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Nicht mehr davonlaufen. Sich der Vergangenheit stellen. Neu anfangen. Frederik Hendriksson wagt nach dem großen Transplantationsskandal die Rückkehr in seine Heimatstadt Hamburg. Kein leichter Schritt, denn hier hat sein Name gleich ein ganz anderes Gewicht und dann taucht auch noch ein alter Bekannter auf, um eine alte Rechnung zu begleichen. Selten hat Frederik seinen besten Freund Niklas Thorsen dringender gebraucht, doch ausgerechnet jetzt hat Niklas ganz andere Sorgen ...
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Seitenzahl: 240
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Münchner Autorin A.R. Klier hat ihre ersten Gehversuche schon zu Schulzeiten gemacht: Insgesamt drei Mal nahm sie am KWA-Schülerliteraturwettbewerb teil und wurde 2012 für die Kurzgeschichte Einsame Familie mit dem ersten Preis ausgezeichnet.
Seither hat A.R. Klier sich den Medizinkrimis der Fehler-Reihe rund um die Assistenzärzte Frederik Hendriksson und Niklas Thorsen gewidmet, die bereits fünf Einzelbände umfasst. Weitere Fehler-Krimis sind in Arbeit.
Mit der Bühnenfieber-Reihe bleibt A.R. Klier ihrer Liebe zur Medizin weiterhin treu, sodass das Theater-Drama eine weitere, spannende Note bekommt. Mit Hauptfigur Christian Rückert ist bisher 1 Band veröffentlicht, weitere Teile sind in Vorbereitung.
Mehr über die Autorin unter:
www.ar-klier.com
www.facebook.com/AutorinAndreaKlier/
www.instagram.com/a_r_klier
Es handelt sich bei Systemfehler um einen Doppelfehler. Offene Fragen beantwortet Band 5 Rachefehler.
Alle in diesem Werk auftretende Personen, Orte und Ereignisse sind fiktiv, jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.
Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden von der Autorin nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Abläufe im Krankenhaus und der Polizei sind der Handlung angepasst und erheben keinen Anspruch auf Richtigkeit.
Erklärungen zu medizinischen Ausdrücken finden sich ab Seite →
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Es dämmerte bereits, dabei war der Nachmittag noch gar nicht vorüber. Die Tage waren inzwischen merklich kurz geworden in Hamburg, doch das war zu Beginn der Vorweihnachtszeit keine große Überraschung. Eisiger Wind und Schneeregen hatten die Hansestadt seit ein paar Tagen in festem Griff und sorgten immer wieder für spiegelglatte Straßen und Fußwege.
Trotz der ungemütlichen Witterung war eine Person in dunkelgrauer, weitgeschnittener Laufkleidung in Hamburgs teurer Wohngegend Harvestehude unterwegs. Eigentlich hätte der Späher heute deutlich früher in dieser luxuriösen Wohnanlage sein wollen, doch andere Verpflichtungen hatten ihn aufgehalten. Gut eine halbe Stunde Zeit blieb ihm nun, bevor die ersten Bewohner nach Hause zurückkehrten.
Der Späher ließ den Blick aufmerksam schweifen und quetschte sich schließlich leise in eine schmale Lücke zwischen Hauswand und der Hecke aus Scheinzypressen, die ihn selbst im Winter gut vor neugierigen Blicken schützte. Zudem verbargen die Pflanzen perfekt die Abhörvorrichtung, die er dort schon vor Monaten installiert hatte. Auch heute diente sein Besuch in erster Linie der Überprüfung der Stromversorgung und dem Austausch des Datenträgers, den er gleich heute Abend auswerten würde.
Angesichts der Witterung und der Uhrzeit verließ der Späher seinen Posten nach erledigter Arbeit sofort wieder und joggte zurück zur Hauptstraße, wo er sein Auto vorhin zurückgelassen hatte. Hoffentlich besserte sich das Wetter bald, damit er sein Beobachtungsobjekt wieder vor Ort studieren konnte und nicht nur auf die Audio-Aufnahmen angewiesen war.
Der einsetzende Feierabendverkehr bremste den Späher aus, dann erreichte er endlich seine Wohnung und konnte die Aufnahmen auf seinen Laptop kopieren. Ungeduldig sah er auf den Statusbalken des Kopiervorgangs, stand auf und schob mit knurrendem Magen eine Tiefkühlpizza in den Backofen. Der Wecker für die Backzeit war rasch eingestellt, sodass der Späher an seinen Schreibtisch zurückkehrte und sein Notizbuch aufschlug, in dem er alle wichtigen Informationen und Beobachtungen dokumentierte.
»Montag, 3.12., 17:24 Uhr«, notierte der Späher in die erste Zeile der neuen Seite.
Endlich war der Kopiervorgang abgeschlossen, sodass der Späher rasch seine Kopfhörer mit dem Laptop verband und sich dann im Stuhl zurücklehnte.
Den Anfang der aktuellen Aufnahme markierten wie schon so oft Pianoklänge. Diesen Teil konnte der Späher gefahrlos überspringen, denn die Pianistin ließ sich bei ihren exzessiven Übungseinheiten durch nichts und niemanden stören.
Was eigentlich die Nachbarn zu dieser Lärmquelle in dieser Erdgeschosswohnung sagten? Störte es niemanden, dass bis zu acht Stunden täglich geübt wurde?
Egal, das war nicht sein Problem, im Gegenteil. Die Aufnahmen waren dadurch einfacher auszuwerten.
»Nur vier Stunden? Da wird aber jemand nachlässig«, bemerkte der Späher ironisch, als er endlich am Ende der Übungssession angekommen war. Kurz sah er auf den Timer am Backofen und lehnte sich dann wieder im Stuhl zurück. Eine weitere halbe Stunde Aufnahmezeit konnte er problemlos überspringen, in der nur in der Wohnung herumgeräumt wurde. Erst das Klingeln des Telefons ließ den Späher wieder aufmerksam die Ohren spitzen.
»Andersen?«, meldete sich die Konzertpianistin und war aufgrund ihrer Position in der Wohnung hervorragend auf der Aufnahme zu verstehen. »Frederik! Das ist aber schön, dass du zurückrufst.«
Ein Anruf von Frederik, das hatte es schon eine ganze Weile nicht gegeben. Der letzte lag fast vier Wochen zurück, wie der Späher in seinen Notizen nachlesen konnte.
»Ja, genau, ich wollte wissen, wann du denn jetzt nach Hamburg zurückkehrst und wie deine Pläne rund um Weihnachten und Silvester aussehen«, stellte Victoria Andersen fest.
Angespannt lauschte der Späher.
»Nein, ich bin nicht auf Konzertreise. Ich habe Oliver und Julian versprochen, die Feiertage als Familie auf dem Gestüt zu verbringen. Deswegen warten wir alle ja so gespannt darauf, ob und wenn ja, wann du in Hamburg ankommst.« Sie räusperte sich. »Okay, das klingt gut. Soll dich dann jemand vom Bahnhof abholen und mit zum Gestüt nehmen? Mit großem Gepäck ist die Strecke im Auto deutlich einfacher.«
Ein Lächeln tauchte auf den Lippen des Spähers auf.
Endlich kehrte Frederik Hendriksson zurück.
Die Frage war nur, wann genau?
»Nein, das ist kein Problem«, versicherte Victoria Andersen. »Dann hole ich dich nächste Woche Montag an der Haltestelle Dammtor ab. Ich habe bis fünfzehn Uhr berufliche Verpflichtungen und sollte dann bis halb Vier pünktlich am Bahnhof sein. Falls sich der Zug verspätet, meldest du dich dann einfach.«
Das Lächeln des Spähers wurde noch eine Spur breiter, als er aufstand und seine Pizza aus dem Ofen holte. Dank der kabellosen Kopfhörer musste er die Wiedergabe der Aufnahme nicht einmal unterbrechen.
»Ich freue mich, dich nächste Woche wiederzusehen, Frederik. Genieß die Tage noch mit Onkel Karl und richte ihm meine Grüße aus.« Victoria beendete das Gespräch kurz darauf.
»Na, das sind ja wohl die Neuigkeiten der Woche«, kommentierte der Späher und rief das Buchungsportal der Bahn auf, um die Zugnummer herauszufinden.
Je mehr Informationen er führzeitig verfügbar hatte, desto besser. Informationen waren Macht, das hatte sich im vergangenen Jahr immer wieder bewahrheitet. Endlich neigte sich die reine Beobachtungs- und Planungsphase dem Ende zu. Es war an der Zeit, zur Tat zu schreiten. All das rückte nun in greifbare Nähe, da das Objekt der Begierde wieder in Reichweite war.
»Du hast echt einen Lauf. Zwei große Prüfungen innerhalb eines Jahres erfolgreich abzulegen, da gehört einiges dazu, mein Lieber.« Maximilian Vollmer umarmte seinen Freund und Kollegen Niklas Thorsen. »Herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen Weiterbildung zum Notarzt.«
Niklas schmunzelte. »Nach dem beschissenen letzten Jahr musste es einfach mal wieder bergauf gehen«, meinte er und zog die Einsatzjacke aus.
»Hängt dir das noch sehr nach?«, wollte Maximilian nachdenklich wissen. »Ich meine, ich habe diesen psychischen Zusammenbruch im Sommer ja selbst miterlebt, aber davon abgesehen … wie geht es dir inzwischen?«
»Der Jahrestag vom Ende dieses ganzen Skandals ist in wenigen Tagen, das wird glaube ich schon nochmal sehr intensiv«, gab Niklas zu und setzte sich an den zweiten Computerarbeitsplatz. »Freja und Elina geben mir allein durch ihre Anwesenheit viel Halt, dazu habe ich vieles mit meiner Psychologin aufgearbeitet. Abgeschlossen ist die Therapie noch nicht, aber ich denke und hoffe, dass es nach diesem blutigen Jahrestag endlich etwas leichter wird.«
»Das, was ich aus den Medien mitbekommen habe, war schon ziemlich heftig. Ich glaube, das steckt niemand so ohne weiteres weg.« Maximilian musterte ihn mitfühlend. »Sag Bescheid, wenn ich dir irgendwie helfen kann. Und sei es nur durch Zuhören.«
»Danke.« Niklas schob die aufkommenden Erinnerungen wieder beiseite. »Für den Moment hilfst du mir schon mal mit der Dienstplanung. Mit Professor Schneider ist abgestimmt, dass ich an zwei Tagen pro Woche als Notarzt unterwegs sein werde und meine Zeit hier auf Station beziehungsweise im OP entsprechend gekürzt wird. Sollte es personelle Engpässe geben kann ich natürlich jederzeit aushelfen.«
»Du verlässt mich für zwei Tage pro Woche?«, seufzte Maximilian theatralisch. »Bald bin ich allein mit den Anfängern, wenn ihr so weiter macht.«
»Gibt es eigentlich Neuigkeiten, ob und wann Christian wieder zurückkommt?« Niklas runzelte die Stirn, denn der launische Oberarzt war schon seit August nicht mehr in der Klinik gewesen. »Was macht er eigentlich die ganze Zeit? Ich hoffe doch nicht, dass er neue Möglichkeiten trainiert, mit denen er mich fertigmachen kann.«
»Wenn er weiter Kindergarten spielen möchte, wird er gehen müssen, das hat Professor Schneider schon gesagt. Angeblich kommt Christian Anfang nächsten Jahres zurück, er ist wohl nach seinem Urlaub direkt zu einer längeren Weiterbildung gereist. Keine Ahnung, was es damit auf sich hat, Professor Schneider wollte das nicht vertiefen.« Maximilian Vollmer nahm den Dienstplan von der Tafel. »Ich sehe mal zu, wie ich die Schichten umgeplant bekomme. Genügt dir der neue Plan bis Ende der Woche?«
»Lass dir Zeit, du hast doch in zehn Minuten Feierabend.« Niklas stand auf. »Kommst du noch auf einen Absacker mit zu mir? Elina freut sich bestimmt, dich wiederzusehen.«
»Zu deiner Tochter kann ich nicht Nein sagen, das weißt du.« Maximilian lachte und hängte den Dienstplan zurück an die Magnettafel. »Dann sehen wir uns gleich bei dir? Ich mache noch das Übergabegespräch mit Doktor Lucas.«
In seiner Wohnung wurde Niklas sofort vom fröhlichen Gebrabbel seiner Tochter begrüßt, die mit ihren fünf Monaten ihre Umgebung immer bewusster wahrnahm.
»Wenn man mal überlegt, wie unser Alltag vor einem Jahr ausgesehen hat«, stellte Freja kopfschüttelnd fest und ging voran in die Küche, Niklas folgte ihr mit Elina auf dem Arm.
»Auf der Flucht in Schweden … aber wir hatten uns. Ansonsten hätte ich diese Zeit nicht so gut überstanden.« Niklas gab seiner Frau einen zärtlichen Kuss.
»Isst Maximilian eigentlich mit oder ist er versorgt?«, wollte Freja wissen und holte Töpfe aus der Schublade. »Das ist kein Problem, aber dann sollte ich entsprechend mehr Nudeln kochen.«
»Mach eine Portion mehr, die nehme ich im Zweifel morgen mit und wärme sie mir in der Mittagspause auf«, schlug Niklas vor und setzte sich an den Tisch, Elina nahm er auf den Schoß.
»Mittagspause?«, schmunzelte Freja. »Der war gut.« Auch Niklas lachte. »Ich weiß, ich weiß. Aber ich werde mich bessern«, versprach er. »Und lecker gekochtes Essen von dir ist immer noch das beste Argument für eine richtige Mittagspause.«
Maximilian Vollmer erreichte die Wohnung seiner Freunde gerade rechtzeitig, als das Essen fertig war.
»Entschuldigt, aber Marina hat mich mit der Übergabe ein wenig versetzt.« Er zog sich Schuhe und Mantel aus und begrüßte Freja dann mit einer freundschaftlichen Umarmung. »Das duftet ja gut, ihr habt nicht zufällig eine Portion übrig?«, fragte er unschuldig.
»Das war es dann wohl mit deinem Mittagessen morgen«, neckte Freja ihren Mann und lachte. »Ich habe extra etwas mehr gekocht. Setz dich, wir können gleich beginnen.«
Während des Essens herrschte angenehmes Schweigen in der Küche, vor allem die beiden Ärzte waren wie ausgehungert über ihre Mahlzeit hergefallen.
»Während seiner Elternzeit habe ich Niklas so schön an einen geregelten Alltag mit regelmäßigen Mahlzeiten gewöhnt. Keine drei Wochen später ist er wieder in seinen alten Gewohnheiten angekommen«, seufzte Freja. »Und so wie ihr beide esst hattet ihr keine sonderlich große Mittagspause, mhm?«
»Ich hatte Prüfung«, erklärte Niklas und holte sich noch einmal nach. »Und davor stand ich im OP.«
»Und ich habe nur operiert.« Maximilian schmunzelte. »Verstehe ich dich richtig, wenn Niklas so weitermacht, wirst du ihm einen zweiten Block Elternzeit auferlegen?«
»Das ist gut möglich.« Freja sah zwischen den Männern hin und her. »Irgendwie muss ich ihn ja wieder auf ein normaleres Level bekommen. Und Elina ist da wirklich eine großartige Unterstützung.«
»Habe ich denn gar nichts zu sagen?« Niklas seufzte dramatisch. »Siehst du, wie es mir hier geht? Mir bleibt gar keine andere Wahl, als zu arbeiten.«, klagte er Maximilian sein Leid.
»Väter und ihre Töchter, das ist schwer zu toppen«, stichelte Max und legte sein Besteck ordentlich auf den Teller. »Heißt das also, du nimmst noch einmal einen Block Elternzeit so wie dieses Jahr? Oder war das mehr dahingesagt?«
Niklas tauschte einen langen Blick mit Freja. »Ich habe die Zeit mit meiner Familie sehr genossen und kann mir gut vorstellen, noch einmal Elternzeit zu nehmen. Vielleicht rund um Elinas ersten Geburtstag, aber das müssen wir sehen.«
»Puh, dann stehe ich zumindest nicht nächsten Monat allein mit den Anfängern da. Das ist schon eine Erleichterung«, atmete Maximilian auf und lachte. »Vielleicht bekomme ich bis dahin ja wieder fachärztliche Unterstützung, damit ich über deine zeitweise Abwesenheit besser hinwegkomme.«
Elinas lautstarke Bemerkung, dass sie nun ebenfalls Hunger hatte, war schließlich Maximilians Signal zum Aufbruch.
»Wir sehen uns morgen in der Klinik«, verabschiedete er sich von Niklas im Flur. »Macht euch noch einen schönen Abend und stoßt auf deine bestandene Prüfung an. Das hast du dir verdient.«
Lächelnd schloss Niklas die Tür hinter seinem Freund und folgte Freja in das Schlafzimmer, wo sie Elina inzwischen zu stillen begonnen hatte.
»Das war ein lustiges Abendessen«, bemerkte Freja, ohne den Blick von ihrer Tochter zu wenden. »Und ich freue mich, dass du über eine zweite Elternzeit nachdenkst. Das tut uns als Familie bestimmt gut.«
»Sie ist meine Tochter. Und ich will an ihrem Leben und ihrer Entwicklung teilhaben«, stellte Niklas fest. Langsam kam er näher und setzte sich schließlich auf die Bettkante. »Wie sehen denn deine Pläne aus? Hast du dir schon Gedanken dazu gemacht, wann du in deinen Job zurückkehren möchtest?«
Freja ließ sich Zeit mit ihrer Antwort und dachte erst eine ganze Weile darüber nach. »Ich habe den großen Luxus, dass ich wegen deines Jobs nicht zwingend sofort in den Job zurückkehren muss. Dein Gehalt reicht für uns drei leicht, deswegen habe ich mir über das Ende meiner Elternzeit noch keine allzu großen Gedanken gemacht. Dass ich wieder arbeiten möchte, wenn Elina etwas älter ist, steht für mich außer Frage.« »Ich verstehe, was du meinst.« Niklas lächelte und glitt mit seiner linken Hand über Frejas Unterschenkel. »Wir werden eine Lösung finden, wenn du bereit dafür bist. Und bis dahin genießen wir einfach die Zeit als Familie, so wie wir uns das vor einem Jahr in Schweden ausgemalt haben, als wir den positiven Schwangerschaftstest in den Händen gehalten haben.«
Die erste lange Zugfahrt mit Baal war für Frederik überraschend unkompliziert vorübergegangen. Der junge Hund hatte die meiste Zeit über geschlafen und war erst in der letzten Dreiviertelstunde der Reise zunehmend unruhig geworden.
»Wir sind gleich an der frischen Luft«, redete Frederik Baal gut zu und nahm den Rucksack auf den Rücken.
Der ICE verringerte bereits die Geschwindigkeit, sodass Frederik den großen Koffer zum Ausstiegsbereich vor sich her schob, Baal folgte ihm an der Leine.
Anklagend sah der junge Hund sein Herrchen an.
»Ich weiß, das mit dem Maulkorb ist Mist«, gab Frederik ihm recht. »Aber das sind nun mal die Regeln, nachdem du schon zu groß für so eine Transportbox bist.« Beruhigend streichelte er Baal über das Fell, als vor dem Fenster bereits der Bahnsteig auftauchte. Das Ende dieser großen Reiseetappe war nah.
Mit einem großen Satz sprang Baal aus dem Zug und sah sich sofort um, seine Ohren zuckten aufmerksam. »Jetzt müssen wir nur noch Mama finden und dann kannst du vor dem Gebäude erstmal in die Büsche, mhm?« Frederik schlang sich die Leine ein zweites Mal um das Handgelenk und hielt Ausschau nach seiner Mutter, die ihn bereits entdeckt hatte und auf ihn zu gelaufen kam.
»Es tut so gut, dich wiederzusehen!« Victoria Andersen drückte ihren jüngsten Sohn fest an sich.
»Ich freue mich auch.« Frederik lächelte. »Macht es dir etwas aus, unser Wiedersehen vor dem Gebäude weiterzufeiern? Baal muss langsam dringend …«
»Klar.« Neugierig betrachtete Victoria den neuen Begleiter ihres Sohnes, der inzwischen ungeduldig an der Leine zog.
Nach einer guten halben Stunde Auslauf für Baal drängte Frederiks Mutter schließlich zum Aufbruch, um die restliche Reise nicht durch den einsetzenden Berufsverkehr unnötig in die Länge zu ziehen.
»Er erinnert mich an Kira«, stellte sie mit Blick in den Innenspiegel fest und lenkte den Wagen in den Norden von Hamburg. »Sie war auch ganz unkompliziert auf Reisen und ist sogar recht gern im Auto mitgefahren.«
»Onkel Karl und ich haben die beiden Welpen schon früh daran gewöhnt. Und ich glaube, es hat ihnen geholfen, dass sie das halbe Jahr zusammen hatten und sie nicht sofort getrennt wurden.« Frederik sah ebenfalls auf die Rückbank, doch Baal wirkte entspannt.
»Ein neuer Begleiter in deinem Leben tut dir auf jeden Fall gut. Und das muss ja nicht immer ein Mensch sein«, bemerkte Victoria Andersen noch und lächelte. »Manchmal sind Tiere ohnehin die bessere Gesellschaft.«
»Du meinst, weil Menschen grausam sind und am meisten denen wehtun, die sie lieben?« Frederik räusperte sich. »Da kommen einige Beispiele in Frage, aber das müssen wir ja nicht jetzt vertiefen.«
Frederiks Brüder Julian und Oliver bereiteten gemeinsam bereits das Abendessen vor, sodass der ganze Wohn-Ess-Bereich verführerisch nach Bratkartoffeln mit Speckwürfeln duftete.
»Du bekommst auch gleich etwas und musst uns nicht hungrig beim Essen zusehen.« Frederik zog sich die warmen Winterschuhe aus und hängte seine Jacke an den Haken. »Erst einmal gehst du ohnehin auf Entdeckertour, mhm?«
Baal sah ihn nur kurz an und zerrte an seiner Leine.
»Nach der Tour kommt die Leine ab, ich kenne dich doch«, schmunzelte Frederik und wurde so von Baal geradewegs zu seinen Brüdern gezogen.
Sie alle hatten sich viel zu erzählen, sodass sie das Gespräch nach dem Abendessen kurzerhand auf das Sofa verlegten und es sich gemütlich machten.
»So, das reicht jetzt aber«, wehrte sich Frederik lachend gegen weitere Nachfragen. »Erst bin ich mit ein paar Fragen an der Reihe.«
»Schieß los.« Julian stand auf und holte vier Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
»Habt ihr seit Sommer nochmal von Caroline gehört? Nachdem sie unsere Trennung alles andere als gut aufgenommen hat, frage ich mich, ob da noch etwas nachkam?«, wollte Frederik neugierig wissen.
Seine Brüder tauschten einen langen Blick, ehe schließlich Oliver das Wort ergriff.
»Sie nimmt seit September Reitstunden hier auf dem Hof«, informierte Oliver seinen Bruder und trank anschließend ein paar Schlucke Bier auf einmal.
»Aber das ist alles rein professionell, sie hat zu dir bisher kein Wort verloren oder eurer Trennung oder irgendetwas anderem. Sie stand Anfang September auf einmal vor unserer Tür und hat um Unterrichtsstunden gebeten. Valentin hat sie in seinen Anfängerkurs aufgenommen.«
»Mhm …« Frederik schüttelte den Kopf. »Dann soll sie das tun, solange es sie glücklich macht und sie mich in Ruhe lässt.« Er betrachtete seinen Hund, der schon im Halbschlaf auf einer Decke neben dem Sofa lag. Die lange Reise hatte Baal geschafft, doch Frederik war sich sicher, dass sein Hund in den nächsten ein bis zwei Tagen vor Energie nur so strotzen würde.
»Entschuldigt mich, aber ich werde mich hinlegen. Es war ein langer Tag und ich muss morgen ja wieder früh aufstehen, damit ich nicht im Berufsverkehr stecken bleibe.« Victoria ließ ihre Söhne gähnend allein.
»Ich glaube, alt werden wir heute alle nicht mehr«, vermutete Julian und trank seine Flasche aus. »Oder habt ihr noch andere Pläne?«
Frederik trug Baal mitsamt der Decke nach oben in sein Zimmer und packte nur seinen Kulturbeutel aus dem großen Koffer aus. Vor dem Schlafengehen wollte er zumindest noch unter die Dusche und sich den Schweiß der Reise vom Körper waschen, doch das hatte Zeit, bis seine Brüder fertig waren.
»Du kannst.« Julian schob die angelehnte Zimmertür auf und lächelte müde. »Schlaf gut und schön, dass du wieder hier bist.«
»Dito.« Frederik stand gähnend auf und schlurfte ins Bad. Die zerknitterten und verschwitzten Kleidungsstücke ließ er achtlos zu Boden fallen und stellte sich in die gläserne Duschkabine. Angenehm warmes Wasser prasselte auf seinen Kopf und rann ihm dann über seinen ganzen Körper. Die verkrampfte Muskulatur im Oberkörper lockerte sich langsam, dazu stellte sich ein angenehmes Gefühl der Entspannung ein.
»So ist es recht.« Carolines Stimme drang leise an sein Ohr, dann berührten ihn ihre Hände am Rücken. »Lass einfach los. Fühle nur das Wasser und die Wärme und meinen Körper.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, sodass Frederik die Berührung ihrer Brüste spürte.
Er atmete tief durch, während sich sein Puls deutlich beschleunigte und das Blut in andere Körperregionen lenkte.
»Denk nicht zu viel nach, Liebster. Lebe nur im Augenblick.« Caroline schob ihre Hände unter seinen Armen hindurch nach vorn auf seine Brust.
»Ich will dich«, stellte Frederik mit rauer Stimme fest. »Ich will dich ganz. Hier. Sofort.« Er leckte sich über die Lippen.
»Nimm mich.« Caroline tauchte nun mit dem Oberkörper unter seinem linken Arm hindurch und schmiegte sich an ihn. Ihre Hände glitten wie selbstverständlich tiefer und streichelten seine steil aufgerichtete Erregung mit langsamen, aber wirkungsvollen Bewegungen.
Frederik keuchte und stützte sich mit der rechten Hand an der Wand ab. Er war zum Zerreißen gespannt und sehnte sich nach nichts anderem als Erlösung. Reflexartig bewegte er Caroline sein Becken entgegen und schloss die Augen, um das Gefühl weiter zu intensivieren.
»Liebe mich«, flüsterte Caroline. »Liebe mich …«
»Was?« Irritiert schlug Frederik die Augen wieder auf und schluckte schwer. Seine Erregung pochte beinahe schmerzhaft und bettelte um Erlösung, doch von Caroline war nichts mehr zu sehen.
Was war nur los mit ihm, dass er solche Phantasien zu dieser Frau unter der Dusche auslebte?
War das ein Zeichen, dass das Ende ihrer Beziehung ein Fehler gewesen war und er die Beziehung wieder aufleben lassen sollte, jetzt wo es ihm psychisch ein ganzes Stück besser ging?
Oder vermisste er einfach nur den Sex, also rein körperliche Nähe?
Ruckartig stellte Frederik den Thermostat deutlich kälter ein und griff dann nach dem Duschgel.
»Jetzt reicht es aber«, schimpfte er leise mit sich selbst. »Dieser Schritt hat dir so gutgetan, lass dich nicht von so einer Phantasie zurückwerfen.«
Kopfschüttelnd spülte sich Frederik den Schaum vom Körper, drehte das Wasser aus und trocknete sich eilig ab. Es war an der Zeit, dass er sich schlafen legte, bevor noch weitere Phantasien auftauchten. Außerdem war Baal meist früh auf, da konnte Frederik schlecht lange ausschlafen.
»Bestimmt hat Karl ein finsteres Bild von mir gezeichnet und sich selbst nur im besten Licht dargestellt, was?«, vermutete Maximilian Hendriksson.
»Ich habe überhaupt nichts überzeichnet, dieses finstere Bild hast du selbst von dir entworfen. Schieb den schwarzen Peter nicht mir in die Karten.« Karl spuckte seinem Bruder verächtlich vor die Füße. »Den Mist hast du ganz allein gebaut, lieber Bruder. Ich habe dich bestimmt nicht dazu gedrängt, eine Affäre zu beginnen.«
»Du hattest eine Affäre?«, wiederholte Frederik ungläubig. »Wie … wie lange ist das denn gegangen? Und hat Mama davon erfahren?«
»Wie ein hirnloser Papagei. Und so jemand soll mein Sohn sein.« Maximilian würdigte Frederik keines Blickes. »Victoria weiß nichts davon und dabei wird es auch bleiben.«
»Und was macht dich so sicher?« Karl stützte die Hände in die Hüften. »Willst du mich erschießen?«
»Was denkst du?« Maximilian Hendriksson griff in seine rechte Manteltasche und zog eine silberglänzende Pistole hervor. Er zielte nur kurz, dann krachte ein Schuss. Karl von Gerblung wurde rücklings zu Boden geworfen, während die Austrittswunde stark zu bluten begann. In der nur vom Mondschein erhellten Reithalle eine geradezu gespenstische Szenerie.
In blankem Entsetzen wich Frederik zurück, doch schon bald spürte er das Holz der Bande in seinem Rücken. Er steckte in der Falle und wie es aussah, würde er gleich das Schicksal seines Onkels teilen.
»Kommen wir also zu dir, Sohn.« Maximilian Hendrikssons eiskalte Stimmfarbe steigerte die Panik bei Frederik nur noch weiter. »Eins muss ich dir lassen, du hast im letzten halben Jahr verdammt oft deinen Kopf im letzten Moment aus der Schlinge gezogen bekommen. Nur heute, da verlässt dich dein Glück.«
Äußerlich völlig regungslos richtete Maximilian Hendriksson die Pistole gegen seinen eigenen Sohn und feuerte gleich mehrere Schüsse auf ihn ab.
»Nein!«, rief Frederik und fuhr in die Höhe. Er atmete keuchend ein und aus und ließ Baal zu sich auf das Bett springen. »Das war nur ein Traum, nichts weiter. Ein fieser Albtraum, aber hier geschieht uns nichts«, redete sich Frederik gut zu und streichelte mit beiden Händen über Baals Fell.
Wieder und wieder sah sich Frederik in dieser Nacht mit dieser Szene in der Reithalle konfrontiert, die fast auf den Tag genau vor einem Jahr den grausamen Höhepunkt des Transplantationsskandals markiert hatte. Maximilien Hendriksson hatte sowohl seinen eigenen Bruder als auch seinen eigenen Sohn töten lassen wollen. Kaltblütig hatte er einmal mehr über Menschenleben entschieden und keine Ähnlichkeit mehr mit dem großartigen Mediziner aufgewiesen, zudem auch Frederik einst aufgeblickt hatte.
War es diese herbe Enttäuschung, die ihn nach wie vor so sehr mit dem Schicksal hadern ließ?
Oder die Tatsache, dass sein Vater durch dessen Tod im Kugelhagel nie vor Gericht gestellt und angeklagt werden konnte?
»Soll ich dir mal den Hof zeigen?«, fragte Frederik, als es draußen schon zu dämmern begann. »Ich glaube, frische Luft tut uns beiden gut.«
Baal ließ sich das Geschirr anlegen und folgte Frederik an der Leine hinunter ins Erdgeschoss. Ruhig wartete er ab, bis sich sein Herrchen Jacke, Schuhe und Handschuhe angezogen hatte.
Leise schloss Frederik die Haustür hinter sich und atmete erst einmal tief durch. Der Boden war gefroren und knirschte unter Frederiks Schritten.
»Na, dann wollen wir mal«, murmelte Frederik in den Kragen der Jacke hinein und setzte sich in Bewegung. Er wollte zumindest eine kleine Runde mit Baal gehen, bevor der große Hof zum Leben erwachte. Noch war von Angestellten und Pferdebesitzern nichts zu sehen, das war Frederik ganz recht.
Baal folgte seinem Herrchen aufgeregt schnuppernd um die großen Stallgebäude und zerrte ihn dann geradewegs auf die große Reithalle zu. Schwanzwedelnd blieb Baal stehen und sah Frederik lange an.
»Du machst mir ja Freude«, murmelte Frederik und schob das große Tor langsam auf. »Weißt du, dass ich hier zuletzt vor einem Jahr war? Mitten in der Nacht habe ich mich zusammen mit Onkel Karl durch den Stall bis hierher vor die Halle geschlichen, damit uns die ganzen Polizisten nicht entdecken konnten.«
Leise rastete das Tor in seiner endgültigen Position ein, doch das registrierte Frederik kaum. Gebannt starrte er in die Halle und sah alles wieder vor sich.
Wie er gleichzeitig mit Onkel Karl eingetreten war und sie damit bereits den Groll seines Vaters auf sich gezogen hatten.
Wie erst Karl verhört und vorgeführt worden war.
Wie der Schuss auf Karl abgefeuert wurde und er leblos zusammengebrochen war.
Wie gehässig sein Vater dann mit ihm umgegangen war bis hin zum Befehl, auch ihn erschießen zu lassen. Die Flucht über die Tribüne.
Der Kugelhagel durch die hereinstürmenden Polizisten, der seinen Vater das Leben gekostet hatte.
Fiepend drückte Baal seinen Kopf gegen Frederiks rechten Oberschenkel.
»Frederik? Was machst du denn hier?« Sein Bruder Julian kam über den Hof gelaufen und blieb überrascht neben seinem Bruder stehen.
»Es ist alles wieder da«, murmelte Frederik und blinzelte, doch damit konnte er nicht mehr verhindern, dass ihm Tränen über die Wangen rannen. »Der Schuss auf Onkel Karl. Die Schüsse in meine Richtung, die irgendwo in der Tribüne eingeschlagen sind.« Seine Unterlippe zitterte immer stärker und machte ein Weitersprechen vorerst unmöglich.
»Du warst seither nie wieder in dieser Halle«, stellte Julian mitfühlend fest und legte Frederik die Hand auf die Schulter.
Andeutungsweise schüttelte Frederik den Kopf und sank schluchzend auf die Knie. Einmal mehr schloss er seinen Hund in die Arme und versuchte auf diese Weise, die aufgebrochenen Wunden so gut es ging wieder zu schließen. Er war noch nicht so weit, sich diesen Erinnerungen zu stellen. Dieser Schmerz war zu viel für ihn. Zumindest für den Moment.
05:34 Uhr zeigte der Timer der Mikrowelle an, als Christian Jürgen seinen Laptop aufklappte und nervös wartete, bis sich die Verbindung nach Hamburg aufgebaut hatte.
»Hallo Doktor Jürgen und schön, dass das Gespräch so spontan zustande gekommen ist«, freute sich Professor Schneider. »Der Zeitverschiebung nach ist bei Ihnen früher Morgen?«
Jürgen nickte und trank einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse. »Aber das passt mir ganz gut, ich muss spätestens um halb Sieben in der Klinik sein.«
»Ich verstehe.« Professor Schneider lächelte andeutungsweise. »Ich hatte Sie ja bereits in der Termineinladung informiert, dass ich mit Ihnen über Ihre weiteren beruflichen Pläne sprechen möchte.« Er machte eine kurze Pause und gab Christian Jürgen die Gelegenheit für weitere Schlucke Kaffee. »Nach Ihrem Urlaub sind Sie direkt in die USA aufgebrochen, um dort den Platz in einem Weiterbildungsprogramm einzunehmen, der spontan freigeworden ist. Das Fellowship an der Mayo Clinic endet meinem Kenntnisstand nach zum einunddreißigsten zwölften?«
Doktor Jürgen nickte. »Das ist richtig.«
»Werden Sie danach direkt nach Hamburg zurückfliegen und Ihre Arbeit in der Uniklinik wiederaufnehmen? Oder werden Sie Ihren Aufenthalt in Minnesota