große Portion Bedenken. Und laut des Briefs ist es nicht gegen die Regeln.

Mit entschlossener Miene mustere ich abermals die Urne. »Ach, was soll’s. Opa, wir fahren morgen nach Nizza.« Beseelt von meiner Entscheidung, stoße ich noch einmal mit Jule an, die laut jubelt.

Ich sitze also an einem späten Mittwochabend über den Dächern von Bremen und habe mich gerade dazu entschlossen, mit einer Urne nach Frankreich zu trampen.

Kaum schließe ich die Wohnungstür auf, schlägt mir die Leere entgegen, die ich hier seit Wochen empfinde und versuche, zu verdrängen. Erfolglos, wie mir in diesem Moment wieder bewusst wird. Seitdem sich Lennart vor knapp zwei Monaten von mir getrennt hat und ausgezogen ist, fühlt es sich nicht mehr nach meinem Zuhause an. Der Großteil der Möbel und Dekoration gehörte ihm, sodass im Wohnzimmer nur noch mein orangefarbener Lieblingssessel, ein winziger Beistelltisch und eine alte Lampe stehen. Meine anderen, wenigen Habseligkeiten habe ich bereits in Kartons verstaut. In spätestens vier Wochen muss auch ich ausziehen. Wohin? Ich weiß es nicht. Ich bin mit der Wohnungssuche überfordert. Einerseits wohne ich ungern allein, das haben mir die vergangenen Wochen gezeigt, und ich kann mir als Studentin keine schöne Bleibe leisten. Andererseits widerstrebt mir der Gedanke an eine Wohngemeinschaft so sehr, dass ich mir noch nichts Neues gesucht habe. Schnell schüttle ich den Gedanken daran ab, was passiert, wenn ich bald kein Dach mehr über dem Kopf habe.

Doch nicht nur die Tatsache, dass ich keine wohnliche Atmosphäre mehr vorfinde, wenn ich die Tür aufschließe, erzeugt die Leere. Sie resultiert vor allem daraus, dass niemand hier ist, wenn ich komme. Es wartet keiner auf mich, spricht mit mir oder nimmt mich in den Arm. Zum ersten Mal in meinem Leben befinde ich mich in dieser Situation und es gefällt mir nicht. Überhaupt nicht. Ich glaube, mit Lennart hätte ich mich sogar in einer kleinen Holzhütte im Wald wohlgefühlt, ohne Strom und fließend Wasser, weil wir einander gehabt hätten. Aber ganz allein ist selbst das schönste Appartement nichts wert.

Seufzend stelle ich den Jutebeutel mit der Urne ab und lasse ebenfalls den Vierzig-Liter-Rucksack zu Boden gleiten. Darin befindet sich auch ein winziger Schlafsack, den ich mir von Jule für meinen Trip nach Nizza geliehen habe. Natürlich finde ich es schade, dass Jule mich nicht begleiten kann. Aber es ist beruhigend, dass sie mir ihren Rucksack leiht, mit dem sie schon so manches Abenteuer in fernen Ländern überstanden hat und der nun als offizieller Glücksbringer an meiner Seite ist. Auch wenn er in diesem Moment in dem großen, leeren Flur etwas verloren aussieht. Damit sind wir schon zu zweit. Begleitet vom knarzenden Laminat, gehe ich in das Wohnzimmer, schalte die Stehlampe an, die immerhin den gesamten Raum in ein warmes Licht taucht, und lasse mich in den Sessel plumpsen. Dann nehme ich Lennarts und meine Kuscheldecke von der Armlehne und werfe sie über meine Beine. Selbst im Hochsommer decke ich mich immer zu. Und trotz oder gerade wegen der ganzen Erinnerungen gern mit dieser Decke. Wir hatten sie bei unserem ersten Picknick dabei und ab dem Zeitpunkt war sie unser treuer Begleiter auf all unseren Autofahrten und Ausflügen. Sozusagen als Notfalldecke, falls man einmal in einen Schneesturm gerät. Oder sich spontan in einer kühlen Herbstnacht den Sternenhimmel ansehen möchte. Bislang habe ich es noch nicht übers Herz gebracht, sie in einen Karton zu packen oder zu entfernen. Sie ist das letzte Stück Geborgenheit in dieser Wohnung. Ich bilde mir sogar ein, dass sie immer noch ein bisschen nach Lennart riecht. Lennart. Was er wohl zu meinem spontanen Trip nach Nizza gesagt hätte? Vermutlich hätte er gelacht und angenommen, dass ich einen Scherz mache. Dann hätte ich ihm vergewissert, dass ich es ernst meine und hätte sein berühmtes Augenrollen als Reaktion bekommen. Im Anschluss daran hätte er mir mein Vorhaben ausreden wollen und vermutlich hätten wir uns auch gestritten. Das ist das erste Mal, dass ich etwas Positives in unserer Trennung sehe. Es gibt keine Auseinandersetzung mit Lennart. Ansonsten vermisse ich ihn allerdings bei allem, was wir üblicherweise zusammen getan haben. Obwohl ich mir einrede, dass ich ohne ihn besser dran bin. Nach sieben Jahren Beziehung wegen eines Jobs verlassen zu werden, ist hart und zeigt meinen Stellenwert in seinem Leben. In meine Trauer mischt sich Wut und Unverständnis. Das passiert immer öfter, wenn ich an ihn denke, und ich deute es als gutes Zeichen. Ich beschließe, dass ich genug an meinen Ex gedacht habe und nehme mein Mobiltelefon in die Hand.

Dann öffne ich die App für Mitfahrgelegenheiten, die Jule und ich auf meinem Handy installiert haben. Ich kontrolliere die Uhrzeit und den Treffpunkt für die erste Abfahrt, obwohl ich beides bereits verinnerlicht habe.

Unglaublich, dass ich es wirklich mache!

Jule und ich haben eine ungefähre Route herausgesucht und anschließend nach passenden Angeboten recherchiert. Glücklicherweise handelt es sich bei dem Fahrer des ersten Autos, das mich aus Bremen hinausbefördert, um eine Frau. Auch mit der zweiten Mitfahrgelegenheit bin ich zufrieden. Auf den Fotos ist ein sympathisches Pärchen zu sehen, das ungefähr in meinem Alter sein muss. Dennoch bin ich verdammt aufgeregt. Kann ich mich auf die Leute verlassen? Tauchen sie zum verabredeten Zeitpunkt auf? Werde ich Nizza erreichen? Oder verlässt mich zwischendurch der Mut? Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was alles schiefgehen kann. Ich spüre, wie sich erneut Unentschlossenheit in mir ausbreiten möchte, und stehe schnell auf. Obwohl ich nicht müde bin, wird es das Beste sein, wenn ich ins Bett gehe und mich zum Einschlafen zwinge. Dann kann ich wenigstens nicht über den morgigen Tag nachdenken.

Am nächsten Morgen wecken mich warme Sonnenstrahlen, die meine Nase kitzeln. Mit geschlossenen Augen drehe ich mich auf den Bauch. Noch immer vermisse ich das Geräusch des Lattenrosts. Auf meiner Seite hat er immer ein leises Quietschen von sich gegeben, wenn ich mich gewendet habe. Jetzt quietscht gar nichts mehr, weil die Matratze auf dem Fußboden liegt. Gnädigerweise hat Lennart sie mir überlassen. Sonst hätte ich mir eine kleine 90 x 200 Zentimeter Matratze kaufen müssen, auf der sich kein Mensch vernünftig umdrehen kann. Oder mein Sessel hätte mir als Schlafstätte gedient, was nach zwei Tagen garantiert zu Schmerzen im ganzen Körper geführt hätte. Ich kann mich also glücklich schätzen, dass Lennart so großzügig gewesen ist. Ich drücke mein Gesicht in das Kissen. Seit gestern Abend denke ich viel zu viel an ihn. Er hat es nicht verdient. Jede Sekunde, die ich an ihn denke, ist eine zu viel. Bevor ich mich selbst ersticke, stehe ich auf.

Mir sickert ins Bewusstsein, dass heute der große Tag ist, an dem ich zum ersten Mal trampen werde. Schlagartig bin ich hellwach. Gestern war ich so entschlossen, doch jetzt überkommt mich erneut die Angst, dass ich diese Reise nicht meistern kann. Ich schlucke schwer und schiebe die Gedanken in die hinterste Ecke. Ich könnte jemanden gebrauchen, der mir Mut zuspricht. Doch es ist keiner da. Stattdessen muss ich mich allein von der Wichtigkeit dieses Vorhabens überzeugen. Oder mir zumindest an anderer Stelle Beistand holen. Bevor ich in die Küche gehe, hole ich den Beutel aus dem Flur. Ich stelle die Urne auf die Küchenzeile neben die Kaffeemaschine, da auch in diesem Raum kein Tisch mehr steht. Dann werfe ich eine Kapsel in die Maschine und schalte sie ein. Während ich darauf warte, dass sich meine Tasse füllt, betrachte ich die Urne. Es wäre schön, wenn ich mit jemandem gemeinsam frühstücken könnte, der mir für meinen bevorstehenden Trip alles Gute wünscht und mir versichert, dass er mich zur Not von irgendeiner Tankstelle abholt, falls ich die Nerven verliere. Immerhin beruhigt es mich ein bisschen, dass ich auf irgendeine Weise meinen Großvater bei mir habe.

»Was hast du dir nur dabei gedacht, Opa?«, murmle ich und meine Worte gehen in dem Dröhnen der Kaffeemaschine unter. Ich nehme den Brief in die Hand und lese ihn erneut, obwohl ich ihn seit dem ersten Mal auswendig kann. Sieh, was die Welt dir bietet, sei spontan und neugierig. Dieser Satz bringt mich dazu, mich in der Küche umzusehen. Die Welt da draußen hat mir vermutlich wesentlich mehr zu bieten als meine momentane Wohnsituation. Leere und Stille. Letzteres, sobald mein belebendes Morgengetränk fertig ist. Viel ist es nicht, was ich in dieser Sekunde geboten bekomme. Genau genommen gar nichts. Ich denke nicht, dass mich mein Opa durch diese Zeile dazu animieren wollte, mir endlich eine neue Bleibe zu suchen. Er meint damit bestimmt etwas Größeres, dessen Sinn ich nicht verstehe. Oder noch nicht?

Ich fange schon wieder zu grübeln an, lege schnell den Brief zur Seite und nehme den Becher, sodass wenigstens meine Hände etwas anderes zu tun haben. Doch kaffeetrinkend, im Beisammensein meines Opas, steigt in mir wieder die Entschlossenheit auf, die ich gestern Abend so eindeutig verspürt habe. Meine Unsicherheit und Angst, die ich beim Aufstehen noch empfunden habe, sind schlagartig verschwunden. Stattdessen spüre ich einen nie gekannten Antrieb in mir aufkeimen. Dieses Gefühl möchte ich unter keinen Umständen verlieren, indem ich zu viel über alles nachdenke. Also muss ich handeln. Ich stürme regelrecht ins Badezimmer.

Als ich nach einer langen, aber kalten Dusche ins Schlafzimmer komme, sehe ich, dass ich zwei neue Nachrichten auf meinem Handy habe. Die erste ist von Jule, in der sie mir noch mal die Daumen drückt und mir sagt, wie stolz sie auf mich sei. Die zweite wird in der App angezeigt und ist von der Frau, die mich um zwölf Uhr am Bahnhof einsammelt. Sie erkundigt sich, ob es dabei bleibt. Ein warmes Gefühl durchströmt mich, das mich ebenfalls bestärkt. Meine erste Mitfahrgelegenheit scheint ein Jackpot zu sein. Ich antworte ihr, dass ich zur verabredeten Zeit am Treffpunkt sein werde und füge nach kurzem Zögern hinzu, dass ich mich freue. Ich weiß nicht, ob man so etwas schreibt, aber es kann nicht schaden.

Als nächstes rufe ich im Architekturbüro Sawitzki & Schaber an. Mein Herz schlägt schneller, während es klingelt, und ich bete, dass ich gleich glaubwürdig wirke. Glücklicherweise erreiche ich Frau Sawitzki, mit der ich mich beim Vorstellungsgespräch hervorragend verstanden habe. Ich frage sie, ob es in Ordnung sei, wenn ich erst am Mittwoch mein Praktikum beginne, da mein Großvater verstorben sei und ich mich um die Beerdigung kümmern müsse. Einen Augenblick schäme ich mich, als Frau Sawitzki mir mitteilt, dass es kein Problem sei und ich mir alle Zeit der Welt nehmen solle. Ich bedanke mich, lege auf und schwöre mir, dass ich diesen herzensguten Menschen nie wieder belügen werde.

Dann schnappe ich mir Jules Rucksack, der noch immer im Flur liegt. Euphorisch werfe ich ihn im Schlafzimmer auf die Matratze und verstaue Kleidung für fünf Tage darin. Ich hoffe zwar, dass ich nicht so lange brauche und Anfang nächster Woche wieder zuhause bin, aber wer weiß, nachher strande ich irgendwo im Nirgendwo und ärgere mich, dass ich keine Ersatzkleidung eingepackt habe. Nach kurzem Überlegen werfe ich auch noch meinen Bikini und Flip-Flops in den Rucksack. Meine Mission besteht zwar darin, schnellstmöglich nach Nizza und zurück zu kommen, aber schließlich hat keiner gesagt, dass ich mir nicht ein paar schöne Stunden am Strand machen darf, bevor ich wieder nach Deutschland fliege. Als letztes lege ich den Brief und die Urne auf die Kleidung und bin erstaunt, wie viel man in einen Vierzig-Liter-Rucksack bekommt. Normalerweise verreise ich mit einem Hartschalenkoffer, der die dreiundzwanzig Kilo Gepäckvorgabe der Airlines gern mal ausreizt.

Zufrieden mit meinem Werk, ziehe ich die Kordeln zu und schultere mein Gepäck. Zwar hätte ich noch Zeit, aber ich möchte lieber ein bisschen früher starten, falls etwas mit der Straßenbahn sein sollte. Ich durchquere den fast leeren Flur, in dem jeder meine Schritte laut zu hören ist und an dessen Wänden eindeutig zu erkennen ist, an welchen Stellen eines von Lennarts teuren Bildern gehangen hatte. Ich komme an der Küche vorbei und halte kurz inne. Wenn Lennart und ich noch ein Paar wären, hätte ich ihm altmodisch einen Zettel an den Kühlschrank geheftet. Ich hätte etwas wie Mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich geschrieben und mir vorgestellt, wie er sich freut, wenn er nach der Arbeit meine Notiz liest. Nach der Arbeit, die er offensichtlich mehr liebt als mich.

Nach einem letzten tiefen Durchatmen verlasse ich die Wohnung, die sich schon eine ganze Weile nicht mehr nach meinem Zuhause anfühlt, und ziehe die Tür hinter mir zu.

Ich stehe am verabredeten Treffpunkt und wippe auf den Fußballen. Nervös schaue ich auf die große Bahnhofsuhr. Sabine ist bereits zehn Minuten zu spät. Wenn sie mir heute Morgen keine Nachricht geschickt hätte, würde ich davon ausgehen, dass sie mich versetzt. Doch so habe ich die Hoffnung, dass sie jeden Augenblick um die Ecke biegt. Trotzdem verunsichert mich die kleine Verspätung. Das kann ich nicht leugnen.

Während in der Straßenbahn noch die Entschlossenheit überwog, nagen nun wieder Zweifel an mir. Ist mein Aufbruch zu spontan? Habe ich mit Jule alles durchdacht? Hätte ich lieber noch warten sollen, bis meine Freundin mich begleiten kann? Wäre ich noch zuhause, würde ich garantiert einen Rückzieher machen und die Wohnung gar nicht erst verlassen.

»Verdammt!« Ich schlage mir eine Hand an die Stirn. Das Pfefferspray! Jule meinte, ich soll mir unbedingt welches besorgen. Ich drehe mich um und gucke, ob ein Laden in der Nähe ist, der so wirkt, als würde er Pfefferspray verkaufen. Ehrlich gesagt habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, wo man so etwas kaufen kann. Doch bestimmt nicht am Bahnhofskiosk. Meine Reise hat noch nicht einmal begonnen und ich habe schon den ersten Fehler begangen. Großartig. Ich versuche mir einzureden, dass es so besser ist. Bei meiner Unwissenheit hätte ich mir das Zeug im Falle eines Einsatzes womöglich selbst ins Gesicht gesprüht und mich außer Gefecht gesetzt.

Ein Hupen reißt mich aus den Gedanken. Ein roter Peugeot hält neben mir. Aus dem heruntergelassenen Fenster streckt sich ein feuerroter Haarschopf. »Hey, du bist bestimmt Annabelle. Ich bin Sabine, aber du kannst auch Bine sagen.« Ich verstehe sie kaum, weil sich auf der Rückbank tumultartige Szenen abspielen. Drei Jungs streiten sich lautstark um einen Plüschpapagei.

»Hallo, Sabine«, antworte ich und schaue an ihr vorbei in das Wageninnere. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie Passagiere mit an Bord hat.

»Die beruhigen sich gleich wieder«, sagt sie lachend, als sie meinen Blick bemerkt. »Du kannst deine Sachen hinten reinwerfen.« Ich nicke und gehe zum Kofferraum, der sich gleich beim ersten Versuch öffnet. Allerdings bringt mir das recht wenig. In dem winzigen Kofferraum befinden sich neben zwei Laufrädern noch eine Kühltasche, ein Fußball, ein Roller und ein buntes Sammelsurium aus allerlei Kram. Ich meine sogar, ein aufblasbares Schwimmtier auszumachen, das zerknautscht in die Ecke gestopft wurde. Obwohl es beinah aussichtslos scheint, streife ich meinen Rucksack ab und lege ihn obenauf. Ich muss gar nicht erst versuchen, die Klappe zu schließen. Unter keinen Umständen möchte ich das Risiko eingehen, die Urne zu beschädigen. Bei meinem kläglichen Tun werde ich von einem neugierigen Augenpaar beobachtet, das über die Rücksitzlehne schielt.

»Passt es nicht?«, ruft Sabine vom Fahrersitz.

»Ich glaube nicht. Aber das ist kein Problem.« Ich nehme den Rucksack wieder an mich und schließe den Kofferraum. Als ich zur Beifahrertür gehe, fällt mir ein, dass ich fast den zweiten Fehler begehe, indem ich das Fotografieren des Kennzeichens vergessen hätte. Ich eile vor die Motorhaube. »Ist es okay, wenn ich das Kennzeichen fotografiere?«, frage ich und komme mir nicht nur dämlich, sondern auch noch unhöflich vor. Als ginge von Sabine, die drei Kinder auf der Rückbank sitzen hat, irgendeine Gefahr aus.

»Schade, dann wird es wohl nichts mit der Entführung und dem Lösegeld.« Ihr Lachen ist so laut, dass es eine Sekunde aussieht, als würde sie damit ihr kleines Auto in Schwingungen versetzen.

Dank ihrer Worte fühle ich mich noch schlechter als ohnehin schon und spüre, wie Wärme in meine Wangen kriecht. »Tut mir leid, meine Freundin hat mir eine Art Checkliste für das Trampen erstellt.« Ich hebe entschuldigend die Schultern und bin unschlüssig, was ich tun soll. Ich möchte weder, dass Jule denkt, ich hätte alles vergessen, was wir gestern besprochen haben, noch möchte ich Sabine gegenüber undankbar erscheinen.

Sabine hebt die Hand, die sie aus dem Fenster baumeln lässt. »Mach ruhig. Mein Opa sagt immer, Vorsicht ist besser als Nachsicht.«

Noch immer etwas beschämt, schieße ich schnell das Foto und schicke es an Jule. Danach steige ich endlich ein und quetsche den Rucksack zwischen meine Beine.

»Sorry, ich sollte den Kofferraum mal ausmisten. Aber mit den drei Rabauken komme ich zu nichts.« Wieder ein ohrenbetäubendes Lachen.

Ich drehe mich um und winke den Rabauken zu. »Hi, ich bin Annabelle. Und wer seid ihr?«

»Robin«, sagt der Größte in der Mitte und grinst mich mit einer riesigen Zahnlücke an. Ich schätze ihn auf etwa sechs Jahre und in seinen großen blauen Augen blitzt der Schalk auf. Rechts und links neben ihm müssen Zwillinge sitzen. Auf den ersten Blick sehen sie mit ihren blonden Locken identisch aus, doch der Kleine, der offenbar den Kampf um den Plüschpapagei gewonnen hat, hat einen winzigen Leberfleck oberhalb der Lippe. Vielleicht ist es auch Schokolade, aber das ist das Einzige, was ihn in diesem Moment von seinem Bruder unterscheidet.

Interessiert gucken sie mich an und lächeln verschmitzt.

»Ach, kommt schon, Jungs. Tut nicht so schüchtern.« Sabine startet kopfschüttelnd den Motor. »Das sind Louis und Finn, und wie du eben schon gemerkt hast, sind sie sonst sehr redselig.«

Ich drehe mich wieder nach vorn. »Sind das alles deine Kinder?« Sabine biegt vom Parkplatz und von der Seite schaue ich sie mir genauer an. Sie ist vielleicht dreißig, aber auf keinen Fall älter.

»Jepp. Robin ist sechs und die Zwillinge sind drei«, antwortet sie und fädelt sich geschickt in den Verkehr ein.

»Wow.« In meiner Vorstellung sehe ich mich auch als junge Mutter. Allerdings nur mit zwei Kindern und nicht mit Zwillingen. Wobei diese Vorstellung durch die Trennung auch in weite Ferne gerückt ist.

Sabine lacht abermals und strahlt dabei so viel Lebensfreude aus, wie ich es selten bei jemandem erlebe.

»Ja, es herrscht durchgehend Chaos und es ist immer etwas los. Aber ich behaupte mal, dass mein Freund und ich alles ganz gut meistern.« Sie bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ich bin erstaunt, dass sie Freund und nicht Mann sagt. An ihrer Hand funkelt in der Tat kein Ring. Zu gern würde ich sie fragen, ob ihr Freund der Vater ihrer Kinder ist und warum sie nicht verheiratet sind. Aber das fände ich zu aufdringlich. Immerhin kennen wir uns gar nicht. »Und ihr macht heute einen Ausflug zu viert?«, erkundige ich mich stattdessen.

»Ja, der Papa ist auf Geschäftsreise und wir fahren heute in den Vogelpark Walsrode. Ist es denn ...«

Begeisterte Rufe von hinten unterbrechen sie. »Jaaaa, Vögel!«, ruft Louis, und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er wild mit dem Plüschtier herumwedelt.