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Assistenzarzt Frederik ist nicht der Einzige, der dem Transplantationsskandal auf die Schliche kommt. Auch sein bester Freund Niklas Thorsen gerät in Bedrängnis. Tote Patienten, korrupte Kollegen und ein Schusswechsel zwingen Niklas in die Arme einer Spezialeinheit, doch auch hier kann er niemandem trauen. Wie kann er dem Dilemma lebend entfliehen?
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Seitenzahl: 289
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Münchner Autorin A.R. Klier hat ihre ersten Gehversuche schon zu Schulzeiten gemacht: Insgesamt drei Mal nahm sie am KWA-Schülerlite-raturwettbewerb teil und wurde 2012 für die Kurzgeschichte Einsame Familie mit dem ersten Preis ausgezeichnet.
Seither hat A.R. Klier sich den Medizinkrimis der Fehler-Reihe rund um die Assistenzärzte Frederik Hendriksson und Niklas Thorsen gewidmet, die bereits fünf Einzelbände umfasst. Weitere Fehler-Krimis sind in Arbeit.
Mit der Bühnenfieber-Reihe bleibt A.R. Klier ihrer Liebe zur Medizin weiterhin treu, sodass das Theater-Drama eine weitere, spannende Note bekommt. Mit Hauptfigur Christian Rückert ist bisher 1 Band veröffentlicht, weitere Teile sind in Vorbereitung.
Mehr über die Autorin unter:www.ar-klier.comwww.facebook.com/AutorinAndreaKlier/www.instagram.com/a_r_klier
Es handelt sich bei Folgefehler um einen Doppelfehler, in dem überwiegend die Sichtweise von Niklas Thorsen begleitet wird. Offene Fragen beantwortet Band 1 Anfängerfehler.
Alle in diesem Werk auftretende Personen, Orte und Ereignisse sind fiktiv, jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.
Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden von der Autorin nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Abläufe im Krankenhaus sind der Handlung angepasst und erheben keinen Anspruch auf Richtigkeit.
Erklärungen zu medizinischen Fachbegriffen finden sich ab Seite →.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Epilog
Kräftiger Wind trieb dunkle Wolken über den Himmel und ließ der Sonne in der Hansestadt keine Chance. Schon die ganze Nacht über hatte es in Hamburg stark geregnet und trug so zur allgemein bedrückenden Stimmung bei.
»Wichtiger Tag, mhm?« Freja Jensen seufzte beim Anblick der Fassade des großen Gebäudes vor ihnen.
»Wichtig …« Niklas Thorsen schüttelte den Kopf. »Das trifft es nicht einmal im Ansatz.« Sein Blick ging weiter zur Ansammlung von Reportern, die den Haupteingang des Hamburger Landgerichts belagerten. »Das Medienecho der letzten Tage hat ja schon einen Vorgeschmack gegeben, was mit dem Prozessauftakt heute auf uns zukommt. Welches öffentliche Interesse und Sensationsgier befriedigt werden wollen.«
»Doktor Thorsen!« Niklas‘ Anwalt Michael Hubert kam auf das Paar zugeeilt und winkte. »Guten Morgen, Frau Jensen. Wie geht es Ihnen beiden? Nervös?« Auch sein Blick ging zu der Reportergruppe.
»Ich weiß, dass ich heute und in den nächsten Tagen meine Rechnung begleiche, die ich gegenüber der Kriminalpolizei offen habe«, seufzte Niklas und drückte Frejas Hand. »Meine Aussage als Gegenleistung für den Schutz vor diesen … Kriminellen. Nur, ich weiß nicht, welche Auswirkungen der Prozess vor allem psychisch nach sich zieht.«
»Es steht Ihnen natürlich frei, während Ihrer Aussage um eine Pause zu bitten. Ich bin die ganze Zeit über an Ihrer Seite und unterstütze Sie, so gut ich kann, Doktor Thorsen«, versicherte Michael Hubert und warf einen Blick auf die Uhr. »Wir müssen los, die Verhandlung soll in gut zehn Minuten beginnen.«
Andeutungsweise nickte Niklas und schloss Freja in seine Arme. »Ich rufe dich später an«, versprach er und küsste sie zaghaft.
»Müssen wir durch diese Meute?«, fragte Niklas zögerlich und sah seiner Freundin hinterher, die in Richtung der Bushaltestelle lief.
»Wir müssen leider durch die Sicherheitskontrolle, also ja, das ist unser einziger Eingang«, erklärte der Anwalt bedauernd und setzte sich in Bewegung. »Laufen Sie einfach neben mir her.«
Wieder erntete er nur ein Nicken seines Mandanten, doch Anwalt Hubert schien das nicht zu stören. Mit schnellen Schritten bahnte er sich und Niklas einen Weg durch die wartenden Reporter in das Gebäude. Stumm passierten sie die Sicherheitskontrolle, bevor sie vor dem Verhandlungssaal auf eine weitere Gruppe Reporter stießen.
»Die Presse hat großes Interesse an der heutigen Verhandlung, aber das war abzusehen«, bemerkte der Anwalt und legte Niklas eine Hand auf den Rücken.
Überforderung machte sich bei Niklas breit, hinzu kam ein Anflug von Panik bei all den Zwischenrufen nach Statements und dem Blitzlicht der Kameras.
»Kein Kommentar.« Michael Hubert lächelte professionell und machte seinem Mandanten erneut den Weg frei. »Bitte gehen Sie zur Seite … Kein Kommentar … Nein, Doktor Thorsen wird sich nicht äußern …«
All das drang wie durch Watte an Niklas‘ Ohr. Er fühlte sich, als wäre er nur Passagier in seinem Körper. Als würde er gar nicht so recht dazugehören.
Endlich fielen die großen Türen zum Flur ins Schloss, damit waren die Reporter für die nächsten Stunden kein Thema mehr.
»Wir müssen hier vorne hin«, wies Hubert Niklas den Weg und nahm seine Hand wieder von dessen Rücken. »Mhm …« Niklas ließ den Blick schweifen. Frederik und sein Anwalt hatten unweit von ihm bereits Platz genommen und waren in ein Gespräch vertieft, Frederiks Stirn zierte eine steile Sorgenfalte. Davon abgesehen sah sein Freund kaum besser aus als er sich selbst fühlte. Für sie beide war das eine äußerst unerfreuliche Reise in die Vergangenheit.
»Doktor Thorsen?« Michael Hubert berührte Niklas am Arm, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. »Falls Ihnen das zu viel wird, dürfen Sie den Saal selbstverständlich jederzeit verlassen. Ihre Nebenklage ermöglicht Ihnen und damit mir, an der gesamten Hauptverhandlung teilzunehmen. Das bedeutet aber nicht, dass Sie persönlich die ganze Zeit über im Raum sein müssen, dafür haben Sie ja mich.«
»Danke«, brachte Niklas mühsam hervor. »Ich muss sehen, wie weit ich das hier ertrage«, meinte er zerstreut. Sein Blick ging zurück zu Frederik, der unzufrieden den Kopf schüttelte und seinem Anwalt gestenreich widersprach. »Aber danke für die Erinnerung.«
»Es geht los«, murmelte Hubert und stand auf, als die Richter den Raum betraten.
Niklas‘ Herz pochte heftig in seiner Brust, während er äußerlich regungslos gegen die Erinnerungen ankämpfte, die sich zurück in sein Gedächtnis schoben.
Die Worte des Richters kamen kaum bei Niklas an, stattdessen starrte er zu Frederik. Er war blass und schien den dunklen Ringen unter seinen Augen nach zu schließen zuletzt kaum geschlafen zu haben. Unruhig irrte Niklas‘ Blick weiter durch den Raum. Der Zuschauerbereich war bis auf den letzten Platz besetzt, was keine große Überraschung war.
Wer waren diese Menschen?
Wer verfolgte den Prozess gegen Mittäter des Transplantationsskandals hier im Saal? Angehörige von Opfern? Wobei, das müssten eher Zeugen sein, wenn er sich richtig an die Worte seines Anwalts erinnerte.
Wie viele Familien hatte dieser Skandal in all den Jahren zerstört?
Hätte man das nicht früher entdecken und aufhalten können?
Wie viele Menschen hätten aufmerksamere Ärzte retten können, indem sie die Häufung der Hirntoten gemeldet hätten?
Langsam glitt Niklas‘ Blick zur Anklagebank. Dort saßen allesamt Mittäter, aber keine Drahtzieher. Die eigentlichen Hintermänner wie Frederiks Vater Maximilian Hendriksson waren tot. Sie konnte niemand mehr zur Rechenschaft ziehen.
Konnte dieser Prozess aus Sicht der Opfer und ihrer Angehörigen überhaupt für Gerechtigkeit sorgen, wenn die Haupttäter gar nicht angeklagt waren?
Konnten Frederik und er überhaupt Frieden finden und mit den ganzen Geschehnissen abschließen, ohne Maximilian Hendriksson verurteilt zu sehen?
Niklas hatte Zweifel daran, doch er wollte sein Mögliches tun und die Schuld der Angeklagten mit seiner Aussage untermauern. Das war ein schwacher Trost, denn mehr konnte er gerade nicht tun. Wie schon im Sommer vergangenen Jahres war er zum Zusehen verdammt, ohne echte Handlungsoptionen.
Niklas verschränkte die Arme und ließ seinen Gedanken an diese schicksalhaften Monate freien Lauf. Die Stimmen der Richter, der Anwälte und der Angeklagten drangen kaum noch an sein Ohr. Zu sehr beschäftigten ihn die Erinnerungen und katapultierten ihn um ein Dreivierteljahr zurück in die Vergangenheit. Als alles angefangen hatte und aus dem Ruder gelaufen war.
»Doktor Thorsen, übernehmen Sie bitte den nächsten RTW!«, rief Oberarzt Christian Jürgen, während er mit den Kollegen vom Rettungsdienst und ihrem Patienten in einer Notfallbox verschwand.
»Natürlich.« Automatisch zog Niklas frische Handschuhe aus dem Spender neben der Tür und lief zur Auffahrt, wo in diesem Moment ein weiterer Rettungswagen zum Stehen kam.
»Moin!« Der Notarzt stieg als Erstes aus, das Protokoll hielt er in der Hand. Die Rettungsassistenten hingegen luden schon die Trage mit der Patientin aus. »Wir bringen Melissa Döring, siebzehn, Sportunfall mit Verdacht auf Unterarmfraktur. Wir haben Metamizol intravenös verabreicht und den Arm geschient.«
»Box eins«, wies Niklas ihnen den Weg und überflog die Vitalwerte der jungen Frau auf dem Protokoll, bevor er sich seiner neuen Patientin zuwandte. »Moin, Frau Döring, ich bin Doktor Thorsen, einer der Unfallchirurgen. Sie dürfen bitte auf die Liege hier umsteigen, dann kümmere ich mich um Ihren Arm.«
Melissa Döring nickte zaghaft, ihr Blick ging immer wieder zwischen dem Notarzt und Niklas hin und her. »Machen Sie sich keine Sorgen«, versuchte Niklas, die junge Frau zu beruhigen und Vertrauen zu ihr aufzubauen. »Ich verstehe, dass die Umgebung hier sehr einschüchternd wirkt.«
»Muss ich hierbleiben oder darf ich später nach Hause?«, fragte Niklas‘ Patientin den Tränen nahe.
»Das kann ich Ihnen noch nicht versprechen, Frau Döring, weil ich noch nicht weiß, wie schwer Ihr Arm tatsächlich verletzt ist«, erklärte Niklas Thorsen geduldig, obwohl die Rettungsassistenten zum wiederholten Male auf die Uhr sahen. Seine Kollegen wollten zurück zum Fahrzeug und sich für den nächsten Einsatz frei melden, doch dafür musste die junge Frau erst einmal von der Trage auf die Krankenhausliege wechseln. »Wie wäre es damit: Sie setzen sich zu mir auf die Liege hier um, dann können die drei Kollegen wieder gehen und ich kann Ihren Arm untersuchen.«
»Aber mein Arm tut so weh«, klagte Melissa Döring ihm ihr Leid. »Ich kann mich nicht bewegen.«
»Ich stütze Ihren Arm, während Sie sich umsetzen«, schlug Niklas vor. »Kommen Sie, gemeinsam schaffen wir das.«
Zögerlich nickte die junge Frau und ließ den angehenden Unfallchirurgen nicht aus den Augen, als er sich ihrem verletzten, linken Arm näherte.
Behutsam schob Niklas seine Hände unter die Schiene und stabilisierte so den Arm, während sich Melissa Döring Stück für Stück auf die Krankenhausliege umsetzte und aufatmend gegen die aufgestellte Rückenlehne sank.
»Das hat schon mal gut geklappt«, freute sich Niklas und legte den geschienten Arm behutsam auf dem fahrbaren Beistelltisch ab.
»Alles Gute!« Der Notarzt folgte den beiden Rettungsassistenten zurück auf den Flur.
»Dann sehe ich mir den Arm einmal an«, erklärte Niklas und schnitt den Verband vorsichtig mit einer Schere auf. »Wie ist das eigentlich passiert?«, fragte Niklas und betrachtete die starke Schwellung in der Nähe des Handgelenks.
»Kennen Sie diesen Hindernisparcours über Sprossenwände, Kisten und Trampoline?«, fragte Melissa und schniefte. »Wir mussten da heute fünf Mal durchrennen und beim letzten Durchgang habe ich den Sprung vom Trampolin auf den Kasten falsch erwischt. Also bin ich nicht auf dem Kasten gelandet, sondern darüber geflogen und … auf den Boden geknallt und gegen die Wand gerutscht.«
»Sie sind also auf den Boden aufgeschlagen und gegen die Wand gerutscht«, wiederholte Niklas nachdenklich. »Sind Sie mit dem Kopf aufgekommen? Waren Sie bewusstlos? Erinnern Sie sich an alles?«
»Ich bin ganz leicht mit dem Kopf an die Wand gekommen, aber da hat mein Arm schon so heftig wehgetan«, berichtete sie. »Und ja, ich weiß noch alles.«
»Mhm … Bewegen Sie bitte die Finger«, bat Niklas seine Patientin und nickte schließlich zufrieden. »Als nächstes werden wir Ihren Arm röntgen.« Er fixierte die Schiene wieder und zog die Handschuhe aus. »Bis gleich, Frau Döring.«
Ein Pfleger würde die Schülerin gleich zur Radiologie bringen, sodass Niklas eine kleine Pause hatte. Wobei, Pause war auch der falsche Ausdruck. Er konnte sich für einen Moment um andere Patienten kümmern.
»Na? Was hast du?« Frederik Hendriksson kam Niklas auf dem Flur entgegen. »Irgendetwas, bei dem ich dir helfen kann und das nicht gleich aus dem Ruder läuft?«
»Siebzehnjährige mit geschlossener Unterarmfraktur. Sie ist ein bisschen verwirrt und scheint beim Sturz neben dem Arm auch auf dem Kopf aufgekommen zu sein. Könntest du dir die Patientin bitte ansehen, wenn sie vom Röntgen zurück ist?« Niklas musterte seinen besten Freund von der Seite, nachdem er keine Reaktion auf seine Anfrage bekommen hatte. »Frederik? Ist alles in Ordnung? Was war bei dir vorhin los?«
»Äh, ja, kann ich machen, gibt mir einfach Bescheid.« Frederik räusperte sich und sah angestrengt zu Boden. »Was ist los?« Niklas blieb hartnäckig. Klar, sie hatten alle immer wieder schwierige Fälle und Schicksale, die einen mehr berührten, doch Frederik wirkte heute besonders angeschlagen.
»Hirntod auf der ITS.« Frederik schüttelte den Kopf. »Schon der zweite in dieser Schicht und schon wieder ein junger Patient, bei dem das nicht vorhersehbar war. Das macht mich noch verrückt, weil ich das Gefühl habe, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe.« »Das ist scheiße, wenn sich das so häuft und man sich dann selbst so anzweifelt.« Niklas seufzte. »Was sagt denn Hanson dazu?
»Hanson?« Frederik lachte freudlos auf. »Der findet das alles völlig normal und meint, so etwas könne schon mal vorkommen. Aber was habe ich erwartet? Der Mann hat die Feinfühligkeit einer Asphaltfräse.«
»Sag ihm das besser nicht direkt«, kicherte Niklas und entdeckte Oberarzt Christian Jürgen auf dem Weg in das Arztzimmer der Notaufnahme. »Ich muss weiter und rufe dich an, wenn meine Patientin zurück ist.«
»Ich bleibe in der Nähe, in den OP geht es für mich heute ohnehin nicht mehr.« Frederik schlurfte mit hängenden Schultern in Richtung der Teeküche, während Niklas seinem Oberarzt folgte.
»Doktor Jürgen? Haben Sie einen Moment?«, rief er und setzte sich an einen der Computerarbeitsplätze. Vielleicht hatte er Glück und die Röntgenaufnahmen von Melissa Döring waren bereits im System.
»Worum geht es? Welchen Fall haben Sie vom Notarzt übernommen?« Auch Christian Jürgen suchte nach den digitalen Röntgenaufnahmen seines Patienten.
»Geschlossene Unterarmfraktur nach einem Sportunfall.« Niklas lehnte sich zurück und betrachtete den Bruch auf dem Bildschirm. »Ich sehe keine OP-Indikation, den Bruch kann man so ausrichten und den Arm ruhigstellen. Oder beurteilen Sie das anders?«
Der Oberarzt rollte mit seinem Stuhl näher zu Niklas und sah mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. »Wie alt ist der Patient?«
»Siebzehn …« Niklas veränderte den Kontrast noch einmal. »Der Bruch hat saubere Kanten und …«
»Ja, man könnte konservativ herangehen«, stimmte ihm Doktor Jürgen zu. »Legen Sie einen Draht unter Narkose, das halte ich für die bessere Wahl.«
»Einen Draht …«, wiederholte Niklas und legte den Kopf schief. »Ich denke, dass mein Ansatz genauso funktionieren kann.«
»Möglicherweise.« Sein Ausbilder schüttelte den Kopf. »Der Bruch ist aber recht nah am Handgelenk. Da fahren Sie mit einem Draht besser. Machen Sie es nicht komplizierter als es ist, Thorsen. Ihr junger Patient verkraftet eine OP und ist gleich wieder auf den Beinen.« »Mhm… dann ist das für Sie also eine Erfahrungs-Entscheidung?«, wollte Niklas nicht überzeugt wissen. Er hielt seinen Ansatz immer noch für die bessere Wahl, doch solange er seine Facharztprüfung nicht abgelegt hatte, musste er sich im Zweifel der Meinung seines Oberarztes beugen.
»Wenn Sie so wollen, ja.« Christian Jürgen stand auf. »Ich muss zurück zu meinem Patienten, Ihnen viel Erfolg für die OP. Meine Hilfe brauchen Sie bei so einem Eingriff längst nicht mehr.«
»Danke.« Niklas schüttelte den Kopf und zog das Diensttelefon aus seiner Kitteltasche. »Ich warte noch das Urteil der Neurologen ab, dann buche ich den OP.«
Die OP-Freigabe von Frederik war Formsache, sodass Niklas die Schülerin über den Behandlungsplan aufklären konnte.
»Ich will nicht operiert werden!«, schluchzte sie.
»Sie bekommen erst einmal ein Schmerzmittel von mir, Frau Döring«, erklärte Niklas ruhig und ließ sich von der Pflegerin eine Spritze aufziehen. »Und bevor wir Sie operieren dürfen müssen Ihre Eltern zustimmen, da Sie noch minderjährig sind. Haben Sie Ihre Eltern schon informiert, dass Sie einen Unfall hatten?« Die Schülerin war kaum zu beruhigen, doch mit der einsetzenden Wirkung des Schmerzmittels wurde sie etwas schläfrig und ruhiger.
»Können Sie mir eine Telefonnummer Ihrer Eltern geben, damit ich sie anrufen kann?«, versuchte es Niklas erneut.
»Im Handy …« Melissa Döring lächelte geistesabwesend. »Alles … ist … im Handy …« Sie schob ihm bereitwillig das Gerät zu. »Tolles Handy … hat alles … gespeichert …«
»Darf ich?« Niklas schmunzelte, denn solche Reaktionen auf das Schmerzmittel kannte er gut, und rief das Telefonbuch auf. Die Nummer von Melissas Eltern war rasch gefunden.
»Handy …« Melissa streckte ihm ihre rechte Hand entgegen. »Bitte …« Sie sah ihn aus großen Augen an.
»Klar.« Niklas legte das Handy in ihre Handfläche und lauschte dem Freizeichen, nachdem er die Nummer in sein Diensttelefon eingegeben hatte. »Herr Döring? Hallo, ich bin Doktor Thorsen und behandle gerade Ihre Tochter …«
Die Eltern von Melissa Döring hatten sich sofort auf den Weg zu ihrer Tochter gemacht, die inzwischen auf die unfallchirurgische Station verlegt worden war.
»Familie Döring, hallo.« Niklas schloss die Tür des Patientenzimmers hinter sich und zog den Aufklärungsbogen für die Operation sowie den Ausdruck der Röntgenaufnahme aus seiner Kitteltasche. »Ich bin Doktor Thorsen, wir hatten vorhin telefoniert.«
Melissas Vater nickte ungeduldig. »Unsere Tochter muss also operiert werden? Gibt es denn keine anderen Möglichkeiten?«, fragte er.
Niklas seufzte innerlich, doch nach außen hin ließ er sich nicht anmerken, dass er mit dem Behandlungsplan des Oberarztes nicht komplett einverstanden war. »Nein, es tut mir leid. Der Bruch ist sehr nah am Handgelenk, deswegen ist eine Operation die beste Möglichkeit«, erklärte er und zeigte ihm das Röntgenbild. »Sehen Sie? Hier ist die Bruchkante …«
»Welche Risiken gibt es?«, wollte Melissas Vater wissen und griff schon nach dem Kugelschreiber, um das Einwilligungsformular für die Operation zu unterschreiben.
Die OP-Aufklärung von Melissa und ihren Eltern war recht unkompliziert vonstatten gegangen, sodass sich Niklas wieder in das Arztzimmer der Station zurückzog. Die große Anzahl an Patienten in der Notaufnahme hatte mit zunehmendem Tagesverlauf immer größeren Einfluss auf die verfügbaren Operationssäle und Chirurgen. Alle nicht lebensbedrohlich verletzten Patienten wurden immer weiter nach hinten verschoben. »Na?« Frederik Hendriksson klopfte an den Türrahmen des Arztzimmers auf der unfallchirurgischen Station. »Wie ist die Lage? Die Unterarmfraktur ist ja immer noch nicht operiert.«
»Immer noch nicht, du sagst es.« Niklas seufzte und nahm die Hände von der Tastatur. »Sie wartet seit fünf Stunden auf die OP und wird wahrscheinlich erst morgen an der Reihe sein. Die Säle sind voll und ich kann den Eingriff schlecht im Patientenzimmer durchführen.« Er drehte sich mit dem Stuhl komplett zu seinem Freund um. »Was machst du eigentlich hier? Versuchst du, Hanson noch weiter aus dem Weg zu gehen als ohnehin schon?«
»Das auch.« Frederik lachte und fuhr sich durch das zerzauste blonde Haar, dass ihm schon wieder in die Stirn fiel. »Nein, ich habe erneut nach deiner Patientin gesehen. Hanson besteht neuerdings darauf, dass wir noch engere Verlaufskontrollen machen als ohnehin schon.« Er verdrehte die Augen. »Na ja, und der Blick auf die Uhr zeigt, dass wir beide eigentlich seit über einer Stunde Feierabend hätten, deswegen wollte ich dich fragen, ob wir den vielleicht gemeinsam genießen wollen?«
Niklas schmunzelte. »Wie könnte ich zu so einem charmanten Angebot Nein sagen? Ich bin mit den Entlassungsbriefen gleich durch, gib mir bitte noch eine Viertelstunde.«
»Klar, kein Problem. Ich muss bei uns auf Station auch noch Übergabe machen. Treffen wir uns in einer halben Stunde am Haupteingang?«
»Stell dir vor, wer heute noch länger bleibt als ich.« Niklas schloss seinen Wagen auf und öffnete die Fahrertür. »Christian Jürgen höchstselbst.«
»Mister Ich-Mache-Immer-Auf-Die-Minute-Pünktlich- Feierabend bleibt freiwillig länger? Welcher mordswichtige Patient hat denn das Vergnügen?«, fragte Frederik überrascht und stieg auf der Beifahrerseite ein. »Muss ja ein richtig cooler Eingriff sein, wenn Jürgen länger bleibt.«
»Er macht den Unterarm von Melissa Döring.« Niklas setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor. »Es ist eine banale Unterarmfraktur, dafür braucht er wahrscheinlich keine Viertelstunde.«
»Die Oberärzte haben heute alle einen Knall, wenn du mich fragst.« Frederik schüttelte den Kopf und seufzte. »Hanson hat gerade noch CT-Aufnahmen ausgewertet, obwohl er nicht einmal Bereitschaft hat. Keine Ahnung, welche Nadel in welchem Heuhaufen er mal wieder sucht.«
»Ein seltsamer Tag«, bestätigte Niklas und setzte den Wagen rückwärts aus der Parklücke. »Wohin soll es gehen? Bar, Restaurant, Club, ein romantisches Picknick am Elbufer?«
Frederik lachte müde. »Mir würde ein Bier bei dir völlig reichen, ich bin heute anspruchslos.«
»Kenne ich dich überhaupt anspruchsvoll?«, gab Niklas schmunzelnd zurück und hielt kurz an der Parkplatzschranke, dann konnten sie den Heimweg fortsetzen. »Na ja, egal, ich habe Bier kaltstehen und Freja arbeitet, wir sind also erst einmal unter uns.«
Während der kurzen Fahrt schwiegen beide Assistenzärzte und ließen ihren Arbeitstag noch einmal still Revue passieren. Erst auf Niklas‘ Balkon mit einer Flasche Bier in der Hand stellte sich so etwas wie Entspannung ein.
»Dir gehen die beiden Hirntoten nicht recht aus dem Sinn, mhm?«, vermutete Niklas und streckte die langen Beine von sich.
»Weil es für mich keinen Sinn macht. Ich meine, das waren junge, gesunde Menschen in unserem Alter und ohne Vorerkrankungen. Da erwartest du nicht unbedingt, dass du sie für tot erklären musst.« Frederik seufzte, betrachtete seine Bierflasche mit gerunzelter Stirn und trank dann in großen Schlucken.
»Und doch passiert es manchmal.« Niklas ließ den Blick über den leicht bewölkten Abendhimmel gleiten. Ein wunderbarer Sommerabend mit angenehmen Temperaturen, der perfekte Kontrast zum Klinikalltag. »Ich weiß, dass solche Aussagen blöd sind und einem kein Stück weiterhelfen. Aber …«
»Ich glaube nicht mehr, dass es Zufälle sind«, unterbrach Frederik ihn. »Es ist unwahrscheinlich, dass so viele Patienten zur Organspende freigegeben werden, oft stimmen dem die Angehörigen gar nicht zu oder die Patienten kommen doch nicht mehr für eine Spende infrage. Warum ist das jetzt anders? Die ganze Sache stinkt zum Himmel, nur macht jeder einen großen Bogen herum und schweigt aus welchen Gründen auch immer.«
»Mhm …« Niklas drehte die Flasche in seinen Händen. »Bist du dir sicher, dass da etwas nicht stimmt und du nicht nur misstrauisch bist, weil dein Vater für die Organtransplantationen zuständig ist? Ich meine, ihr beide …«
»Ja, ich weiß, wir sind nicht gerade ein Herz und eine Seele.« Schon wieder unterbrach Frederik seinen besten Freund. »Und ich weiß auch, wie dieser Verdacht auf Außenstehende wirkt. Nur, ich habe das drängende Gefühl, etwas unternehmen zu müssen. Es geht um unsere Patienten, Niklas, wie können wir da wegsehen und hinnehmen, dass sie umgebracht werden, um ihre Organe transplantieren zu können?«
»Was willst du denn tun? Deinen Vater direkt ansprechen wird nicht gerade helfen …«
»Nein, das wäre die dümmste Idee, die man haben kann. Er würde alles abstreiten und seine Wut allein über diese Unterstellungen an mir auslassen.« Frederik lachte freudlos. »Nein, so kann ich das nicht angehen. Ich brauche Fakten, mit denen ich ihn konfrontieren kann.«
»Also bleibt uns nichts anderes übrig, als die Fälle und damit die Krankenakten von verdächtigen Hirntoten auf Unregelmäßigkeiten hin durchzugehen?«, vermutete Niklas, trank sein Bier aus und stellte die leere Flasche auf den Tisch zwischen ihnen.
»Uns?« Frederik musterte ihn undurchdringlich.
»Ich bin dabei, auch wenn ich mir noch nicht sicher bin, ob du dich da nicht in irgendetwas verrennst«, versicherte Niklas, stand auf und deutete auf Frederiks Flasche. »Trinkst du noch eins mit oder schwächelst du schon?«
»Danke.« Frederik nickte. »Ich meine, Danke für alles. Dass du mich nicht gleich als Spinner abtust.«
»Für so etwas hat man Freunde, mhm?« Niklas holte zwei frische Flaschen aus dem Kühlschrank und setzte sich dann wieder. »Gib mir mit dem Thema ein paar Tage Zeit, ich habe jetzt einige Nachtschichten und Bereitschaftsdienste vor mir. Aber ab nächstem Mittwoch habe ich wieder etwas mehr Luft.«
»Klar.« Frederik prostete ihm zu. »Auf die paar Tage kommt es auch nicht mehr an.«
»Vermutlich nicht, nein.« Niklas schmunzelte und wechselte dann das Thema. »Du hast es vorhin schon angedeutet, dass es mit deinem Vater wieder gekracht hat. Worum ging es dieses Mal? Wo mischt er sich diese Woche überall ein?«
»Du weißt ja von Caroline«, begann Frederik verlegen, seine Wagen färbten sich augenblicklich in äußerst gesundem Rotton. »Und irgendwoher muss Vater spitzgekriegt haben, dass ich sie ein paar Mal im Patientenzimmer besucht habe. Er ist richtig ausgerastet und hat Hanson als seinen Bluthund vorgeschickt, um mich zu bestrafen. Ist das zu glauben? Hanson schließt mich von OPs aus, weil ich Caroline abends besucht habe.«
Niklas runzelte die Stirn. »Das ist schon eigenartig«, gab er zu. »Woher weiß er überhaupt, dass du sie besucht hast? Er wird wohl kaum im Flur gewartet und dir hinterher spioniert haben …«
»So etwas macht er doch nicht selbst, wo denkst du hin?« Frederik verdrehte die Augen. »Für solch niederen Tätigkeiten hat er doch Handlanger …«
»Stimmt, wie bin ich nur auf solche Gedanken gekommen?« Niklas übernahm den Spott aus Frederiks Tonfall und schüttelte schon wieder den Kopf. »Nein, aber im Ernst, Frederik, irgendjemand spioniert dir hinterher und hat große Freude daran, dich bei deinem alten Herrn zu verpetzen. Das kann nicht gutgehen, wenn du mich fragst.«
»Und was soll ich machen?« Frederik schüttelte den Kopf. »Mir ist klar, dass ich überwacht werde, aber das kenne ich von meinem Herrn Vater nicht anders. Und es ist über die Jahre kontinuierlich schlimmer geworden, vor allem seit Mama so viel auf Tourneen ist.«
»Mhm …« Niklas schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich mich bei deiner Familie sehr mit Kommentaren zurückhalte, aber eure scheinende Fassade lässt inzwischen ganz schön tief blicken.«
»Ich hasse diese Fassade und jegliche Kommentare dazu.« Frederik warf ihm einen finsteren Blick zu. Seine Miene hellte sich jedoch sofort wieder auf, als die Wohnungstür ins Schloss fiel und Niklas‘ Freundin Freja einen Moment später zu ihnen auf den Balkon kam.
»Na ihr?«, fragte sie und gab Niklas einen kurzen Begrüßungskuss, anschließend umarmte sie Frederik, der inzwischen aufgestanden war. »Habt ihr mir ein Bier übriggelassen?«
»Ich hole dir gern eine frische Flasche«, bot Niklas an und stand ebenfalls auf.
»Was macht die Theaterwelt?«, fragte Frederik und musterte Freja nachdenklich. An sich war er froh über den Themenwechsel, denn Niklas und er hatten sich inhaltlich festgefahren.
»Drama auf der Bühne, Drama hinter den Kulissen, der ganz normale Wahnsinn«, berichtete Freja lachend. Sie lehnte sich an die Brüstung und streckte die Arme aus. »Es ist ein großes Irrenhaus, aber ich liebe es.«
»Irrenhäuser gibt es in der Stadt einige«, bemerkte Frederik und hob den Blick, als Niklas zu ihnen zurückkehrte. »Aber aus Neugierde, mit welchen Geschichten kannst du uns erheitern? Bei dir dürfte es etwas unblutiger zugehen als bei uns.«
»Was soll das heißen?« Niklas überflog die letzten Eintragungen in der Krankenakte von Melissa Döring. »Sie hat nicht geraucht, keine Medikamente genommen, sie war kerngesund. Wie konnte es zu so einer Hirnblutung kommen?«
»Manche Verläufe sind nicht vorhersehbar«, erklärte Neurochirurg Benett Hanson knapp. »Doktor Thorsen, ich weiß, für Sie als Unfallchirurg sind Hirnblutungen noch unangenehmer als für uns Neurochirurgen. Vor allem wenn die Blutung auftritt, nachdem Sie so viel Arbeit in die Knochen der Patienten investiert haben. Aber, daran können wir alle leider nichts ändern.«
Niklas starrte den Oberarzt wütend an. »Das ist alles, was Sie zu sagen haben?« Er schüttelte den Kopf und verließ den Raum eilig, bevor er noch etwas Unüberlegtes sagte. Doktor Hanson hatte so eine überhebliche Art, mit der er ihn innerhalb von drei Sätzen auf die Palme bringen konnte.
Im Flur atmete Niklas tief durch, dann betrat er eines der Patientenzimmer auf der Intensivstation, wo Melissa Döring seit zwei Tagen behandelt wurde.
»Doktor Thorsen, hallo.« Melissas Vater sah kurz auf und seufzte dann schwer.
»Wie geht es ihr?«, fragte Niklas mit belegter Stimme und kam langsam näher. »Doktor Hanson hat mich gerade über den jüngsten Verlauf informiert. Es tut mir leid, wie sich …« Er brach ab. Was sollte er groß sagen? Er begriff ja selbst nicht, wie es so weit hatte kommen können.
»Doktor Hanson … er hat Melli gestern noch einmal operiert und die Blutung entfernt, so gut es ging. Aber er … er meinte auch …« Herrn Dörings Stimme brach. »Man weiß nicht, in welchem Zustand Melli wieder aufwachen wird. Falls sie wieder wach wird ist es sehr sicher, dass sie Einschränkungen …« Er schluchzte und klammerte sich an die rechte Hand seiner Tochter.
Niklas schluckte schwer. »Doktor Hanson hat mir die Aufzeichnungen und CT-Bilder gezeigt, die Hirnblutung Ihrer Tochter war sehr ausgedehnt. Da grenzt es an ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Aber Ihre Tochter ist jung, Sie kann sich zurückkämpfen.«
»Danke, Doktor Thorsen.« Melissas Vater räusperte sich. »Danke schön …«
Der Besuch auf der Intensivstation hatte Niklas nachdenklich gemacht.
Konnte es tatsächlich sein, dass Frederiks Verdacht begründet war und Organspenden manipuliert worden waren?
Hätte Melissa Döring auch zu einer Organspenderin gemacht werden sollen?
War etwas schiefgegangen?
Er hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache, doch jetzt konnte er sich nicht damit beschäftigen.
Er hatte einen Job zu erledigen, die Notaufnahme war voller Patienten und weitere Rettungswagen bereits angekündigt.
Niklas standen arbeitsreiche vierundzwanzig Stunden bevor. An sich nicht verkehrt, so kam er nicht zu sehr ins Grübeln.
»Was liegt an?«, fragte Niklas und nahm das Diensttelefon aus der Ladeschale im Arztzimmer der Notaufnahme. »Was habt ihr an unfallchirurgischen Patienten für mich?«
»Fußverletzung in der Drei, eine Platzwunde mit Verdacht auf Gehirnerschütterung in der Fünf und ein Rettungswagen hat sich für in zwanzig Minuten angekündigt«, zählte der diensthabende Chirurg auf. »Viel Spaß damit, ich muss zu einem Notfall auf die Station.« »Klar, danke.« Niklas sah ihm kurz hinterher, dann machte er sich auf den Weg zum ersten Patienten. »Moin, mein Name ist Thorsen. Ich bin einer der Unfallchirurgen«, stellte er sich routiniert vor und sah seinen Patienten auf der Liege kritisch an. Der junge Mann tippte eifrig auf seinem Handy herum. »Das Handy sollten Sie hier ausschalten«, erklärte der Assistenzarzt und griff nach dem Aufnahmebogen. »Was ist passiert?«
»Ich bin ausgerutscht und hingefallen«, nuschelte der Mann und verstaute sein Handy widerwillig in der Jackentasche. »Können Sie mich nicht einfach versorgen und ich gehe wieder nach Hause?«
Niklas griff nach frischen Handschuhen und musterte die Platzwunde am Hinterkopf. »Wo sind Sie denn hingefallen?«
»U-Bahn-Station.« Der junge Mann war nicht gerade in Gesprächslaune. »Können Sie nicht einfach Ihren Job machen, damit ich nach Hause gehen kann?«
»Wir machen eine Röntgenaufnahme, danach sehen wir weiter.« Niklas blieb unverbindlich und bedeutete dem Pfleger vor der Kabine, den Patienten zum Röntgen zu bringen.
Rasch zog er die Handschuhe aus und ging in die Notfallkabine gegenüber. »Moin, Thorsen mein Name, was ist Ihnen passiert?«, wollte der Assistenzarzt wissen und reichte der Patientin die Hand.
»Ich bin auf der Treppe umgeknickt, weil ich die letzte Stufe übersehen habe«, erklärte die Dame Ende fünfzig und lachte verlegen. »Das passiert mir sonst nie, aber heute … Ich weiß auch nicht …«
»Das kann schon mal passieren.« Niklas sah auf den stark geschwollenen Knöchel seiner Patientin. »Ich untersuche das Gelenk, aber wir werden zur Sicherheit ein Röntgenbild anfertigen, um einen Bruch auszuschließen.« Schon tastete er den Knöchel ab und bewegte das Gelenk vorsichtig. »In Ordnung, warten wir mal auf die Bilder, dann sehen wir weiter«, informierte Niklas seine Patientin und griff sich in die Tasche. Schon wieder klingelte sein Telefon. »Thorsen?« Niklas verließ die Notfallkabine. »Ja, ich bin unterwegs.« Schon eilte der angehende Unfallchirurg zur Rampe für die Rettungswagen. Einen Moment später wurde der nächste Patient ausgeladen.
»Moin«, grüßte der Notarzt und kam auf Niklas zu. »Wir bringen eine unbekannte weibliche Patientin. Sie wurde bewusstlos an den Landungsbrücken gefunden. Erweckbar durch starke Schmerzreize. Keine Zeugen, die uns in irgendeiner Weise helfen könnten.«
»Okay, lagern wir sie um.« Niklas zog den Vorhang zur Notfallbox zurück und half gemeinsam mit einem Pfleger, die Patientin umzulagern.
Den Patienten mit der Platzwunde hatte Niklas auf eigene Verantwortung wieder entlassen, der Mann hatte alle dafür nötigen Papiere unterschrieben. Noch dazu war es sein gutes Recht, die weitere Behandlung oder Überwachung abzulehnen.
Auch die Patientin mit dem verstauchten Knöchel war wieder auf dem Heimweg, während die unbekannte Patientin stationär aufgenommen worden war. Um sie würden sich die Kollegen aus anderen Fachrichtungen kümmern, sie hatte zumindest kein unfallchirurgisches Problem.
An Patienten mangelte es Niklas dennoch nicht, er arbeitete die ganze Nacht durch und kam erst kurz vor der Schichtübergabe endlich zur Ruhe.
Zwei Operationen und unzählige, oftmals alkoholisierte Patienten in der Notaufnahme mit Platzwunden hatten ihn wachgehalten, doch langsam krochen Erschöpfung und Müdigkeit in seinen Körper. Hinzu kam die Verspannung im oberen Rücken, die ihn seit der ersten OP um Mitternacht begleitete. Inzwischen verteilten sich die Schmerzen gleichmäßig über seinen Rücken und den Brustkorb, daran hatte auch eine Schmerztablette langfristig nichts ändern können. Vermutlich sollte er sich da in den nächsten Tagen etwas schonen und Termine zur Physiotherapie vereinbaren. Ein Thema für seine freien Tage, jetzt sehnte er sich einfach nur nach dem Feierabend und seinem Bett.
Die Schichtübergabe mit den Kollegen aus dem Frühdienst war rasch erledigt, sodass Niklas zu seinem letzten Termin für diesen Tag gehen konnte.
»Guten Morgen, Doktor Thorsen. Wie war die Nacht?« Sein Chef, Professor Schneider, sah fit und ausgeruht aus und musterte den Assistenzarzt aufmerksam.
»Viel zu tun, aber soweit nichts Ungewöhnliches.« Niklas zuckte mit den Schultern und setzte sich dem Chefarzt gegenüber an den Besprechungstisch. Aufatmend wartete er, bis der Schmerz in seinem Brustkorb nachließ, dann zog er das Logbuch seiner Facharztausbildung aus der Kitteltasche und reichte es Professor Schneider.
»Sie sind durch mit dem Themenkatalog«, stellte der Chefarzt erfreut fest. »Doktor Jürgen und Doktor Walther haben ihre Einschätzungen bereits abgegeben. Ihre Kollegen sind mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden, Doktor Thorsen, und ich bin es auch.«
Niklas‘ Mundwinkel zuckten, doch das Lächeln hatte es schwer, gegen die Müdigkeit anzukommen.
»Melden Sie sich zur Facharztprüfung an, den genauen Prüfungstermin legt die Ärztekammer fest.« Professor Schneider lächelte und schob ihm das Logbuch wieder zu. »Falls Sie Fragen zum Antrag haben, wenden Sie sich bitte an Doktor Jürgen, er betreut unsere angehenden Fachärzte zu diesem Thema.«
»Mache ich.« Nur mit Mühe unterdrückte Niklas ein Gähnen.
Die übermächtige Müdigkeit und die hartnäckigen Rückenschmerzen machten den Nachhauseweg für Niklas anstrengender als nötig und erforderten all seine Konzentration, um im einsetzenden Berufsverkehr keinen Unfall zu verursachen. Gut, dass er nicht weit zu fahren hatte.
Auf dem Weg von der Tiefgarage nach oben in seine Wohnung fielen ihm immer wieder die Augen zu, gleichzeitig hielt ihn sein Rücken wach. Als hätte er sich einen Nerv eingeklemmt … vielleicht half später eine heiße Dusche oder ein Wärmepflaster …
»Guten Morgen.« Freja empfing ihren Freund im Flur und schloss ihn in die Arme, bevor sie ihm einen zärtlichen Kuss gab. »Wie war die Schicht? Und wie lief das Gespräch mit Professor Schneider? Darfst du endlich zur Facharztprüfung antreten?«