Wenn das Leben ruft, sag Ja! - Lillemor Full - E-Book
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Wenn das Leben ruft, sag Ja! E-Book

Lillemor Full

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Beschreibung

Ein attraktiver Fremder. Fünfzehn unbekannte Aufgaben. Eine unvergessliche Nacht. Als Roxy auf der Reise zu ihrem Auslandssemester in Berlin zwischenlandet, hätte sie sich nie vorstellen können, dass aus den nächsten zwölf Stunden das größte Abenteuer ihres Lebens wird. Ein gutaussehender Kerl rettet sie vor einem Taschendieb und bittet sie im Gegenzug, die Nacht mit ihm zu verbringen. Dabei soll sie ihm helfen, fünfzehn Aufgaben zu lösen, die er von seinen Freunden per WhatsApp gestellt bekommt. Roxy ist hin- und hergerissen, willigt jedoch schließlich ein und begibt sich damit auf eine kuriose Suche nach dem Sinn und Unsinn des Lebens, und muss sich dabei eingestehen, dass Liebe auf den ersten Blick tatsächlich existiert ...

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Seitenzahl: 316

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Wenn dasLeben ruft, sag Ja!

Lillemor Full

© 2021 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8712 Niklasdorf, Austria

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildung: © Caracolla

Lektorat & Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-51-6

ISBN-EPUB: 978-3-903278-52-3

www.romance-edition.com

Für Team Bjanja.

Wir sind Berlin.

14:10 Uhr

Hauptbahnhof Berlin. Meine Endstation. Ich verlasse den ICE und bleibe stehen, um die Großstadtluft einzuatmen. Etwas an ihr ist anders. Verwegener und rauer. Als rieche es nach fremden Gesichtern und wagemutigen Erlebnissen, aber vielleicht trifft das auf jeden Bahnhof zu. Egal. Für mich ist es der Duft von Abenteuern und meines beginnt in dieser Sekunde. Nein, das wahre Abenteuer beginnt genau genommen erst morgen, sobald ich in das Flugzeug steige, das mich nach Down Under bringen wird. Mein Zwischenstopp in Berlin dient eigentlich nur dazu, rechtzeitig am Flughafen zu sein. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich ein Talent dafür besitze, Flüge zu verschlafen. In diesem Fall wäre es eine Katastrophe. Und gegen ein paar Stunden in der Hauptstadt, die ich zuletzt auf Klassenfahrt in der Zehnten besucht habe, ist nichts einzuwenden.

Nachdem ich ein weiteres Mal die aufregende Berliner Luft eingeatmet habe, setze ich mich in Bewegung und bahne mir meinen Weg durch die Menschenmassen. Zweimal bleibt mein Backpacker-Rucksack an jemandem hängen, doch es scheint niemanden zu stören. Zumindest vernehme ich keine aufgebrachten Stimmen, die an mich gerichtet sind. Ich liebe es hier in Berlin. In meiner Heimatstadt Nienburg wäre es zwar auch nicht zu einem Handgemenge gekommen, jedoch auf jeden Fall zu einer Diskussion, ob ich denn keine Augen im Kopf hätte. Nun gut, auf große Rucksäcke trifft man in der Provinz eher selten. Möglicherweise sind die Berliner den Umgang mit solch ausladenden Gegenständen gewöhnt.

Auf der Rolltreppe schaue ich mich um und ein Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus. Obwohl sich unzählige Menschen um mich tummeln und die Luft stickig ist, fühlt es sich nach Freiheit an. Wenn ich dieses Gefühl bereits auf einer großstädtischen Rolltreppe verspüre, möchte ich gar nicht wissen, wie es mir ergeht, wenn ich in Perth aus dem Flieger steige.

Als ich das Untergeschoss erreiche, sehe ich, wie die Linie 7 einfährt, und ich beschleunige meinen Schritt. Im Zug habe ich bereits recherchiert, mit welcher Bahn ich mein Hostel am besten erreiche. Wobei ich mir das Schnellergehen sparen könnte. Die Bahn fährt fast im Minutentakt und ich habe keine Pläne. Ich möchte mich treiben lassen und sehen, was passiert. Was Berlin für mich bereithält. Ich werde gemütlich durch die Viertel schlendern, mich mit einer ausgefallenen Eissorte an die Spree setzen und mir heute Abend in einer coolen und angesagten Location ein Getränk gönnen. Nur eins. Höchstens zwei. Von dem, was dazwischen passiert, lasse ich mich überraschen.

Ich entscheide mich für den ersten Waggon und mir schlägt eine Welle Schweißgeruch entgegen. So riecht die Großstadt also wirklich. Auch in Ordnung. Mir kann nichts und niemand die Laune verderben. Ich erspähe einen freien Sitz. Wäre es nicht so warm und hätte ich keine kurze Hose an, würde ich mich sofort darauf stürzen. Doch allein der Anblick der orangefarbenen Plastiksitzfläche lässt das Gefühl von nackten Beinen, die am Plastik kleben, in mir hochkommen. Also bleibe ich stehen und lehne mich mit meinem Rucksack an eine der Trennwände. Ich schließe die Augen und lausche dem Stimmengewirr und dem monotonen Rattern. Die letzten Wochen schieben sich in meine Gedanken. Die bestandene Masterarbeit, mein Ex-Freund, der mich nach drei gemeinsamen Jahren von einem auf den anderen Tag verlassen hat, meine spontane Entscheidung, meinen geplanten Australienaufenthalt von sechs auf zwölf Monate zu verlängern. Ich war nie jemand, der etwas lange im Voraus plant oder den ultimativen Lebensentwurf hat. Meiner Meinung nach passiert alles aus einem Grund, auch wenn dieser nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar oder logisch ist. Daher akzeptiere ich auch, dass ich in diesem Moment in der lauten, stinkenden und schwülwarmen U-Bahn stehe. Das ist genau der Ort, an dem ich sein soll. Zumindest noch für zwei Stationen.

An der Weinmeierstraße trete ich ins Freie und lasse mich von Google Maps zu meiner Übernachtungsstätte leiten. Obwohl der Fußweg nicht lang ist, merke ich, wie mein Top schon nach wenigen Metern an meinem Rücken klebt. Und das Anfang Mai. Als ich das Hostel betrete, übermannt mich die eiskalte Luft der Klimaanlage. So stark heruntergekühlte Unterkünfte kenne ich nur aus den USA. Mir war nicht bewusst, dass sie mittlerweile auch in Deutschland Einzug gehalten haben. Gänsehaut überzieht meine Arme, und ich beeile mich mit dem Check-In.

In dem geräumigen Sechsbettzimmer stehen drei Hochbetten, die noch alle unberührt sind. Ich sichere mir eins der unteren, indem ich meine Sachen darauf werfe. Natürlich hoffe ich, dass ich das Zimmer für mich behalte, aber ich möchte nichts riskieren. Mein Trauma, das ich mit dreizehn erfahren habe, als ich auf Klassenfahrt aus dem Stockbett gefallen bin, konnte ich nie überwinden. Ich ziehe mir ein anderes T-Shirt an und erfrische mich in dem Gemeinschaftsbad. Nachdem ich mich angemessen für eine Übernachtung eingerichtet habe, verlasse ich das Hostel wieder. Ohne die fünfzehn Kilo auf meinem Rücken, fühlt sich die Wärme zwischen den Häusern gar nicht mehr so erdrückend an.

»Dann mal los, Roxy«, sage ich leise zu mir selbst und mache mich auf den Weg, Berlin zehn Jahre nach meinem letzten Besuch zu erkunden.

18:01 Uhr

Vier Stunden später, in denen ich durch die Hauptstadt gewandert bin, kann ich das Knurren meines Magens nicht länger ignorieren. Auf der anderen Straßenseite entdecke ich einen kleinen Dönerladen, der auf dem Bürgersteig zwei Bierzeltgarnituren im Schatten aufgebaut hat. Genau das, was ich brauche. Ich schaue nach links und nach rechts, ehe ich quer über die Straße gehe, um endlich der Sonne zu entkommen, die immer noch ungehindert vom wolkenlosen Himmel scheint. Meine Nase und Wangen kribbeln bereits. Ich freue mich schon auf mein Spiegelbild. Erfahrungsgemäß besiedelt nach stundenlanger Sonneneinstrahlung ein Heer von Sommersprossen mein Gesicht. Zwar passen sie zu meinen braunen Haaren und meiner grünen Augenfarbe, ich mag sie trotzdem nicht besonders. Ich finde, sie lassen mich zu süß wirken. Zu unschuldig. Sie betonen sogar noch meine Wolf-im-Schafspelz-Erscheinung.

Ich bestelle mir einen Döner mit einer Extraportion scharfer Soße und setze mich auf eine der aufgestellten Bänke, die selbst unter meinem Gewicht quietscht. Wie sehr sie wohl protestieren würde, wenn sich einer der Bauarbeiter, die in einiger Entfernung einen Teil der Straße aufreißen, auf ihr niederlassen würde? Ich verstaue mein Portemonnaie in meiner Gürteltasche und lege sie auf den Tisch. Genüsslich beiße ich in meinen Döner und überlege, was ich noch unternehmen kann. Die Punkte auf meiner Berlin-Bucket-List habe ich bereits beinahe alle abgehakt.

Als erstes habe ich mich an eine Kugel Sesameis herangewagt, was sich als eine der besten Entscheidungen meines Lebens herausstellte. Dafür war die andere mit Rosmaringeschmack ein echter Griff ins Klo. Eisschleckend bin ich zufällig in einer alten Fabrikhalle gelandet, in der legal gesprayt werden darf. Das Gefühl, durch eine Ausstellung für Streetart zu schlendern, hat mich glatt in die Richtung des Ephraim-Palais gelockt, obwohl ich Museen dieser Art sonst meide und höchstens von ihren sauberen Toiletten schwärmen kann. Glücklicherweise bin ich auf dem Weg dorthin auf das Hanf Museum Berlin gestoßen. Eine wesentlich bessere Wahl. Ich habe jede Infotafel studiert und bin jetzt eine echte Hanfexpertin. Allerdings weiß ich noch nicht, in welchem Rahmen ich mit diesem neugewonnenen Wissen glänzen kann. Alles, was nun fehlt, um diesen perfekten Berlinaufenthalt ausklingen zu lassen, ist mein Drink am Abend. Dafür bleibt mir aber noch ausreichend Zeit.

Ich beiße gerade erneut von meinem Döner ab, als jemand nach meiner Gürteltasche greift. Perplex sehe ich zu, wie sich der Kerl mit meinem Hab und Gut aus dem Staub macht.

»So ein mieser ...« Endlich löse ich mich aus meiner Schockstarre und springe auf. »Hey! Dreckskerl! Stehenbleiben«, rufe ich und laufe dem Dieb hinterher. »Halt!« Das kann doch nicht wahr sein?

Kurz dreht er sich zu mir um, dann legt er an Tempo zu. Ich tue es ihm gleich, hefte mich an seine Fersen. Mein Herz hämmert wild in meiner Brust. Mir wird schlecht, als mir ins Bewusstsein sickert, dass sich in der Tasche nicht nur mein Handy befindet, sondern auch mein Reisepass und meine Kreditkarte, die ich unter keinen Umständen im Hostel lassen wollte. Dumm wie ich bin. Ich hetze dem Kerl hinterher, doch der Abstand zwischen uns wird immer größer. Ich stoße einen verzweifelten Laut aus und versuche noch einmal, meine Schritte zu beschleunigen. Ich kann nicht zulassen, dass mein Traum von Australien schon auf deutschem Boden scheitert.

»Haltet ihn doch fest«, schreie ich so laut es geht und meine niemand bestimmtes. Berlin quillt über vor Menschen. Irgendeiner von ihnen muss mir doch helfen! Meine Lunge brennt und ich weiß, dass ich die Geschwindigkeit nicht mehr lange halten kann. Der Straßenräuber hat mittlerweile etwa hundert Meter Vorsprung. Unmöglich, dass ich den Kerl einhole. Plötzlich sehe ich, wie ihn ein Mann auf einem Fahrrad ausbremst und den Weg versperrt. Beherzt greift der Radfahrer nach meiner Gürteltasche und hält sie fest. Unglaublich! Der Anblick motiviert mich dermaßen, dass ich noch einen Zahn zulege. Dabei lasse ich die beiden Männer nicht aus den Augen. Der Langfinger zieht an einer Seite der Tasche, doch der Radfahrer gibt nicht auf.

»Lass los, Mann!«, höre ich meinen Retter mit fester Stimme sagen. Kurz bevor ich die beiden erreiche, gibt sich der Dieb geschlagen und läuft weiter. Ich renne an dem Radfahrer vorbei und mit einem lauten Schrei schleudere ich meinen Döner nach dem Lump. Mit der größten Genugtuung meines bisherigen Lebens sehe ich dabei zu, wie das Fladenbrot gegen seinen Hinterkopf prallt und die Fleischstückchen samt den Salatblättern über seinen Nacken purzeln.

»Ha!« Triumphierend strecke ich die Faust in die Luft und komme endlich zum Stehen. Japsend und schnaubend stütze ich mich mit den Händen auf meinen Knien ab. Sicherlich höre ich mich an, als hätte ich noch nie Sport getrieben. Zwar habe ich einen solchen Sprint zuletzt bei den Bundesjugendspielen hingelegt, aber schon als Mädchen habe ich Ballettstunden genommen, dann als Jugendliche Volleyball gespielt und selbst während meines Studiums bin ich regelmäßig Fahrrad oder Inliner gefahren. Der Zustand meiner Kondition schockiert mich wohl am meisten.

»Hey, bist du in Ordnung?« Die Frage unterbricht meine lautstarke Luftaufnahme, und ich richte mich auf. Und da steht er vor mir. Der Radfahrer, der Retter meiner Gürteltasche und Helfer in der Not. Er sieht sogar nach einem Hauch Australien aus. Seine blonden Haare scheinen länger zu sein, er trägt sie in einem kleinen Knoten im Nacken zusammengebunden, und nicht nur sein Drei-Tage-Bart erinnert an einen waghalsigen Surfer, auch seine gebräunte Haut und seine muskulösen Arme tragen dazu bei. Er sieht im Allgemeinen verdammt gut aus. Die enge, zerrissene Jeans bringt seine trainierten Oberschenkel hervorragend zur Geltung und auch das T-Shirt, auf dem das Logo der Band Dire Straits prangt, schmeichelt seiner ausgeprägten Oberkörpermuskulatur.

Schnell streiche ich mir eine Haarsträhne von meiner verschwitzten Stirn. Unauffällig versuche ich, auch ein paar Schweißperlen wegzuwischen. Normalerweise ist es mir egal, was andere über mein Aussehen denken. Ich mag meinen natürlichen Look. Die aufregendste Frisur, die ich zaubern kann, ist ein Pferdeschwanz und an Schminkutensilien besitze ich lediglich Mascara und Rouge. Aber in diesem Moment wünsche ich mir, zumindest ein halbwegs passables Bild abzugeben. »Alles bestens«, gebe ich keuchend von mir.

Ein amüsierter Ausdruck tritt in seine blauen Augen. Er muss mich für den unsportlichsten Menschen auf Erden halten. »Hier«, sagt er und hält mir meine Gürteltasche entgegen, »das ist doch deine, oder?«

»Ja, ich bin die Dumme, die nicht auf ihre Sachen aufpassen kann.« Ich nehme ihm meine Tasche ab und werfe sie mir über die Schulter, sodass ich sie schräg über der Brust trage. Ein zweites Mal werde ich sie nicht ablegen. So viel steht fest.

Mein Gegenüber zuckt mit den sportlich wirkenden Schultern. »Kann passieren. Vor allem in einer Großstadt. Wenn du den Döner früher wirfst, könnte sich daraus eine effektive Methode entwickeln, Diebe aufzuhalten.«

Da mein Gesicht nach dem Sprint ohnehin einer Tomate ähnelt, hoffe ich, dass sich meine errötenden Wangen nicht bemerkbar machen. Ich lasse meinen Blick von seinem Grinsen zu den traurigen Überresten meines Döners wandern, die in einiger Entfernung kümmerlich auf dem Gehweg liegen. Wie beschämend. Für den Döner und für mich.

Ich räuspere mich. »Das war impulsiv. Normalerweise werfe ich nicht mit Essen um mich.«

»Das hatte ich auch nicht erwartet.« Lässig lehnt er sich mit den Unterarmen auf den Fahrradlenker. Eilig hat er es offenbar nicht.

»Jedenfalls: Vielen, vielen Dank. Du hast mich vor einer Katastrophe bewahrt. Darf ich dich zum Dank auf einen Döner einladen? Mir knurrt nämlich, wie du dir vielleicht denken kannst, immer noch der Magen. Ich bin übrigens Roxy.«

»Freut mich, Roxy. Ich bin Edge.«

»Edge?«, erwidere ich. »Den Namen habe ich noch nie gehört. Wo kommt der her?« Am liebsten möchte ich ihn fragen, ob er mich auf den Arm nehmen möchte. Aber in Zeiten, in denen Eltern in Deutschland ihre Kinder Bear oder Curly-Fay nennen dürfen, muss man bei diesem Thema Fingerspitzengefühl beweisen. Der Name klingt zwar sonderbar, aber keinesfalls unattraktiv. Im Gegenteil. Er hört sich verwegen und mutig an. Irgendwie außergewöhnlich. Ob der Mann vor mir dieses Versprechen halten kann?

Immer noch umspielt ein Lächeln seine Lippen. »Ein Spitzname, den ich schon als Kind hatte. Zufrieden?«

»Nicht ganz. Du schuldest mir noch eine Antwort. Also, Edge: Hast du Lust auf einen Döner?« Ich hoffe sehr, dass er ja sagt. Die Aussicht, noch ein bisschen länger in seine blauen Augen zu blicken, gefällt mir. Auch wenn ein Döner nicht das beste Gericht für ein Kennenlernen ist, da man sich schnell bekleckern kann. Aber dieses Risiko nehme ich in Kauf.

Sein Gesichtsausdruck verändert sich und er wirkt plötzlich unfassbar ernst. Habe ich etwas Falsches gesagt? Ist es zu aufdringlich, wenn ich den Retter meiner Gürteltasche, auf einen Mittagssnack einlade? Ich dachte, in Berlin sind alle locker und offen.

Edge mustert mich von Kopf bis Fuß, ehe er in Richtung meines weggeschleuderten Döners blickt. Oh. Wahrscheinlich hält er mich doch für eine Person, die Essen nicht wertschätzt. Oder er ist Veganer, und ich habe vor ihm mit totem Tier um mich geworfen.

»Was meinst du?«, frage ich noch mal nach. Allmählich wird die Situation seltsam. Also noch mehr als ohnehin schon. Ich wische meine Hände an meiner Jeansshorts ab und fummle danach am Saum meines T-Shirts herum, obwohl ich eigentlich nur auf eine simple Antwort warte.

Endlich bewegt Edge seine Lippen. »Ein Döner als Dank klingt verlockend. Aber über etwas anderes würde ich mich mehr freuen.«

»Du kannst natürlich auch was anderes essen«, erwidere ich etwas irritiert.

Er hat ohne Umschweife einen Dieb gestellt, aber braucht gefühlte fünf Minuten, um mir mitzuteilen, keinen großen Appetit auf Döner zu haben? Meint er, ich lade ihn wieder aus, wenn er mir sagt, dass er lieber Falafel isst? Ich bin allen Ernährungsgewohnheiten gegenüber aufgeschlossen. Er muss gar nichts essen. Es reicht mir vollkommen, wenn er sich zu mir auf die quietschende Bank setzt.

»Das meine ich nicht. Könntest du als Dank die Nacht mit mir verbringen?«

»Bitte, was?« Ich verschränke die Arme vor der Brust und hoffe, mich verhört zu haben. Als einen Typ für plumpe und sehr eindeutige Anmachsprüche hätte ich ihn nicht eingeschätzt. Ich mustere ihn zum wiederholten Male ausgiebig. Nein, er erscheint immer noch wie ein höflicher und charmanter Mann, der weiß, wie man Frauen behandelt. Aber was soll dann diese Bitte? Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

Edge scheint zu begreifen, worauf ich hinauswill, und reißt die Augen auf. »Whoa, Roxy! So meinte ich das echt nicht.« Um seine Aussage zu unterstreichen, hebt er beschwichtigend die Hände.

»Wie denn dann? Normalerweise kann man daran nicht viel falsch verstehen.« Ich bin keine großartige Männerkennerin, aber das verstehe selbst ich problemlos.

»Es ist ... kompliziert.« Edge atmet tief aus und guckt in den Himmel. Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen. Als er mich wieder anschaut, wirkt er fast etwas bedrückt. Der amüsierte Surfertyp hat mir besser gefallen. »Können wir doch mit dem Döner starten und ich erkläre es dir in Ruhe?«

»Auf keinen Fall«, entfährt es mir leise. Ich sammle mich einen Augenblick, ehe ich fortfahre. »Entweder du erklärst mir sofort, worum es geht, oder gar nicht.«

Edge fährt sich mit einer Hand über das Gesicht, und ich meine ihn Das ist doch kacke murmeln zu hören. »Meine Kumpels haben mir für heute Abend ein paar Aufgaben gestellt. Sie nennen es Die Nacht der Ausschweifungen. Ich kann diese entweder mit der ersten unbekannten Frau des Abends erfüllen, die ich dazu kriege, mitzumachen, oder muss jede Aufgabe mit einer anderen weiblichen Person lösen, die mir über den Weg läuft.« Edge macht eine kleine Pause, und ich merke, dass er lieber über etwas anderes sprechen würde, als über seine durchgeknallten Freunde. »Crazy, ich weiß.« So dezent verlegen sieht er niedlich aus. Passt gar nicht zu seinen mindestens ein Meter neunzig und dem bisher so sonnigen Gemüt, das auf mich wirkt, als könne ihn kein Wässerchen trüben.

Ich bleibe dennoch standhaft. »Dahinter steckt doch garantiert etwas Perverses oder Sexuelles. Warum musst du dir sonst für jede Aufgabe eine andere Frau suchen?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, wirklich nicht. Versprochen.« Er reibt sich den Nacken. »Es sind harmlose Sachen. Ich kenne bisher nur die erste. Aber die lautet ganz unschuldig Lass dir von einer fremden Frau einen Drink ausgeben.«

»In der Tat. Aber ihr seid doch keine Fünfzehn mehr. Bist du schwer vermittelbar und sie wollen dich verkuppeln?« Jetzt bin ich diejenige, die Edge ausgiebig mustert. Ausgeschlossen, dass er Probleme hat, Frauen kennenzulernen. Unvorstellbar, dass er Single ist. Es sei denn, er ist Kleptomane oder Pyromane oder hat sonst irgendwelche Eigenarten. Aber so wirkt er nicht. Vielleicht ... »Ich hab’s! Du wirst dreißig und bist nicht verheiratet. Anstelle des Fegens musst du diese komischen Sachen bestreiten.« Ich muss lachen. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.

Edge stimmt in mein Lachen ein, doch es erreicht seine Augen nicht. »So ungefähr. Jedenfalls bin ich nicht verheiratet.«

Ich runzle die Stirn. »Sind deine Kumpels auch dabei?«

Edge schüttelt den Kopf. »Nur bei der ersten Aufgabe. Sie wollen kontrollieren, ob ich wirklich eine fremde Frau kennenlerne und nicht einfach eine Freundin oder Bekannte einspanne. Danach muss ich ihnen per WhatsApp zu jeder Aufgabe ein Beweisfoto oder -video schicken.«

Die Sache hört sich immer interessanter an. Mein Gedanke, ob es vielleicht besser gewesen wäre, wenn der Langfinger mit meinen Habseligkeiten entkommen wäre, ist verflogen. Ich führe gerne Diskussionen über absurde Dinge mit interessanten Menschen. Und Edge scheint so einer zu sein.

»Edge, ich habe so unheimlich viele Fragen«, sage ich und tue, als würde ich mich mit einer Entscheidung noch etwas schwertun. »Warum ausgerechnet ich?«

»Warum denn nicht? Ehrlich gesagt, habe ich keine Lust, zehn oder zwanzig Frauen anzuquatschen, schon gar nicht, wenn ich mit dir losziehen kann. Du wirkst mir ziemlich cool.« Er zuckt mit den Schultern und setzt erneut dieses Tausend-Watt-Lächeln auf. »Ich könnte mir gerade keine bessere Partnerin für diese Nacht der Ausschweifungen vorstellen. Und versprochen: Perverse oder sexuelle Aufgaben werden wir keine lösen.« Er sagt das mit so einer Überzeugung, dass ich merke, wie ich mich sofort entspanne. Ich glaube, mit dieser Art könnte er mir sogar eine Autoversicherung andrehen, obwohl ich gar kein Auto besitze. »Wir beide könnten bestimmt viel Spaß haben. Du weißt schon, ein Zusammen-Pferde-stehlen-Spaß.«

Er lächelt mich selbstsicher an. Ich mag dieses Lächeln. Vielleicht sollte ich ihm allerdings sagen ... »Ich bin nur heute in Berlin und muss früh aus den Federn, weil ...«

»Okay, kein Problem. Das war vielleicht auch zu viel verlangt«, rudert er zurück und wirkt ein klein wenig zerknirscht. »Könntest du mir dann bitte die erste Aufgabe erfüllen und einen Drink ausgeben? Du musst dafür lediglich um zwanzig Uhr ins Ben&Bo kommen. Das ist eine Cocktailbar in Mitte. Ich werde an der Theke sitzen. Wir tun so, als würden wir flirten, und du gibst mir einen aus. Wir quatschen kurz und dann kannst du wieder gehen. Du würdest mir damit einen großen Gefallen tun.«

Selbst wenn ich mich dagegen entscheiden würde, ihm bei jeder Aufgabe beizustehen, würde ich ihm zumindest diesen Gefallen tun. Immerhin möchte ich abends sowieso etwas trinken gehen. Warum also nicht in Begleitung eines ansehnlichen Kerls? Aber eines verstehe ich nicht. »Warum ziehst du die Aktion überhaupt durch, wenn du die Spielregeln so doof findest?«

Ohne zu zögern, antwortet er: »Es sind nun mal meine Freunde. Du möchtest gar nicht wissen, zu wie vielen verrückten Aktionen ich sie schon genötigt habe. Es ist eine Art Ehrenkodex. Man kann solche Aufgaben nicht ablehnen oder verweigern.«

In meinen Ohren klingt seine Antwort zwar aufrichtig, aber unspektakulär. Ich hätte vermutet, dass mehr dahintersteckt als ein männlicher Ehrenkodex. Ein Aufnahmeritus für eine geheime Bruderschaft wäre mir jetzt plausibler erschienen. Aber gut.

»Also, was meinst du?«, fragt Edge und alles an ihm strahlt pure Gelassenheit aus. Bis auf seine Hände. Ich glaube, ihm ist gar nicht bewusst, dass er sie knetet. Diese Sache muss ihm wirklich wichtig sein.

Ich möchte ihn ein bisschen zappeln lassen. Irgendwie ist es zu süß, wenn ein fast Zwei-Meter-Mann verzweifelt ist und es hinter seiner Coolness zu verbergen sucht. Mein Ex hat sich nie so ins Zeug gelegt, um etwas von mir zu bekommen. Edge kenne ich seit ein paar Minuten und für ihn scheine ich die Lösung schlechthin zu sein. Okay, er macht das nicht uneigennützig, trotzdem schmeichelt es mir. »Ich muss darüber nachdenken«, antworte ich langsam und verkneife mir ein Grinsen.

»Wir machen es so: Entweder du bist um zwanzig Uhr im Ben&Bo oder nicht. Du hast ja noch zwei Stunden, um es dir zu überlegen. Falls du nicht kommst, bin ich dir nicht böse. Ich würde mich allerdings sehr freuen, wenn du da bist.« Edge sieht mich auf eine angenehm eindringliche Art an. Dabei berührt er meinen Arm und drückt ihn kurz. Spätestens diese kleine Geste hätte mich dazu gebracht, diesem verrückten Vorhaben zuzustimmen. Ich nicke und sehe dabei zu, wie er den Fahrradlenker umfasst. »Ich muss leider los. Also Roxy, beste Dönerwerferin in ganz Berlin, ich hoffe, bis bald!«

»Mal sehen. Mach’s erst mal gut, bester Diebfänger in ganz Berlin«, gebe ich zurück und winke ihm. Ein letztes Lächeln, dann fährt er davon.

Heute Abend werde ich also ins Ben&Bo gehen.

19:14 Uhr

»Karla, warum sollte ich nicht hingehen?« In nichts als ein Handtuch gewickelt, werfe ich mich aufs Bett. Das Zimmer habe ich glücklicherweise immer noch für mich allein. Als ich aus der Dusche gestiegen bin, hat mein Handy geklingelt. Jetzt lausche ich, wie mir meine beste Freundin meine Pläne für den Abend ausreden möchte.

»Roxy, du kennst den Kerl doch gar nicht. Ich dachte, dass du nach Tobias von Männern die Schnauze voll hättest?«

»Das habe ich. Das kannst du mir glauben. Aber das tut nichts zur Sache, es ist kein Date. Ich helfe nur einem Kerl aus, der mich vor einem Taschendieb gerettet hat. Ohne ihn könnte ich morgen nicht nach Australien fliegen. Ich denke, da ist ein Drink im Gegenzug nicht zu viel verlangt. Und ich werde ihn nicht näher kennenlernen. Er ist zwar sympathisch, aber mehr nicht.« Ich liebe Karla. Aber die Leichtigkeit, mit der sie in jede Begegnung mit einem Mann etwas hineininterpretiert, ist manchmal ein wenig anstrengend. Aus diesem Grund habe ich ihr auch verschwiegen, dass ich vorhabe, die ganze Nacht mit Edge zu verbringen. Sie weiß so viel, wie sie als meine beste Freundin wissen muss. Nämlich, dass ich mit einem netten Typen einen trinken gehe. Das ist noch kein Grund, mir Vorschläge für mein Brautkleid und den Tafelaufsatz zu machen.

Sie seufzt theatralisch in den Hörer. »Okay, wäre auch blöd, immerhin bist du bald dreizehntausend Kilometer entfernt. Sieht er denn wenigstens gut aus?«

Ich beiße mir auf die Lippe. »Hm.«

»Du hast gezögert! Das heißt, er ist bombastisch.« Karlas Gackern ist so laut, dass ich mein Handy vom Ohr weghalten muss.

»Ja, okay. Er ist heiß. Aber das tut nichts zur Sache. Ich würde es auch machen, wenn er nicht wie ein einem Fashionmagazin entsprungenes Surfmodel aussehen würde«, antworte ich und meine jedes Wort. Auf meinen Armen bildet sich eine Gänsehaut, und ich bin nicht sicher, ob sie durch die Klimaanlage ausgelöst wird oder durch meine Gedanken.

»Ist doch besser, wenn er nett anzusehen ist, oder?«

Ich rolle mit den Augen. »Karla. Ich werde in dieser Bar höchstens eine halbe Stunde verbringen. Nicht mehr und nicht weniger. Ob ich da Gollum gegenübersitze oder Bradley Cooper, ist mir egal. Ich bin kein oberflächlicher Mensch.«

»Stimmt. Das hast du mit Tobias bewiesen.«

»Aber er war doch nicht hässlich«, widerspreche ich. Schon in der nächsten Sekunde ärgere ich mich über diesen Reflex, meinen Ex in Schutz zu nehmen. Ich sollte eher mit Karla über ihn lästern, wie das normale Frauen tun würden. Hässlich ist er allerdings wirklich nicht. Nicht so gutaussehend wie Edge, aber nicht unansehnlich.

»Ich meinte auch nicht sein Aussehen. Er ist innerlich hässlich«, sagt Karla mit Nachdruck. Sie mochte ihn von Anfang an nicht und ihre Prophezeiung ist, wie so oft, eingetroffen. Aber wer weiß, was passiert wäre, wenn ich nicht mit ihm zusammen gewesen wäre? Vielleicht würde ich mit einem anderen Freund glücklich zuhause herumsitzen, anstelle mich auf ein Abenteuer in der Fremde einzulassen.

»Ja, das stimmt. Gut, dass dieses Kapitel beendet ist.«

»Und morgen beginnt ein neues. Das ist alles so spannend! Ich hätte richtig Schiss, so allein am anderen Ende der Welt. Kannst du mir nicht was von deinem Mut abgeben?« Klara klingt aufgeregter, als ich mich fühle. Ich glaube, ich werde erst nervös, wenn ich australischen Boden betrete.

»Das ist mein größter Traum, den ich mir erfülle. Meine Vorfreude überwiegt. Du weißt doch, dass ich auch schon mal ein halbes Jahr in Alicante verbracht habe.«

»Aber das ist Europa. Außerdem habe ich mal eine Doku über einen Serienkiller gesehen, der in Australien Backpacker ermordet hat.« Meine Freundin macht eine kleine Pause, die wohl die Spannung verstärken soll. »Was ist, wenn er aus dem Gefängnis ausbricht?«

Ein Stöhnen kommt aus meinem Mund. »Karla, der Typ ist vor zwei Jahren gestorben. Und sowas kann dir überall passieren.«

Ein vielsagendes Mhm dringt an mein Ohr. Ich möchte mich nicht weiter mit Serienkillern auseinandersetzen, sondern mich auf den Abend vorbereiten. Da hilft nur eins: »Ich muss auflegen und mich fertigmachen. Ich melde mich morgen vor dem Flug noch mal bei dir.«

»Alles klar, du möchtest diesen Edge nicht warten lassen. Ich hab’s verstanden. Have fun. Verknall dich nicht! Hörst du? Das ist eine Warnung.«

»Du bist so blöd«, erwidere ich und muss lachen.

»Selber.« Als sie auflegt, kämpfe ich mit den Tränen. Natürlich werde ich regelmäßig mit Karla skypen, aber es wird hart sein, sie ein ganzes Jahr nicht zu sehen oder in den Arm zu nehmen. Seit unserer Kindheit gehen wir durch dick und dünn, und auch wenn es uns nach dem Abitur in unterschiedliche Städte verschlagen hat, treffen wir uns mindestens einmal im Monat. Selbst während unserer Auslandssemester haben wir uns gegenseitig besucht. Ob Karla einen Abstecher nach Australien machen wird, steht aus finanziellen Gründen noch nicht fest.

Mit dem Handrücken wische ich mir schnell eine Träne weg, die es geschafft hat, sich aus meinem Auge zu stehlen. Ich stehe auf und wühle in meinem Rucksack herum. Schicke Klamotten habe ich für Australien nicht eingepackt, also entscheide ich mich für eine graue Jeans und ein weißes T-Shirt. Darüber werde ich meine schwarze Lederjacke anziehen. Auch wenn es seit einiger Zeit tagsüber sehr warm ist, kühlt es nachts doch recht stark ab. Außerdem soll Edge bloß nicht denken, ich hätte mich für ihn zurechtgemacht. Wobei er grundsätzlich nicht den Eindruck erweckt hat, als hätte er Interesse an mir. Er hat sich sympathisch und zuvorkommend verhalten, war aber keineswegs flirty drauf. Vermutlich hat ihn das bevorstehende Ereignis so aus der Bahn geworfen, dass er gar nicht in der Lage wäre, zu flirten, sofern er es denn wollte. Ein Schnauben entfährt mir. Die Nacht der Ausschweifungen. Seine Kumpels scheinen ein lustiger Haufen zu sein. Mit denen würde ich gern mal einen trinken. Vielleicht würden sie nach ein paar Kurzen aus dem Nähkästchen plaudern – oder vermutlich eher dem Bierkasten. So oder so könnten ein paar Anregungen die künftigen Geburtstage meiner Mädels etwas amüsanter gestalten.

Ich schaue auf mein Smartphone und sehe jetzt schon, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen werde. Als ich vorhin ins Hostel zurückkam, habe ich die Cocktailbar gegoogelt. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln brauche ich zwar nicht lange dorthin, doch ich habe wie immer mein Zeitmanagement nicht unter Kontrolle. Bescheid geben, kann ich Edge auch nicht, weil wir keine Nummern ausgetauscht haben. Untypisch, aber durchaus spannend. Egal, dann muss er eben damit leben, dass ich zwanzig Minuten zu spät komme.

20:20 Uhr

Das Ben&Bo sieht von außen wie eine gemütliche und angesagte Cocktailbar in einem Szeneviertel aus. Der Name prangt in goldenen Lettern an der schwarzbemalten Fassade über dem Eingang. Die Tür öffnet und schließt sich unaufhörlich. Ständig betreten Leute die Bar oder es kommen welche heraus, um auf dem Bürgersteig zu rauchen.

In der Bahn habe ich überlegt, ob Edge in den zwanzig Minuten, um die ich mich verspäte, eine andere Frau dazu gebracht haben könnte, ihm einen Drink auszugeben, und in ein Gespräch verwickelt hat. Seine Flirtqualitäten kann ich zwar nicht beurteilen, aber sein Aussehen wirkt garantiert wie ein Magnet auf Singledamen. Es würde mich nicht wundern, wenn bereits eine andere auf ihn aufmerksam geworden ist. Den gesamten Fußweg über hat mich dieser Gedanke nicht losgelassen. Wie peinlich wäre es, wenn ich die Bar betrete und Edge bereits an den Lippen einer anderen hängt? Nicht nur peinlich, es würde mich auch stören, stelle ich überrascht fest. Ich werde Edges offizielle Partnerin für seine erste Aufgabe dieser Nacht der Ausschweifungen sein, und ich will mir diesen Rang nicht streitig machen lassen.

Dementsprechend nervös stehe ich vor dem Ben&Bo. Nervös vor einem Nicht-Date. Falls Edge bereits eine Trinkpartnerin gefunden hat, gehe ich eben wieder oder setze mich lässig an die Theke und proste ihm zu. Entschlossen öffne ich die Tür und betrete die rappelvolle Bar. Alle Hochtische sind besetzt und die Menschen schnattern wild durcheinander. An der Wand sind einige Spiegel angebracht, die den Raum optisch erweitern. An einem Tisch mache ich vier Männer in Edges Alter aus, die wenig Interesse an ihren unberührten Getränken zeigen. Stattdessen gaffen sie ununterbrochen Richtung Theke. Das müssen seine Kumpels sein. Sie sind auffälliger als meine Freundinnen und ich es damals mit sechzehn waren, als wir gegenseitig unsere Schwärme abchecken mussten.

Mein Augenmerk wandert ebenfalls Richtung Theke, hinter der vier Barkeeper arbeiten. Hinter ihnen sind zahlreiche Spirituosen in einem Glasregal aufgereiht. Vor der Theke, die wie ein U geformt ist, stehen schätzungsweise zwanzig Stühle, von denen fast alle besetzt sind.

Mit wummerndem Herzen scanne ich die Stühle ab und bin fest davon überzeugt, Edge mit einer anderen Frau zu entdecken. Doch er sitzt allein da. Dank seiner Größe und seiner Frisur erkenne ich ihn sofort. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, von dem ich jetzt schon weiß, dass es einen tollen Kontrast zu seinen hellblauen Augen bildet. Seine Körperhaltung sieht entspannt aus. Trotzdem oder gerade deswegen wirkt er wie ein Fels in der Brandung. Dennoch spürt er vermutlich seine gaffenden Freunde im Rücken und wäre lieber woanders. Zeit, ihn aus der Misere zu retten. Demonstrativ werfe ich meine langen, braunen Haare nach hinten und gehe an seinen Kumpels vorbei. Zwei von ihnen mustern mich, lassen ihre Blicke über meine vielleicht etwas zu kleingeratene, dafür aber schlanke Erscheinung schweifen und stecken die Köpfe zusammen. Es scheint, als sehen sie mich als potenzielle Kandidatin. Sehr gut.

Mit neutraler Miene erreiche ich die Theke und ergattere einen Platz an der Ecke, sodass Edge und ich uns ohne Hindernisse angucken können. Ich schiebe meinen in einer engen Jeans steckenden Hintern auf den Barhocker und lasse meinen Blick scheinbar ziellos durch die Menschenmenge schweifen. Erst dann hefte ich ihn für ein paar Sekunden länger an Edge, um sicherzugehen, dass er mich wahrnimmt. Nur durch ein kleines Augenzwinkern lässt er mich wissen, dass er mich erkennt. Er ist wesentlich subtiler als seine Kumpels, die keinen Hehl daraus machen, dass ihnen die Entwicklung der Situation gefällt. Oder die Brünette, die sich dieser Herausforderung angenommen hat. Ich habe sie also am Haken.

Ich nehme die Getränkekarte und studiere die Angebote. Wie soll man sich bei der Auswahl bitte entscheiden? Und was soll ich Edge gleich ausgeben? Ist er ein klassischer Biertrinker? Steht er auf Long Drinks? Trinkt er überhaupt Alkohol? Vorsichtig linse ich über den Rand der Karte, um zu sehen, was vor ihm auf dem Tresen steht. Ein leeres Glas. Super. Ich lasse meinen Blick weiter nach oben wandern und bleibe an seinen Lippen hängen. Er lächelt nicht, sondern schmunzelt immer noch. Wann habe ich das letzte Mal einen Mann schmunzeln sehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es attraktiv ist. Schnell gucke ich wieder in die Karte und entscheide mich für ein harmloses Getränk. »Eine Sprite, bitte.«

Als der Barkeeper die kleine Flasche samt Trinkhalm vor mich stellt, nehme ich einen großen Schluck. Gleichzeitig überlege ich, wie es weitergehen soll. Ich kann Edge nicht einfach einen Drink spendieren, das wäre zu auffällig. Seine Freunde würden sofort checken, dass das Treffen abgesprochen ist. Aber wie viel Flirterei ist angemessen, bis man jemandem etwas ausgeben kann? Normalerweise bin ich diejenige, die nichts für ein Getränk bezahlen muss. Das kommt meistens von Kerlen, die plötzlich neben mir stehen und die ich vorher den ganzen Abend nicht registriert habe. Die gehen ohne Rücksicht auf eine peinliche Abfuhr in die Offensive. Ich möchte allerdings nicht plump fragen, ob Edge etwas trinken möchte. An dieser Stelle muss meiner Meinung nach mehr weibliches Geschick her. Wie in einem klassischen Hollywoodfilm. Ich rufe mir einige Szenen in Erinnerung, doch keine davon sagt mir zu, weil nichts davon zu mir passt. Alles würde aufgesetzt wirken. Meine Mädels sagen mir immer, dass ich ständig flirte. Angeblich sogar, wenn ich in einer Beziehung bin. Dabei kann ich mich nicht daran erinnern, es jemals bewusst getan zu haben. Offenbar bin ich so ein Naturtalent, dass ich selbst nicht einmal mitbekomme, wenn und vor allem wie ich es mache. Nun, da ich dieses Talent zu Tage fördern sollte, bin ich allerdings etwas überfordert damit. Ich wünschte, Edge und ich hätten uns einen Plan zurechtgelegt. Aber gut. Er hat mir geholfen, jetzt bin ich dran.

Ich hebe erneut meine Flasche und schließe meine Lippen um den Trinkhalm. Während ich daran nippe, versuche ich meinen besten Schlafzimmerblick aufzusetzen und schaue provokant in Edges Richtung. Der zieht eine Augenbraue hoch, fängt an zu lachen und wirft sogar seinen Kopf in den Nacken. Aus Richtung seiner Kumpels vernehme ich ähnlich lautes Gelächter. So viel zu bewussten Flirtversuchen. Ich stelle die Flasche ab und merke, wie mir die Wärme in die Wangen steigt. Blödmann. Er könnte ruhig dankbarer sein. Immerhin deuten seine Kumpels das als erste Kontaktaufnahme. Also lächle ich Edge an, zwirble eine Haarsträhne um meinen Finger und flüstere ein leises Hi. Sogleich habe ich das Gefühl, dass mein IQ um zehn Punkte sinkt. Er nickt mir zu, und ich kann sehen, dass er schon wieder knapp vorm Platzen ist. Ich bringe ihn nicht dazu, mit mir zu flirten, sondern nur zum Lachen.

So wird das nichts.

Ich winke einem Barkeeper zu und bestelle Edge ein Getränk. Nachdem der Barkeeper ihm eine Sprite auf den Tresen gestellt und mit dem obligatorischen Nicken mitgeteilt hat, dass sie von mir ist, steht Edge samt Flasche auf und setzt sich zu mir.

Geht doch. Einer seiner Kumpels quittiert seine Reaktion mit einem Johlen, das eher in ein Fußballstadion passt.

Unsere Beine berühren sich und ich kann nicht einschätzen, ob sich Edge dessen bewusst ist.

»Hi, ich bin Egde«, sagt er und streckt mir die Hand entgegen.

»Roxy.« Ich ergreife seine Hand, die sich warm an meine schmiegt.

»Vielen Dank für die Sprite. Eine interessante Wahl.« Edge hebt die Flasche an und begutachtet sie.

»Hey. Ich konnte nicht wissen, ob du Alkohol oder sonst was trinkst. Damit kann man nichts falsch machen. Getränk ist Getränk. Damit dürften deine Kumpels zufrieden sein.« Ich fühle mich, als müsste ich meine Auswahl rechtfertigen. Nach meinen kläglichen Annäherungsversuchen hätte Edge die Sprite kommentarlos annehmen können. Ich bin kurz davor, meine Arme zu verschränken, doch dann fällt mir ein, dass das zu abwehrend wirken könnte. Stattdessen lege ich meine Finger auf Egdes Schulter. Für seine Freunde wird es so aussehen, als wären wir schon am Flirten, und nicht, als diskutierten wir meine Getränkewahl. Ich will meine Rolle gut spielen und es soll aussehen, als wäre ich hin und weg von ihm.

Edge mustert mich, wie er es bei unserer ersten Begegnung vor zwei Stunden getan hat. Dann lehnt er sich vor, sodass unsere Gesichter nicht weit voneinander entfernt sind. Sein Parfüm steigt mir in die Nase, frisch und maskulin. »Du flirtest aber sonst nicht so, oder?«, fragt er mit rauer Stimme, und ich höre die Zweifel heraus.

Meine Lippen kräuseln sich bereits, dennoch versuche ich ernst zu bleiben. »Was meinst du mit so?« Ich weiß genau, was er meint. Meine übertriebenen Flirtversuche finde ich mittlerweile selbst ziemlich lustig.

»Wie eine dumme Kuh, die keinen Grips hat.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sage ich, führe den Trinkhalm zum Mund und klimpere übertrieben mit den Wimpern.

Edge lehnt sich zurück und lacht. Er klingt erleichtert. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich hätte dich komplett falsch eingeschätzt. Auf dich, Roxy. Vielen Dank, dass du gekommen bist.« Wir stoßen mit unseren Sprites an, und ich fühle mich wie auf einem Kindergeburtstag, als ich und meine Freunde mit Robby Bubble angestoßen und uns wahnsinnig cool gefühlt haben.

»Vielleicht sollten wir uns was Ordentliches bestellen«, schlage ich vor, doch Edge winkt ab.