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Christian könnte wunschlos glücklich sein: er darf seine Traumrolle verkörpern, feiert beruflich Erfolge in ganz Deutschland und hat obendrein seine große Liebe gefunden. Doch ein einziger Telefonanruf stellt Christians Leben auf den Kopf. Es entwickelt sich ein Kampf um Leben und Tod und auf einmal sind es für Christian nicht mehr die Bühnenbretter, die die Welt bedeuten.
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Die Münchner Autorin A.R. Klier hat ihre ersten Gehversuche schon zu Schulzeiten gemacht: Insgesamt drei Mal nahm sie am KWA-Schülerliteraturwettbewerb teil und wurde 2012 für die Kurzgeschichte Einsame Familie mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Rund um die Assistenzärzte Niklas und Frederik sind bislang vier Krimis erschienen: Anfängerfehler, Folgefehler, Kunstfehler und Systemfehler. 2018 beginnt mit Herzenssache die neue Buchreihe Bühnenfieber.
Bisher von A.R. Klier erschienen:
Anfängerfehler
Folgefehler
Kunstfehler
Systemfehler
Herzenssache (Bühnenfieber 1)
Mehr über die Autorin unter:
www.ar-klier.com
www.facebook.com/AutorinAndreaKlier/
www.instagram.com/a_r_klier
Alle in diesem Werk auftretende Personen, Orte und
Ereignisse sind fiktiv, jegliche Ähnlichkeit mit realen
Personen ist rein zufällig.
Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden von der
Autorin nach bestem Wissen und Gewissen erstellt
und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Abläufe im Theater sind der Handlung angepasst
und erheben keinen Anspruch auf Richtigkeit.
Erklärungen zu medizinischen Ausdrücken
finden sich ab Seite →.
Teil 1: Spielzeit München: März bis Mai
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil 2: Spielzeit Hamburg Mai bis Juli
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil 3: Probezeit Wien August bis September
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Teil 4: Spielzeit Wien September
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
»Ist gut, ich bin gleich da.« Hastig beendete Oliver Wrede das Telefonat und ließ das Diensttelefon zurück in seine Kitteltasche gleiten. Ein Notfall für den Schockraum war ihm angekündigt worden, deswegen eilte der siebenundvierzigjährige Herz-Thorax-Chirurg vom Ärztezimmer der Herzstation zum Schockraum im Erdgeschoss. In weniger als fünf Minuten sollte der Notarzt mit seiner Patientin im Klinikum eintreffen.
Mit langen Schritten bahnte sich der Facharzt mit den kurzen schwarz-grauen Haaren seinen Weg über die überfüllten Flure der Notaufnahme und erreichte den Schockraum zeitgleich mit dem Internisten und Allgemeinchirurgen. Die Kollegen der Anästhesie, zwei Assistenzärzte und Pfleger waren bereits anwesend. Jetzt fehlte nur noch der Neurologe.
»Der Notarzt hat eine bewusstlose junge Frau angekündigt«, informierte Oliver Wrede das Schockraumteam und hängte seinen weißen Kittel an den Haken neben der Tür. »Sie wird beatmet, war zuletzt aber kreislaufstabil.«
Seine Kollegen nickten nur, jeder machte sich seine eigenen Gedanken.
Der Chirurg überlegte im Stillen, was sie erwarten würde. Bewusstlosigkeit konnte viele Ursachen haben. Probleme im Kopf, eine akute Blutung im Bauchraum, ein schwerer Sturz oder Stoffwechselstörungen. Anhand der wenigen Informationen, die der Notarzt vorab telefonisch durchgegeben hatte, konnte sich niemand ein genaues Bild machen.
Die Minuten zogen sich, doch dann waren endlich die schweren Einsatzstiefel von Rettungsdienst und Notarzt auf dem Flur zu hören.
»Moin!«, rief Notarzt Niklas Thorsen in die Runde. Normalerweise arbeitete er selbst als Unfallchirug im Hamburger Universitätsklinikum, doch an einigen wenigen Tagen im Monat tauschte er seinen weißen Kittel gegen die Einsatzjacke. »Wir bringen Nicole Jorgensen, achtundzwanzig.«
Kritisch musterte Oliver Wrede die Patientin auf der Trage. Blass war sie, aber die auf dem Bildschirm neben ihr angezeigten Werte für Puls und Sauerstoffsättigung sahen erst einmal in Ordnung aus.
»Sie ist Tänzerin im Operettenhaus und bei einer Vorstellung zusammengebrochen. Augenscheinlich gab es vorher keine Anzeichen für einen Zusammenbruch«, fuhr Doktor Thorsen fort und sah auf das Überwachungsprotokoll in seinen Händen.
»Sie war bei unserem Eintreffen bewusstlos, die Sauerstoffsättigung unter fünfundachtzig Prozent, deswegen noch vor Ort Intubation und Volumengabe. Das EKG weist Unregelmäßigkeiten auf, die ihr euch näher ansehen solltet.«
»Okay.« Doktor Wrede dachte bereits über die möglichen Ursachen des Zusammenbruchs nach. »Lagern wir sie um«, entschied er und packte am Tragetuch mit an, um die Patientin von der Trage auf eine Krankenhausliege zu heben.
Notarzt und Rettungsassistenten warteten noch einen Moment, bis EKG-Monitoring und Beatmung von den mobilen auf Klinikgeräte umgestellt waren, dann machte sich das Trio wieder auf den Weg zu ihren Fahrzeugen. Doktor Wrede dagegen hatte sich schon komplett auf seine Patientin konzentriert.
»Pupillen sind seitengleich und reagieren unauffällig auf Licht«, meinte der Neurologe, der in erster Linie eine akute Hirnblutung ausschließen wollte.
Einer der Assistenzärzte nahm bereits Blut ab, während der Internist erst eine Ultraschalluntersuchung vom Bauch und schließlich vom Herzen machte. Doktor Wrede hörte derweil den Brustkorb ab.
»Wie sieht es aus?«, wollte er von seinem Kollegen wissen und legte das Stethoskop wieder beiseite.
»Bauchraum ohne Befund«, begann der Internist. »Allerdings sollten wir noch einen Gynäkologen hinzuziehen, denn unsere Patientin ist schwanger.«
Oliver Wrede runzelte die Stirn.
»Was das Herz angeht, das sollen Sie sich selbst ansehen«, schloss der Internist seinen Bericht und reichte Doktor Wrede den Schallkopf.
»Das Herz ist deutlich vergrößert«, stellte der Herzspezialist besorgt fest.
»Selbst für eine Leistungssportlerin …«
Er veränderte die Einstellung am Ultraschallgerät, um die Gefäße besser darstellen zu können.
»Das erklärt dann wohl auch die Rhythmusstörungen.«
Für den Moment hatte er genug gesehen und legte den Schallkopf aus der Hand.
»Melden Sie uns für ein MRT an, um weitere Ursachen ausschließen zu können«, entschied er schließlich und sah auf die junge Frau.
»Gibt es irgendjemanden aus ihrem Umfeld, der berichten kann, wie es ihr in den letzten Tagen und Wochen ergangen ist?«
»Ich kümmere mich darum«, versprach der zweite Assistenzarzt und schob sich seine Brille wieder auf die Nase. Schon verließ er den Schockraum. Einer weniger, der im Weg herumstehen konnte, stellte Wrede fest und folgte der Liege mit der Patientin zum MRT. Der Neurologe schloss rasch zu ihm auf, um über mögliche Diagnosen zu sprechen.
Der Mitarbeiter in der Radiologie verdrehte die Augen, als ihm die Ärzte auf die Pelle rückten, um möglichst früh einen Blick auf die MRT-Aufnahmen zu erhaschen.
»Der Kopf ist ohne Befund« war die erste hilfreiche Aussage, denn damit war schon einmal ein sehr großes Problem vom Tisch. Erleichtert atmete Oliver Wrede kurz durch, der Neurologe verließ den Raum.
Konzentriert arbeitete sich der Radiologe durch die Schichtbilder des menschlichen Körpers und suchte nach Ursachen für Nicole Jorgensens Zusammenbruch.
»Das Herz ist deutlich vergrößert, Flüssigkeit im Herzbeutel«, stellte der Radiologe fest und vergrößerte den entsprechenden Bildausschnitt. Doktor Wrede stützte sich auf den Schreibtisch und studierte den Befund mit verkniffener Miene. Der Verdacht vom Ultraschall hatte sich nun endgültig bestätigt. Jetzt musste er herausfinden, warum sich der Herzmuskel entzündet hatte. Ein verschleppter Infekt? Wenn ja, mit welcher Infektion hatten sie es hier zu tun? Oder lag eine Reaktion des Immunsystems vor, die das Herz angriff? Oder war die junge Frau mit herzschädigenden Substanzen in Berührung gekommen?
»Okay, dann verlegen wir sie auf die Intensivstation, betreiben weiter Ursachenforschung und konsultieren einen Gynäkologen, ob mit der Schwangerschaft alles in Ordnung ist«, informierte Oliver Wrede die umstehenden Kollegen und rief selbst auf der Intensivstation an, um alles für die Aufnahme von Nicole Jorgensen vorbereiten zu lassen.
Der diensthabende Gynäkologe kam zehn Minuten nach Nicole Jorgensens Verlegung auf die Intensivstation und überprüfte mit einem mobilen Ultraschallgerät den Zustand des Ungeborenen.
»Gibt es einen Mutterpass?«, wollte Doktor Jäger wissen, während er das Baby vermaß.
»Sie hatte keine persönlichen Dinge bei sich, aber einer meiner Assistenzärzte bemüht sich gerade, mehr herauszufinden«, stellte Wrede fest. »Wir hoffen, dass bald Kollegen von Frau Jorgensen mit ihrer Tasche in der Klinik eintreffen. Ich informiere Sie.«
»Das Baby sieht gut aus«, urteilte Doktor Jäger und wischte seiner bewusstlosen Patientin das Gel vom Bauch.
»Der Größe des Babys nach schätze ich die Schwangerschaft auf Ende vierten Monat. Wenn es laut Mutterpass bislang keine Komplikationen gab haben Sie von meiner Seite aus grünes Licht. Wir sollen dennoch regelmäßige Kontrollen machen, um zu sehen, dass es dem Fötus weiter gut geht.«
»Natürlich.« Erleichtert, dass erst einmal keine weiteren Probleme ans Licht gekommen waren, wandte sich Doktor Wrede zum Gehen, da kam ihm einer seiner Assistenzärzte über den Flur entgegen gelaufen. »Die Kollegen von Frau Jorgensen sind da und sie haben auch ihren Rucksack dabei«, rief er.
Im Wartebereich vor der Intensivstation saß eine Gruppe aus zwei jungen Männern und einer Frau, die einen pinken Rucksack umklammert hielt.
»Moin. Sind Sie wegen Frau Jorgensen hier?«, wollte Doktor Wrede ohne Umschweife wissen, Doktor Jäger hielt sich erst einmal im Hintergrund. Er wollte eigentlich nur wissen, ob der Mutterpass im Rucksack war und wenn ja einen Blick darauf werfen.
»Wir sind Kollegen«, stellte der größere der beiden Männer fest und strich sich die dunklen Locken mit einer hektischen Bewegung aus der Stirn. »Was ist denn mit Nicki? Warum ist sie einfach so zusammengeklappt?«
»Wissen Sie zufällig, ob Frau Jorgensen ihren Mutterpass im Rucksack hat?«, meldete sich Doktor Jäger kurz zu Wort und bekam daraufhin nur den pinken Rucksack ausgehändigt.
»Nicki war eigentlich wie immer«, berichtete der zweite Mann, der eine neongrüne Trainingsjacke trug und nervös an seiner Unterlippe kaute. »Bis sie dann nach dem ersten Tanz auf der Seitenbühne ohne Vorwarnung umgekippt ist.«
»Es gab also keine Anzeichen?«, vergewisserte sich Oliver Wrede, obwohl sich diese Aussage exakt mit den Informationen vom Notarzt deckte.
Verneinend schüttelten alle Drei mit den Köpfen.
»Ist Ihnen an Ihrer Kollegin in den letzten Tagen irgendetwas aufgefallen? War sie anders als sonst? Krankheiten … irgendetwas?«, stocherte der Chirurg weiter im Nebel, während Doktor Jäger inzwischen fündig geworden war und im Mutterpass blätterte.
»Na ja, sie war etwas schlapp, aber das schon seit Wochen«, übernahm wieder der Lockenschopf. »Aber sie hat das auf ihre Schwangerschaft geschoben.«
»Nicki ist schwanger?!« Seine beiden Kollegen rissen überrascht die Augen auf, nachdem sie bei der Frage von Doktor Jäger vorhin kaum zugehört hatten.
»Und sie hatte in den letzten beiden Wochen eine Erkältung«, fiel der Frau nach einigem Nachdenken noch ein, doch die Überraschung über die Nachricht von der Schwangerschaft stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Aber sie hat ganz normal mitgetanzt. Es ging ihr gut, hat sie immer betont.«
Eine Erkältung. Wrede runzelte die Stirn, während die Drei vor ihm in eine hitzige Debatte führten, wer wann von Nicole Jorgensens Schwangerschaft erfahren hatte. Eine verschleppte Infektion könnte sehr wohl für den Zustand der jungen Frau verantwortlich sein.
»Vielen Dank, Sie haben mir sehr weiter geholfen.« Wrede stand wieder auf und richtete seinen Kittel. Er war schon halb am Gehen, als ihm noch etwas einfiel.
»Gibt es Angehörige, die wir erreichen können?
Eltern, Lebensgefährte …?«
»Ich kann ihre Eltern anrufen«, meinte der Mann mit den schwarzen Locken und stand ebenfalls auf.
»Und es gibt da einen Lebensgefährten, aber da weiß ich im Moment selbst nicht, wo er ist. Er spielt gerade auf einer Tourproduktion …«
»Danke.« Wrede gab ihm noch seine Karte, damit sich auch die Angehörigen bei ihm melden konnten, und kehrte mit Doktor Jäger in den Funktionsbereich zurück.
»Scheinbar ist die Schwangerschaft bislang tatsächlich unkompliziert verlaufen«, stellte Doktor Jäger fest und legte den Mutterpass im Arztzimmer in Nicole Jorgensens Krankenakte.
»Aber es bleibt abzuwarten, wie sich die Schwangerschaft in Kombination mit der Herzmuskelentzündung entwickelt.«
»Und? Was sagt der Arzt?« Musicaldarstellerin Ariana Weller holte die Weinflasche aus dem Minikühlschrank ihres Hotelzimmers und reichte sie ihrem Kollegen Christian Rückert, der es sich bis dato auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte.
Schmunzelnd klappte er sein Taschenmesser auf und begann den Korken mit dem richtigen Werkzeug zu bearbeiten.
»Ich darf wieder angreifen und bin die lästige Schiene endlich los«, berichtete er erleichtert. »Ich soll in den nächsten Tagen noch langsam machen, aber eigentlich sollte es keine Probleme mehr mit den Bändern geben.«
»Solange du nicht wieder so blöd eine dunkle Treppe hinter einer Bühne herunterfällst«, stichelte Ariana augenzwinkernd.
Mittlerweile konnte Christian zwar über sein Missgeschick lachen, aber insgeheim ärgerte er sich über sich selbst. Bei einem eigentlich harmlosen Solokonzert eines Kollegen hatte er backstage nicht aufgepasst, eine Stufe übersehen und war unglücklich umgeknickt. Das Resultat war ein gerissenes Außenband am Knöchel und eine sechswöchige Zwangspause von der Bühne. Nicht auftreten zu dürfen hatte den Musicaldarsteller mit den leicht gelockten dunkelbraunen Haaren und den intensiven grünen Augen sogar noch mehr genervt als seine Verletzung an sich.
»Das ist mir einmal in meiner gesamten Laufbahn passiert«, wehrte er sich kichernd und zog den Korken mit einem lauten Plopp aus der Flasche. Ariana hielt ihm zwei Weingläser hin.
»Okay das heißt, dann spielen wir ab morgen wieder zusammen?« Ariana prostete ihm augenzwinkernd zu. »Ich freue mich, wenn ich mal wieder ein frisches Gesicht verführen darf.«
Christian trank einen großen Schluck Weißwein aus seinem Glas und lehnte sich lächelnd auf dem Sofa zurück.
»Tust du das nicht schon im Privaten?« Er musterte seine hübsche Kollegin wohlwollend.
Die blonden, fast hüftlangen Haare, die ihr im Schein der Stehlampe ein engelsgleiches Aussehen verliehen. Dazu schöne blaue Augen, in denen sich Christian gerade wieder verlor. Allerdings beeinflusste der Alkohol sein Urteilsvermögen auch entsprechend.
»Das wäre möglich«, kicherte Ariana und klopfte neben sich auf die Matratze.
»Na komm schon her.«
Sie leerte ihr Weinglas in einem Zug und stellte es auf den Beistelltisch.
Das ließ sich Christian nicht zweimal sagen. Davon abgesehen wusste er sehr genau, worauf seine Kollegin hinauswollte – schließlich passierte diese Szene nicht zum ersten Mal auf dieser Tour, wenn die Einsamkeit zu groß wurde. Einen Moment später berührten sich ihre Lippen zunächst schüchtern, doch rasch fielen die letzten Hemmungen. Ihre Zungen fochten einen leidenschaftlichen Kampf aus, während Christian seine zierliche Kollegin auf seinen Schoß zog und mit beiden Händen über ihren Rücken nach unten glitt. Genussvoll grub er seine Finger in Arianas durchtrainierten Hintern und stöhnte auf, als sie sich an seiner Mitte rieb. Lange würde er sich nicht mehr beherrschen können und wollte es auch nicht. Grob zerrte er Ariana das T-Shirt über den Kopf.
Keuchend ließ sich Christian neben Ariana auf das zerwühlte Bett fallen. Sein Atem beruhigte sich langsam wieder.
»Na?« Schmunzelnd strich sie über seine nackte Brust.
Christian wandte ihr den Kopf zu und lächelte gedankenverloren. Die körperliche Nähe hatte ihm gut getan, aber sie konnte die Sehnsucht nach einer anderen Person nicht mildern. Was tat er hier eigentlich? Lag mit einer anderen Frau im Bett obwohl er viel lieber … energisch schob er den Gedanken beiseite. Das führte zu nichts, sich darüber schon wieder den Kopf zu zerbrechen.
»Du vermisst Nicki, was?«, erriet Ariana seinen Gedankengang.
Unbekümmert schwang sie ihre langen Beine aus dem Bett und zog sich den Hotelbademantel an. Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihren Kollegen nachdenklich.
»Wen sonst«, stellte Christian trocken fest und starrte zur Decke. »Was machen wir hier?«
»Du brauchst eine Definition für so was?« Ariana setzte sich wieder neben ihn auf die Bettkante. »Beim ersten Mal hätte ich dir das durchgehen lassen, aber langsam solltest du wirklich wissen, was wir hier veranstalten.« Sie küsste ihn auf die Wange.
Christian stützte sich auf die Unterarme. Er benutzte seine hübsche Kollegin, das wurde ihm in diesem Moment wieder einmal schmerzlich bewusst und ein Teil von ihm verabscheute und verurteilte dieses Verhalten zutiefst. Doch der andere Teil in ihm sehnte sich nach körperlicher Nähe, dem Sex. Und nachdem seine Freundin wie so oft in anderen Stadt arbeitete … Er schüttelte den Kopf. Wann genau hatte er sich in diesen Mann verwandelt?
Seufzend verließ auch Christian das Doppelbett und hob seine Kleidung vom Fußboden auf. Gerade als er den Gürtel schloss, klingelte sein Handy. Eine ihm unbekannte Rufnummer. Aus Hamburg. Schon wieder. Seit gestern Abend versuchte jemand aus Hamburg, ihn äußerst hartnäckig zu erreichen, doch wenn Christian zurückrief, ging der Anrufer nicht ans Telefon. Hoffentlich klappte das jetzt.
»Da muss ich rangehen«, entschuldigte er sich stirnrunzelnd.
»Rückert?«, meldete er sich knapp und gab Ariana noch ein Küsschen auf die Wange, eher er deren Doppelzimmer mit dem Handy am Ohr verließ. Eigentlich war er dem Anrufer sogar dankbar, dass er ihm zumindest für den Moment weiteres Nachdenken zu seiner Affäre ersparte.
»Sind Sie der Lebensgefährte von Nicole Jorgensen?«, wollte der Mann ohne einleitende Worte wissen. Anhand seiner Stimme schätzte Christian ihn auf ein mittleres Alter zwischen vierzig und fünfzig.
»Das ist soweit richtig«, bestätigte Christian argwöhnisch und entriegelte seine Zimmertür mit der Schlüsselkarte.
»Aber warum rufen Sie mich an? Ist etwas passiert? Wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Oliver Wrede und ich behandle Frau Jorgensen seit gestern Abend«, informierte ihn der Anrufer. »Sie liegt auf der Intensivstation und ihr Zustand ist äußerst ernst.«
Überrascht ließ sich Christian aufs Sofa direkt neben dem Fenster sinken. »Was ist denn los? Wie geht es ihr?«
»Wir sind gerade noch bei der Diagnose, aber wie es aussieht, hat sich bei Ihrer Lebensgefährtin eine Herzmuskelentzündung entwickelt«, fuhr Doktor Wrede fort und räusperte sich. »Hatte Frau Jorgensen in letzter Zeit irgendwelche gesundheitlichen Probleme?«
Christian hatte ihm kaum zugehört, denn bei Herzmuskelentzündung hatte es in seinen Ohren zu rauschen begonnen.
Seit er Nicole kannte war sie kaum krank gewesen. Höchstens eine Erkältung, oder eine Verletzung vom Tanzen, mehr aber auch nicht.
Andererseits waren sie aus beruflichen Gründen häufig getrennt, sahen sich nur alle paar Wochen, wenn sie ihre freien Tage aufeinander abstimmen konnten. In letzter Zeit hatte aber auch das nur bedingt funktioniert, obwohl Christian nicht in den Spielbetrieb integriert gewesen war. Stattdessen hatten ihn lange Gesangsproben mit neuen Ensemble-Mitgliedern im Theater festgehalten und eine Reise zu Nicki unmöglich gemacht. Immer wenn sie frei gehabt hatte hatte er proben müssen und umgekehrt.
Und jetzt eine Herzmuskelentzündung?
Er war medizinisch nicht besonders bewandert – im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern, von denen gleich zwei eine medizinische Karriere eingeschlagen hatten – aber für ihn hörte sich diese Erkrankung äußerst ernst an.
»Herr Rückert?«, drang die Stimme des Mediziners wieder zu Christian durch.
»Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann Ihnen da gerade nicht weiterhelfen«, stammelte der Musicaldarsteller. Er musste erst einmal seine Gedanken sortieren.
»Ich bin in einer Woche beruflich in Hamburg.« Er ließ das Handy sinken. Nicole. Für ihn gerade unvorstellbar, dass es ihr nicht gut gehen sollte. Was war da in den letzten Wochen passiert? Am Telefon und auch im Videochat hatte alles so normal auf ihn gewirkt. Was hatte er übersehen?
»Kommen wir zu Nicole Jorgensen.« Oliver Wrede rief die Eckdaten seiner neuesten Patientin auf dem großen Bildschirm im Besprechungszimmer auf und sah in die Gesichter seiner Kollegen. Seit nunmehr zwei Tagen lag die junge Frau auf der Intensivstation im künstlichen Tiefschlaf.
Doktor Jäger von der Gynäkologie meldete sich als Erster zu Wort, nachdem Doktor Wrede mit seiner Einführung geendet hatte.
»Bisher verläuft die Schwangerschaft unauffällig, auch im Mutterpass sind keine Besonderheiten vermerkt. Aus meiner Sicht haben Sie freie Hand, was Ihre Maßnahmen angeht, ich würde jedoch engmaschige Kontrolluntersuchungen durchführen.«
Zufrieden nickte der Herzspezialist. Das war schon mal eine Baustelle weniger.
»Wir haben letzte Nacht den Perikarderguss punktiert, seither verbessert sich die Herzfunktion deutlich. Ich habe für heute Nachmittag eine weitere MRT-Untersuchung angeordnet«, fuhr Doktor Maier, der Oberarzt, fort.
»Wir haben ebenfalls angefangen, die Dosis des Narkosemittels zu reduzieren. Wir konnten bereits auf Eigenatmung umstellen, die Sauerstoffsättigung ist im Normbereich.«
Doktor Wrede wanderte vor dem großen Monitor auf und ab.
»Das ist schon mal eine gute Nachricht. Dann sollte Frau Jorgensen vermutlich heute noch zu Bewusstsein kommen. Wie sieht es mit den Blutwerten aus? Hat die schon jemand angesehen?«
Einer der Assistenzärzte nickte. »Die medikamentöse Therapie zeigt Wirkung.«
»Dafür bestehen weiterhin Herzrhythmusstörungen«, warf der zweite Assistenzarzt mit besorgtem Unterton ein, Doktor Maier nickte bestätigend. Er hätte dieses Thema jetzt auch angesprochen.
»Das heißt, wir sollten uns mit Frau Jorgensen über einen internen Defibrillator unterhalten, sobald sie wieder ansprechbar ist«, schloss Oliver Wrede aus den Worten seiner Kollegen und fischte sein klingelndes Diensthandy aus der Tasche. Sein nächster Patient wartete im OP auf ihn.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden und informieren mich, sobald Frau Jorgensen ansprechbar ist«, meinte Doktor Wrede beim Verlassen des Besprechungszimmers und eilte in Richtung des OP-Bereichs, der sich direkt an die Intensivstation anschloss.
Es war bereits später Nachmittag, als Doktor Wrede das Patientenzimmer von Nicole Jorgensen betrat. Laut seiner Assistenzärzten war die junge Frau inzwischen wach, aber noch mit der Gesamtsituation überfordert.
»Moin«, grüßte Wrede und schloss die Tür hinter sich. »Wie geht es Ihnen, Frau Jorgensen?«
Seine Patientin musterte ihn fragend, ihr Blick irrte durch den Raum.
»Wo bin ich? Was ist passiert? Warum …?«
Tränen traten ihr in die Augen, im gleichen Moment begann der Monitor neben ihrem Bett zu piepen.
»Beruhigen Sie sich bitte.« Der erfahrene Arzt erlebte diese Situation nicht zum ersten Mal, deswegen reagierte er relativ gelassen.
»Ich werde Ihre Fragen der Reihe nach beantworten, aber für den Moment ist es sehr wichtig, dass Sie sich nicht aufregen.«
Nicole Jorgensen nickte, dann wanderte ihre Hand reflexartig auf ihren Bauch.
»Was ist mit meinem Baby?«, wollte sie mit eindringlichem Blick wissen.
Oliver Wrede wunderte sich über diese Nachfrage nicht – bei werdenden Müttern hatte er gerade in der Notfallmedizin häufiger erlebt, dass sie sich erst beruhigen ließen, wenn sie wussten, dass es ihrem Ungeborenen gut ging.
»Unser Gynäkologe hat direkt nach Ihrer Einlieferung eine Ultraschalluntersuchung vorgenommen und hat uns versichert, dass mit Ihrem Kind alles in Ordnung ist. Wir werden regelmäßig weitere Untersuchungen durchführen, damit wir schon auf kleine Veränderungen rechtzeitig reagieren können. Sie müssen sich also um Ihr Baby keine Sorgen machen«, bemühte er sich um Zuversicht.
Ein kleines Lächeln zeigte sich in Nicole Jorgensens Mundwinkeln, sie sah auf ihren flachen, trainierten Bauch.
»Was ist passiert? Warum bin ich hier? Wo bin ich eigentlich?«, stammelte sie verwirrt.
Doktor Wrede setzte sich auf den Stuhl neben das Krankenbett und begann, seiner Patientin einen Kurzüberblick über die Ereignisse der letzten Tage zu geben.
»… deswegen müssen Sie auch bis auf weiteres strikte Bettruhe halten«, schloss er seinen Bericht. »Wenn Ihr Zustand weiterhin stabil bleibt, können wir Sie aber schon in den nächsten Tagen von der Intensivstation auf die Herzstation verlegen.«
Nicole Jorgensen runzelte die Stirn.
»Und was heißt das? Ich meine, ich habe jetzt … eine Herzmuskelentzündung … aber, was …?« Sie wirkte reichlich verloren.
»Ihr Herz ist deutlich vergrößert, dazu kommen Vernarbungen im Herzmuskel. Das sind erste Anzeichen dafür, dass Ihr Herz dauerhaft geschädigt worden ist«, erklärte der Herzspezialist mit sorgenvollem Unterton.
»Das werden wir aber in der nächsten Zeit beobachten und versuchen, mit Medikamenten zu kompensieren.«
»Und wann darf ich wieder tanzen?«
Dunkel erinnerte sich Wrede an das Übergabegespräch mit dem Notarzt, der von einem Zusammenbruch während einer Tanzaufführung gesprochen hatte.
»Das lässt sich jetzt noch nicht absehen«, stellte er ernst fest. »Erst einmal muss sich Ihr Herz erholen.«