Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Jahr nach dem großen Transplantationsskandal kehrt Unfallchirurg Niklas Thorsen zurück in die Uniklinik und muss feststellen, dass sich nicht alles zum Guten verändert hat. Gleich sein erster Fall lässt ihn nicht mehr los, und schon bald wird Niklas selbst zum Angeklagten: Ist ihm im Stress zwischen privaten Problemen, Erinnerungen an das Zeugenschutzprogramm und der Eingewöhnung in den Arbeitsalltag etwa ein Kunstfehler unterlaufen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Münchner Autorin A.R. Klier hat ihre ersten Gehversuche schon zu Schulzeiten gemacht: Insgesamt drei Mal nahm sie am KWA-Schülerliteraturwettbewerb teil und wurde 2012 für die Kurzgeschichte Einsame Familie mit dem ersten Preis ausgezeichnet.
Seither hat A.R. Klier sich den Medizinkrimis der Fehler-Reihe rund um die Assistenzärzte Frederik Hendriksson und Niklas Thorsen gewidmet, die bereits fünf Einzelbände umfasst. Weitere Fehler-Krimis sind in Arbeit.
Mit der Bühnenfieber-Reihe bleibt A.R. Klier ihrer Liebe zur Medizin weiterhin treu, sodass das Theater-Drama eine weitere, spannende Note bekommt. Mit Hauptfigur Christian Rückert ist bisher 1 Band veröffentlicht, weitere Teile sind in Vorbereitung.
Mehr über die Autorin unter:www.ar-klier.comwww.facebook.com/AutorinAndreaKlier/www.instagram.com/a_r_klier
Alle in diesem Werk auftretende Personen, Orte und Ereignisse sind fiktiv, jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.
Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden von der Autorin nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Abläufe im Krankenhaus sind der Handlung angepasst und erheben keinen Anspruch auf Richtigkeit.
Erklärungen zu medizinischen Fachbegriffen finden sich ab Seite →.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Befreit atmete Niklas Thorsen durch und führte seine Stute Malika aus dem Stallgebäude. Die ganze Woche über hatte er zahlreiche Termine in Hamburg wahrgenommen, sodass ihm diese Auszeit auf dem Gestüt der Hendrikssons gerade recht kam.
»Ich hatte dich schon vermisst und befürchtet, dass du gar nicht mehr hierher zurückfindest«, stichelte sein bester Freund Frederik hinter ihm und saß auf. »Immerhin habe ich dich seit gut einer Woche nicht mehr auf dem Hof gesehen.«
»Überraschenderweise konnte sich zumindest das Auto an den Weg erinnern«, schmunzelte Niklas und schwang sich ebenfalls in den Sattel. »Nehmen wir die große Runde oder hast du noch etwas vor?«
»Mein Nachmittag gehört ganz dir.« Frederik lachte fröhlich und ritt neben Niklas zum Weg, der sie einmal um das gesamte Gestüt herumführen würde. »Aber jetzt erzähl mal, wie lief es denn bei dir? Wie war die Rückkehr in die Klinik?«
»Es war wirklich seltsam, wieder dort zu sein und zu wissen, dass Hanson und dein Vater nicht mehr ihr Unwesen treiben. Eine Klinik ohne die beiden war bisher nicht vorstellbar«, berichtete Niklas. »Viel Zeit zum Nachdenken hatte ich ohnehin nicht, ich wurde ja von meinen Oberarztkollegen durch eine Art Boot-Camp gejagt. Dutzende Operationen am Simulator, dazu permanente Wissensabfragen und Fallbeispiele. Daran musste ich mich erst gewöhnen, aber soweit lief alles gut. Die letzten Wissensgebiete werden am Montag und am Dienstag noch abgeprüft, bevor ich am Mittwoch in den regulären Dienst zurückkehren darf.«
»Das ist ein gewaltiger Schritt nach vorn«, staunte Frederik und nickte anerkennend. »Und merkst du psychisch, dass dich das alles irgendwie … also deine Rückkehr…?«
»Ich war letzte Woche zwei Mal bei meiner Psychologin, die diese Wiedereingliederung ja auch schon sehr gut vorbereitet hat.« Niklas lächelte. »Ich denke gerade in ruhigen Momenten schon viel an letztes Jahr und was da alles passiert ist. Aber ich schaffe es inzwischen, die Erinnerungen nach solchen Momenten zurück in ihre Kisten zu packen.«
»Das freut mich sehr für dich.« Frederik seufzte. »Ich wünschte, ich würde mich solchen Meilensteinen auch endlich nähern. Stattdessen gebe ich meinen Therapeuten nur immer wieder den Laufpass.«
»Es ist bei mir auch nicht alles auf dem richtigen Weg«, wandte Niklas ernst ein. »Ja, ich kann endlich in meinen Beruf zurückkehren, das war aber nie mein eigentliches Trauma. Unsere Tiefgarage, in der auf mich geschossen wurde, das ist mein Knackpunkt, an dem ich bis heute immer noch scheitere. Meine Psychologin und Freja haben mich im Rahmen der Therapie immer wieder dorthin begleitet, aber …« Er brach kopfschüttelnd ab. »Du kennst die Geschichte längst.«
»So geht es mir mit der Klinik oder sämtlichen Themen, die meinen Erzeuger betreffen«, bemerkte Frederik mit belegter Stimme. »Nur hast du inzwischen jemanden gefunden, von dem du dir helfen lassen kannst. Dieser jemand fehlt mir immer noch – sowohl was den Therapeuten als auch die Partnerin angeht.« »Wie meinst du das?« Irritiert hob Niklas eine Augenbraue.
»Caroline erwartet, dass ich funktioniere«, erklärte Frederik nach einigem Nachdenken. »Und sie hat kein großes Verständnis dafür, dass ich meine Therapien nicht abschließe und nicht längst wieder arbeiten gehe. Ihre Argumentation ist immer die gleiche: Ich mache ja auch mit meiner Ausbildung weiter, obwohl der Amoklauf letztes Jahr passiert ist.«
»Schwieriger Vergleich.« Mitfühlend musterte Niklas seinen besten Freund.
»Carolina hätte mich verstanden und mir geholfen, anstatt immer wieder zu sticheln und zu fordern. Aber mein Erzeuger hat sie ja unbedingt erschießen lassen müssen.« Verbittert schüttelte Frederik den Kopf. »Sie fehlt mir sehr, Niklas, und je mehr Zeit ich mit Caroline verbringe desto deutlicher werden die Unterschiede zwischen ihnen. Und diese Unterschiede gefallen mir immer weniger.«
»Und was willst du tun? Wirst du dich von ihr trennen?«, wollte Niklas sehr direkt wissen.
»Ich bleibe meinen Mustern irgendwie treu.« Frederik lachte freudlos auf. »Mein Onkel in München ist wieder genesen und hat mich eingeladen, ihn zu besuchen. So gesehen renne ich vor meinen Problemen mal wieder weg und hoffe, dass sich einige von selbst lösen.«
Niklas blieb stumm und ließ stattdessen den Blick über die Felder und Wiesen schweifen.
»Ich weiß nicht, wie lange ich bei Onkel Karl bleibe«, fuhr Frederik schließlich fort, bevor die Stille zwischen ihnen erdrückend wurde. »Mein letzter Besuch bei ihm hat mir auch psychisch wahnsinnig gutgetan und er ist schon letztes Jahr zu einer Art Vaterfigur für mich geworden.«
»Ich verstehe dich gut.« Niklas räusperte sich. »Und ich wünsche dir sehr, dass du das findest, was du suchst. Egal ob mit Therapeuten oder deinem Onkel.« Frederik lächelte andeutungsweise. »Es ist ein Aufenthalt auf Zeit, Niklas. So sehr ich meine Aufenthalte bei Onkel Karl in München genieße, so sehr vermisse ich gleichzeitig Hamburg. Hier ist meine Heimat, hier sind meine Freunde, hier lebt meine Familie. Ich kann und will das dauerhaft nicht aufgeben.«
»Dieses Bekenntnis beruhigt mich.« Niklas lachte erleichtert auf. »Hättest du das nicht zu Beginn des Themas sagen können? Oder wolltest du mich so erschrecken?«
»Natürlich nicht«, beteuerte Frederik mit Schalk in den Augen. »Mein Zug geht Montagmorgen, vielleicht wollen wir uns morgen noch zu einem Abschiedsessen treffen?«
»Da wird sich Freja bestimmt freuen«, war sich Niklas sicher. »Und sie hat morgen frei, das passt also hervorragend.«
»Dann ist es abgemacht.« Frederik lächelte. »Wollen wir noch ein vorerst letztes Wettrennen machen? Wer zuerst am Hof ist?«
Außer Atem und annähernd gleichzeitig erreichten die Freunde wieder den Innenhof des Gestüts. Unterwegs hatten sie abwechselnd die Nase vorn gehabt, doch mit dem Unentschieden konnten sie gut leben.
»Wollen wir dann morgen essen gehen oder uns bei euch treffen?«, fragte Frederik und saß ab. Rasch lockerte er den Sattelgurt seines Wallachs und griff dann wieder nach den Zügeln.
»Ich frage Freja, wie es ihr lieber ist. Im Moment geht es ihr aber recht gut, da sollten beide Varianten möglich sein.« Niklas führte Malika zum Reitplatz, um sie nach der Anstrengung eben noch etwas abtrocknen zu lassen. »Und du hast heute schon Besuch, was?« Mit der freien Hand deutete er zum Parkplatz vor dem Haupthaus.
»Besuch ja, aber er ist nicht abgesprochen.« Frederik seufzte. »Ich habe ihr gestern gesagt, dass ich mich heute Nachmittag mit dir treffe und ich frühestens abends Zeit habe. Was ist daran nicht zu verstehen?« »Caroline hat sich von einem Nein noch nie sonderlich abschrecken lassen«, gab Niklas zu bedenken. »Oder ihr Abend beginnt schon gegen fünfzehn Uhr.« Interessiert hob er eine Augenbraue, als Caroline auf den Reitplatz zu gestapft kam.
»Was soll das, Frederik?«, rief sie wütend. »Erst sagst du, dass du ab Montag auf unbestimmte Zeit in München bist, und dann nimmst du dir an unserem vorerst letzten gemeinsamen Wochenende nicht einmal richtig Zeit für mich? Das ist nicht fair!«
Malika wieherte unruhig, sodass Niklas ihr über den Hals streichelte und sich einige Schritte entfernte.
»Ich fange schon einmal mit der Fellpflege an«, stellte Niklas fest und verließ den Reitplatz. »Da müssen wir beide ja nicht unnötig zuhören, mhm?«
Als Antwort stupste ihn die Stute gegen die Schulter.
»So sehe ich das auch.« Niklas schmunzelte und tauschte als erstes das Zaumzeug gegen ein Halfter, dann hob er den Sattel von Malikas Rücken.
»Du bist egoistisch, Frederik!«
Selbst hier im Stall war Caroline Stimme deutlich zu hören, sodass Niklas unfreiwillig Ohrenzeuge dieser Unterhaltung wurde.
»Du weißt, dass ich ab übernächster Woche Prüfungen schreibe und die Wochenenden zum Lernen nutzen muss. Aber wir wollten uns doch noch zwei schöne gemeinsame Tage machen …«
Erneut war Frederiks Antwort nicht zu verstehen, aber das störte Niklas nicht. Eigentlich wollte er gar nicht zuhören. Seufzend bückte er sich nach dem Putzkasten und nahm einen Striegel heraus.
»Nein, das hast du eben nicht gesagt! Du hast nur gesagt, dass du für ein paar Tage nach München fährst und deinen Onkel besuchst. Und jetzt weißt du noch nicht einmal, wann du zurückfährst? Frederik, was soll das? Ich meine, ich bin doch deine Freundin und …«
Niklas schüttelte den Kopf. Das war noch nie eine Beziehung auf Augenhöhe gewesen, so sehr er sich etwas anderes für seinen besten Freund gewünscht hätte.
Und so wie ihn Caroline behandelte, war das für keinen von beiden gesund.
Warum ließ sich das Frederik überhaupt gefallen?
Warum hatte er sich nicht längst von Caroline getrennt?
War es die Angst vor dem Alleinsein, die ihn an dieser Beziehung festhalten ließ?
Dass Frederik Caroline wirklich liebte, bezweifelte Niklas immer mehr. Eine Phase der Verliebtheit, die hatte es letzten Sommer mit Sicherheit gegeben, aber aus dieser Schwärmerei war nie mehr geworden, auch wenn sich Frederik etwas anderes einzureden versuchte.
»Geh! Und lass mich zufrieden!«, rief Frederik wütend und riss Niklas damit aus seinen Gedanken. »Nein, du gehst sofort! Ich will dich heute nicht mehr sehen!«
Das waren unerwartet deutliche Worte, doch sie waren mehr als nötig in Niklas‘ Augen.
Hufgeklapper näherte sich, als Frederik Hector die Stallgasse entlangführte und vor dessen Box zum Stehen brachte.
»Wir sind morgen Abend definitiv nur zu Dritt«, stellte Frederik mit bebender Stimme fest und hob den Sattel von Hectors Rücken. »So lasse ich nicht mit mir umspringen.«
Stumm nickte Niklas und tauschte Striegel gegen Hufkratzer. »Ihr geht ja nicht erst seit gestern so miteinander um. Warum haltet ihr noch an dieser Beziehung fest?«, wollte er nachdenklich wissen.
»Ich habe keine Ahnung.« Frederik seufzte schwer.
»Vielleicht, weil sie mich anfangs an Caro erinnert hat.
Vielleicht, weil ich Angst habe, mich von ihr zu trennen. Oder weil ich nicht allein sein will. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus verschiedenen Gründen.«
»Sehr verehrte Fahrgäste. Aufgrund einer Weichenstörung verzögert sich unsere Weiterfahrt um unbestimmte Zeit.«
Die Durchsage ließ nicht nur Frederiks Stimmung weiter sinken. Im Bahnhof Hannover hatte der ICE schon eine gute halbe Stunde gestanden, damit ein Triebkopfschaden notdürftig repariert werden konnte. Und jetzt kurz vor Nürnberg die nächste Störung.
»Ob wir heute noch ankommen?«, mutmaßte ein Mitreisender schräg gegenüber und tippte hektisch auf seinem Laptop herum. »Meine Termine kann ich schon mal verschieben.«
Stumm schickte Frederik eine Nachricht an seinen Onkel, dass er sich weiter verspätete und mit einer neuen Ankunftszeit melden würde. Weitere fluchende Mitreisende ließen Frederik schmunzeln, während er sich tiefer in den Sitz kuschelte und die Augen schloss.
Der gestrige Abend mit Freja und Niklas kam ihm wieder in den Sinn und ließ sein Lächeln unweigerlich breiter werden. Sie hatten gemeinsam gekocht, auf dem Balkon gegessen und den Sonnenuntergang genossen. »Der Ausblick wird mir echt fehlen«, bemerkte Freja etwas wehmütig. »Aber wir sind langsam aus dieser Wohnung herausgewachsen. Es wird Zeit für ein neues Kapitel.«
»Ende Juni ziehen wir um. Mir graust es jetzt schon davor. Sind wir nicht letztes Jahr im Zeugenschutzprogramm oft genug umgezogen?« Theatralisch verzog Niklas das Gesicht.
»Immerhin bleibt ihr in der Gegend und habt beide weiterhin kurze Wege zur Arbeit.« Frederik lächelte und trank einen Schluck Schorle. »Und ich glaube, das Baby wird euer Leben mehr auf den Kopf stellen als dieser Umzug.«
»Das könnte auch für dein Leben gelten«, schmunzelte Freja. »Du bist nicht nur Niklas‘ bester Freund, sondern gehörst schon seit Jahren zu unserer Familie. Deswegen würden wir uns sehr freuen, wenn du der Patenonkel für unser Baby wirst.«
Überrascht riss Frederik die Augen auf. »Ihr … was … ich … Patenonkel?«, stammelte er und schloss Niklas in die Arme. »Das ist ein Wunsch, den ich euch nie abschlagen könnte. Natürlich werde ich Patenonkel, es ist mir eine große Ehre.«
Patenonkel. Auch jetzt strahlte Frederik allein bei dem Gedanken daran. Natürlich übernahm er damit auch Verantwortung, aber das machte er gern für Freja und Niklas.
Mit einem Ruck setzte sich der ICE wieder in Bewegung und sorgte für allgemeines Aufatmen im Großraumwagen.
»Vielleicht kommen wir doch noch heute an«, bemerkte Frederik zu seinem Mitreisenden schräg gegenüber und schmunzelte.
Gut zwei Stunden später rollte der ICE endlich auf den Münchner Hauptbahnhof zu und vollführte schaukelnd den nächsten Gleiswechsel. Endlich tauchte der Bahnsteig neben dem Zug auf und ließ die genervten Reisenden erleichtert aufatmen. Gut acht Stunden waren sie unterwegs gewesen, vor allem die Weichenstörung vor Nürnberg hatte sie lange aufgehalten.
»Gute Weiterreise«, wünschte ihm der Geschäftsreisende vom Sitz schräg gegenüber und schob sich im Gedränge bereits zum Ausgang.
Frederik ließ sich etwas mehr Zeit, solange der Zug noch nicht zum Stillstand gekommen war. Kurz tippte er eine weitere Nachricht an seinen Onkel, schnappte sich Rucksack und Reisetasche und folgte dann seinen Mitreisenden zum Ausgang. Das Dröhnen der Züge in der großen Ankunftshalle des Münchner Hauptbahnhofs drang an sein Ohr, gefolgt vom Stimmengewirr der Menschen auf dem Bahnsteig.
»Na endlich«, ächzte Frederik beim Verlassen des Waggons und ließ sofort den Blick schweifen, denn sein Onkel hatte ihn direkt am Gleis abholen wollen.
»Frederik!« Winkend kam Karl von Gerblung auf seinen Neffen zu gelaufen und schloss ihn in die Arme. »Schön, dich wiederzusehen.«
»Ich bin auch froh, dich zu sehen.« Frederik lächelte. »Es tut gut, dich in diesem Zustand zu erleben.«
»So geht es mir auch. Komm, lass uns erstmal zum Auto gehen, da können wir uns besser unterhalten als hier.« Sein Onkel nahm Frederik am Oberarm und führte ihn zu einem der Seitenausgänge. Von dort waren es keine zwei Minuten Fußmarsch zu seinem Auto, das er in einer Seitenstraße geparkt hatte.
»Dann hat die Bahn also beinahe unser Wiedersehen verhindert?« Karl von Gerblung schmunzelte und parkte rückwärts aus. »Das sieht denen ähnlich …«
»Wäre ich mal besser geflogen.« Frederik schüttelte den Kopf. »Ich hatte das Ticket ja schon im Warenkorb und mich dann aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen für den Zug entschieden … Na ja, für die Rückreise weiß ich es dann besser.« Er lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. »Ist ja Gott sei Dank noch etwas Zeit bis dahin.«
»Eben. Jetzt komm erst einmal richtig an und dann sehen wir weiter.« Sein Onkel warf ihm an der Ampel einen Seitenblick zu. »Oder hast du schon konkrete Pläne, wann du zurück in Hamburg sein möchtest? Zum Beispiel ein Date mit deiner hübschen Freundin?« »Caroline?« Frederik schüttelte den Kopf. »Sie hat gerade Prüfungszeit, da lasse ich sie besser in Ruhe.«
»Du hattest so etwas ja schon in unseren letzten Telefonaten angedeutet, aber so direkt … was ist los zwischen euch?«, fragte Karl nachdenklich und beschleunigte das Fahrzeug wieder. »Vor einigen Wochen warst du noch voller Hoffnung und Euphorie für eure Beziehung. Ist etwas vorgefallen?«
Frederik schüttelte seufzend den Kopf. »Es ist kompliziert«, murmelte er ausweichend und starrte aus dem Seitenfenster.
Sein Onkel verstand ihn auch ohne weitere Worte und wechselte prompt das Thema. »Wir bleiben erst einmal in der Stadt und fahren dann morgen auf den Hof. Ich denke, du bist heute genug gesessen, oder?«
Dankbar nickte Frederik. »Ein Spaziergang wäre noch schön, damit ich zumindest noch ein bisschen Bewegung bekomme.«
»Wir können uns ja Abendessen von deinem Lieblingsrestaurant holen, dann kombinieren wir das Essen mit einem Spaziergang«, schlug Karl vor und lehnte sich entspannt im Sitz zurück. »Oder wir essen gleich im Restaurant, wie es dir lieber ist.«
»Ich war für diesen Tag genug unter Mitmenschen, da gefällt es mir auf deiner Terrasse deutlich besser.« Frederik lächelte andeutungsweise.
Der Spaziergang und das Abendessen verliefen weitestgehend schweigend, doch das störte Frederik kaum. Mit seinem Onkel musste er nicht permanent reden, um sich aufgehoben zu fühlen. Karl schien ihn oftmals ohne große Worte zu verstehen.
»Wie geht es dir inzwischen körperlich und psychisch? Dieser eine Abend in Hamburg war ja ganz schön heftig …«, wollte Frederik nachdenklich wissen und betrachtete den Whiskey in seinem Glas. Eine Art Tradition, die er und Onkel Karl letztes Jahr so etabliert hatten.
»Körperlich bin ich so weit wiederhergestellt, da haben die Ärzte in Hamburg und die Therapeuten in der Reha-Klinik hier im Umland gute Arbeit geleistet. Nichtsdestotrotz merke ich, dass ich noch längst nicht wieder so leistungsstark bin wie vor diesem Ereignis.« Karl schwenkte das Glas in seiner rechten Hand.
»Du warst ja auch schwerverletzt.« Frederik schluckte. »Und nach den ersten Worten der Ärzte hatten wir alle große Sorge, dass … na ja, dass wir uns von dir verabschieden müssen. Gott sei Dank hast du dich zurückgekämpft.«
»Manches liegt nicht in unseren Händen, Frederik. Aber scheinbar hat dort oben jemand entschieden, dass meine Zeit noch nicht gekommen ist.«
»Wie kannst du auf einen Gott vertrauen, der zugelassen hat, dass dich dein eigener Bruder beinahe erschießt?«, fragte Frederik nach einigem Nachdenken.
»Ich glaube nicht daran, dass Gott verantwortlich ist für unsere Taten oder die unserer Mitmenschen«, stellte Karl klar. »Er passt auf uns alle auf, aber für oder gegen unsere Handlungen entscheiden wir uns selbst.«
»Mhm.« Frederik trank einen Schluck aus seinem Glas und ließ den Whiskey langsam seine Kehle hinabrinnen. »Dann hilft dir also dein Glaube, mit diesen Ereignissen fertig zu werden?«
»Nicht einmal im Ansatz.« Karl lachte auf. »Das habe ich meinem Therapeuten überlassen, mich aus diesem Schicksalsschlag wieder herauszuführen. Es ist ja nicht nur der Verrat meines Bruders und seine unglaublichen Taten. Es geht ja auch um eine Frau, die ich sehr geliebt habe.«
»Du wirkst, als hättest du mit diesen Themen halbwegs abgeschlossen«, bemerkte Frederik erstaunt.
»Halbwegs trifft es am besten«, bestätigte sein Onkel. »Ich habe so gut es geht damit abgeschlossen und gelernt, damit umzugehen. Seit drei Wochen bin ich in einer Therapiepause, um zu testen, inwieweit ich mit alldem wieder allein klarkomme. In einigen Wochen werde ich erneut zu meinem Psychologen gehen und Bilanz ziehen.«
»Das klingt alles so … einfach.« Frederik seufzte. »Du und Niklas, ihr kommt beide irgendwie mit diesem ganzen Mist und euren Therapeuten klar und lebt eure Leben weiter. Und ich … ich stecke irgendwie fest. Ich breche eine Therapie nach der anderen ab, weil mir die ganzen Psychologen, Psychotherapeuten, Traumatherapeuten und Psychiater dermaßen auf den Keks gehen, das kann ich dir gar nicht sagen. Wie soll mir so jemand helfen, der nicht einmal im Ansatz nachvollziehen kann, was mir passiert ist? Nicht jeder wird von seinem eigenen Vater so … verraten.«
»Gib dir Zeit, Frederik. Manche können früher über so ein Trauma sprechen, andere erst später. Und vielleicht hast du auch noch nicht den richtigen Therapeuten gefunden, der dir wirklich weiterhilft.«
»Zeit …« Frederik schnaubte. »Zeit heilt viele Wunden, das hat man mir auch schon nach Carolinas Tod gesagt. Und was ist daraus geworden? Diese Wunden sind vernarbt und chronisch entzündet. Nichts ist verheilt, es ist einfach nur schlimmer geworden.«
»Um bei deiner Medizin-Metapher zu bleiben: du hast deine Wunden auch ignoriert und nicht fachgerecht behandelt. Du bist einer der Patienten, die fünf Verbandswechsel ignorieren und sich wundern, warum sich eine Entzündung gebildet hat. Und dann lassen sie ihren Arzt nicht an sich heran, damit dieser die Wunden ordentlich versorgt.«
Frederik schluckte und starrte angestrengt in sein Glas. »Ich weiß, dass du Recht hast, aber … ich kann mich nicht bewegen. Ich bin einer der Patienten, den du nur unter Vollnarkose behandeln könntest. Und Psychotherapie unter Vollnarkose ist ein bisher nicht bekanntes Konzept.« Er lachte freudlos auf.
»Ein Stück weit erinnert mich diese Aussage gerade an unsere Gespräche letztes Jahr, nur ging es da um Caroline und Carolina.« Onkel Karl beugte sich vor und stützte die Unterarme auf die Oberschenkel. »Zu der Zeit warst du dir sehr sicher, dass du nie auf Caroline zugehen und die Vergangenheit hinter dir lassen könntest. Und doch führt ihr beiden jetzt eine feste Beziehung. Auch da musstest du diesen einen Punkt überwinden, …«
»Auf Caroline wurde geschossen, das hat mich sämtliche Hürden recht schnell überwinden lassen«, unterbrach Frederik seinen Onkel. »Das ist jedoch keine Lösung, die ich noch einmal anstrebe.« Er trank das Glas in einem Zug aus und atmete dann tief durch. »Im Grunde ist das alles die Schuld meines … Erzeugers. Also nicht nur, was den Transplantationsskandal angeht, sondern vor allem mich und mein eigenes Leben. Er hat Carolina erschießen lassen, weil sie ihm schon vor Jahren auf die Schliche gekommen war. Er hat mir die Liebe meines Lebens genommen. Er hat viel Grundvertrauen unwiderruflich zerstört. Dazu hatte er kein Recht …« In Frederiks Augen sammelten sich Tränen. »Es ist mein Leben, da hatte er nichts mitzureden. Es ist einfach so verdammt unfair.«
Mit einem nervösen Lächeln auf den Lippen betrachtete sich Niklas Thorsen am Mittwochmorgen im Spiegel der Personalumkleide. Nach über einem Dreivierteljahr Pause trug er endlich wieder seinen Arztkittel, das fühlte sich ungewohnt und großartig zugleich an. Andeutungsweise nickte er, tastete die Kitteltaschen ab und schloss dann den Spind.
»Auf geht’s«, murmelte er, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. »Es ist Zeit für den Neuanfang. Nicht mehr davonrennen, sondern endlich wieder das tun, was du liebst.« Er straffte die Schultern und verließ die Umkleide in Richtung des kleinen Hörsaals, wo die wöchentlichen Fallbesprechungen mit dem Chefarzt stattfanden.
»Niklas, hey!« Maximilian Vollmer schloss rasch zu ihm auf. »Ich freue mich, dich hier in der Klinik wiederzusehen. Wie geht’s dir denn inzwischen? Hast du dich von der Lungenembolie komplett erholt?«
»Mir geht es so weit wieder gut.« Niklas öffnete die Tür zum Vorlesungssaal und ließ seinem Kollegen den Vortritt. »Und ich bin froh, dass ich endlich zurückkehren konnte.«
Doktor Vollmer musterte Niklas kurz stirnrunzelnd, behielt seine nächste Frage jedoch für sich. »Dort drüben sind noch Plätze frei«, stellte er stattdessen fest und ging voran.
»Was sich während meiner unfreiwilligen Pause auf Station alles verändert?«, wollte Niklas gedankenverloren wissen. »Im Simulationslabor habe ich nur einige Andeutungen gehört, aber das war äußerst vage …«
»Nun ja …« Vollmer setzte sich und verschränkte die Arme. »Nach dem Transplantationsskandal wurde ja in allen chirurgischen Abteilungen ganz schön aussortiert und die Lücken inzwischen mit neuen Kollegen gefüllt. Dabei sind wir ja noch recht glimpflich davongekommen mit nur zwei Entlassungen. Bei den Neuro- und Allgemeinchirurgen wurde über die Hälfte der Belegschaft ausgetauscht.«
»Das ist ganz schön heftig«, gab Niklas zu und setzte sich neben seinen Kollegen.
»Der ganze Skandal war ganz schön heftig.« Maximilian Vollmers Blick ging zur Tür, wo Professor Schneider gerade erschienen war. »Allein wenn man sich mal überlegt, dass da ja auch mehrere Ärzte-Familien beteiligt waren … Schau dir nur mal die Hendrikssons an, da möchte ich mit niemandem tauschen.«
»Mhm …« Niklas stand auf, weil der Chefarzt auf ihn zu gelaufen kam. »Guten Morgen, Professor Schneider«, grüßte er höflich.
»Doktor Thorsen.« Professor Schneider lächelte. »Ich freue mich, dass Sie das Simulatortraining so hervorragend abgeschlossen haben. Deswegen lasse ich Sie sofort auch für den OP-Betrieb zu, wo Sie Doktor Jürgen für die nächsten beiden Wochen begleiten werden. Er wird sicherstellen, dass Sie auch am Patienten fehlerfrei arbeiten. Nach einer entsprechend positiven Beurteilung dürfen Sie in zwei Wochen wieder selbstständig operieren, wie Sie es vor Ihrer Pause gewohnt waren«, erklärte Professor Schneider. »Und dann sehen wir gemeinsam zu, dass wir Sie wieder auf den Weg zur Facharztprüfung bringen. Haben Sie für den Anfang noch Fragen?«
Niklas schüttelte den Kopf und versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Obwohl ihm insgeheim klar gewesen war, dass er zumindest am Anfang keine OP-Erlaubnis bekommen würde, erschienen ihm zwei Wochen schon recht lang. Gleichzeitig ließ allein das Wort Facharztprüfung sein Herz einen freudigen Satz machen. Das war tatsächlich ein großer Meilenstein, den er letztes Jahr erreicht hätte, wenn der ganze Skandal nicht passiert wäre. Egal, das war vergangen und er konnte nach vorne sehen. Darauf kam es an, beruflich wie privat.
»Alles klar.« Schon wandte sich der Chefarzt um und ging nach vorne zum Pult. »Guten Morgen zusammen«, begrüßte er die zahlreichen Unfallchirurgen. »Bevor wir mit der Fallbesprechung beginnen, möchte ich Niklas Thorsen nach langer Pause zurück in unserer Runde begrüßen. Ich wünsche Ihnen einen guten Einstieg, Doktor Thorsen, und ich hoffe, die Kollegen nehmen Sie wieder gut in das Team auf.« Der Chefarzt ging zur ersten Reihe und nahm dort Platz.
Zweiundvierzig Patienten schwirrten Niklas nach der Fallbesprechung und Visite mit ihren Diagnosen und Behandlungsplänen durch den Kopf, als er schließlich Oberarzt Christian Jürgen gegenübertrat, um sich zu dessen Operationen abzustimmen.
»Doktor Thorsen, lange nicht mehr gesehen.« Christian Jürgen musterte Niklas demonstrativ von oben bis unten. »Professor Schneider hat mich schon über mein zweifelhaftes Vergnügen mit Ihnen informiert. Der OP-Plan heute ist randvoll und ich kann einen zweiten Assistenzarzt gut gebrauchen.«
»Okay.« Niklas verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Haben Sie weitere Informationen für mich? Wann beginnt der erste Eingriff? Soll ich Patienten vorbereiten oder macht das Ihr anderer Assistenzarzt?«
»Heute übernimmt Doktor Lucas die Vorbereitungen, ab morgen werden Sie beide sich damit abwechseln. So wünscht es zumindest der Chefarzt, mir ist das ja egal, solange der Patient pünktlich im OP ist.« Doktor Jürgen verdrehte die Augen. »Wie dem auch sei … Operation Nummer eins heute ist eine Hüft-TEP bei einer achtundsechzigjährigen Patientin. Wie gehen Sie den Eingriff an? Welche Prothese soll ich einsetzen?«
»Angesichts des Alters der Patientin empfehle ich eine zementierte Endoprothese«, antwortete Niklas, ohne groß nachzudenken, denn mit diesen Themen hatte er sich in der letzten Woche erst ausgiebig beschäftigt.
»Gute Wahl, scheinbar haben Sie während Ihrer Pause nicht alles vergessen.« Christian Jürgen wandte sich zum Gehen, Niklas folgte ihm zur OP-Schleuse.
Stumm hatten sich die beiden Ärzte Funktionskleidung angezogen und waren zum Operationssaal gelaufen.
»So, Thorsen«, ergriff Doktor Jürgen wieder das Wort und nahm eine der Bleiwesten vom Bügel. »Ich möchte, dass Sie mich Schritt für Schritt durch den Eingriff führen. Ihre Worte bewegen meine Hände. Und meine Hände mögen es überhaupt nicht, Fehler zu machen. Haben Sie mich verstanden?«
»Klar und deutlich.« Niklas schlüpfte ebenfalls in eine bereithängende Bleiweste.
»Oh, hallo, Doktor Jürgen!« Eine junge Frau kam aus dem OP-Saal und stellte sich gleich an das Waschbecken, um sich steril zu waschen. »Ich habe alles vorbereitet, Sie können direkt beginnen.« Sie sah über ihre Schulter zu Niklas. »Und wer sind Sie? Ich glaube, wir sind uns bisher noch nicht begegnet.«
»Das ist Doktor Thorsen, er wird mich die nächsten beiden Wochen bei meinen Eingriffen begleiten.« Doktor Jürgen gab Niklas keine Chance, selbst zu antworten. »Er wird mich heute durch die einzelnen Schritte der Operation führen. Das heißt für Sie, Doktor Lucas, dass Sie abseits von eigenen Fragen nichts sagen, damit ich Doktor Thorsens Wissen abprüfen kann.«
»Okay.« Die junge Ärztin nickte und trocknete sich Hände und Unterarme ab.
Wortlos schloss Niklas die Klettverschlüsse der Weste und stellte sich an das zweite Waschbecken. Weitere Konversation war unerwünscht, das gab Christian Jürgen den Assistenzärzten mit seinem Auftreten unmissverständlich zu verstehen.
Drei Operationen beschäftigten die Unfallchirurgen bis zu einer kurzen Mittagspause im Aufenthaltsraum des OP-Bereichs. Kaum hatten sie Platz genommen wurde Marina Lucas in die Notaufnahme gerufen, sodass Niklas allein bei Doktor Jürgen blieb.
»Es lief besser als vermutet«, stellte der Oberarzt fest und trank einen Schluck Kaffee. »Angesichts der Länge Ihrer Abwesenheit haben sich meine Erwartungen jedoch stark in Grenzen gehalten. Mal sehen, wie Sie sich bei den nächsten Fällen anstellen. Dann wird sich zeigen, ob das eben nur eine Eintagsfliege war.«
»Ich weiß, dass Sie nicht gerade erfreut darüber sind, mich für die nächsten beiden Wochen am Hals zu haben. Das müssen Sie aber mit Professor Schneider klären und nicht mit mir.« Niklas wich dem arroganten Blick seines Kollegen nicht aus.
»Ich kann nicht sagen, dass ich mich besonders über Ihre Rückkehr gefreut habe nach allem, was Sie und Hendriksson Junior angerichtet haben«, gab ihm Doktor Jürgen recht. »Und dass ich Sie auch noch babysitten soll, schmeckt mir in der Tat überhaupt nicht, aber das ist nicht mein Problem, Thorsen. Von uns beiden sitze ich am längeren Hebel.«
»Moment … was Frederik und ich angerichtet haben?«, wollte Niklas irritiert wissen. »Wie meinen Sie das?«
»Sie wissen genau, worauf ich hinauswill. Wegen Ihnen beiden wurde dutzenden Kollegen in der gesamten chirurgischen Klinik gekündigt. Und jetzt spazieren Sie herein, als wäre überhaupt nichts gewesen. Haben Sie denn gar kein schlechtes Gewissen?«, fragte Doktor Jürgen in scharfem Tonfall.
»Warum sollte ich ein schlechtes Gewissen haben?«, fragte Niklas mit gerunzelter Stirn. »Die Kollegen wurden entlassen, weil sie am Transplantationsskandal beteiligt waren. Das hat doch nichts mit mir zu tun.«
»Ich verstehe.« Christian Jürgen schüttelte den Kopf und trank seine Tasse aus. »Wir sehen uns in zehn Minuten in OP fünf, Thorsen. Seien Sie pünktlich.«
Die feindselige Art von Christian Jürgen beschäftigte Niklas auch in seinen Sitzungen bei Psychologin Alexandra Weber, die seine Rückkehr in die Klinik therapeutisch begleitete.
»Ich weiß einfach nicht, was sein Problem ist«, seufzte Niklas frustriert und raufte sich die zerzausten Haare. »Und ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt über diesen Idioten aufrege. An sich sollte es mir egal sein, was er mir unterstellt.«
»Sie empfinden seine Vorwürfe als ungerechtfertigt und unfair«, stellte die Psychologin fest. »Wie fühlen Sie sich während dieser Konfrontationen, wenn Doktor Jürgen direkt vor Ihnen steht?«
»Wie ich mich dabei fühle?« Niklas hob eine Augenbraue. »Darüber haben wir doch schon bei den letzten drei Terminen gesprochen. Ich kann Ihnen nichts Neues dazu sagen.«
»Ich möchte Ihnen helfen, dass Sie diese Gespräche nicht mehr so angreifen, wie sie es derzeit tun«, erklärte die Psychologin geduldig. »Wir haben beim letzten Mal schon erste Übungen dazu gemacht. Deswegen möchte ich wissen, ob sich Ihre Gefühle während oder nach diesen Konfrontationen verändert haben.«
Unwillig schob Niklas die Unterlippe vor und dachte angestrengt nach. »Wenn ich Doktor Jürgen schon sehe, werde ich wütend, aber daran muss ich nicht unbedingt etwas ändern. Aber wenn er wieder mit diesem Transplantationsthema anfängt und was Frederik oder ich alles angerichtet hätten … Da fühle ich mich wie gelähmt und kann nichts machen.«
»Wenn Sie sich in diese Situation zurückfühlen, gibt es weitere Empfindungen?«, führte ihn die Psychologin behutsam zum nächsten Schritt. »Sind es Ihre Muskeln, die gelähmt sind? Oder Ihre Gedanken? Beschreiben Sie mir diese Lähmung.«
»Meine Gedanken schalten sofort auf Rot«, gab Niklas zu. »Ich bin stinksauer, wenn man mir so etwas Haltloses vorwirft.« Er seufzte und schloss die Augen, um sich besser an das letzte Gespräch dieser Art zurückerinnern zu können. »Und meine Hände und Arme verkrampfen sich. Als würde ich mich darauf vorbereiten, diesem Arsch das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln.«
Mehrmals hatte die Psychologin Niklas in diese Gesprächssituation zurückversetzt und mit ihm geübt, diese Starre anhand von Atemübungen und gezielten Muskelentspannungen aufzuheben.
»Mal sehen, ob ich mich daran erinnere, wenn ich Doktor Jürgen wieder gegenüberstehe.« Niklas blieb skeptisch, was die Wirksamkeit dieser Übungen anging. Doch er wollte dem Ganzen eine Chance geben.
»Versuchen Sie es. Mit jeder Übung wird es ein bisschen einfacher.« Alexandra Weber lächelte aufmunternd und warf dann einen kurzen Blick auf ihre Notizen der letzten Sitzungen. »Ich möchte noch einmal bei Ihren Gefühlen zum Transplantationsskandal im Allgemeinen einhaken.«
»Darüber haben wir doch erst letzte Woche gesprochen.« Irritiert runzelte Niklas die Stirn. »Haben Ihnen meine Antworten nicht gefallen oder wollen Sie nur gern meine alten Hits hören?«
»Doktor Thorsen, ich mache das nicht, um Sie zu quälen oder weil es mir Spaß macht, Sie leiden zu sehen.« Psychologin Weber beugte sich leicht vor. »Ich glaube, dass wir den Boden noch nicht erreicht haben. Wir kratzen immer noch an den darüberliegenden Schichten.«
»Na schön …« Frustriert schüttelte Niklas den Kopf. »Eigentlich möchte ich diesen ganzen Skandal einfach nur abschließen und nicht mehr darüber diskutieren. Können wir die verbliebenen Gefühlsschichten nicht einfach unberührt lassen?«
»Da müssen Sie sich entscheiden, Doktor Thorsen.« Die Psychologin schmunzelte. »Entweder vermeiden wir diese Gefühlsschichten oder wir schließen das Thema ein für alle Mal ordentlich ab.«
»Mhm …« Unwillen zeigte sich in Niklas‘ Gesichtszügen, doch davon ließ sich Psychologin Weber nicht irritieren. »Auch wenn ich den Sinn noch nicht ganz sehe, versuchen wir es«, gab er seufzend nach.
»Welche Erinnerungen oder Gefühle tauchen auf, wenn Sie an den Transplantationsskandal denken?« Diese Frage bekam Niklas seit Therapiebeginn nicht zum ersten Mal zu hören und doch wusste er jedes Mal keine spontane Antwort darauf.
Auch heute rutschte er erst unruhig hin und her und dachte lange nach, bevor er wieder das Wort ergriff.
»Ich fühle mich vor allem schuldig«, überlegte er laut. »Schuldig den Patienten gegenüber, die von Professor Hendriksson und seinen Schergen zu Organspendern gemacht worden sind. Es sind dadurch hunderte Familien zerstört worden, was man hätte verhindern können, wenn vorher mal jemand den Mund aufgemacht hätte. Frederik und ich hätten früher etwas sagen müssen, sobald sich unser Verdacht konkretisiert hat. Wir hätten Menschenleben retten können.« Resigniert schüttelte er den Kopf.
Stumm wartete die Psychologin ab, ob er weitersprechen wollte. »Fühlen Sie noch etwas anderes als Schuld?«, fragte sie schließlich.